XII Die Notulen

Ich kam aus meinen Träumen von Thecla direkt in den Morgen. In einem Moment schritten wir stumm durch Gefilde, die sicherlich das Paradies waren, welches die Neue Sonne, wie man sagt, allen auftut, die sie in ihren letzten Augenblicken anrufen. Und obschon die Weisen lehren, daß es jenen verschlossen bleibt, die sich selbst richten, glaube ich einfach, daß sie, die so vieles vergibt, zuweilen auch das vergeben muß. Im nächsten Moment bemerkte ich Kälte und unfreundliches Licht und das Piepsen von Vögeln.

Ich setzte mich auf. Mein Mantel war feucht vom Tau, und Tau bedeckte wie Schweiß mein Gesicht. Neben mir hatte Jonas sich zu regen begonnen. In zehn Schritt Entfernung standen, auf dem Zaumgebiß kauend und ungeduldig auf die Erde stampfend, zwei große Streitrosse – eins weiß wie Wein, das andere makellos schwarz. Vom Fest und von den Festgästen fehlte jede Spur; ebenso von Thecla, die ich nie wieder gesehen habe und die ich nun in diesem Dasein nicht mehr wiederzusehen hoffe.

Terminus Est lag, in der festen, gut eingeölten Scheide geborgen, neben mir im Gras. Ich hob es auf und ging bergab, bis ich auf einen Bach stieß, wo ich mich, so gut es ging, frisch machte. Als ich zurückkam, war Jonas wach. Ich schickte ihn zum Wasser, und während er fort war, sagte ich der toten Thecla Lebewohl.

Dennoch ist ein Teil von ihr noch bei mir; zuweilen bin ich als Denkender nicht Severian, sondern Thecla, gleichsam als wäre mein Verstand ein hinter Glas gerahmtes Bild, vor dem Thecla stünde, so daß sie sich im Glase spiegelte. Wenn ich seit jener Nacht an sie denke, ohne eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort ins Visier zu nehmen, steht die Thecla, die in meiner Vorstellung auflebt, obendrein stets vor einem Spiegel in einem glänzenden, schneeweißen Gewand, das ihre Brüste nur spärlich bedeckt und in immer neuen Faltenwürfen von ihren Hüften fällt. Ich sehe sie für einen Moment davor verharren; sie hebt die Hände und streicht über unser Gesicht.

Dann wird sie fortgewirbelt in einem Zimmer, dessen Wände und Decke und Boden allesamt aus Spiegeln sind. Zweifellos ist es ihre Erinnerung an ihr Abbild in diesen Spiegeln, die ich sehe, aber nach ein, zwei Schritten verschwindet sie in der Dunkelheit, und ich sehe sie nicht mehr.


Als Jonas zurückkehrte, hatte ich meinen Kummer bezähmt und vermochte sogar, bei ihm den Eindruck zu erwecken, ich sähe mir gerade unsere Reittiere näher an. »Der schwarze ist für dich«, meinte er, »und der Schimmel natürlich für mich, obwohl beide offenbar für einen jeden von uns zu wertvoll sind, wie der Seemann zum Chirurgen sagte, der ihm die Beine abnahm. Wohin geht es?«

»Zum Haus Absolut.« Ich sah sein ungläubiges Gesicht. »Hast du nicht gehört, was mir Vodalus in der Nacht gesagt hat?«

»Ich hörte, daß davon die Rede war, aber nicht, daß wir dorthin sollten.«

Ich bin, wie schon gesagt, kein guter Reiter, trotzdem habe ich den Fuß in den Steigbügel des Rappen gestellt und mich hochgeschwungen. Das Roß, das ich vorgestern abend von Vodalus gestohlen hatte, war mit einem hohen Soldatensattel ausgerüstet, der zwar unmenschlich hart war, aus dem man aber nicht so leicht stürzen konnte; dieser Rappe hingegen trug ein fast flaches Ding aus gepolstertem Samt, das sowohl weich als auch tückisch war. Kaum hatte ich die Beine um ihn geschlungen, als er auch schon eifrig zu tänzeln begann.

Es war vielleicht die unmöglichste Zeit, zugleich aber auch die einzige Zeit, die blieb. »An wieviel erinnerst du dich?« fragte ich.

