II Der Mann im Dunkeln

Das Haus des Räubers unterschied sich nicht von den übrigen Häusern des Dorfes. Es war aus Bruchstein, einstöckig, mit einem recht flachen, gediegenen Schieferdach aus, dem gleichen Gestein. Die Tür und das einzige Fenster, das ich von der Straße aus sehen konnte, waren mit rohem Mauerwerk verschlossen. An die hundert Jahrmarktsbesucher standen nun redend und gestikulierend vor dem Haus; drinnen hingegen war es mäuschenstill, und aus dem Schornstein stieg kein Rauch auf.

»Ist das in dieser Gegend üblich?« fragte ich Jonas.

»So ist es Tradition. Du kennst den Spruch. ›Eine Legende, eine Lüge und eine Laune machen eine Tradition‹?«

»Mir scheint, es wäre gar nicht schwer rauszukommen. Er könnte nachts ein Fenster oder die Mauer selbst durchbrechen oder einen Gang graben. Ja, wenn er mit so etwas gerechnet hat – und es üblich ist und er tatsächlich für Vodalus spioniert hat – gibt es keinen Grund, warum er das nicht sollte – er könnte sich sowohl mit Werkzeug als auch einem ausreichenden Essens- und Trinkvorrat ausstatten.«

Jonas schüttelte den Kopf. »Bevor die Öffnungen verschlossen werden, wird das Haus durchsucht und alles auffindbare Essen, Werkzeug und Licht entfernt. Auch alles, was sonst noch von Wert sein könnte, wird mitgenommen.«

Eine volltönende Stimme sagte: »Was wir, die wir uns gescheit dünken, in der Tat nicht versäumen.« Es war der Alkalde, der in der Menge unbemerkt an uns herangetreten war. Wir wünschten ihm einen guten Tag, und er erwiderte den Gruß. Er war ein kräftiger, vierschrötiger Mann mit einem offenen Gesichtsausdruck, den ein listiger Zug um die Augen trübte. »Dachte, ich hätte Euch erkannt, Meister Severian, helle Kleider hin, helle Kleider her. Sind sie neu?

Sehen so aus. Seid Ihr nicht zufrieden, sagt’s mir! Wir sind bemüht, daß nur ehrliche Händler zu unseren Märkten kommen. Keine krummen Geschäfte. Wenn er – egal, wer’s ist – Euren Wünschen nicht entspricht, tauchen wir ihn in den Fluß. Ein, zwei Getauchte im Jahr, und die übrigen fühlen sich nicht allzu unbeschwert.«

Schweigend trat er einen Schritt zurück, um mich genauer zu mustern, wobei er offenbar höchst beeindruckt nickte. »Kleiden Euch gut. Ich muß sagen, Ihr seid schön von Gestalt und habt auch ein hübsches Gesicht, das vielleicht ein bißchen blaß ist, was unser heißes nördliches Klima hier aber bald in Ordnung bringen wird. Jedenfalls kleiden sie Euch gut und lassen, sich gut tragen, wie’s scheint. Wenn man Euch fragt, woher Ihr sie habt, so sagt doch vom Markt zu Saltus. Es wird nicht schaden.«

Ich versprach ihm das, obschon ich um die Sicherheit von Terminus Est, das ich in unserm Zimmer im Gasthaus versteckt hatte, viel mehr besorgt war als um mein Aussehen oder die Haltbarkeit meiner Zivilkleidung, die ich bei einem billigen Kaufmann erworben hatte.

»Ihr und Euer Gehilfe seid gekommen, um zu erleben, wie wir den Missetäter hervorholen, nehme ich an? Wir rücken ihm auf den Pelz, sobald Mesmin und Sebald den Balken bringen. Einen Sturmbock nannten wir ihn, als wir unser Vorhaben verkünden ließen, aber es handelt sich eigentlich, fürchte ich, nur um einen Baumstamm, einen recht kleinen noch dazu – sonst müßte die Gemeinde zu viele Helfer entlohnen. Es sollte damit jedoch zu schaffen sein. Ich bezweifle, daß Euch der Fall bekannt ist, den wir hier vor dreizehn Jahren erlebt haben?«

Jonas und ich schüttelten den Kopf.

