XIX Kammern

Ich war allein, wirklich allein zum ersten Mal, seit ich seine Kammer im schäbigen Gasthaus zu Nessus betreten und Baldanders breite Schultern über den Decken gesehen hatte. Dann waren da Dr. Talos, Agia, Dorcas und schließlich Jonas. Die Last der Erinnerung überwältigte mich, und ich sah die scharfen Umrisse von Dorcas, dem Riesen und den anderen, als Jonas und ich durch den Pflaumenhain geführt wurden. Es befanden sich bei ihnen auch Männer mit Tieren und allerlei andere Schausteller, die zweifellos dorthin unterwegs waren, wo im Garten (wie Thecla oft erwähnt hatte) das Fest unter freiem Himmel stattfindet.

Ich begann in der vagen Hoffnung, mein Schwert zu finden, das Zimmer zu durchsuchen. Es war nicht da, und mir kam der Gedanke, daß es vermutlich in der Nähe des Vorzimmers einen Verwahrungsort für die Habseligkeiten der Gefangenen gäbe – höchstwahrscheinlich im gleichen Geschoß. Die Treppe, die ich herabgestiegen war, brächte mich nur wieder zum Vorzimmer selbst; der Ausgang vom Zimmer der Spiegel führte nur in ein weiteres Gelaß, worin wunderliche Gegenstände lagerten. Schließlich entdeckte ich eine Tür zu einem dunklen, stillen Flur, der mit Läufern belegt und mit Bildern behangen war. Ich setzte die Maske auf und legte meinen Mantel um, denn die Soldaten, die uns im Wald ergriffen hatten, kannten die Zunft offenbar nicht, während ich diejenigen, denen ich in den Hallen des Hauses Absolut vielleicht begegnen würde, für nicht so ungebildet hielt.

Jedenfalls ließ man mich unbehelligt passieren. Ein Mann in reicher, kunstvoll gearbeiteter Kleidung trat zur Seite, um mir Platz zu machen, und mehrere liebliche Damen beäugten mich neugierig; ich spürte, wie sich Theclas Gedächtnis beim Anblick dieser Gesichter regte. Zuletzt stieß ich auf eine andere Treppe – keine schmale, heimliche Wendeltreppe wie jene, die Jonas und mich zum Spiegelgemach gebracht hatte, sondern ein breites, helles Treppenhaus.

Ich ging ein Stück nach oben, erkundete den Korridor dort, bis ich mir sicher war, noch unterhalb des Vorzimmers zu sein, und stieg dann weiter empor, als mir über die Treppe eine junge Dame entgegeneilte.

Unsere Blicke begegneten sich.

Wie ich war sie sich bestimmt bewußt, daß wir uns schon einmal so angesehen hatten. In Gedanken hörte ich sie mit jener Säuselstimme wieder »liebste Schwester« sagen, und das herzförmige Gesicht dazu erschien. Es war nicht Thea, die Gefährtin von Vodalus, sondern die Frau, die ihr glich (und sich gewiß ihres Namens bediente) und der ich auf der Treppe im Azurnen Haus begegnet war – als sie, genau wie jetzt, nach unten und ich nach oben ging. Dirnen waren also ebenso wie Schausteller für das Fest, das man zu geben beabsichtigte, bestellt worden.

Fast rein zufällig entdeckte ich das Geschoß, in dem das Vorzimmer lag. Kaum hatte ich die Treppe verlassen, stand ich beinahe an der gleichen Stelle, wo die Hastarii gestanden hatten, während ich mit Nicarete neben dem silbernen Servierwagen sprach. Hier drohte mir die größte Gefahr, also ging ich bewußt langsam. Die Wand zu meiner Rechten barg etwa ein Dutzend Türen mit geschnitzten Holzrahmen, aber eine jede war (wie ich bemerkte, als ich innehielt, um sie zu begutachten) zugenagelt und mit dem Firnis der Zeit überzogen. Zu meiner Linken befand sich als einzige Tür jene aus wurmstichiger Eiche, durch welche die Soldaten Jonas und mich geschleppt hatten. Ihr gegenüber lag der Eingang zum Vorzimmer, und daneben schloß sich eine zweite Reihe gleichfalls vernagelter Türen mit einer zweiten Treppe an ihrem Ende an. Wie es schien, beanspruchte das Vorzimmer bereits eine ganze Etage dieses Flügels des Hauses Absolut.

