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»Es ist wirklich ein Pech, daß du heute morgen in Lorimaar hineingerannt bist«, sagte Gwen, nachdem Jaan gegangen war. »Es gab keinen Grund, dich da hineinzuziehen, und ich hatte gehofft, dir all diese gräßlichen Details ersparen zu können. Ich hoffe, du behältst das alles für dich, wenn du Worlorn verlassen hast.

Überlasse die Braiths nur Jaan und Garse. Unternehmen werden andere sowieso nichts — es wird höchstens darüber geredet, und unschuldige Leute auf Hoch Kavalaan werden verleumdet. Erzähle vor allem Arkin nichts! Er verachtet die Kavalaren und bringt es fertig, sofort nach Kimdiss aufzubrechen.« Sie stand auf. »Und jetzt schlage ich vor, daß wir von etwas Vernünftigerem sprechen. Wir haben nur wenig Zeit füreinander. Bevor ich zurück an meine Arbeit gehen muß, kann ich mich dir gern noch als Fremdenführer zur Verfügung stellen. Wir wollen uns von den Braith-Schlächtern die wenigen Tage nicht verderben lassen, die uns zur Verfügung stehen.«

»Ich lasse mich gern von dir führen«, sagte Dirk, eifrig darauf bedacht, sie bei guter Laune zu halten, obwohl ihn die Angelegenheit mit Lorimaar und seinen Spottmenschen doch ziemlich verwirrt hatte. »Hast du dir schon etwas ausgedacht?«

»Ich könnte wieder mit dir in die Wälder fliegen«, sagte Gwen. »Sie erstrecken sich über endlose Weiten, und es gibt Hunderte von faszinierenden Sehenswürdigkeiten in der unberührten Natur: Seen voller Fische, die weit größer sind als wir, Erdhügel, größer als dieses Gebäude, erbaut von Insekten, die kleiner sind als der Nagel deines kleinen Fingers, ein unglaubliches Höhlensystem, das Jaan in den Bergen entdeckte. Jaan ist der geborene Höhlenforscher. Trotzdem finde ich es besser, wenn wir es heute einmal ruhig angehen lassen. Wir wollen nicht zuviel Salz in Lorimaars Wunde streuen, sonst veranstalten er und sein fetter teyn womöglich noch eine Jagd auf uns, und Jaan hat dann den ganzen Ärger. Heute zeige ich dir die Städte. Auch sie können faszinierend sein, ein Hauch makabrer Schönheit umgibt sie. Wie Jaan schon sagte, ist Lorimaar noch nicht darauf gekommen, dort zu jagen.«

»In Ordnung«, sagte Dirk ohne großen Enthusiasmus.

Gwen zog sich schnell um und nahm ihn mit zum Dach hinauf. Die Himmelsflitzer lagen noch immer dort, wo sie von ihnen einen Tag zuvor zurückgelassen worden waren. Dirk hob sie auf, aber Gwen nahm ihm das silbern schimmernde Metallgewebe aus der Hand und warf die Flitzer auf den Rücksitz des grauen Mantaflugwagens.

Dann suchte sie die Flugstiefel und Kontrollinstrumente zusammen und verfuhr mit ihnen genauso. »Heute nehmen wir die Flitzer nicht«, sagte sie. »Wir haben einen weiten Weg vor uns.«

Dirk nickte, und beide schwangen sich über die Flügel des Gleiters auf die Vordersitze. Worlorns Himmel gab ihnen das Gefühl, als kämen sie von einer Expedition zurück, anstatt zu einer aufzubrechen. Um den Gleiter heulte der Wind. Dirk übernahm für kurze Zeit den Steuerknüppel, damit Gwen ihr langes schwarzes Haar zusammenbinden konnte. Seine eigene graubraune Mähne flatterte in ungestümen Konvulsionen, als sie in den Himmel hinaufschossen, aber er war so in Gedanken versunken, daß er es gar nicht bemerkte, geschweige denn sich daran gestört hätte.

Gwen zog die Maschine hoch über den Bergkamm und steuerte nach Süden. Das friedliche Freigelände mit den sanft gewellten Linien der grasbewachsenen Hügel und den sich zwischen ihnen hindurchschlängelnden Flüßchen, erstreckte sich zu ihrer Rechten, bis der Himmel in weiter Ferne mit ihm zusammentraf. Zu ihrer Linken, wo das Bergmassiv auslief, konnten sie den Rand der Wildnis ausmachen. Die würgerinfizierten Stellen waren selbst aus dieser Höhe zu erkennen — gelbe Krebsgeschwüre, die sich in das dunklere Grün gefressen hatten. Fast eine Stunde lang flogen sie schweigend dahin. Dirk war in Gedanken versunken und versuchte, die neuen Fakten miteinander in Einklang zu bringen — was ihm aber nicht gelingen wollte. Er gab es auf, als ihn Gwen schließlich lächelnd ansah. »Ich fliege gern einen Gleiter«, sagte sie, »selbst diesen. Ich fühle mich dabei so frei und sauber, abgeschnitten von all den Problemen dort unten. Weißt du, was ich meine?« Dirk nickte. »Ja.

Du bist nicht die erste, die so etwas sagt. Eine Menge Leute fühlen so. Ich übrigens auch.«

»Stimmt«, sagte sie. »Ich bin mit dir geflogen, erinnerst du dich? Auf Avalon! Ich flog stundenlang, einmal sogar vom frühen Morgen bis zum späten Abend, und du hast nur neben mir gesessen, einen Arm aus dem Fenster gehängt und mit verträumtem Blick in die Ferne gestarrt.« Sie lächelte schelmisch.

Er erinnerte sich genau. Jene Ausflüge waren etwas ganz Besonderes gewesen. Sie hatten dabei niemals viel gesprochen, sich nur von Zeit zu Zeit angesehen, und jedesmal, wenn ihre Augen einander begegnet waren, mußten sie lächeln. Es war unausweichlich gewesen, so sehr er auch dagegen angekämpft hatte, das Lächeln war automatisch gekommen. Aber nun schien alles so schrecklich weit weg und für immer entschwunden zu sein.

»Wie bist du darauf gekommen?« fragte er sie.

»Du«, sagte sie gestikulierend. »Du sitzt hier schlaff herum und läßt einen Arm ins Freie baumeln. Ach, Dirk!

Du hältst mich zum Narren, nicht wahr? Ich glaube, du hast das mit Absicht gemacht. Du willst, daß ich mich an Avalon erinnere, daß ich lächle und dich wieder umarmen möchte. Pah.« Und sie lachten gemeinsam.

Ohne nachzudenken, glitt Dirk nach links und legte den Arm um sie. Gwen sah ihm kurz ins Gesicht, dann zuckte sie hilflos die Achseln, und ihr finsterer Gesichtsausdruck löste sich in einem resignierenden Seufzer, ging schließlich in widerstrebendes Lächeln über. Und sie entzog sich ihm nicht. Sie flogen zu den Städten.

Die Stadt des Morgens war eine weiche Pastellvision in einem weiträumigen grünen Tal. Gwen landete den Gleiter auf einem der terassenförmigen Plätze, und sie schlenderten eine Stunde lang auf den breiten Boulevards. Die Stadt war zauberhaft. Sie bestand aus blassem Stein und rosa Marmor, den feinste Äderchen von dunklerer Farbe durchzogen. Die Straßen waren breit und in Sinuskurven geschwungen, die Häuser flach und augenscheinlich zerbrechliche Strukturen aus poliertem Holz und farbigen Mosaikfenstern. Überall fanden sie kleine Parks und großzügige Promenaden. Wohin man sah, erfreuten künstlerische Arbeiten das Auge: Statuen, Gemälde, Wandbilder an Gebäuden und auf Gehwegen, Steingärten und lebende Baum-Skulpturen. Aber nun machten die Parks einen desolaten und verwilderten Eindruck. Das blaugrüne Gras wucherte außer Rand und Band. Schwarze Kletterpflanzen schlängelten sich über die Gehwege. Die Mäuerchen, welche oftmals die Parks umgaben, waren zugewachsen, und die wetterharten Baum-Skulpturen hatten solch groteske Formen angenommen, daß ihre Schöpfer sie wohl kaum wiedererkannt hätten.

Ein träger blauer Fluß teilte die Stadt und nahm seinen Weg so willkürlich und kurvenreich wie die Straßen entlang seiner Ufer. Gwen und Dirk setzten sich eine Weile unter einer reichverzierten, hölzernen Fußbrücke ans Wasser und beobachteten das Spiegelbild des Fetten Satans, wie es dunkelrot und faul vom Wasser gewiegt wurde. Während sie dort saßen, erzählte sie ihm, wie die Stadt einst gewesen war, damals, in der Zeit der Feste, als noch keiner von ihnen den Fuß auf Worlorn gesetzt hatte.

Die Leute von Kimdiss hatten sie erbaut, sagte Gwen, und sie den Zwölften Traum genannt.

Vielleicht träumte die Stadt jetzt. Wenn das so war, dann war ihr Schlaf endgültig. Ihre Kuppelhallen hallten leer wider, ihre Gärten waren unbändige Dschungel, die bald zu Friedhöfen werden sollten. Wo einst Gelächter die Straßen erfüllt hatte, war jetzt nur noch das raschelnde Wispern toter Blätter zu hören, die der Wind vor sich hertrieb. Wenn Larteyn eine sterbende Stadt war, grübelte Dirk unter der Brücke, dann war der Zwölfte Traum bereits eine Totenstadt.

»Hier wollte Arkin unser Ausgangslager errichten«, sagte Gwen. »Doch wir haben unser Veto eingelegt.

Wollten wir beide zusammenarbeiten, so war es ohne Frage das beste, wenn wir auch in derselben Stadt wohnten, und Arkin hatte den Zwölften Traum dafür auserkoren. Aber er konnte sich nicht durchsetzen, und ich weiß nicht, ob er mir das je verziehen hat. Wenn die Kavalaren Larteyn als Festung präsentieren wollten, dann sollte die Stadt der Kimdissi ein Kunstwerk darstellen.

