35 In den Wäldern

Min saß im Schneidersitz auf Rands Bett und beobachtete ihn, wie er in Hemdsärmeln seine Jacken in dem großen, mit Elfenbein verzierten Schrank durchwühlte. Wie konnte er in diesem Raum mit all den schwarzen, wuchtigen Möbeln schlafen? Ein Teil ihrer Gedanken schweifte wie abwesend umher und ersetzte die Möbel durch einige geschnitzte, goldverzierte Stücke, die sie in Caemlyn gesehen hatte, sowie durch helle Vorhänge und Bettwäsche, die er als weniger bedrückend empfinden würde. Seltsam, sie hatte sich niemals zuvor in irgendeiner Weise um Möbel oder Bettwäsche gekümmert Doch jener Wandteppich, der eine Schlacht darstellte, einen einsamen, von Feinden umgebenen Schwertkämpfer, der bald überwältigt würde - er mußte mit Bestimmtheit weichen. Aber hauptsächlich betrachtete sie Rand.

Seine morgenblauen Augen zeigten einen angespannten Ausdruck, und das schneeweiße Hemd lag eng an seinem breiten Rücken an, als er sich anschickte, tief ins Innere des Schranks vorzudringen. Er hatte sehr wohlgestaltete Beine und fabelhafte Waden, die in der dunklen, eng anliegenden Hose über den umgeschlagenen Stiefeln gut zu erkennen waren. Manchmal runzelte er die Stirn und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles, rötlich schimmerndes Haar. Kein noch so häufiges Bürsten konnte es bändigen. Es lockte sich stets um die Ohren und im Nacken.

Sie war keine jener törichten Frauen, die einem Mann zusammen mit ihrem Herzen auch den Verstand zu Füßen legten. Es war nur so, daß ihr das Denken in seiner Nähe manchmal ein wenig schwerfiel.

Jacke um bestickte Seidenjacke wurde hervorgeholt und auf diejenige Jacke, die er auf dem Meervolk-Schiff getragen hatte, auf den Boden geworfen. Konnten die Verhandlungen ohne seine Ta'veren-Gegenwart auch nur halb so gut verlaufen? Wenn sie nur eine wirklich nützliche Vision des Meervolks hätte. Wie immer flackerten für sie sichtbar Bilder und farbige Auren um ihn herum, von denen die meisten zu schnell wieder schwanden, um sie zu erkennen, und alle außer einer im Moment für sie bedeutungslos waren. Diese eine Vision kam und ging hundertmal am Tag, und wann immer Mat oder Perrin zugegen waren, umschloß sie auch diese beiden und manchmal auch noch andere Menschen. Ein gewaltiger Schatten ragte drohend über ihm auf und verschluckte Tausende und Abertausende kleiner Lichter wie Glühwürmchen, die sich hinein warfen, um die Dunkelheit zu erfüllen. Heute schienen es zahllose Zehntausende von Glühwürmchen zu sein, aber der Schatten schien auch größer. Irgendwie repräsentierte diese Vision Rands Kampf mit dem Schatten, aber er wollte fast niemals wissen, wie es stand. Nicht daß sie es wirklich hätte sagen können, außer daß der Schatten anscheinend stets mehr oder weniger siegte. Sie seufzte erleichtert, als sie das Bild schwinden sah.

Ein leichtes Schuldgefühl ließ sie sich auf der Tagesdecke regen. Sie hatte nicht wirklich gelogen, als er sie gefragt hatte, welche Visionen sie für sich behalten hatte. Nicht wirklich. Was nützte es, ihm zu sagen, daß er ohne eine Frau, die bereits tot war, fast sicher versagen würde? Er wurde einfach zu schnell mutlos.

Sie mußte ihn geistig aufrecht halten, ihn ans Lachen erinnern. Nur daß...