Wäre jemand in Sicht gewesen, hätte ich es nicht gewagt, zu verweilen; aber da der Korridor leer war, lehnte ich mich kurz auf den letzten Pfosten des Geländers der zweiten Treppe. Während zwei Soldaten mich bewacht hatten, trug ein dritter mein Terminus Est. Es war denkbar, daß dieser dritte Mann mein Schwert über diese Treppe – wenigstens ein paar Stufen – dorthin gebracht hatte, wo solche erbeuteten Waffen verwahrt wurden, während Jonas und ich ins Vorzimmer geschafft wurden. Aber ich konnte mich an nichts erinnern; der dritte Soldat war beim Absteigen in die Grotte hinter uns gegangen, und ich hatte ihn nicht wieder gesehen. Vielleicht war er gar nicht mit heruntergekommen. In meiner Verzweiflung wandte ich mich der wurmstichigen Tür zu und zog sie auf. Sofort drang der modrige Geruch des Schachtes in den Korridor, und die grünen Gongs stimmten ihre Weise an. Draußen war die Welt in Finsternis getaucht. Bis auf das Leichenlicht der Schwämme waren die schroffen Wände unsichtbar, und nur ein kreisrunder Ausschnitt des Sternenhimmels verriet, wo der Schacht sich in den Boden senkte. Ich schloß die Tür; kaum war sie knarrend zugefallen, als ich Schritte auf der Treppe, von der ich gekommen war, vernahm. Ich konnte mich nirgends verstecken, und wäre ich zur zweiten Treppe gerannt, hätte ich sie kaum erreicht, ohne gesehen zu werden. Anstatt durch die schwere Eichentür zu verschwinden, beschloß ich, zu bleiben, wo ich war.

Der Ankömmling war ein beleibter Mann um die Vierzig in Livree. Durch die ganze Länge des Korridors sah ich, wie er bei meinem Anblick erblaßte. Er hastete mir jedoch entgegen und begann, als ihn noch zwanzig oder dreißig Schritte von mir trennten, unter Verbeugungen zu fragen: »Was kann ich für Euch tun, Euer Ehren? Ich bin Odilo, der Aufseher hier. Euch führt, wie ich sehe, eine vertrauliche Mission von … Vater Inire hierher?«

»Ja«, erwiderte ich. »Doch zuerst muß ich um mein Schwert bitten.«

Ich hatte gehofft, er hätte Terminus Est gesehen und brächte es mir, aber der Ausdruck seines Gesichtes blieb leer.

»Man führte mich vor einer Weile hierher und sagte mir, ich habe mein Schwert abzugeben, bekäme es aber wieder, ehe ich es im Auftrag von Vater Inire zu gebrauchen hätte.«

Der kleine Mann schüttelte den Kopf. »Ich versichere Euch, in meiner Position hätte ich Bescheid bekommen, wenn einer der Diener …«

»Das wurde mir von einem Prätorianer gesagt«, erklärte ich.

»Aha, das hätt’ ich mir denken können. Sie sind überall gewesen, ohne einen in Kenntnis zu setzen. Es ist uns ein Gefangener entwischt, Euer Ehren, wie Ihr sicherlich vernommen habt.«

»Nein.«

»Ein Mann namens Beuzec. Er ist angeblich harmlos, wurde aber zusammen mit einem anderen, in einem Baum auf der Lauer liegend, aufgegriffen. Dieser Beuzec suchte das Weite, ehe man ihn eingesperrt hatte, und entkam. Sie sagen, sie würden ihn bald schnappen; ich weiß nicht. Ich sage Euch, ich lebe von Kindheit an im Haus Absolut, und es hat ein paar seltsame Ecken – höchst seltsame Ecken.«

»Wohin vielleicht auch mein Schwert geraten ist. Geh doch nachsehen!«

Er wich einen halben Schritt zurück, als hätte ich die Hand gegen ihn erhoben. »O ja, sofort, Euer Ehren, sofort. Ich wollte nur ein wenig mit Euch plaudern. Es ist vermutlich dort unten. Wenn Ihr mir folgen wolltet …«

Wir gingen zur anderen Treppe, und ich bemerkte, daß ich bei meiner hastigen Suche eine einzelne, schmale Tür unter dem Treppenabsatz übersehen hatte. Sie war weiß gestrichen, so daß sie fast die gleiche Farbe wie die Steinmauer hatte.