Der Alkalde warf sich in die Brust, wie es Politiker tun, wenn sie eine Möglichkeit sehen, mehr als nur ein paar Sätze zu sagen. »Ich erinnere mich genau, obwohl ich noch ein junges Bürschchen gewesen bin. Eine Frau. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, aber wir haben sie Mutter Pyrexia genannt. Sie ist genauso eingemauert worden, wie Ihr es jetzt vor Euch seht, denn es ist hauptsächlich von denselben Leuten und in der gleichen Art gemacht worden. Aber es ist gegen Ende des Sommers zur Zeit der Apfelernte gewesen, denn ich weiß noch, daß die vielen Zuschauer neuen Most getrunken haben und ich einen frischen Apfel verspeist habe.

Im nächsten Jahr, als das Korn reifte, wollte jemand das Haus kaufen. Aller Besitz fällt der Gemeinde zu, müßt Ihr wissen. Damit decken wir unsere Auslagen; die Helfer bekommen als Lohn, was sie finden können, und die Gemeinde erhält Haus und Grundstück.

Um es kurz zu sagen, wir schnitten einen Rammbock zu und brachen mit wenigen gekonnten Stößen die Tür durch, um die Gebeine der alten Frau zu zermalmen und dem neuen Besitzer sein Eigentum zu übergeben.« Der Alkalde hielt inne und lachte, wobei er den Kopf zurückwarf. Es lag etwas Gespenstisches in diesem Lachen, was vielleicht nur davon herrührte, daß es sich mit dem Lärm der Menge vermischte und dadurch fast lautlos war.

Ich fragte: »War sie tot?«

»Je nachdem, was man darunter versteht. Ich sage nur –eine Frau, die lange genug im Dunkeln eingeschlossen ist, kann sich in etwas sehr Wunderliches verwandeln, ähnlich den wunderlichen Dingen, die man im tiefen Wald in morschem Holz findet. Wir in Saltus sind hauptsächlich Bergmänner und das gewöhnt, was man unter der Erde findet, aber wir haben die Beine in die Hand genommen und Fackeln geholt. Das Licht und das Feuer waren ihm zuwider.«

Jonas tippte mich auf die Schulter und deutete auf ein Gewühl in der Menge. Eine Gruppe entschlossen dreinblickender Gesellen bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg über die Straße. Keiner war behelmt oder in Rüstung, einige jedoch trugen schmalspitzige Lanzen und die übrigen messingbeschlagene Knüttel. Sie erinnerten mich stark an die Freiwilligen, die Drotte, Roche, Eata und mich vor so langer Zeit in die Nekropolis eingelassen hatten. Hinter diesen Bewaffneten folgten vier Männer mit dem Sturmbock, den der Alkalde angekündigt hatte, einem rohen, etwa zwei Spannen breiten und sechs Ellen langen Stamm.

Ein allgemeines Aufatmen war ihre Begrüßung; dem schlossen sich rege Unterhaltung und freundlich zugerufene Aufmunterungen an. Der Alkalde verließ uns, um die Leitung zu übernehmen. Er ließ sich von den Männern mit den Knütteln einen Freiraum vor der Tür des verschlossenen Hauses schaffen und sorgte mit seiner Autorität dafür, daß man uns durchließ, als wir uns vordrängten, um besser sehen zu können.

Sobald alle Brecher ihre Stellung eingenommen hätten, würde man, hatte ich geglaubt, ohne weitere Zeremonie ans Werk gehen. Hierbei hatte ich jedoch nicht mit dem Alkalden gerechnet. Im denkbar letzten Augenblick bestieg er die Treppe zum verschlossenen Haus, bat hutschwenkend um Ruhe und sprach zur Menge:

»Willkommen, Besucher und Mitbürger! Binnen dreier Atemzüge werden wir dieses Hindernis niederreißen und den Räuber Barnoch herausziehen, ob tot oder – wie wir Grund zu glauben haben, da er nicht allzu lange eingesperrt gewesen ist – lebendig. Ihr wißt, was er getan hat. Er hat mit Vodalus’ Cultellarii kollaboriert und sie über die Ankunft und Abreise möglicher Opfer informiert! Ihr alle werdet nun denken – und zurecht! –, daß ein solch ruchloses Verbrechen keine Gnade verdient. Ja, sage ich! Ja, sagen wir alle! Hunderte, vielleicht sogar Tausende liegen aufgrund dieses Barnoch in namenlosen Gräbern. Hunderten, vielleicht Tausenden ist noch viel Schlimmeres widerfahren!