»Ich halte das für keine gute Idee, Rand.« Vielleicht war es ein Fehler, das zu sagen. Männer waren auf vielerlei Arten seltsame Wesen. In einem Moment nahmen sie einen vernünftigen Rat an, und im nächsten Augenblick war genau das Gegenteil der Fall. Anscheinend bewußt das Gegenteil. Aber aus einem unbestimmten Grund empfand sie einen Beschützerinstinkt gegenüber diesem hoch aufragenden Mann, der sie wahrscheinlich mit einer Hand hochheben konnte - ohne die Macht zu lenken.

»Es ist eine wundervolle Idee«, sagte er und warf eine blaue Jacke mit Silberstickerei hin. »Ich bin Ta'veren, und heute scheint dies eine Veränderung zu meinem Nutzen zu bewirken.« Eine grüne Jacke mit Goldstickerei wanderte zu Boden.

»Möchtest du mich nicht lieber wieder trösten?«

Er hielt jäh inne und sah sie mit einer vergessen über seinen Händen liegenden, silberverzierten roten Jacke an. Sie hoffte, daß sie nicht errötete. Trösten. Woher kam dieser Gedanke nur? fragte sie sich insgeheim. Die Tanten, die sie aufgezogen hatten, waren sanfte, freundliche Frauen, aber sie hatten strenge Vorstellungen von anständigem Benehmen. Es hatte ihnen mißfallen, wenn sie Hosen trug, wenn sie in den Ställen arbeitete - die Arbeit, die sie am liebsten verrichtete, da diese sie in die Nahe der Pferde brachte. Es bestand kein Zweifel wie sie über das Trösten denken würden, von einem Mann, mit dem sie nicht verheiratet war. Wenn sie es jemals herausfänden, würden sie den ganzen Weg von Baerlon hierher reiten, nur um ihr das Fell über die Ohren zu ziehen. Und ihm natürlich auch.

»Ich ... ich muß weitermachen, solange ich sicher bin, daß es noch funktioniert«, sagte er zögernd und wandte sich dann schnell wieder dem Schrank zu. »Diese wird genügen«, rief er aus und zog eine einfache Jacke aus grünem Tuch hervor. »Ich wußte nicht, daß sie hier drinnen war.«

Es war die Jacke, die er getragen hatte, als sie von den Brunnen von Dumai zurückgekehrt waren, und sie konnte seine Hände bei der Erinnerung zittern sehen. Sie versuchte, sich ungezwungen zu geben, erhob sich, trat zu ihm, legte die Arme um ihn und zerknitterte die Jacke zwischen ihnen, als sie den Kopf an seine Brust lehnte.

»Ich liebe dich«, sagte sie nur. Sie spürte durch sein Hemd die runde, erst halbwegs verheilte Narbe an seiner linken Seite. Sie konnte sich daran erinnern, wie er sie sich zugezogen hatte, als sei es erst gestern gewesen. Es war das erste Mal gewesen, daß sie ihn jemals in den Armen gehalten hatte, während er bewußtlos und dem Tode nahe dalag.

Er preßte die Hände auf ihren Rücken, drückte sie fest an sich, nahm ihr den Atem, nahm die Hände dann aber zu ihrer Enttäuschung wieder fort. Sie glaubte, ihn leise etwas Ähnliches wie »nicht gerecht« murmeln zu hören. Dachte er ans Meervolk, während sie ihn umarmte? Er sollte es wirklich tun. Merana war eine Graue, aber es hieß, das Meervolk könnte sogar eine Domani zum Schwitzen bringen. Er sollte es tun, aber...

Sie erwog, ihn zu treten. Er schob sie sanft von sich und zog die Jacke an.