Der Aufseher zog einen schweren Schlüsselbund hervor und schloß sie auf. Das dreieckige Zimmer dahinter war viel größer, als ich vermutet hatte, und reichte weit hinter die Treppe. An der Rückseite war eine Art Dachboden, zu dem eine wacklige Leiter Zugang verschaffte. Es brannte eine Lampe von der gleichen Art wie im Vorzimmer, allerdings dunkler.

»Könnt Ihr sehen?« fragte der Aufseher. »Wartet, hier muß irgendwo eine Kerze sein, denk’ ich. Diese eine Lampe bringt nicht viel, weil die Regale so viel Schatten machen.«

Während er sprach, hatte ich die Regale abgesucht. Sie waren vollgestopft mit Kleidungsstücken, zwischen denen hie und da ein Paar Schuhe, eine Gabel, eine Griffelschachtel, eine Ambrakugel steckten.

»Als ich noch ein Knabe war, knackten die Küchenjungen immer das Schloß, um hier rumzustöbern. Ich habe dem –zum Glück – ein Ende gesetzt, fürchte aber, daß die besten Sachen längst verschwunden sind.«

»Was ist das hier?«

»Eigentlich eine Kammer für Bittsteller. Mäntel, Hüte, Stiefel – Ihr wißt schon. Ein solches Gelaß füllt sich immer mit den Sachen, welche die Glücklichen mitzunehmen vergessen, wenn sie gehen, und dann ist dies schon immer Vater Inires Flügel, Und es hat wohl schon immer solche gegeben, die ihn aufgesucht haben, aber nie zurückgekommen sind, wie auch solche, die herauskommen, die nie eingetreten sind.« Er hielt inne und blickte sich um. »Ich mußte den Soldaten die Schlüssel geben, damit sie mir nicht die Türen einträten, als sie diesen Beuzec suchten, es wäre also denkbar, daß sie Euer Schwert hier abstellten. Wenn nicht, nahmen sie es vermutlich mit hinauf in ihre Wachstube. Das hier ist’s nicht, nehm’ ich an?« Aus einer Ecke zog er eine altertümliche Spada.

»Nein.«

»Ist offenbar das einzige Schwert hier, fürcht’ ich. Ich kann Euch den Weg zur Wachstube erklären. Oder ich kann einen der Diener wecken, um fragen zu gehen, wenn Ihr wollt.«

Die Leiter zu dem Dachboden war wackelig, dennoch kletterte ich an ihr empor, nachdem mir der Aufseher seine Kerze abgetreten hatte. Obschon es außerordentlich unwahrscheinlich war, daß die Soldaten Terminus Est dort abgelegt hätten, wollte ich ein wenig Zeit gewinnen, um die mir offenen Möglichkeiten zu überdenken.

Beim Hinaufsteigen vernahm ich von oben ein Rascheln, das ich irgendeinem Ungeziefer zuschrieb; aber als ich den Kopf und die Kerze über den Rand des Bodens steckte, erblickte ich den kleinen Mann, der Hethor begleitet hatte, in einer höchst unterwürfigen Haltung auf den Dielen kniend. Das war natürlich Beuzec, nur war mir der Name entfallen, bis ich ihn wiedersah.