Früher soll sie noch viel schöner gewesen sein, habe ich gehört. Als das Festival beendet war, räumten sie die prächtigsten Gebäude aus und nahmen die schönsten Skulpturen mit.« »Du hast für Larteyn als Aufenthaltsort gestimmt?« fragte Dirk.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr offenes Haar hob sich leicht und berührte Dirk an der Wange. »Nein«, sagte sie.

»Jaan wollte es so, auch Garse. Ich … ich hätte ebenfalls nicht für den Zwölften Traum gestimmt, fürchte ich. Hier hätte ich niemals leben können. Der Geruch des Verfalls ist zu stark. Ich halte es mit Keats, weißt du. Nichts ist so melancholisch wie sterbende Schönheit. Hier gab es ungleich mehr Schönheit als in Larteyn, obwohl Jaan das nicht gerne hören würde. Deshalb ist es auch der traurigere Ort. Abgesehen davon gibt es in Larteyn wenigstens etwas Gesellschaft, selbst wenn es sich nur um Lorimaar und Konsorten handelt. Hier sind nur noch Geister übriggeblieben.« Dirk sah über das Wasser, wo die große rote Sonne, ihrer Kraft beraubt und gefangen, auf den langsam rollenden Wellen gespensterhaft auf und ab tanzte. Und er konnte die Geister fast sehen, von denen sie sprach, Phantome, die sich an beiden Flußufern drängten und Dingen, die für immer verloren waren, traurige Lieder nachsangen. Und ein Geist gaukelte ganz für ihn allein: ein Lastkahnschiffer von Braque trieb sein Gefährt mit einer langen schwarzen Stange den Fluß herunter. Er kam direkt auf Dirk zu, dieser Lastkahnschiffer, näher und immer näher. Und sein schwarzes Boot lag tief im Wasser, bis zum Rand gefüllt mit Leere.

Deshalb erhob sich Dirk und zog Gwen mit sich. Er sagte nur, daß er weitergehen möchte. Und sie flohen vor den Geistern auf die Terrasse zurück, wo der graue Gleiter wartete. Dieser hob sie wieder in die Lüfte hinauf, einem Zwischenspiel von Wind, Himmel und stummen Gedanken entgegen. Gwen flog weiter nach Süden und dann nach Osten. Dirk betrachtete alles, brütete vor sich hin und sagte kein Wort. Von Zeit zu Zeit sah sie zu ihm herüber. Obgleich sie es eigentlich nicht wollte, lächelte sie.

Endlich erreichten sie die See. Die Stadt des Mittags lag am Strand einer zerklüfteten Bucht, in der sich dunkelgrüne Wellen an verrottenden Landungsbrücken brachen. Damals hatte man sie Musquel-am-Meer genannt, sagte Gwen, als sie die Stadt in niedrigen, spiralförmigen Schleifen überflogen. Obwohl sie mit den anderen Städten auf Worlorn entstanden war, haftete ihr etwas Uraltes an. Musquels Straßen waren Schlangen mit gebrochenem Rückgrat, gewundene Kopfsteinpflaster-gäßchen zwischen windschiefen Türmen aus vielfarbigen Backsteinen. Die ganze Stadt bestand aus Backsteinen.

Blaue Backsteine, rote Backsteine, gelbe, grüne, orangefarbene Backsteine, bemalte, gestreifte und gesprenkelte Backsteine, zusammengehalten von Mörtel, der schwarz war wie Obsidian oder rot wie Satan über ihnen, zusammengefügt zu grellen, verrückten Mustern.

Noch auffälliger waren die bemalten Segeltuchmarldsen vor den Verkaufsbuden, die noch immer die planlos angelegten Straßen säumten oder verlassen auf den längst aufgegebenen Holzpiers standen.

Sie landeten auf einer Pier, die nicht so baufällig aussah wie die anderen und lauschten einige Zeit den Brechern. Dann schlenderten sie durch die Stadt. Alles leer — nur Staub. Durch die verlassenen Straßen pfiff der Wind, die Kuppeln und Zwiebeltürme standen leer, und die fette rote Sonne oben am Himmel verwusch die einst so prächtigen Farben. Auch die Backsteine verfielen, überall lag ein vielfarbig schillernder Staub in der Luft, der im Hals kratzte. Musquel war nicht für die Ewigkeit gebaut worden, und nun war es schon so tot wie der Zwölfte Traum. »Ganz schön primitiv«, bemerkte Dirk zwischen dem Zerfall preisgegebenen Häusern. Sie standen auf der Kreuzung zweier Gäßchen vor einem tiefen Brunnen, den ein flaches Mäuerchen umgab. Tief unten plätscherte schwarzes Wasser. »Man kommt sich vor, als stünde man inmitten einer Welt, die Raumfahrt noch nicht kennt, und alle Hinweise scheinen dies zu bestätigen. Auf Braque sieht es ähnlich aus, aber mit kleinen Nuancen. Von der alten Technologie sind zwar nur einzelne Stückchen und Bruchteile geblieben, die von der Religion nicht verboten wurden — aber immerhin, es gibt sie. Musquel hingegen sieht so aus, als gäbe es hier überhaupt nichts davon.«

Sie nickte und strich mit der Handfläche leicht über den Brunnenrand. Ein Schwall von Staub und Steinchen fiel in die Dunkelheit hinab. Dirk bemerkte das stumpfrote Jade-und-Silber an ihrem linken Arm. Er schreckte zurück und fragte sich aufs neue, welche Bedeutung das Armband für Gwen hatte. War es eine Sklavenmarkierung oder ein Zeichen der Liebe? Aber er hatte wenig Lust, sich näher damit zu beschäftigen und verdrängte den Gedanken.

»Die Leute, die Musquel bauten, besaßen nur wenig«, stellte Gwen fest. »Sie kamen von der Vergessenen Kolonie, die von anderen Außenweltlern manchmal auch Letheland genannt wird, von ihren eigenen Bewohnern dagegen immer nur Erde. Auf Hoch Kavalaan nennt man diese Leute das Verlorene Volk. Wer sie sind, wie sie zu ihrer Welt gelangten, woher sie kamen …« Sie lächelte und zuckte mit den Schultern. »Niemand weiß es. Sie waren auf jeden Fall schon vor den Kavalaren hier und möglicherweise auch vor der Mao Tse-tung, laut unserer Geschichtsschreibung das erste menschliche Sternenschiff, das Templers Schleier durchstoßen hat.

Erzkonservative Kavalaren sind sich sicher, daß sich das Verlorene Volk aus Spottmenschen und hranganischen Dämonen zusammensetzt, obwohl es eine Tatsache ist, daß die Verlorenen mit anderen Menschen Nachkommen zeugen können. Im großen und ganzen ist die Vergessene Kolonie jedoch ein auf sich selbst gestellter Planet, dessen Bewohner vom restlichen Universum kaum Notiz nehmen. Sie sind ein Volk von Fischern und begnügen sich mit dem notwendigen Werkzeug, das sie aus Bronze fertigen. Ein Volk, das unter sich bleiben will.«

»Dann überrascht mich, daß sie überhaupt hierhergekommen sind«, sagte Dirk, »und sich der Mühe unterzogen haben, eine Stadt zu bauen.«

»Es sollte niemand fehlen«, sagte sie und schubste weitere Steinbrösel über den Brunnenrand, die mit kaum hörbarem Prasseln im Wasser versanken. »Alle vierzehn Kulturen der Außenwelten sollten ihren Beitrag leisten — das war der Grundgedanke. Wolfheim hatte die Vergessene Kolonie einige Jahrhunderte zuvor entdeckt, und so nahmen Wolfheim und Tober das Verlorene Volk in ihre Mitte und schleppten es hierher. Da die Verlorenen keine eigenen Sternenschiffe besaßen und auf ihrem Heimatplaneten als Fischer lebten, machte man sie auch hier zu Fischern. Für den Fischbestand in Worlorns Meeren waren wiederum Wolfheim und die Welt des Schwarzweinozeans zuständig. So konnte das Verlorene Volk ein Leben wie zu Hause führen. Mit handgeknüpften Netzen holten die kleinen schwarzen Männer und Frauen, nackt bis zur Hüfte, in winzigen Booten stehend, die Fische aus dem Meer und brieten ihren Fang über offenem Feuer für die Besucher. Barden und Bänkelsänger brachten Leben in die engen Gäßchen.

Kein Besucher des Festivals auf Worlorn versäumte einen Abstecher nach Musquel, um hier den seltsamen Mythen zu lauschen, Bratfisch zu essen oder ein Boot zu mieten. Aber ich glaube, das Verlorene Volk hing nicht sehr an dieser Stadt. Einen knappen Monat nach Beendigung der Festlichkeiten war der letzte der Verlorenen verschwunden. Sie hielten es nicht einmal für nötig, ihre Markisen einzuholen. Und streift man durch die Gebäude, so kann man heute noch manchmal Fischmesser, Gräten und Kleidungsstücke finden.«

»Hast du selbst auch etwas gefunden?«

»Nein, aber ich habe Geschichten darüber gehört. Kirak Rotstahl Cavis, der Dichter, der in Larteyn lebt, hielt sich hier eine Weile auf, wanderte viel herum und schrieb einige Lieder.«

Dirk blickte sich um, aber es gab nicht viel zu sehen.

Verwaschene Backsteine und leere Straßen, Fenster ohne Scheiben, wie die Höhlen von tausend blinden Augen, bemalte Markisen, die im Wind knatterten. Das war alles.

»Noch eine Geisterstadt«, kommentierte er. »Nein«, widersprach Gwen. »Nein, das glaube ich nicht. Niemals verschenkte das Verlorene Volk eine Seele an Musquel oder Worlorn. Als sie heimkehrten, nahmen sie all ihre Geister mit.« Dirk fröstelte, und plötzlich wirkte die Stadt noch leerer als wenige Augenblicke zuvor. Leerer als leer — ein absurder Gedanke. »Ist Larteyn denn die einzige Stadt, die Leben beherbergt?« fragte er. »Nein«, sagte sie und erhob sich vom Brunnenrand. Zusammen gingen sie das Gäßchen hinunter, zurück in Richtung Meer. »Nein, wenn du willst, zeige ich dir jetzt Leben.