»Rand«, sagte sie fest, »du kannst nicht sicher sein, daß es überhaupt wirkt, nur weil es bei Harine so war. Wenn dein Ta'veren-Sein immer etwas bewirkte, würde dir inzwischen jeder Herrscher zu Füßen liegen, und die Weißmäntel ebenfalls.«

»Ich bin der Wiedergeborene Drache«, erwiderte er hochmütig. »Und heute kann ich alles erreichen.« Er nahm seinen Schwertgürtel, der jetzt eine einfache Messingschnalle aufwies, und band ihn sich um. Der vergoldete Drache lag auf der Tagesdecke auf dem Bett. Er zog Handschuhe aus dünnem schwarzen Leder über die Tätowierungen mit goldmähnigen Köpfen auf seinen Handrücken und die in seine Handflächen gebrannten Reiher. »Aber ich sehe nicht so aus wie er, nicht wahr?« Er breitete die Arme aus und lächelte. »Sie werden es erst erkennen, wenn es zu spät ist.«

Sie hätte beinahe ergeben die Hände gehoben. »Du siehst auch einem Narren nicht sehr ähnlich.« Und das sollte er so verstehen, wie er es verstehen wollte. Der Dummkopf sah sie fragend an, als sei er sich nicht sicher. »Rand, sobald sie die Aiel sehen, werden sie entweder davonlaufen oder kämpfen. Wenn du Aes Sedai mitnehmen willst, dann nimm zumindest auch diese Ashaman mit. Ein Pfeil, und du bist tot, ob du nun der Wiedergeborene Drache oder ein Ziegenhirte bist!«

»Aber ich bin der Wiedergeborene Drache, Min«, sagte er ernst. »Und ein Ta'veren. Wir gehen allein, nur du und ich. Das heißt, wenn du noch immer mitkommen willst,«

»Du gehst ohne mich nirgendwohin, Rand al'Thor.« Sie versagte es sich zu erwähnen, daß, er über seine eigenen Füße fallen würde, wenn er es täte. Diese Euphorie war fast genauso schlimm wie die düstere Trostlosigkeit. »Nandera wird dies nicht gefallen.« Sie wußte nicht genau, was zwischen ihm und den Töchtern des Speers vorging - offenbar etwas sehr Eigenartiges, nach dem, was sie miterlebt hatte -, aber jegliche Hoffnung darauf, daß ihn das aufhalten könnte, verrann, als er wie ein kleiner Junge lächelte, der seiner Mutter ausweicht.

»Sie wird es nicht erfahren, Min.« Er zwinkerte sogar! »Ich tue dies stets, und sie erfahren es niemals.«

Er streckte eine behandschuhte Hand aus und erwartete, daß sie sprang, wenn er rief.

Sie konnte wirklich nichts anderes tun, als ihre grüne Jacke glattzustreichen, ihre Frisur im Standspiegel zu überprüfen - und seine Hand zu nehmen. Das Problem war, daß sie nur zu bereit war zu springen, wenn er auch nur einen Finger krümmte. Sie wollte dafür sorgen, daß er es niemals herausfand.

Im Vorraum bildete er auf der in den Boden eingelassenen, goldenen Aufgehenden Sonne ein Wegetor, und sie ließ sich von ihm hindurch auf einen hügeligen, mit totem Laub bedeckten Waldboden führen. Ein Vogel schoß mit aufleuchtenden roten Flügeln davon. Ein Eichhörnchen erschien auf einem Ast und beschimpfte sie, wobei es mit dem pelzbesetzten Schwanz mit der weißen Spitze schlug.

Dieser Wald ähnelte in keiner Weise den Wäldern, deren sie sich von Baerlon her erinnerte. Es gab nicht viele richtige Wälder in der Nähe der Stadt Cairhien. Die meisten Bäume standen vier oder fünf oder sogar zehn Schritte auseinander. Hohe Lederblattbäume oder Pinien und noch höhere Eichen und Bäume, die sie nicht kannte, zogen sich über die Fläche hin, auf der sie und Rand standen, und einen Hügel hinauf, der in nur kurzer Entfernung anzusteigen begann. Selbst das Unterholz schien dichter als zu Hause, Büsche und Ranken und Dornsträucher breiteten sich unter den Bäumen aus. Aber alles war braun und trocken. Sie zog ein spitzenbesetztes Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich damit den Schweiß ab, der plötzlich ihr Gesicht benetzte.