»Ist da oben was, Euer Ehren?«

»Lumpen. Ratten.«

»Dacht’ ich mir doch«, sagte der Aufseher, als ich von der letzten Sprosse trat. »Ich müßte selber mal ab und zu nachsehn, aber in meinem Alter ist man nicht mehr darauf versessen, so etwas hinaufzuklettern. Möchtet Ihr selbst die Wachstube aufsuchen, oder soll ich einen der Diener wecken?«

»Ich gehe selbst.«

Er nickte gescheit. »Ist wohl am besten. Einem Diener würden sie es vielleicht nicht aushändigen; würden sogar bestreiten, daß sie es hätten. Ihr seid im Apotropäischen Hypogeum, wie Ihr wohl wißt. Wollt Ihr nicht von Patrouillen angehalten werden, bleibt besser drinnen. Am geschicktesten wär’s also, Ihr würdet auf der Treppe, unter der wir uns befinden, drei Absätze hinaufgehen, dann links. Folgt der Rundgalerie für etwa tausend Schritt, bis Ihr zum Hypaethrus gelangt. Da es dunkel ist, könntet Ihr ihn übersehen, also haltet nach den Pflanzen Ausschau. Dort geht dann rechts, an die zweihundert Schritt. Es steht immer ein Posten vor der Tür.«

Ich bedankte mich und konnte vorauseilen, indem ich ging, während er noch am Schloß hantierte. Am ersten Treppenabsatz trat ich in einen Flur, bis er mich passierte.

Als er längst außer Sicht war, begab ich mich wieder in den Korridor zum Vorzimmer. Wenn mein Schwert tatsächlich in eine Wachstube geschafft worden war, hätte ich wohl kaum eine Möglichkeit, es wiederzuerlangen, außer durch List oder Gewalt, und bevor ich so etwas in Angriff nahm, wollte ich mich vergewissern, daß es nicht doch an zugänglicherer Stelle verwahrt sei. Obendrein schien es denkbar, daß Beuzec es bei seinen Kriech- und Versteckmanövern entdeckt hatte, worüber ich ihn befragen wollte.

Gleichzeitig bereiteten mir die Gefangenen des Vorzimmers große Sorge. Inzwischen (so stellte ich mir vor) hatten sie gewiß die Tür, die Jonas und ich offengelassen hatten, entdeckt und würden durch diesen Flügel des Hauses Absolut schwärmen. Es konnte nicht lange dauern, ehe einer ergriffen und die Suche nach den übrigen eingeleitet würde.

Als ich zur Tür der Kammer unter der Treppe gelangte, drückte ich das Ohr gegen das Blatt und hoffte, Beuzec umherhuschen zu hören. Es war aber mäuschenstill. Ich rief ihn leise beim Namen, ohne eine Antwort zu erhalten, und versuchte dann, die Tür mit der Schulter aufzudrücken. Sie gab nicht nach, aber wäre ich gegen sie angerannt, hätte ich wohl zu großen Lärm veranstaltet. Schließlich gelang es mir, den Stahl, den ich von Vodalus erhalten hatte, zwischen Tür und Pfosten zu stemmen, bis das Schloß ausbrach.

Beuzec war unauffindbar. Nach kurzer Suche entdeckte ich in der Rückwand der Kammer ein Loch, das in eine hohle Mauernische führte. Durch diese Öffnung mußte er in die Kammer eingedrungen sein, um sich ein Plätzchen zu finden, wo er seine Glieder ausstrecken könnte, und durch diesen Spalt war er wieder geflohen. Man sagt, solche Alkoven im Haus Absolut würden von einer Spezies weißer Wölfe bewohnt, die sich, aus den nahegelegenen Wäldern kommend, vor langer Zeit dort eingenistet hätten. Vielleicht ist er diesen Kreaturen zum Opfer gefallen; ich habe ihn seither nicht wieder gesehen.

In jener Nacht versuchte ich nicht, ihm zu folgen, sondern zog die Kammertür wieder zu und tarnte den angerichteten Schaden, so gut es ging. Erst jetzt fiel mir die Symmetrie des Korridors auf: der Eingang zum Vorzimmer in der Mitte, die vernagelten Türen zu beiden Seiten davon, die Treppe an jedem Ende. Wenn dieses Hypogeum für Vater Inire bereitgestellt worden ist (wie der Aufseher gesagt hatte und der Name andeutete), so muß diese Wahl zumindest teilweise aufgrund seiner spiegelbildlichen Einteilung getroffen worden sein. Falls dem so war, befand sich unter der anderen Treppe bestimmt eine zweite Kammer.

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