Komm!«

Wieder in der Luft, befanden sie sich auf einem neuerlichen Flug durch die sich langsam verdichtende Dunkelheit. Mit dem Flug nach Musquel und dem dortigen Aufenthalt war der größte Teil des Nachmittags dahingegangen. Der Fette Satan stand tief am westlichen Horizont, und einer seiner vier Begleiter hatte sich schon aus dem Staube gemacht. Wieder herrschte jenes Zwielicht, das auch den frühen Morgen kennzeichnete.


Dirk fühlte sich unruhig. Diesmal übernahm er das Steuer, während Gwen neben ihm saß, dabei ihren Arm leicht auf dem seinen ruhen ließ und kurze Anweisungen gab. Der Tag war schon wieder fast vorbei, und er hatte noch so viel zu sagen, so viel zu fragen, so viel zu entscheiden. Nichts davon hatte er erledigt. Bald jedoch, schwor er sich, während er flog. Bald.

Leise, fast unhörbar, schnurrte der Gleiter unter seiner lenkenden Hand. Der Boden unter ihnen wurde immer dunkler, die Kilometer rasten dahin. Leben, erzählte ihm Gwen, würde es weiter westlich geben. Westlich, dem Sonnenuntergang entgegen.

Die Stadt des Abends war ein geschlossenes, silbernes Bauwerk, mit Füßen, die tief in den sanften Hügeln unter ihnen steckten, und einem Haupt, das zwei Kilometer hoch in die Wolken hineinragte. Es war eine Stadt des Lichts. Ihre Flanken, metallisch und fensterlos, schimmerten in weißglühendem Glanz. Funkelnd und blitzend stieg das Licht vom Boden aus, wo die Stadt tief im Urfelsen verankert war, den spiralförmigen Turm empor. Je mehr sich das grandiose Bauwerk verjüngte und zu der Nadel wurde, die es eigentlich war, desto heller leuchtete das Licht. Immer schneller und höher stieg die Lichtwelle, bis sie schließlich hoch in den Wolken die Spitze der Silberschraube erreichte und dort in einer Emission blendender Glorie erstrahlte. Zu diesem Zeitpunkt waren schon wieder drei weitere Lichtstürme unterwegs zur Spitze. »Challenge!« Gwen nannte den Namen der Stadt, während sie sich näherten.

Sie war eine Herausforderung an die Natur. Die Urbaniten von pi-Emerel, deren Heimatstädte schwarze Stahltürme inmitten wogender Ebenen waren, hatten sie erbaut. Jede Stadt der Emereli war eine Nation für sich, ein Turm, den die meisten Emereli niemals in ihrem Leben verließen. Diejenigen, die es dennoch taten, sagte Gwen, wurden oft zu den rastlosesten Wanderern im Weltraum, ruhelos wie keiner sonst im Universum.

Challenge vereinte die Summe aller Emerelitürme in einem einzigen Manifest. Silberweiß statt schwarz, doppelt so stolz und dreimal so hoch, die Verkörperung von pi-Emerels Philosophie der Arcologien in Metall und Kunststoff, atombetrieben, automatisch, computerisiert, sich selbst versorgend und erhaltend. Die Emereli prahlten, diese Stadt sei unsterblich, ein letzter Beweis dafür, daß die Technologie des Randes — oder die der Emereli, wenn man so will — sich nicht hinter der von Newholme, Avalon und selbst Alt-Erde zu verstecken brauchte.

Im Abstand von jeweils zehn Stockwerken befanden sich dunkle, horizontale Schlitze im Körper der Stadt — Luftlandedecks. Dirk hielt auf eines zu, und als er es erreichte, erhellte sich der schwarze Schlitz, um sie willkommen zu heißen. Die Öffnung war gut zehn Meter hoch, er hatte keine Mühe, den Gleiter in der großen Luftschleuse des hundertsten Stockwerkes zu landen. Als sie ausstiegen, sprach eine tiefe Baßstimme aus dem Nichts zu ihnen. »Willkommen«, tönte es. »Ich bin die Stimme von Challenge. Darf ich Sie einladen?«

Dirk warf einen raschen Blick über die Schulter, aber Gwen lachte ihn nur an. »Das Stadtgehirn«, erklärte sie.

»Ein Supercomputer. Ich sagte doch, daß in dieser Stadt noch Leben ist.«

»Darf ich Sie einladen?« wiederholte die Stimme. Sie kam direkt aus den Wänden.

»Meinetwegen«, sagte Dirk zurückhaltend. »Ich denke, wir sind ein bißchen hungrig. Kannst du uns etwas zu essen besorgen?« Die Stimme antwortete nicht. Statt dessen glitt einige Meter vor ihnen die Wand zurück. Ein gepolstertes Fahrzeug kam lautlos heraus und hielt vor ihnen an. Sie stiegen ein, und das Fahrzeug fuhr durch eine weitere zurückweichende Wand. Sie bewegten sich auf weichen Ballonreifen durch makellos weiße Korridore, vorbei an unzähligen nummerierten Türen.

Die ganze Zeit hindurch drang einschläfernd leise, angenehme Musik an ihre Ohren. Dirk erwähnte, wie sehr das weiße Licht in krassem Gegensatz zu Worlons trübem Abendhimmel stand — und augenblicklich nahmen die Korridore eine weiche pastellblaue Färbung an.

Der dickbereifte Wagen setzte sie vor einem Restaurant ab, wo ein Robotkellner, der mit vertrauter Baßstimme sprach, herbeieilte, um Speise- und Weinkarte anzubieten. Beide Karten führten ein überreichliches Angebot auf und waren keinesfalls auf die Küche von pi-Emerel beschränkt. Im Gegenteil, es gab berühmte Speisen und wertvolle Weine bester Jahrgänge nicht nur von den Außenwelten, sondern von allen denkbaren Planeten des menschlichen Einflußbereiches, Welten eingeschlossen, von denen Dirk noch nie etwas gehört hatte. Unter jedem Gericht stand der Name der Ursprungswelt in kleingedruckten Buchstaben. Lange Zeit überlegten sie, was sie bestellen sollten. Schließlich entschloß sich Dirk für Sanddrachen, in Butter geschmort, der von Jamisons Welt stammte, und Gwen bestellte Blaulaich-in-Käse von Alt-Poseidon.

Der Wein ihrer Wahl war weiß und klar. Als der Robotkellner ihn brachte, steckte er noch in einem Eiswürfel, der erst gespalten werden mußte. Trotzdem war er auf geheimnisvolle Weise flüssig geblieben und recht kalt. Auf diese Art, so beharrte die Stimme, würde er für gewöhnlich serviert. Das Menü wurde auf vorgewärmten, mit Elfenbein verzierten Silberplatten gebracht. Dirk nahm ein klauenbewehrtes Beinchen von seinem Teller, schälte es aus dem Panzer und kostete das weiße, butterweiche Fleisch.

»Das ist unglaublich«, sagte er, mit dem Kopf seinem Teller zunickend. »Ich habe längere Zeit auf Jamisons Welt gelebt, und die Jamies, die wirklich etwas vom Kochen verstehen, lieben frisch geschmorten Sanddrachen über alles. Und der hier schmeckt so gut wie jeder von dort. Tiefgefroren? Tiefgefroren und hierher verschifft? Teufel, die Emereli müssen eine ganze Flotte im Einsatz gehabt haben, um all das zusammenzutragen, was hier benötigt wurde.«

»Nicht tiefgefroren«, kam die Antwort. Gwen war es nicht, obwohl sie ihn mit amüsiertem Lächeln musterte.

Die Stimme antwortete ihm. »Vor dem Festival besuchte das pi-Emerel-Handelsschiff Blue Plate Special so viele Welten, wie es nur erreichen konnte und sammelte kulinarische Spezialitäten ein. Die Reise war von langer Hand geplant und dauerte dreiundvierzig Jahre, vier Kapitäne und Mannschaften waren daran beteiligt.

Letztendlich kam das Schiff nach Worlorn, wo die gesammelten Gerichte in den Küchen und Biotanks von Challenge geklont wurden, um dem Massenandrang der Gäste gewachsen zu sein. So waren hier nicht falsche Propheten am Werk, die Fische und Brotlaibe vervielfachten, sondern die Wissenschaftler von pi-Emerel.« »Das hört sich ziemlich blasiert an«, sagte Gwen kichernd. »Es klingt wie eine vorbereitete Ansprache«, sagte Dirk achselzuckend und wandte sich wieder seinem Essen zu. Inmitten eines Restaurants, das Hunderte aufnehmen konnte, aßen die beiden allein, wenn man von dem Robotkellner und der Stimme absah.

Um sie herum standen andere Tische mit dunkelroten Tischtüchern und leuchtend silbernem Geschirr — alle leer. Die Gäste waren vor einem Jahrzehnt gegangen, aber die Stimme und die Stadt hatten unendlich viel Geduld. Später, beim Kaffee (schwarz und stark, mit Sahne und Gewürzen, einer Spezialität von Avalon, wenn er sich recht erinnerte), fühlte sich Dirk entspannt und zufrieden, vielleicht am wohlsten, seit er auf Worlorn eingetroffen war. Jaan Vikary und das Jade-und-Silber — im Schummerlicht des Restaurants glühte die kostbare Schmiedearbeit dunkel und wunderschön, dabei seltsamerweise bar jeder Drohung und Aussage -waren in ihrer Bedeutung ein wenig geschrumpft, jetzt, da er mit Gwen zusammen war. Sie saß im vis-à-vis und sah sehr nahbar aus, wie sie aus ihrem Porzellankrug trank und ihr träumerisches Lächeln lächelte - ganz wie die Jenny, die er gekannt und geliebt hatte, das Mädchen mit dem Flüsterjuwel.

»Hübsch«, sagte er beifällig nickend und meinte damit die Summe seiner Eindrücke. Gwen nickte zurück.