»In welche Richtung gehen wir?« fragte sie. Dem Sonnenstand zufolge war über den Hügel hinweg Norden, die Richtung, die sie erwählen würde. Die Stadt sollte ungefähr sieben oder acht Meilen in dieser Richtung liegen. Mit etwas Glück könnten sie den ganzen Weg zurücklegen, ohne irgend jemandem zu begegnen. Oder noch besser: Rand könnte - von ihren hochhackigen Stiefeln und dem Boden sowie von der Hitze einmal abgesehen - beschließen, aufzugeben und ein weiteres Wegetor in den Sonnenpalast zurück zu eröffnen. Die Palasträume waren hiermit verglichen kühl.

Bevor er antworten konnte, verkündete knak-kendes Unterholz, daß sich jemand näherte. Der Reiter, der auf einem langbeinigen grauen Wallach mit reich geschmücktem Zaumzeug und Zügeln erschien, war eine Cairhienerin, klein und schlank in einem dunkelblauen, fast schwarzen, seidenen Reitgewand mit waagerechten roten, grünen und weißen Schlitzen vom Hals bis unterhalb der Knie. Der Schweiß auf ihrem Gesicht konnte ihre blasse Schönheit nicht schmälern oder ihre Augen weniger als große dunkle Teiche wirken lassen. Ein klarer grüner Stein hing an einer dünnen goldenen, in ihrem in Wellen bis auf die Schultern fallenden, schwarzen Haar befestigten Kette auf ihrer Stirn.

Min keuchte, jedoch nicht wegen der Armbrust, welche die Frau nachlässig mit einer grün behandschuhten Hand anhob. Sie war sich einen Moment sicher, daß es Moiraine war. Aber...

»Ich kann mich nicht erinnern, Euch im Lager gesehen zu haben«, sagte die Frau mit kehliger, fast hitziger Stimme. Moiraines Stimme war kristallklar gewesen. Die Armbrust wurde gesenkt, noch immer recht nachlässig, bis sie vollkommen ruhig auf Rands Brust zeigte.

Er achtete nicht darauf. »Ich dachte, es würde mir vielleicht gefallen, einen Blick auf Euer Lager zu werfen«, sagte er mit leichter Verbeugung. »Ihr seid vermutlich Lady Caraline Damodred?« Die schlanke Frau neigte den Kopf und bestätigte den Namen.

Min seufzte bedauernd, aber nicht so, als hätte sie wirklich erwartet, Moiraine würde lebendig auftauchen. Moiraine war die einzige ihrer Visionen, die niemals versagt hatte. Aber Caraline Damodred selbst, eine der Anführerinnen des Aufstands gegen Rand hier in Cairhien und eine Anwärterin auf den Sonnenthron... Er mußte wirklich alle Fäden des Musters um sich herum zusammengezogen haben, daß sie erschienen war.

Lady Caraline hob die Armbrust langsam hoch. Die Sehne verursachte ein lautes Klicken, und der Pfeil mit der breiten Spitze wurde in die Luft geschossen.

»Ich bezweifle, daß jemand etwas gegen Euch ausrichten könnte«, sagte sie und trieb ihren Wallach langsam auf sie zu, »und ich möchte nicht, daß Ihr Euch von mir bedroht fühlt.« Sie sah Min an - nur ein Blick von Kopf bis Fuß, obwohl Min sich sicher war, daß alles an ihr registriert wurde -, aber abgesehen davon hielt Lady Caraline ihren Blick auf Rand gerichtet. Sie verhielt ihr Pferd drei Schritte vor ihnen, gerade weit genug entfernt, daß Rand sie zu Fuß nicht erreichen könnte, bevor sie ihrem Pferd die Sporen gegeben hätte. »Ich kann mir nur bei einem grauäugigen Mann Eurer Größe vorstellen, daß er plötzlich aus dem Nichts erscheint, es sei denn, Ihr seid womöglich ein verkleideter Aiel, aber vielleicht werdet Ihr so freundlich sein, Euren Namen zu nennen?«

»Ich bin der Wiedergeborene Drache«, sagte Rand genauso anmaßend, wie er es auch beim Meervolk gewesen war, aber wenn aus dem Muster hervorwirbelndes Ta'veren am Werke war, gab die Reiterin keinen Hinweis darauf.