Dennoch bitt’ ich euch, kurz nachzudenken, ehe wir diese Steine einreißen. Vodalus hat einen Spitzel verloren. Er wird sich einen neuen suchen. Bald schon, denke ich, wird ein Fremder in einer stillen Nacht zu einem von euch kommen. Er wird gewiß viel zu reden haben …«

»Wie du!« rief jemand zur allgemeinen Erheiterung.

»Bessere Worte als die meinen – ich bin nur ein derber Bergmann, wie viele von euch wissen. Viele süße, überzeugende Worte, hätte ich besser sagen sollen, und vielleicht etwas Geld obendrein. Ehe ihr ihm zunickt, solltet ihr an dieses Haus des Barnoch denken, so wie es jetzt aussieht, mit Quadersteinen anstelle der Tür. Denkt euch das eigene Haus ohne Türen und Fenster, aber mit euch darin.

Dann denkt daran, wie’s diesem Barnoch ergehen wird, wenn wir ihn rausholen! Denn ich sage euch – besonders euch Fremden –, was ihr hier zu sehen bekommt, ist nur der Anfang dessen, was Ihr beim Markt zu Saltus sehen werdet! Für die folgenden Tage haben wir einen der besten Meister aus Nessus bestellt! Mindestens zwei Menschen werden in aller Form hingerichtet – mit einem einzigen Streich enthauptet. Einmal eine Frau, also gebrauchen wir den Stuhl! So etwas werden viele, die sich höchster, weltmännischer Bildung rühmen, noch nicht erlebt haben. Dann dieser Mann« – wobei der Alkalde eine Pause einlegte und mit der flachen Hand auf die sonnigen Türsteine klopfte –, »dieser Barnoch, den ein kundiger Führer dem Tode zuführt! Mag sein, daß er sich inzwischen ein kleines Loch in die Mauer hat schaben können. Oft gelingt ihnen das, und in diesem Fall kann er mich vielleicht hören.«

Mit gehobener Stimme rief er: »Wenn du mich hörst, Barnoch, so schneide dir jetzt die Kehle durch. Wenn nicht, wirst du dir wünschen, du wärest längst verhungert!«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Mich quälte der Gedanke, daß ich bald an einem Anhänger von Vodalus die Kunst praktizieren müßte. Der Alkalde hob den rechten Arm über den Kopf und ließ ihn dann wuchtig niedersausen. »Also gut, Gesellen, mit Macht ans Werk!«

Die vier, die den Sturmbock gebracht hatten, zählten wie ausgemacht eins, zwei, drei und rannten gegen die zugemauerte Tür an, wobei sie etwas von ihrem Schwung einbüßten, als die beiden Vordermänner die Stufen nahmen. Der Sturmbock donnerte mit Getöse gegen die Steine, aber ein anderes Ergebnis zeitigte er nicht.

»Also gut, Gesellen«, wiederholte der Alkalde. »Versuchen wir es noch einmal. Zeigt ihnen, was für Männer Saltus hervorbringt!«

Die vier stürmten abermals an. Bei diesem Versuch überwanden die Vorderen die Stufen geschickter; die Steine, mit denen die Tür zugepfropft war, schienen unter dem Aufprall zu erbeben, und der Mörtel bröckelte ab. Ein Freiwilliger aus der Volksmenge, ein stämmiger, schwarzbärtiger Bursche, ging den Brechern zur Hand, und alle fünf stürmten von neuem an; der dumpfe Schlag, mit dem der Sturmbock auftraf, war kaum lauter, aber zu ihm gesellte sich ein Knirschen wie das von berstenden Knochen. »Noch einmal!« trug der Alkalde auf.

Er hatte recht. Ein weiterer Schlag drückte den Stein, den der Sturmbock rammte, ins Hausinnere, wobei ein Loch von der Größe eines Männerkopfes entstand. Daraufhin machten die Brecher sich nicht mehr die Mühe, Anlauf zu nehmen; sie rissen die restlichen Steine nieder, indem sie den Sturmbock mit den Armen hin- und herschwangen, bis die Öffnung so hoch und breit war, daß man hindurchtreten konnte.