»Hübsch«, stimmte sie lächelnd zu, und Dirk sehnte sich nach ihr. Guinevere mit den großen grünen Augen und dem endlos schwarzen Haar, sie, die für ihn dagewesen war, seine verlorene Seelengefährtin.

Er lehnte sich vor und starrte in seine Tasse. Aber im Kaffeesatz gab es keine geheimnisvollen Omen zu studieren. Er mußte schon mit ihr reden. »Alles war so schön — heute abend«, sagte er. »Wie auf Avalon.«

Als sie wieder ihre Zustimmung flüsterte, fuhr er fort.

»Ist noch etwas aus jener Zeit zurückgeblieben, Gwen?«


Sie sah ihm aus gleicher Höhe in die Augen und nippte an ihrem Kaffee. »Das ist keine faire Frage, Dirk, das weißt du. Irgend etwas bleibt immer zurück. Wenn das, was man erlebt hat, aufrichtig war. Sonst kann man es ohnehin vergessen. Aber wenn es echt und tief war, gräbt sich etwas in dir ein. Ein Quentchen Liebe, ein Tröpfchen Haß, Hoffnungslosigkeit, Ärger, Verlangen. Was auch immer — etwas bleibt.« »Ich weiß nicht«, seufzte Dirk t’Larien. Er senkte den Blick und sah in sich hinein.

»Vielleicht bist du die einzige Realität, das einzig Echte, was ich je besessen habe.«

»Das wäre traurig«, sagte sie.

»Ja«, sagte er. »Es ist traurig.« Seine Augen blickten auf. »In mir ist viel, zurückgeblieben, Gwen. Liebe, Haß, Groll — alles. Und, wie du gesagt hast — Verlangen.« Er lachte.

Sie gab nur ein Lächeln zurück. »Traurig«, sagte sie wieder. Er war jedoch nicht bereit lockerzulassen. »Und in dir? Etwas, Gwen?« »Ja. Ich kann es nicht leugnen.

Etwas. Es kommt und verschwindet wieder, aber es wird jedesmal stärker.«

»Liebe?«

»Du treibst mich in die Enge«, sagte sie sanft und setzte die Tasse ab. Der Robotkellner neben ihr füllte sofort nach. Der Kaffee war schon gewürzt. »Ich bat dich doch, das bleiben zu lassen.«

»Ich muß«, sagte er. »Ich kann nicht so nahe bei dir sein und dann über Worlorn oder kavalarische Bräuche oder die verdammten Jäger reden. Ich habe keine Lust, mich darüber zu unterhalten!« »Ich weiß. Zwei, die sich früher geliebt haben, treffen sich nach längerer Zeit wieder. Eine ganz gewöhnliche Situation, ein alltägliches Ereignis. Beide haben Angst, wissen nicht, ob sie alle Wunden wieder öffnen sollen, wissen nicht, ob der andere will, ob die schlafenden Gedanken wieder geweckt werden oder nicht. Jedesmal wenn ich an Avalen denke und es fast laut ausspreche, frage ich mich: Will er nun, daß ich darüber rede, oder betet er, daß ich es lasse?«

»Ich glaube, das kommt darauf an, was du sagen willst.

Einmal habe ich versucht, einen neuen Anfang zu machen. Erinnerst du dich? Kurz danach. Ich schickte dir mein Flüsterjuwel. Du hast nie geantwortet, bist nie gekommen.« Seine Stimme klang ruhig. Nur ein schwacher Oberton der Reue klang mit, ein leichter Vorwurf, kein Ärger. Irgendwie war von seinem Ärger nichts mehr zu spüren!

»Hast du dir je Gedanken gemacht, warum?« sagte Gwen. »Ich habe das Juwel bekommen und geweint. Ich war damals noch allein, hatte Jaan noch nicht getroffen und brauchte einfach jemanden. Ich wäre zu dir zurückgekehrt, wenn du mich nur gebeten hättest.« »Ich habe dich angefleht. Du bist nicht gekommen.« Sie lächelte bitter. »Ach, Dirk. Das Flüsterjuwel kam in einer kleinen Schachtel, an die eine Nachricht geheftet war.

›Komm zurück zu mir, Jenny. Ich brauche dich*, stand darin. Das meine ich ja gerade. Ich weinte die ganze Nacht hindurch. Wenn du doch nur ›Gwen‹ geschrieben hättest, wenn du doch nur Gwen, mich, geliebt hättest.

Aber nein, immer war es Jenny, sogar danach, selbst dann noch.« Dirk erinnerte sich und zuckte zusammen.

»Ja«, gab er nach kurzem Schweigen zu, »ich glaube, das habe ich geschrieben. Es tut mir leid. Mir ist es nie aufgefallen. Aber jetzt sehe ich das anders. Ist es nun zu spät?«

»Das habe ich schon im Wald gesagt. Es ist zu spät, Dirk, alles ist gestorben. Du tust uns nur weh, wenn du weiter hartnäckig bleibst.« »Alles ist gestorben? Du sagtest doch, etwas sei zurückgeblieben, und es würde stärker. Eben noch hast du es gesagt. Entscheide dich, Gwen. Ich will nicht dich oder mich verletzen. Aber ich will …« »Ich weiß, was du willst. Es geht nicht. Das ist vorbei.« »Warum?« fragte er. Er deutete über den Tisch auf ihren Armreif. »Deswegen? Jade-und-Silber hat immer Bestand, ist es das?« »Vielleicht«, sagte sie. Ihre Stimme klang brüchig, unsicher. »Ich weiß nicht. Wir … das heißt ich …« Dirk erinnerte sich an alles, was Ruark ihm erzählt hatte. »Ich weiß, es ist nicht leicht, darüber zu sprechen«, sagte er vorsichtig. »Und ich versprach zu warten. Aber einige Dinge können keinen Aufschub ver-tragen. Du sagtest, Jaan sei dein Ehemann, richtig? Was ist Garse? Was heißt betheyn

»Haltfrau«, sagte sie. »Aber das verstehst du nicht.

Jaan unterscheidet sich von den anderen Kavalaren. Er ist stärker, intelligenter und viel anständiger. Er verändert alles, er allein. Die alten Fesseln, die zwischen betheyn und Hochleibeigenem, haben mit unserer Bindung nichts zu tun. Jaan hält sie für überkommen, genauso, wie er die Jagd auf Spottmenschen für ein Unding hält.«

»Er glaubt an Hoch Kavalaan und den Duellkodex«, hielt ihr Dirk entgegen. »Mag sein, daß er aus dem Rahmen fällt, aber letztlich ist er immer noch ein Kavalare.«

Damit hatte er etwas Falsches gesagt. Gwen sah ihn nur verächtlich an und lachte ihn aus. »Pfui, jetzt hörst du dich schon wie Arkin an.« »Tatsächlich? Nun, vielleicht hat er recht. Dann noch etwas. Du sagtest, Jaan lehne viele der alten Traditionen ab, richtig?« Gwen nickte.

»Schön. Und was ist mit Garse? Ich hatte bisher leider nicht das Vergnügen, mich längere Zeit mit ihm zu unterhalten. Er ist natürlich auf ähnliche Weise erleuchtet?«

Sie war wie vor den Kopf gestoßen. »Garse …« setzte sie an. Dann hielt sie inne und schüttelte den Kopf. »Na ja, Garse ist konservativer.« »Aha«, stieß Dirk hervor.

Plötzlich schien alles zusammenzupassen. »Ja, das glaube ich auch, und das ist dein Hauptproblem, nicht wahr? Auf Hoch Kavalaan heißt es nicht Mann und Frau.

Nein, dort heißt es Mann und Mann und vielleicht Frau, aber auch dann ist die Frau nicht so schrecklich wichtig.

Jaan liebst du vielleicht, aber Garse Janacek ist dir doch ganz gleichgültig, oder nicht?« »Ich empfinde eine Menge für …« »So, wirklich?«

Gwens Miene verdüsterte sich. »Hör auf damit.« Ihre Stimme erschreckte ihn. Plötzlich wurde er sich bewußt, wie weit er sich über den Tisch vorgelehnt hatte, sie in die Enge trieb, sie angriff, auf sie einredete, sie verhöhnte und ihr keine Ruhe ließ — er, der gekommen war, um ihr zu helfen, um sie zu beschützen. Er zog sich zurück. »Es tut mir leid«, stammelte er.

Schweigen. Sie starrte ihn an. Ihre Unterlippe zitterte, während sie sich zusammennahm und neue Kraft sammelte. »Du hast recht«, sagte sie schließlich.

»Wenigstens teilweise. Ich bin … äh… mit meinem Schicksal nicht vollkommen zufrieden.« Sie gab ein ironisches Kichern von sich. »Ich glaube, ich mache mir selbst etwas vor. So was Blödes. Trotzdem macht sich jeder etwas vor, jeder. Ich trage Jade-und-Silber und rede mir ein, daß ich mehr bin als nur eine Haltfrau, mehr als andere Kavalarfrauen. Warum? Nur weil Jaan das behauptet? Jaan Vikary ist ein guter Mensch, Dirk, das ist er wirklich. Auf mancherlei Art der beste, den ich je getroffen habe. Ich liebte ihn, und möglicherweise liebe ich ihn noch immer. Ich weiß es nicht. Im Moment bin ich völlig durcheinander. Aber ob ich ihn nun liebe oder nicht, ich verdanke ihm sehr viel. Die Bindungen der Kavalaren bestehen aus Schuld und Verpflichtung. Die Liebe ist nur ein winziges Etwas, das Jaan auf Avalon kennenlernte, und ich weiß nicht, ob er sie bis heute in den Griff bekommen hat. Ich wäre gern sein teyn geworden, wenn das im Bereich der Möglichkeiten gelegen hätte. Aber er hatte schon einen teyn. Davon abgesehen, wäre es Jaan auch nicht möglich gewesen, sich so massiv gegen die Bräuche seiner Welt zu stellen.