Anstatt vom Pferd zu springen und auf die Knie zu sinken, nickte sie nur und schürzte die Lippen. »Ich habe viel über Euch gehört. Ich habe gehört. Ihr wärt zur Burg gegangen, um Euch dem Amyrlin-Sitz zu unterwerfen. Ich habe gehört, Ihr wolltet Elayne Trakand den Sonnenthron übergeben. Man erzählt auch, Ihr hättet Elayne getötet, und ihre Mutter.«

»Ich unterwerfe mich niemandem«, erwiderte Rand scharf. Er blickte so zornig zu ihr auf, daß sie schon dadurch hätte aus dem Sattel gerissen werden müssen. »Elayne befindet sich auf dem Weg nach Caemlyn, um den Thron von Andor einzunehmen, während wir miteinander sprechen. Danach wird sie auch den Thron von Cairhien besetzen.« Min zuckte zusammen. Mußte er so hochnäsig klingen? Sie hatte gehofft, er hätte sich nach dem Meervolk ein wenig beruhigt.

Lady Caraline legte die Armbrust vor sich über den Sattel und fuhr mit einer behandschuhten Hand darüber. Vielleicht bedauerte sie den abgeschossenen Pfeil? »Ich könnte meine junge Kusine auf dem Thron akzeptieren - zumindest eher sie als manche andere -, aber...« Diese großen dunklen Augen, die so lebhaft funkelten, wurden plötzlich steinhart. »Aber ich bin mir nicht sicher, daß ich Euch in Cairhien dulden kann, und ich meine damit nicht nur Eure Änderungen der Gesetze und Bräuche. Ihr ... verändert das Schicksal durch Eure bloße Gegenwart. Seit Eurer Ankunft sterben Menschen bei so absonderlichen Unfällen, daß niemand es zu glauben vermag. So viele Ehemänner lassen ihre Frauen im Stich und auch Ehefrauen ihre Männer, daß niemand jetzt mehr etwas dabei findet. Ihr werdet Cairhien auseinanderreißen, indem Ihr einfach hierbleibt.«

»Ausgewogenheit«, fiel Min hastig ein. Rands Gesicht war so düster, daß er bereit schien zu explodieren. Vielleicht hatte er doch recht damit gehabt hierherzukommen. Aber es hatte sicherlich keinen Sinn, ihn dieses Treffen durch einen Wutanfall beenden zu lassen. Min ließ niemandem eine Gelegenheit zu sprechen. »Es gibt stets eine Ausgewogenheit von Gut und Böse. So wirkt das Muster. Selbst er kann das nicht ändern. Wie die Nacht den Tag aufwiegt, wiegt auch das Gute das Böse auf. Seit er gekommen ist, gab es keine einzige Totgeburt mehr in der Stadt, und kein Kind wurde mehr entstellt geboren. Es finden an manchen Tagen mehr Hochzeiten statt als früher in einer Woche, und für jeden Mann, der an einer Feder erstickt, stürzt eine Frau drei Stockwerke tief die Treppen hinab und erhebt sich ohne Verletzungen, anstatt sich den Hals zu brechen. Benennt das Böse, und Ihr könnt auch auf das Gute deuten. Die Drehung des Rades fordert die Ausgewogenheit, und er vermehrt nur die Chancen dessen, was ohnehin auf natürlichem Wege geschähe.« Plötzlich errötete sie, als sie erkannte, daß beide sie ansahen. Oder eher anstarrten.

»Ausgewogenheit?« murmelte Rand mit gewölbten Augenbrauen.

»Ich habe einige der Bücher von Meister Fei gelesen«, sagte sie leise. Sie wollte nicht, daß jemand glaubte, sie spiele die Philosophin. Lady Caraline blickte lächelnd auf den Hals ihres Pferdes und spielte mit den Zügeln. Die Frau lachte über sie. Sie würde ihr schon zeigen, worüber sie lachen konnte!