»Bezüglich der Frau in der Nacht? An nichts.« Jonas umging den Rappen, band die Zügel des Schimmels los und sprang auf. »Ich habe nicht gegessen. Vodalus beobachtete dich, aber nachdem sie die Droge geschluckt hatten, beachtete mich keiner mehr. Außerdem habe ich die Kunst gelernt, mich essend zu stellen, ohne es allerdings wirklich zu tun.«

Ich sah ihn verblüfft an.

»Auch bei dir habe ich das mehrmals angewandt – beim gestrigen Frühstück, zum Beispiel. Ich habe nicht viel Appetit und finde das sehr nützlich, wenn ich in Gesellschaft bin.« Während er den Schimmel einen Waldweg hinab lenkte, rief er über die Schulter zurück: »Zufällig kenne ich die Strecke recht gut, zumindest das erste Stück davon. Aber würdest du so nett sein und mir sagen, was uns dorthin führt?«

»Dorcas und Jolenta werden dort sein«, antwortete ich. »Und ich habe für unsern Herrn, Vodalus, etwas zu erledigen.« Weil wir mit großer Sicherheit beobachtet wurden, hielt ich es für besser zu verschweigen, daß ich keineswegs die Absicht dazu hatte.


Hier muß ich, damit diese Erzählung meiner Laufbahn keine Ewigkeit dauert, die Ereignisse der folgenden Tage kurzerhand überspringen. Während unseres Rittes berichtete ich Jonas alles, was mir Vodalus gesagt hatte, und viel mehr. Wir hielten in Dörfern und Städten, auf die wir stießen, Rast, und wo wir weilten, waltete ich bedarfsgemäß meines Amtes – nicht weil wir das Geld, das ich mir verdiente, unbedingt gebraucht hätten (denn wir besaßen die Säckel von Chatelaine Thea, den Großteil meines Lohnes von Saltus und Jonas’ Verkaufserlös für das Gold des Menschenaffen), sondern um keinen Argwohn zu erregen.


An unserm vierten Morgen jagten wir noch immer gen Norden. Der Gyoll sonnte sich zu unserer Rechten wie ein träger Drache, die verbotene Straße bewachend, die an seinem Ufer verwilderte. Am Vortag hatten wir patrouillierende Ulanen gesehen, Männer auf Rossen wie den unsrigen, mit Lanzen bewehrt, ähnlich jenen, die am Erbärmlichen Tor die Reisenden niedergemetzelt hatten.

Jonas, dem seit unserem Aufbruch nicht wohl zumute war, murmelte: »Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch heut’ abend in die Nähe des Hauses Absolut kommen wollen. Ich wünschte, Vodalus hätte dir mitgeteilt, wann diese Feier beginnt und wie lange sie in etwa dauert.« »Ist es noch weit zum Haus Absolut?« fragte ich.

Er deutete auf eine Insel im Fluß. »Ich glaube, mich daran zu erinnern. Als ich zwei Tage davon entfernt war, erfuhr ich von Pilgern, das Haus Absolut sei in der Nähe davon. Sie warnten mich vor den Prätorianern und wußten offenbar, wovon sie redeten.«

Seinem Beispiel folgend, hatte ich mein Roß in einen Trab wechseln lassen. »Warst du zu Fuß?«

»Mit dem Merychippus – ich glaube, das arme Tier werde ich nicht wiedersehn. Offengestanden war es in seinen besten Zeiten langsamer als diese Renner in ihren schlechtesten, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie doppelt so schnell sind.«

Ich wollte schon einwenden, Vodalus hätte uns wohl kaum geschickt, wenn er es nicht für möglich gehalten hätte, daß wir das Haus Absolut rechtzeitig erreichten, als etwas eine Handbreit an meinem Kopf vorbeiglitt, das mir zunächst wie eine große Fledermaus vorgekommen war.

Wenn ich auch keine Ahnung hatte, was es war, Jonas wußte es. Er rief mir etwas zu, das ich nicht verstehen konnte, und peitschte mit seinem Zügelende auf meinen Renner ein. Er sprang an, so daß ich fast gestürzt wäre, und im nächsten Augenblick jagten wir in wildem Galopp davon. Ich erinnere mich, zwischen zwei Bäumen mit keiner Spanne Platz zu beiden Seiten hindurchgeschossen zu sein und das Ding zu sehen, das sich wie ein Rußfleck vom Himmel abgezeichnet hat. Im nächsten Augenblick ratterte es durchs Geäst hinter uns.