Jemand, den ich bisher nicht bemerkt hatte, hatte Fackeln mitgebracht, und ein Knabe rannte in ein Nachbarhaus, um sie am Küchenherd zu entzünden. Die Männer mit den Lanzen und Knütteln nahmen sie ihm ab. Der Alkalde, der mehr Mut zeigte, als ich seinen listigen Augen zugetraut hätte, zog einen kurzen Schlagstock aus seinem Hemd hervor und sprang als erster hinein. Wir Zuschauer drängten uns hinter die Bewaffneten, und weil Jonas und ich in der ersten Reihe unter den Schaulustigen gestanden hatten, erreichten wir die Öffnung fast gleichzeitig. Die Luft war stickig, viel gräßlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte. Möbeltrümmer lagen überall verstreut, wie wenn Barnoch seine Kommoden und Schränke verschlossen hätte, als die Maurer zum Verschließen gekommen waren, und diese alles zerschlagen hätten, um an die Güter seines Haushalts zu gelangen. Auf einem kaputten Tisch bemerkte ich die zerronnenen Reste einer Kerze, die bis aufs Holz abgebrannt war. Die Leute hinter mir drückten mich weiter hinein; ich jedoch sperrte mich, wie ich zu meiner Überraschung entdeckte, und drängte zurück.

Hinten im Haus wurde es laut – ein Durcheinander rascher Schritte – ein Ruf – dann ein schriller, unmenschlicher Schrei.

»Sie haben ihn!« verkündete jemand hinter mir lauthals, und ich hörte, wie draußen die Kunde weitergegeben wurde.

Ein beleibter Mann, wahrscheinlich ein Kleinbauer, kam aus dem Dunkeln gerannt, eine Fackel in der einen, einen Knüttel in der anderen Hand. »Aus dem Weg! Zurück, alles zurück! Sie bringen ihn raus!«

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe … Vielleicht eine dreckige Gestalt mit verfilzten Haaren. Was jedoch zum Vorschein kam, war ein Gespenst. Barnoch war groß gewesen; das war er noch, allerdings hielt er sich gebückt und war spindeldürr, mit einer Haut, die offenbar leuchtete wie fauliges Holz, so bleich war sie. Er war haarlos, glatzköpfig und bartlos; wie ich an diesem Nachmittag von seinen Wächtern erfuhr, hatte er es sich angewöhnt, sich die Haare auszuzupfen. Am schlimmsten waren seine hervorquellenden Augen, die scheinbar erblindet und schwarz wie der finstere Schlund seines Mundes waren. Ich wandte mich ab, als er zu sprechen begann, wußte jedoch, daß die Stimme ihm gehörte. »Ich werde befreit«, stieß er aus. »Vodalus! Vodalus wird kommen!«

Wie wünschte ich mir damals, nie selbst in einem Gefängnis gesessen zu haben, denn seine Stimme gemahnte mich an jene dumpfen Tage, die ich in der Oubliette unter unserem Matachin-Turm ausgeharrt hatte. Auch ich hatte von einer Rettung durch Vodalus geträumt, von einer Revolution, die den Tiergestank und die Verderbtheit des gegenwärtigen Zeitalters hinwegfegte und die glänzende Hochkultur wiederherstellte, die einst auf Urth geherrscht.

Indes wurde ich nicht durch Vodalus und seine geheimnisvollen Heerscharen gerettet, sondern durch die Fürsprache von Meister Palaemon – und gewiß auch von Drotte, Roche und einigen anderen Freunden – der die Brüder davon überzeugt hatte, daß es zu gefährlich wäre, mich zu töten, und zu schändlich, mich vor einen Richter zu bringen.

Barnoch würde überhaupt nicht gerettet werden. Ich, der ich sein Waffenbruder sein sollte, würde ihn brandmarken, ihn rädern und schließlich enthaupten. Ich versuchte mir einzureden, er habe nur für Geld gehandelt; aber im selben Moment traf etwas Metallenes – bestimmt die Stahlspitze einer Lanze – auf Stein, so daß ich scheinbar das Klirren der Münze wieder hörte, die Vodalus mir geschenkt hatte, das Klirren, als ich sie in den Spalt unter der Bodenplatte des verfallenen Mausoleums steckte.

Manchmal, wenn unsere ganze Aufmerksamkeit auf Erinnerungen gerichtet ist, unterscheiden unsere Augen, von uns selbst ungelenkt, aus einer Masse von Details eine Einzelheit und bieten sie mit einer durch Konzentration unerreichbaren Klarheit dar. So geschah es auch mit mir. Inmitten des Gewühls wogender Gesichter hinter der Tür entdeckte ich ein aufschauendes, sonnenbeschienenes: Agias Gesicht.

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