Plötzlich drang ein großer schwarzer Wallach krachend durchs Unterholz, geritten von einem Mann mittleren Alters mit kurzgeschnittenem Haar und einem Spitzbart. Trotz seiner gelben tairenischen Jacke, deren dicke Ärmel mit Streifen grünen Satins besetzt waren, blickten bestürzend hübsche blaue Augen wie helle, polierte Saphire aus seinem feuchten, dunklen Gesicht. Er war kein besonders gutaussehender Mann, aber die Augen machten seine zu lange Nase wieder wett Er trug eine Armbrust in einer mit einem Panzerhandschuh geschützten Hand und schwang mit der anderen drohend einen Pfeil mit breiter Spitze.

»Dieser Pfeil verfehlte mich nur um Haaresbreite, Caraline, und er trägt Eure Kennzeichnung! Nur weil kein Wild da ist, ist das noch lange kein Grund...« Erst da bemerkte er Rand und Min und senkte seine gespannte Armbrust in ihre Richtung. »Sind dies Verirrte, Caraline, oder habt Ihr Spione aus der Stadt erwischt? Ich hatte niemals geglaubt, daß al'Thor uns weiterhin ungehindert hier verbleiben lassen würde.«

Ein halbes Dutzend weiterer Reiter erschienen hinter ihm, schwitzende Männer in Jacken mit dicken Ärmeln mit Satinstreifen und schwitzende Frauen in Reitgewändern mit breiten, dichten Spitzenkragen, alle mit Armbrüsten. Der letzte dieser Reiter hatte noch nicht angehalten, die Pferde stampften und warfen die Köpfe auf, als sich aus einer anderen Richtung doppelt so viele Reiter durch das Unterholz kämpften und ihre Pferde neben Caraline verhielten, schmächtige, blasse Männer und Frauen in dunkler Kleidung mit farbigen Streifen irgendwo unterhalb der Taille, auch sie alle mit Armbrüsten. Diener kamen zu Fuß hinterher und mühten sich bei der Hitze keuchend ab - die Männer, die jegliches niedergestreckte Wild tragen und zubereiten würden. Es schien unwichtig, daß alle nur ein Häutungsmesser am Gürtel trugen. Min schluckte und tupfte ihre Wangen mit dem Taschentuch unbewußt ein wenig heftiger ab. Wenn auch nur ein Mensch Rand erkannte, bevor er es bemerkte...

Lady Caraline zögerte nicht. »Keine Spione, Darlin«, sagte sie und wandte ihr Pferd den tairenischen Neuankömmlingen zu. Der Hohe Herr Darlin Sisnera! Jetzt fehlte nur noch Lord Toram Riatin. Min wünschte, Rands Ta'veren würde etwas weniger vollkommen am Muster zerren. »Ein Cousin und seine Frau«, fuhr Caraline fort, »die von Andor gekommen sind, um mich zu besuchen. Darf ich Euch Tomas Trakand - von einem unbedeutenderen Zweig unseres Hauses - und seine Frau Jaisi vorstellen?« Min hatte sie beinahe angestarrt. Die einzige Jaisi, die sie jemals gekannt hatte, war bereits vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr eine fade, verbitterte und abgrundtief schlecht gelaunte Versagerin gewesen.

Darlins Blick schweifte erneut über Rand und verweilte dann einen Moment auf Min. Er senkte seine Armbrust und verbeugte sich kaum merklich, wie es einem Hohen Herrn von Tear gegenüber einer untergeordneten Person geziemte. »Seid willkommen, Lord Tomas. Nur ein tapferer Mann würde sich uns unter den gegenwärtigen Umständen anschließen. Al'Thor könnte die Wilden jeden Tag auf uns loslassen.« Lady Caraline warf ihm einen verärgerten Blick zu, den er bewußt mißachtete.