Als wir vom Waldrand in die trockene Wasserrinne dahinter wechselten, war es nicht mehr zu sehen; aber als wir den Talgrund erreichten und die jenseitige Böschung anritten, tauchte es aus den Bäumen auf, zerfetzter denn je.

Ein Stoßgebet lang war mir, als hätte es uns aus den Augen verloren, denn es schwebte in die falsche Richtung, nur um dann im flachen Segelflug auf uns niederzustoßen. Ich hatte Terminus Est gezückt und lenkte den Rappen zwischen das flatternde Ding und Jonas.

So schnell unsre Renner auch waren, es näherte sich viel schneller. Hätte ich eine Stoßwaffe besessen, hätte ich es beim Niederschnellen wohl aufspießen können, was ihm sicherlich den Garaus gemacht hätte. So mußte ich es eben mit einem zweihändigen Hieb erwischen. Es war wie ein Schlag durch die Luft, und offenbar war das Ding sogar für meine beißende Schneide zu leicht und zäh. Im nächsten Moment riß es entzwei wie ein Lumpen, wobei ich kurz eine Hitze spürte, als wäre das Türchen eines Ofens geöffnet und lautlos wieder geschlossen worden.

Ich wollte absteigen, um es mir anzusehn, aber Jonas schrie und winkte mir. Wir hatten den hohen Wald von Saltus weit hinter uns gelassen und ritten in ein zerklüftetes Land mit steilen Hängen und struppigen Zedern. Ein solcher Hain stand auf der Kuppe eines Hügels; tolldreist drangen wir in das Dickicht ein, flach auf den Hals unserer Renner geduckt.

Bald wurde das Geäst so dicht, daß sie nur noch im Schritt vorwärtskamen. Sogleich stießen wir auf eine blanke Felswand und waren zum Anhalten gezwungen. Nachdem wir nicht mehr durch das Geäst brachen, konnte ich hinter uns noch etwas hören – ein dürres Rascheln, wie wenn ein verwundeter Vogel durch die Wipfel flatterte. Der heilsame Zedernduft drückte auf meine Lungen.

»Wir müssen hier raus«, brüllte Jonas, »oder wenigstens in Bewegung bleiben!« Ein Aststumpf hatte ihm die Wange aufgeschrammt; beim Sprechen rann ihm das Blut herunter. Nachdem er sich in alle Richtungen umgesehen hatte, entschied er sich für rechts, zum Fluß hin, und drosch auf seinen Schimmel ein, um ihn in ein schier undurchdringliches Dickicht zu treiben.

Ich ließ ihn vorausgehen und einen Weg bahnen, weil ich überlegte, daß ich das Ding bei einem neuen Angriff wohl am besten abwehren könnte. Bald entdeckte ich es zwischen den graugrünen Nadeln; sogleich bemerkte ich ein zweites, dem ersten sehr ähnliches, nur ein kurzes Stück dahinter.

Das Gehölz hörte auf, so daß wir unsere Renner wieder in Galopp versetzen konnten. Die flatternden Trümmer der Nacht setzten hinter uns her, waren aber, obwohl die kleinere Gestalt sie schneller wirken ließ, langsamer als das größere einzelne.

»Wir müssen ein Feuer finden«, übertönte Jonas das Hufgetrappel. »Oder ein großes Tier, das wir schlachten können. Wenn du einem der Rosse den Bauch aufschlitztest, würde das reichen. Wenn nicht, hätten wir keine Fluchtmöglichkeit mehr.«

Mit einem Nicken gab ich zu verstehen, daß ich das Schlachten eines Rosses ablehnte, obwohl mir der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß mein Rappe wohl bald vor Erschöpfung zusammenbrechen mochte. Jonas mußte seinen Schimmel zügeln, damit ich Schritt halten konnte. »Wollen sie Blut?« fragte ich.

»Nein. Wärme.«

Jonas stellte seinen Renner nach rechts und schlug ihm mit der Stahlhand auf die Flanke; und das wohl nicht zimperlich, denn das Tier sprang an wie gestochen. Wir übersprangen einen trockenen Wasserlauf, torkelten einen staubigen Hang hinunter und gelangten in freies Gelände, wo die Renner ihre Schnelligkeit unter Beweis stellen konnten.