Du hast ja gehört, was er über Duelle gesagt hat — und alles nur, weil er die Computerbänke durchforstete und herausfand, daß die kavalarischen Volkshelden Titten hatten.« Sie lächelte verbissen. »Stell dir mal vor, was geschehen wäre, wenn er mich zum teyn genommen hätte. Er hätte alles, aber auch alles verloren. Eisenjade ist relativ tolerant, ja, aber es wird noch Jahrhunderte dauern, bis man alle verbliebenen Schranken niedergerissen hat. Keine Frau hat je Eisen-und-Glühstein getragen.«

»Warum nicht?« fragte Dirk. »Ich verstehe das nicht.

Die ganze Zeit über redet ihr alle von Gebärfrauen und Haltfrauen und Frauen, die sich in Höhlen verstecken und sich aus Angst nicht hervortrauen. Ich kann das alles nicht ganz glauben. Wie kann sich Hoch Kavalaan derart verrannt haben? Was hat man dort gegen Frauen? Warum ist es ein Sakrileg zu behaupten, der Eisenjadegründer sei weiblich gewesen? Schließlich sind dies eine Menge Menschen.«

Gwen schenkte ihm ein müdes Lächeln und rieb sich die Schläfen mit den Fingerspitzen, so als hätte sie Kopfschmerzen und hoffte, sie wegmassieren zu können.

»Du hättest Jaans geschichtlichen Abriß besser bis zum Ende angehört«, sagte sie. »Dann wüßtest du jetzt soviel wie wir. Er kam gerade in Fahrt und war noch nicht einmal bei der Leidbringenden Plage angelangt.« Sie seufzte. »Es ist eine sehr lange Geschichte, Dirk, und im Augenblick habe ich nicht die Energie, sie dir zu erzählen. Warte, bis wir wieder in Larteyn sind. Ich werde ein Exemplar von Jaans Theorie auftreiben. Dann kannst du alles selbst nachlesen.« »In Ordnung«, sagte Dirk. »Aber einige Dinge kann ich leider nirgendwo nachlesen. Vor einigen Minuten hast du gesagt, du wüßtest nicht, ob du Jaan noch liebst. Mit Sicherheit bringst du Hoch Kavalaan keine Zuneigung entgegen, und was Garse betrifft, so glaube ich, daß du ihn haßt.

Weshalb tust du dir das alles an?«

»Du hast vielleicht eine Art, blöde Fragen zu stellen«, sagte sie ärgerlich. »Aber bevor ich antworte, muß ich einige deiner Behauptungen korrigieren. Vielleicht ist es so, wie du sagst, vielleicht hasse ich Garse. Manchmal bin ich mir dessen sogar ziemlich sicher, obgleich es Jaan umbrächte, wenn ich ihm das sagen würde. Andere Male jedoch … Ich habe dich vorhin nicht angelogen, als ich sagte, daß ich auch für ihn freundliche Gefühle hege. Als ich zum ersten Mal auf Hoch Kavalaan eintraf, war ich so grün, unschuldig und verwundbar, wie ich nur sein konnte. Jaan hatte mich natürlich geduldig und gründlich darauf vorbereitet, und ich hatte alles akzeptiert — schließlich kam ich von Avalon, also kann man kaum noch gebildeter sein, oder? Es sei denn, man stammt von der Erde. Ich studierte all die unheimlichen Kulturen, welche die Menschheit auf den Sternen hervorbrachte, und ich wußte, daß jeder, der ein Sternenschiff betritt, auf eine Vielzahl unterschiedlicher sozialer Systeme und Moralvorstellungen vorbereitet sein muß. Ich wußte, daß sexuelle und familiäre Gebräuche variieren und Avalon auf diesem Gebiet Hoch Kavalaan nicht unbedingt überlegen sein mußte. Ich hielt mich für sehr weise.

Aber die Kavalaren hatte ich nicht einschätzen können, oh nein. Nie werde ich eine Sekunde des ersten Tages und der ersten Nacht vergessen, die ich als Jaan Vikarys betheyn in den Festhalten von Eisenjade verbrachte.

Diese Angst, dieses Trauma. Besonders die erste Nacht.«

Sie lachte. »Jaan hatte mich natürlich gewarnt, und ich … zum Teufel, ich war einfach nicht darauf vorbereitet, mit zwei Männern das Bett zu teilen. Was soll ich sagen? Es war schlimm, aber ich lebe noch. Garse half mir, er war ehrlich besorgt um mich und auch um Jaan. Man könnte fast sagen, er war zärtlich. Ich vertraute mich ihm an, er hörte zu und kümmerte sich um mich. Dann, am nächsten Morgen, begann er damit, mich verbal fertigzumachen.

Ich war erschrocken und verletzt. Jaan war völlig verblüfft und wahnsinnig wütend. Als Garse mich zum erstenmal betheyn-Schlampe nannte, schlug ihn Jaan beinahe zu Boden. Danach war für eine Weile Ruhe.

Garse läßt mich häufig in Frieden, aber ganz aufgegeben hat er es nie. Er ist wirklich ein komischer Kauz. Jeden Kavalaren, der mich nur halb so schlimm beleidigen würde, wie er es tut, würde er sofort zum Duell fordern und töten. Er weiß, daß seine groben Spaße Jaan in Rage versetzen und schreckliche Streitereien provozieren — wenigstens war es früher so, heute ist Jaan schon abge-stumpfter. Aber Garse läßt nicht locker. Vielleicht kann er nicht anders, vielleicht verabscheut er mich wirklich, vielleicht genießt er es auch, anderen Schmerzen zu bereiten. Trifft letzteres zu, dann habe ich ihm in den letzten Jahren nicht viel Freude bereitet. Daß er mich nicht mehr zum Heulen bringen sollte, war mein erster Entschluß. Es gelang ihm nicht wieder. Selbst wenn er sich völlig vergißt und etwas sagt, wofür ich ihm mit einer Axt den Schädel spalten möchte, lache ich nur und zeige meine Zähne. Dabei versuche ich dann, ihn mir in einer unmöglichen Situation vorzustellen. Ein- oder zweimal gelang es mir sogar, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Normalerweise jedoch läßt er mich wie ein Häufchen Elend zurück.

Und doch gibt es trotz allem auch noch andere Momente. Waffenstillstände, kleine Feuerpausen in unserem nie enden wollenden Krieg, Zeiten überraschender Wärme und Zuneigung. Oft treten sie nachts auf. Ich bin dann immer schockiert. Sie sind so unglaublich intensiv. Du kannst es mir glauben oder nicht, einmal sagte ich Garse, ich würde ihn lieben. Er lachte mich aus. Diese Gefühle könne er seinerseits nicht im geringsten erwidern, sagte er laut. Für ihn sei ich vielmehr cro-betheyn, und er behandle mich nur so, weil das die Beziehung zwischen uns dreien so erfordere. Es war das letzte Mal, daß ich dem Heulen nahe war. Aber ich kämpfte mit aller Macht dagegen an und gewann. Ich weinte nicht. Ich rief ihm nur ein Schimpfwort zu und rannte in den Gang hinaus. Wir wohnten unter der Erde, weißt du. Auf Hoch Kavalaan lebt alles unter der Erde.

Außer meiner Armspange trug ich nicht viel auf dem Leibe, und ich rannte kopflos herum, bis ich auf einen Mann traf, der mich aufhalten wollte. Ein Betrunkener, ein Idiot, was weiß ich, ein Blinder jedenfalls hätte mein Jade-und-Silber erkennen können. Ich war so wütend, daß ich ihm die Waffe aus dem Holster zog und ihm damit ins Gesicht schlug. Noch nie zuvor hatte ich jemand im Zorn geschlagen. Dann tauchten auch schon Jaan und Garse auf. Jaan schien sehr ruhig, aber innerlich kochte er. Garse war fast glücklich, er legte es auf einen Streit an. Als sei der Mann, den ich überwältigt hatte, noch nicht genug beleidigt worden, mußte Garse mir sagen, ich solle die Zähne, die ich ihm ausgeschlagen hatte, aufheben und an den Besitzer zurückgeben.

Glücklicherweise kam es darüber nicht zum Duell.«

»Wie, zum Teufel, konntest du nur in eine solche Situation hineingeraten, Gwen?« wollte Dirk wissen. Er hatte Mühe, seine Stimme am Überschlagen zu hindern.

Er war wütend auf sie, fühlte sich mit ihr verletzt und seltsamerweise — doch vielleicht war das gar nicht so seltsam — froh. Alles was ihm Ruark erzählt hatte, war wahr. Der Kimdissi war ihr guter Freund und Vertrauter, kein Wunder, daß sie nach ihm geschickt hatte. Ihr Leben war ein einziger Jammer, sie war eine Sklavin, und nur er konnte das ändern, auf ihn kam es an. »Du hättest dir doch denken können, was dabei herauskommt.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich habe mir etwas vorgemacht«, sagte sie, »und ich ließ mir von Jaan etwas vormachen, obwohl ich denke, daß er all die Trugbilder, die er mir vorgaukelt, als Realität nimmt. Hätte ich noch einmal die Wahl… Aber ich habe sie nicht. Ich war für ihn bereit, ich brauchte ihn — und ich liebte ihn. Sein Eisen-und-Glühstein war, schon vergeben, deshalb reichte er mir Jade-und-Silber. Und ich nahm es entgegen, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was das bedeutete. Kurz zuvor hatte ich dich verloren.

Mit Jaan sollte es nicht genauso sein. Daher legte ich den hübschen kleinen Armreif um und sagte stolz: ›Ich bin mehr als nur betheyn.‹ Als ob das eine Rolle gespielt hätte. Gib einem Ding einen Namen, und es beginnt zu existieren. Für Garse bin ich Jaans betheyn und seine cro-betheyn, und damit hat es sich. Die Bezeichnungen definieren die Verbindungen und Pflichten. Was konnte es sonst noch geben? Alle Kavalaren leben danach. Wenn ich mich aufraffe und über die Bezeichnung hinauswachse, ist Garse da, der mir wütend betheyn zuruft. Nur Jaan ist da anders, aber manchmal komme ich nicht umhin, mich zu fragen, wie er in Wirklichkeit darüber denkt.«

Ihre Hände erschienen auf dem Tischtuch und ballten sich zu zwei kleinen Fäusten. »Wieder dieselbe dumme Geschichte, Dirk. Du wolltest mich zu deiner Jenny machen, und ich rettete mich, indem ich den Namen zurückwies. Aber wie eine Närrin nahm ich Jade-und-Silber. Und nun bin ich Haltfrau, und alles Lamentieren nützt mir nichts mehr. Dieselbe dumme Geschichte*.«

Ihre Stimme war schrill, die Fäuste hatte sie so krampfhaft geballt, daß die Knöchel weiß hervortraten.