Hinter uns flatterten die rußschwarzen Fetzen. Sie schwirrten in doppelter Baumhöhe und schienen vom Wind vorangetrieben zu werden, obschon das sich neigende Gras anzeigte, daß sie gegen ihn anflogen.

Vor uns änderte sich das Gelände so sachte und dennoch so abrupt wie ein Tuch an seinem Saum. Ein gewundenes grünes Band lag wie ausgerollt zu unseren Füßen, und ich lenkte den Rappen darauf, während ich ihn mit Zurufen anfeuerte und mit der flachen Klinge anstachelte. Er war nun über und über mit Schweiß und blutigen Streifen von den gebrochenen Zedernästen bedeckt. Hinter uns vernahm ich Jonas Warnschreie, denen ich aber keine Beachtung schenkte.

Wir ritten um die Kurve, und durch eine Waldschneise bemerkte ich den glänzenden Fluß. Nach einer weiteren Kurve erlahmte der Rappe allmählich wieder – doch nun sah ich weit entfernt endlich, worauf ich gewartet hatte. Vielleicht sollte ich es nicht erwähnen, aber ich habe daraufhin mein Schwert zum Himmel erhoben, zur ausgezehrten Sonne mit dem Wurm im Herzen, und gerufen: »Sein Leben für das meine, Neue Sonne, bei deinem Zorn und meiner Hoffnung!«

Der Ulan (es war nur ein einziger) mußte gewiß denken, ich wolle ihn angreifen, was ich ja auch tat. Der blaue Schimmer an seiner Lanzenspitze wurde stärker, als er auf uns zustürmte.

So erschöpft er auch war, der Rappe schlug Haken wie ein verfolgter Hase. Ein Ruck an den Zügeln, und er wirbelte herum, wobei seine Hufe in die frische Grasnarbe der Straße tiefe Furchen rissen. Binnen eines Atemzugs hatten wir kehrt gemacht und rasten den Wesen entgegen, die uns nachsetzten. Ob Jonas meinen Plan verstanden hat, weiß ich nicht, jedenfalls hat er’s mir gleichgetan, als hätte er ihn durchschaut, ohne sein Tempo zu verringern.

Eines der fliegenden Geschöpfe stieß nieder, wobei es aller Welt wie ein ins Universum gerissenes Loch vorkommen mußte, denn es war wahrlich rußschwarz, lichtlos wie meine eigene Tracht. Es hatte wohl Jonas anvisiert, aber als es in Reichweite war, hieb ich es wiederum mit einem Schwertstreich entzwei, woraufhin sich über mich abermals Hitze ergoß. Da ich ihre Quelle kannte, dünkte sie mich übler als der schlimmste Gestank; die bloße Empfindung auf der Haut kehrte mir den Magen um. Ich ritt eine scharfe Wendung vom Fluß fort, da ich in jedem Augenblick mit einem Schuß von der Ulanenlanze rechnete. Kaum waren wir von der Straße gesprungen, fauchte er auch schon zwischen uns, versengte den Boden und setzte einen dürren Baum in Brand.

Ich zog den Kopf meines Rappen hoch, so daß er zurückwich und auf die Hinterhand stieg. Ich suchte in der Nähe des Baumes kurz nach den drei dunklen Wesen. Sie waren nicht dort. Ich blickte schnell zu Jonas, um mich zu vergewissern, daß sie nicht doch auf irgendeine mir unverständliche Art über ihn hergefallen waren.

Dort waren sie auch nicht, aber seine Augen verrieten mir, wo sie geblieben waren: sie umschwirrten den Ulanen, der sich, wie zu beobachten war, mit seiner flammenden Lanze zur Wehr setzte. Schuß um Schuß zerriß die Luft, so daß es in einem fort krachte wie bei einem Gewitter. Mit jedem Schuß verblaßte die helle Sonne, aber genau die Energien, mit denen er sie zu vernichten suchte, gaben ihnen anscheinend Kraft. In meinen Augen flogen sie nicht mehr, sondern flackerten wie schwarzes Licht bald hier, bald dort, immer dichter beim Ulanen, bis alle drei in kürzerer Zeit, als das Niederschreiben dauert, auf seinem Gesicht klebten. Er taumelte stöhnend aus dem Sattel, und seiner Hand entglitt die Lanze, die dabei erlosch.

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