»Wir können es ändern«, sagte Dirk schnell. »Komm zu mir zurück.« Was er sagte, klang hohl, hoffnungsvoll, verzweifelt, triumphierend, besorgt, seine Stimme drückte all dies zugleich aus. Zuerst antwortete Gwen nicht. Sehr langsam, Finger für Finger, öffnete sie die Fäuste und starrte niedergeschlagen auf ihre Hände. Sie atmete tief und inspizierte einmal die Handflächen, dann wieder die Handrücken, als hätte sie fremdartige Artefakte vor sich, die es zu untersuchen galt. Dann legte sie die Hände flach auf den Tisch und stemmte sich hoch.

»Warum?« fragte sie und hatte ihre Stimme wieder völlig in der Gewalt. »Warum, Dirk? Damit du mich wieder zu deiner Jenny machen kannst? Ist das der Grund? Weil ich dich damals liebte, weil davon noch etwas zurückgeblieben sein kann?«


»Ja! Nein, meine ich. Du bringst mich völlig durcheinander.« Auch er erhob sich.

Sie lächelte. »Ja, aber ich habe Jaan auch einmal geliebt, sogar noch nach dir. Und mit ihm kamen andere Bindungen, die Verpflichtungen Jade-und-Silber gegenüber. Zwischen uns beiden gibt es nur Erinnerungen, Dirk.« Gwen stand da und wartete. Als er nicht antwortete, ging sie auf die Tür zu. Er folgte ihr.

Der Robotkellner kam heran und versperrte ihnen den Weg. Sein formloses Gesichtsoval glänzte metallisch.

»Die Rechnung«, sagte er. »Bitte nennen Sie mir die Nummer ihres Festivalkontos.« Gwen zog die Brauen hoch. »Bank von Larteyn, Eisenjade 797-742-677«, fauchte sie. »Bitte alles unter dieser Nummer registrieren.« »Registriert«, verkündete der Roboter und gab den Weg frei. Hinter ihnen gingen im Restaurant die Lichter aus.

Der Wagen wartete noch dort, wo sie ihn verlassen hatten. Gwen bat die Stimme, sie zur Landeschleuse zurückzufahren, und sie fuhren wieder durch Korridore, die plötzlich von frohen Farben und beschwingter Musik erfüllt waren. »Der verdammte Computer hat die Spannung in unseren Stimmen registriert«, sagte sie ein wenig zornig. »Jetzt versucht er uns aufzumuntern.«

»Das macht er aber nicht besonders gut«, sagte Dirk, aber er mußte dabei lachen. »Danke für das Essen. Ich habe vor der Ankunft meine Standards in Festivalgutscheine umgewechselt, aber viel ist dabei nicht herausgekommen, fürchte ich.«

»Eisenjade ist nicht arm«, sagte Gwen. »Und auf Worlorn gibt es ohnehin nicht viel zu bezahlen.«

»Hmm, ja. Ich glaubte bis jetzt, man würde überhaupt nichts los.« »Festivalprogrammierung«, ließ Gwen verlauten. »Dies hier ist die einzige Stadt, die noch nach diesem Prinzip arbeitet. Alle anderen haben den Betrieb eingestellt. Einmal im Jahr schickt pi-Emerel einen Mann, der die Rechnungen bei den Banken einlöst. Bald wird ihn die Fahrt mehr kosten als er einnimmt.«

»Ich bin überrascht, daß das jetzt noch nicht der Fall ist.« »Stimme!« rief sie. »Wie viele Menschen leben heute in Challenge?« Die Wände antworteten.

»Augenblicklich habe ich dreihundertneun legale Bewohner und, Sie eingeschlossen, zweiundvierzig Gäste. Falls Sie den Wunsch haben, können auch Sie legale Bewohner werden. Der Preis hierfür hält sich in Grenzen.«

»Dreihundertneun?« sagte Dirk erstaunt. »Wo sind die alle?« »Challenge wurde für zwanzig Millionen Menschen erbaut«, sagte Gwen. »Du wirst sie hier kaum antreffen, aber sie sind da. Auch in anderen Städten gibt es noch Leute, wenn auch nicht so viele wie in Challenge. Hier lebt es sich am leichtesten. Das Sterben wird auch nicht schwerfallen, falls die Hochleibeigenen von Braith auf die Idee kommen, in den Städten anstatt in der Wildnis zu jagen. Das war schon immer Jaans größte Sorge.

Riesige Energiemengen werden hier verschwendet, einfach vergeudet. Aber darauf lief es bei Challenge und Larteyn und dem ganzen Festival überhaupt hinaus.

Verschwendung, protzige Schau, um zu zeigen, daß der Rand reich ist und mächtig, Verschwendung im großen Maßstab, wie es auf Menschenwelten vorher noch nie der Fall gewesen ist. Ein ganzer Planet wurde jahrelang umgeformt, danach verließ man ihn einfach wieder.

Verstehst du? Was Challenge anbelangt, so ist das Leben dieser Stadt nur noch leere, automatische Bewegung.


Mittels Kernreaktoren hält sie sich selbst in Gang und verpulvert die Energie in Feuerwerken, die kein Mensch sieht. Jeden Tag erntet sie mit ihren riesigen landwirtschaftlichen Maschinen viele Tonnen Nahrungsmittel, viel zuviel für den Bedarf der wenigen Einsiedler, religiösen Kultisten, verlorengegangenen und verwilderten Kinder, eben derjenigen, die als Strandgut des Festivals in die Stadt gespült wurden. Noch immer schickt Challenge jeden Tag ein Boot nach Musquel, um Fisch aufzunehmen. Natürlich gibt es dort gar keine Fische mehr.« »Stellt die Stimme kein neues Programm auf?«

»Ach, das ist ja der Haken an der ganzen Sache. Die Stimme ist ein Idiot. In Wirklichkeit kann sie gar nicht denken oder sich selbst programmieren. Die Emereli wollten eben die Leute beeindrucken, deshalb hört sich die Stimme so gewaltig und omnipotent an. Verglichen mit den Computern der Akademie auf Avalon oder den Künstlichen Intelligenzen auf Alt-Erde ist sie ein Nichts.

Sie denkt nicht und kann sich demnach auch nicht ändern. Sie macht das, womit sie beauftragt wurde, nicht mehr. Und die Emereli befahlen ihr weiterzumachen, so lange wie möglich der Kälte zu widerstehen. Genau das tut sie.«

Sie sah Dirk an. »Sie hat Ähnlichkeit mit dir. Sie macht noch weiter, lange nachdem ihre Hartnäckigkeit Sinn und Bedeutung verloren hat. Sie läßt nicht locker, obwohl es nichts mehr zu gewinnen gibt. Sie wird auch dann nicht aufgeben, wenn alles gestorben ist.« »Aber bis alles tot ist, darf man nicht lockerlassen«, meinte Dirk. »Darauf kommt es an, Gwen. Gibt es denn eine andere Möglichkeit? Ich bewundere die Stadt, auch wenn es sich dabei um einen derart selbstgefälligen Idioten handelt, wie du sagst.« Sie schüttelte den Kopf. »Das sieht dir ähnlich.« »Da ist noch etwas«, sagte er. »Du trägst alles zu früh zu Grabe, Gwen. Worlorn wird sterben, aber noch ist diese Welt nicht tot. Und wir, nun, wir brauchen auch noch nicht tot zu sein. Was du im Restaurant über Jaan und mich gesagt hast, na ja, darüber solltest du einmal nachdenken. Wäge ab, wieviel für mich und für ihn übriggeblieben ist. Wie schwer der Reif an deinem Arm wiegt« — er zeigte dorthin —, »und welchen Namen du am liebsten tragen würdest, oder besser gesagt, wer dir am ehesten deinen eigenen Namen gibt. Verstehst du?

Dann kannst du mir sagen, was gestorben ist und was noch lebt!«

Diese kleine Ansprache machte ihn recht zufrieden.

Sicher sah sie ein, dachte er, daß er Jenny viel leichter aufgeben konnte und sie Gwen sein ließ, als daß Jaantony sie von einer betheyn zu seinem weiblichen teyn machen würde. Das lag auf der Hand. Aber sie sah ihn nur an und sagte nichts, bis sie die Schleuse erreichten, in welcher der Gleiter wartete. Sie stiegen aus dem kleinen Fahrzeug. »Als wir vier unseren Aufenthaltsort auf Worlorn festlegten, stimmten Garse und Jaan für Larteyn.

Arkin zog den Zwölften Traum vor. Ich habe mich für keine der beiden Städte entschieden. Auch Challenge mit ihrem elektronischen Trubel paßte mir nicht. Ich habe keine Lust, in einem Ameisenhaufen zu leben. Du willst also wissen, was gestorben ist und was noch lebt? Komm mit, dann zeige ich dir meine Stadt.«

Sie waren wieder draußen. Während die kalte Nachtluft sie erschaudern ließ und Challenges leuchtender Turm hinter ihnen entschwand, saß Gwen mit zusammengekniffenen Lippen hinter den Armaturen …

Nun breitete sich wieder tiefe Dunkelheit aus, wie in der Nacht, als die Schaudern der Vergessenen Feinde Dirk nach Worlorn gebracht hatte. Am Himmel zeigte sich nur ein Dutzend Sterne, von denen die meisten noch von sich voranwälzenden Wolken verdeckt wurden. Alle Sonnen waren untergegangen.

Die Stadt der Nacht war groß und sah verschachtelt aus.

Nur wenige Lichter durchbrachen die Dunkelheit, in die sie gebettet war wie ein bleicher Edelstein auf weichem, schwarzem Filz. Als einzige unter den Städten befand sie sich in der Wildnis jenseits der Bergkette, und dort gehörte sie auch hin, in die Wälder der Würger, Geisterbäume und Blauen Witwer. Aus der Schwärze des Waldes wuchsen ihre schlanken, weißen Türme gespenstisch den Sternen entgegen, durch graziös gewundene Brücken, die wie gefrorene Spinnennetze glitzerten, miteinander verbunden. Mitten im Netzwerk der Kanäle, in deren Wasser sich das Licht der Türme und das ferne Funkeln gelegentlich sichtbarer Sterne brach, hielten flache Kuppelbauten ihre einsame Nachtwache. Rings um die Stadt befand sich eine Anzahl seltsamer Gebäude, dürren, knochigen Händen gleich, die in ihrer Verzweiflung den Himmel zu fassen versuchten.

Die Bäume, die man hier erblickte, kamen ohne Ausnahme von den Außenwelten, Gras gab es überhaupt nicht, nur dicke Teppiche trübe fluoreszierenden Mooses.

Und die Stadt sang.

Nie hatte Dirk eine solche Musik gehört. Sie klang unheimlich, zügellos, beinahe unmenschlich und schwoll ständig an und ab. Es war eine düstere Symphonie des Nichts, von sternenlosen Nächten und abgründigen Träumen. Sie setzte sich zusammen aus Klagelauten, Flüstern, Heulen und einem eigentümlich tiefen Ton, der nur als Inbegriff der Traurigkeit gedeutet werden konnte.

Trotz alledem — es war Musik.

Verwundert blickte Dirk zu Gwen hinüber. »Wie ist das möglich?« Während Gwen flog, hatte sie hingebungsvoll den fremdartigen Tönen gelauscht, aber seine Frage riß sie aus ihren Gedanken, und sie lächelte schwach. »Dunkeldämmerung hat diese Stadt erbaut, und die Dunklinge sind seltsame Leute. In den Bergen gibt es einen tiefen Einschnitt, den ihre Wettermacher sich zunutze machten. Jetzt bläst der Wind genau hindurch. In der Stadt bauten sie Spiraltürme, an deren Spitzen sich Löcher befinden. Der Wind spielt die Stadt wie ein Instrument. Dasselbe Stück, immer wieder. Die Wetterkontrollmechanismen verändern die Windrichtung, und mit jeder Änderung beginnen einige Türme ihre| Töne zu pfeifen, während andere verstummen. Die Musik — diese Symphonie — wurde vor Jahrhunderten auf Dunkeldämmerung von einer Komponistin namens Lamiya-Bailis geschrieben. Ein Computer spielt sie, sagt man, indem er die Windmaschinen betreibt. Das seltsame daran ist, daß die Dunklinge eigentlich niemals Computer benutzen und von Technik nur sehr wenig verstehen. Während der Tage des Festivals war auch noch eine andere Geschichte in aller Munde. Eine Art Legende, kann man sagen.

Darin hieß es, daß Dunkeldämmerung eine Welt sei, deren Bewohner gefährlich nahe am Rande geistiger Gesundheit leben. Die Musik von Lamiya-Bailis, der größten Träumerin unter den Dunklingen, war es schließlich, welche die gesamte Kultur in Wahn und Verzweiflung stürzte. Als Strafe, so sagte man, wurde ihr Gehirn am Leben erhalten und tief unter den Bergen von Worlorn an die Windmaschinen angeschlossen, wo es immer und immer wieder sein eigenes Meisterwerk spielen muß.« Sie fröstelte. »Oder wenigstens so lange, bis die Atmosphäre gefriert. Diesen Vorgang können selbst die Wetterwächter von Dunkeldämmerung nicht aufhalten.«

»Die Musik ist…« Dirk fand keine Worte, so sehr war er in das schaurige Lied vertieft. »Sie trifft es genau«, sagte er nach einer Weile. »Worlorns Hymne!«

»Jetzt ist sie zur Musik des Planeten geworden«, sagte Gwen. »Das Lied handelt vom Zwielicht und der anbrechenden Nacht, nach der es kein Morgengrauen mehr gibt, niemals wieder. Ein Lied des Endes. Zur Glanzzeit des Planeten war das Lied fehl am Platze.

Kryne Lamiya — so heißt diese Stadt, Kryne Lamiya, die man oft auch Sirenenstadt nannte, so wie Larteyn als Feuerfestung bezeichnet wurde. Nun, sie war bei den Touristen nicht sehr beliebt. Sie sieht sehr groß aus, ist aber bei genauerer Betrachtung viel kleiner. Sie wurde nur für hunderttausend Einwohner gebaut und beherbergte davon nie mehr als den vierten Teil. Wie Dunkeldämmerung selbst, nehme ich an. Wie viele Reisende machen schon einen Abstecher nach Dunkeldämmerung am Rande des Großen Schwarzen Meeres? Und wie viele davon kommen im Winter, wenn der Himmel jener Welt bar jeder Sterne ist und man nur das Licht einiger weit entfernter Galaxien wahrnimmt?

Sehr wenige. Man muß schon ein Sonderling sein. Für Kryne Lamiya trifft dasselbe zu. Die Leute wurden durch das Lied beunruhigt. Es hörte nie auf. Die Dunklinge hielten es nicht für nötig, die Schlafzimmer schalldicht zu machen.« Dirk schwieg. Er starrte auf die schlanken Spiraltürmchen und lauschte ihrem Singsang.

»Willst du landen?« fragte Gwen.


Er nickte, und sie begann, die Maschine hinunterzudrücken. An einem der Türme fanden sie eine offene Landenische. Im Gegensatz zu den Schleusen in Challenge und Zwölfter Traum war diese nicht völlig leer. Zwei andere Luftwagen, ein kurzflügeliger, roter Sportgleiter und eine winzige, schwarzsilberne Träne, standen in der Nähe herum. Beide Fahrzeuge waren schon vor langer Zeit verlassen worden. Staub hatte sich auf den Karosserien und Windschutzscheiben angesammelt, und im Inneren des roten Sportgleiters war die Polsterung in Auflösung begriffen. Neugierig, wie er war, probierte Dirk beide Fahrzeuge aus. Der Sportgleiter gab keinen Ton von sich. Seine Aggregate brachten keine Leistung mehr, sie waren schon lange ausgebrannt. Aber die kleine Träne wurde unter seinem Griff warm, die Armaturen leuchteten auf und zeigten noch geringe Energiereserven an. Der riesige, graue Manta von Hoch Kavalaan war größer und schwerer als die beiden herrenlosen Wracks zusammen.

Sie verließen die Landeschleuse und kamen in einen langen Gang, in dem grauweiße Wandlichtbilder im Einklang mit der allgegenwärtigen Musik waberten und in Kaskaden zerplatzten. Dann betraten sie einen Balkon, den sie von draußen ausgemacht hatten. Im Freien war die Musik geradezu überwältigend. Sie rief sie mit unirdischen Stimmen, berührte sie und spielte anschwellend und lockend in ihrem Haar. Dirk nahm Gwen bei der Hand und starrte blind über Türme, Kuppeln und Kanäle hinweg auf den Wald und die Berge dahinter. Während er so verharrte, schien die Windmusik an ihm zu zerren. Sie sprach zu ihm mit einschmeichelnder Stimme, wollte ihn zum Hin-abspringen animieren, wie es schien — um allem ein Ende zu setzen, dieser dummen, unwürdigen und in höchstem Maße lächerlichen Sinnlosigkeit, die er sein Leben nannte.

Gwen las in seinen Augen. Sie drückte seine Hand, und als er sie ansah, sagte sie: »Während des Festivals verübten mehr als zweihundert Menschen in Kryne Lamiya Selbstmord. Zehnmal mehr als in jeder anderen Stadt. Und das, obwohl diese Stadt die wenigsten Einwohner von allen hatte.«

Dirk nickte. »Ja. Man kann es spüren. Die Musik.«

»Ein Grabgesang«, sagte Gwen. »Die Sirenenstadt selbst ist allerdings nicht tot wie Musquel oder der Zwölfte Traum. Starrköpfig lebt sie weiter, wenn auch nur, um Verzweiflung zu verbreiten und die Leere des Lebens, an das sie sich klammert, zu glorifizieren. Seltsam und widersprüchlich, nicht wahr?«

»Weshalb wurde eine solche Stadt gebaut? Sie ist schön, aber …« »Ich habe eine Theorie«, sagte Gwen.

»Die Dunklinge sind in erster Linie Nihilisten mit schwarzem Humor. Ich glaube, Kryne Lamiya ist ihre verächtliche Antwort auf Hoch Kavalaan, Wolfheim, Tober und die anderen Welten, die das Fest des Randes mit allen Mitteln vorantrieben. Die Dunklinge kamen — und was bauten sie? Eine Stadt, die zum Ausdruck brachte, daß alles wertlos sei. Alles wertlos — das Festival, die Zivilisationen der Menschheit, das Leben selbst. Stell dir das vor! Welch eine Falle für all die hochnäsigen Touristen.« Sie warf den Kopf in den Nacken und begann unkontrolliert loszulachen, und in Dirk kroch plötzlich die irrationale Angst empor, seine Gwen könnte verrückt geworden sein. »Und hier wolltest du leben?« fragte er. Ihr Lachen verklang so rasch, wie es eingesetzt hatte, der Wind riß es ihr von den Lippen.


Rechts von ihnen produzierte ein Nadelturm einen kurzen, schneidenden Ton, der wie das Jaulen eines verletzten Tieres klang. Ihr eigener Turm antwortete mit dem tieftraurigen Klageton eines Nebelhorns, der nicht mehr enden wollte. Die Musik kam von allen Seiten. Aus der Ferne konnte Dirk die Schläge einer einzelnen Pauke hören — kurze, dumpfe, gleichmäßig erfolgende Schläge.

»Ja«, sagte Gwen. »Hier wollte ich leben.« Das Nebelhorn verklang, jenseits des Kanals begannen vier rohrähnliche Türme, die von durchhängenden Brücken zusammengehalten wurden, ein unerträgliches Pfeifkonzert, das sich in immer höhere Tonlagen hinaufwand, bis es schließlich im nicht mehr vernehmbaren Bereich endete. Die Pauke dröhnte unverändert weiter: bumm, bumm, bumm. Dirk seufzte.

»Ich kann das verstehen«, sagte er sehr müde. »Ich glaube, ich würde diese Stadt auch wählen, obwohl ich mich dann fragen müßte, wie lange ich noch zu leben hätte. Braque war auch so ähnlich, ein bißchen wenigstens, besonders bei Nacht. Vielleicht habe ich deswegen dort gelebt. Ich war sehr müde geworden, Gwen. Unheimlich müde. Ich glaube, ich hatte aufgegeben. In den alten Tagen war ich immer auf der Suche, weißt du. Auf der Suche nach Liebe, nach Geld und Glück, nach den Geheimnissen des Universums — ist ja auch egal. Aber nachdem du mich verlassen hattest … ich weiß nicht, alles ging schief, gefiel mir plötzlich nicht mehr. Und wenn irgend etwas klappte, fand ich es langweilig, es bedeutete mir nichts mehr. Alles war leer.

Ich versuchte tausend Dinge, hatte aber schnell von allem genug, wurde apathisch und zynisch. Möglicherweise kam ich deshalb hierher. Du … ich war in besserer Verfassung, als ich noch mit dir zusammen war. Ich hatte noch nicht so viele Dinge aufgegeben. Ich stellte mir vor, wenn ich dich wiederfinden könnte, wäre es mir vielleicht möglich, auch zu mir zurückzufinden. So ganz ist die Rechnung nicht aufgegangen. Ich weiß nicht, ob sie wenigstens ein bißchen aufgeht.«

»Höre dir Lamiya-Bailis an«, sagte Gwen, »und ihre Musik wird dir sagen, daß nichts aufgeht, daß nichts einen Sinn hat. Ich wollte hier leben, weißt du. Ich stimmte … nun, ursprünglich wollte ich nicht für oder gegen etwas stimmen, aber wir sprachen es bei der ersten Landung durch, und so kam es doch zur Abstimmung.

Die Stadt jagte mir Angst ein. Wahrscheinlich haben wir beide noch viel gemeinsam, Dirk. Auch ich bin müde geworden. Meistens sieht man das nicht. Ich habe meine Arbeit, Arkin ist mein Freund, und Jaan liebt mich. Aber dann komme ich hierher … oder manchmal lasse ich mich nur ein wenig gehen und denke zuviel nach, und dann stelle ich mir Fragen. Sie reichen nicht, die Dinge, die ich habe. So habe ich es nicht gewollt.« Sie wandte sich ihm zu und nahm seine Hand zwischen ihre beiden Hände.

»Ja, ich habe an dich gedacht. Ich habe gedacht, daß es damals besser war, als wir auf Avalon zusammen waren, und ich habe daran gedacht, daß ich dich vielleicht noch immer liebe und nicht Jaan. Ich habe gedacht, daß du und ich vielleicht den Zauber wieder einfangen könnten und allem einen neuen Sinn zu geben in der Lage wären.

Aber es ist nicht so — siehst du das nicht, Dirk? Und deine Vorstöße machen es auch nicht besser. Höre der Stadt zu, höre auf Kryne Lamiya. Dort liegt deine Wahrheit. Du denkst an mich und ich manchmal an dich, weil zwischen uns Scheu ist. Das ist der einzige Grund, warum es besser erscheint. Gestern Glück und morgen Glück, aber niemals heute, Dirk. Es kann gar nicht sein, weil es letzten Endes eben nur eine Illusion ist, und Illusionen sehen aus der Ferne echt aus. Zwischen uns ist es aus, mein Liebling, und das ist das beste, was uns passieren konnte, denn es ist das einzige, was es gut macht.«

Sie weinte, langsam liefen die Tränen ihre Wangen hinab. Kryne Lamiya weinte mit ihr, die Türme sangen ihr Klagelied. Aber sie machten sich gleichzeitig über sie lustig, als wollten sie sagen: Ich begreife deinen Schmerz, aber auch die Trauer hat nicht mehr Bedeutung als alles andere, der Schmerz ist so leer wie das Vergnügen. Die Spiralentürmchen heulten, dünne Gitter lachten irre, und die tiefe, weit entfernte Pauke machte bumm, bumm, bumm. Wiederum, und diesmal noch stärker, verspürte Dirk das Verlangen, vom Balkon hinabzuspringen, dem bleichen Stein und den dunklen Kanälen entgegen. Ein schwindelerregender Fall — und dann endlich Ruhe. Aber die Stadt schalt ihn singend einen Narren. Ruhe? sang sie. Im Tod gibt es keine Ruhe.

Nur das Nichts. Nichts. Nichts. Die Trommel, die Winde, das Heulen. Zitternd hielt er Gwens Hand. Weit unter sich sah er den Erdboden.

Etwas bewegte sich den Kanal entlang. Etwas kam mit leichter Fahrt auf ihn zu. Ein schwarzer Kahn mit einem einsamen Steuermann. »Nein«, sagte er.

Gwen blinzelte. »Nein?« wiederholte sie.

Und plötzlich sprudelten die Worte hervor, die Worte, die der andere Dirk t’Larien zu seiner Jenny gesagt hätte, und die Worte waren in seinem Mund. Obgleich er nicht sicher war, ob er sie noch glauben konnte, schrie er sie fast hinaus. »Nein!« rief er als wütende Antwort auf die spöttische Musik Kryne Lamiyas. »Verdammt noch mal, Gwen, alle von uns haben ein bißchen von dieser Stadt in uns. Es kommt darauf an, wie wir diesem Teil entgegentreten. Alles wirkt furchteinflößend« er ließ ihre Hand los und gestikulierte mit einer schwungvollen Handbewegung in die Dunkelheit hinaus —, »alles, was sie sagt, und es wird noch viel schlimmer, wenn ein Teil von dir zustimmt, wenn du alles als Wahrheit nimmst, wenn du hierher gehörst. Aber was kann man dagegen tun? Wer schwach ist, ignoriert das einfach. Tue einfach so, als wäre es nicht da, vielleicht verschwindet es dann von selbst. Beschäftige dich tagsüber mit trivialen Aufgaben und wage nicht an die Dunkelheit draußen zu denken. Auf diese Weise wird es die Oberhand über dich gewinnen, Gwen. Am Ende verschluckt es dich und deine Trivialitäten, und du und die anderen Narren liegen grüblerisch da und heißen es auch noch willkommen. So kannst du doch nicht sein, Gwen, so geht es einfach nicht.

Du mußt dich zusammenreißen. Du bist doch Ökologin, nicht wahr? Was ist die Ökologie denn? Leben? Du mußt auf der Seite des Lebens stehen, alles, was du bist, schreit danach. Diese Stadt, diese verdammte totenbleiche Stadt mit ihrer Todeshymne, lehnt alles ab, woran du glaubst und was du bist. Wenn du stark bist, stellst du dich ihr entgegen, nennst sie beim Namen und kämpfst gegen sie an. Trotze ihr!«

Gwen hatte aufgehört zu weinen. »Es hat keinen Zweck«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Du hast unrecht«, erwiderte er. »Was die Stadt und was uns angeht. Es sieht alles ganz anders aus, verstehst du? Du sagst, du möchtest hier leben? Hier leben! In dieser Stadt zu leben, bedeutet schon in sich einen Sieg, einen philosophischen Sieg. Aber lebe hier, weil du weißt, daß das Leben selbst Lamiya-Bailis widerlegt, lebe hier und lache über ihre absurde Musik, lebe nicht hier, um diese verdammte heulende Lüge gutzuheißen.«

Damit nahm er sie wieder bei der Hand. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich schon« log er.

»Glaubst du wirklich, daß … daß wir noch einmal von vorn beginnen könnten? Daß es besser würde als früher?« »Du wirst nicht mehr Jenny sein«, versprach er.

»Nie wieder.« »Ich weiß nicht«, wiederholte sie leise flüsternd. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und hob es an, so daß sie ihm in die Augen sah. Dann küßte er sie ganz leicht, wobei sich ihre Lippen nur oberflächlich berührten. Kryne Lamiya stöhnte. In ihrer Nähe erklang tief und sorgenvoll das Nebelhorn, die abgelegeneren Türme kreischten schrill, und die einsame Pauke hielt ihren langweiligen, bedeutungslosen Rhythmus bei.

Nach dem Kuß standen sie musikumtönt auf dem Balkon und sahen sich lange an. »Gwen«, sagte er schließlich mit weitaus unsicherer und schwächerer Stimme als zuvor, »ich glaube, ich weiß es auch nicht.

Aber vielleicht ist es einen Versuch wert …«

»Vielleicht«, meinte sie, und ihre großen grünen Augen blickten wieder fort, senkten sich dem Boden zu. »Es würde sehr schwierig werden, Dirk. Jaan und Garse sind auch noch da, und eine ganze Menge Probleme. Wir wissen ja nicht, ob es sich überhaupt lohnt. Wir wissen nicht, ob es auch nur den kleinsten Unterschied macht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte er. »In den letzten Jahren bin ich oft zu dem Entschluß gekommen, daß alles egal ist und ein neuer Versuch nicht mehr lohnt. Das machte mich aber auch nicht glücklicher, nur müde, endlos müde. Gwen, wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie wissen.«

Sie nickte. »Mag sein«, war ihr einziger Kommentar.

Der Wind blies kalt und heftig, die dem Wahn der Dunklinge entsprungene Musik wurde abwechselnd lauter und leiser. Sie gingen hinein, die Treppen hinunter, vorbei an den fahl flackernden Lichtwänden auf den einzigen Fels in der Brandung des Irrsinns zu: ihren Gleiter, der darauf wartete, sie nach Larteyn zu tragen.

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