Er bemerkte jedoch, daß Rands Verbeugung ebenso knapp ausfiel wie seine eigene. Er registrierte es und runzelte die Stirn. Eine dunkle hübsche Frau aus seinem Gefolge murrte leise zornig etwas - sie hatte ein längliches, hartes Gesicht, das Verärgerung gewohnt schien -, und ein stämmiger Bursche in einer grünen Jacke mit roten Streifen, der schwitzend die Stirn runzelte, trieb sein Pferd einige Schritt vorwärts, als wollte er Rand niederreiten.

»Das Rad webt, wie das Rad es wünscht«, sagte Rand kühl, als bemerke er nichts. Der Wiedergeborene Drache war einfach für fast jedermann, was er war: Anmaßung in Höchstform. »Nicht vieles geschieht, wie wir es erwarten. Ich hörte beispielsweise, Ihr wärt in Tear, in Haddon Mirk.«

Min wünschte, sie wagte es, das Wort zu ergreifen, ihm etwas Beschwichtigendes zu sagen. Sie beließ es dabei, seinen Arm zu streicheln.

Beiläufig. Eine Ehefrau - jetzt ein Wort, das gut klang - eine Ehefrau, die müßig ihren Mann tätschelte. Noch ein gutes Wort. Licht, es war schwer, fair zu sein!

»Der Hohe Herr Darlin ist mit einigen engen Freunden erst kürzlich mit dem Großboot hierhergekommen, Tomas.« Caralines kehliger Tonfall änderte sich nicht, aber ihr Wallach tänzelte plötzlich, zweifellos nach einem harten Fersentritt und sie wandte Darlin unter dem Vorwand, das Tier wieder unter Kontrolle bringen zu müssen, den Rücken zu, während sie Rand einen kurzen, warnenden Blick zuwarf. »Also belästige den Hohen Herrn nicht, Tomas.«

»Das macht mir nichts aus, Caraline«, sagte Darlin, während er die Armbrust an seinen Sattel hängte. Er ritt etwas näher heran und stützte einen Arm auf den Knauf seines Sattels. »Ein Mann sollte wissen, worauf er sich einläßt. Ihr habt die Geschichten über den zur Burg ziehenden al'Thor vielleicht gehört, Tomas. Ich bin gekommen, weil die Aes Sedai vor Monaten mit Vorschlägen an mich herangetreten sind, die möglicherweise durchgeführt werden, und Eure Cousine unterrichtete mich, daß sie die gleichen Vorschläge erhalten hat. Wir dachten, wir könnten sie auf den Sonnenthron bringen, bevor Colavaere ihn einnehmen kann. Nun, al'Thor ist kein Narr. Das darf man nicht glauben. Ich vermute, daß er die Burg bravourös getäuscht hat. Colavaere wurde gehängt, er sitzt sicher hinter cairhienischen Mauern - sicherlich ohne Aes Sedai-Halfter, ungeachtet der Gerüchte -, und bis wir eine Möglichkeit finden, uns herauszuwinden, sind wir bereits in seiner Hand und warten darauf, daß er sie zur Faust ballt.«

»Ein Schiff hat Euch hierhergebracht«, sagte Rand einfach. »Ein Schiff könnte Euch wieder fortbringen.« Min erkannte jäh, daß er sanft ihre Hand auf seinem Arm tätschelte und sie zu trösten versuchte!

Darlin warf verblüffenderweise den Kopf zurück und lachte. Viele Frauen würden für diese Augen und das Lachen seine Nase vergessen. »Das ist wahr, Cousin, aber ich habe Eure Cousine gebeten, mich zu heiraten. Sie wird nicht ja oder nein sagen, aber ein Mann kann auch eine mögliche Ehefrau nicht der Gnade der Aiel überlassen, und sie wird nicht fortgehen.«

Caraline Damodred richtete sich im Sattel auf, mit einem kalten Ausdruck auf dem Gesicht, der eine Aes Sedai beschämt hätte, aber plötzlich flammten rote und weiße Auren rund um sie und Darlin auf, und Min erkannte es. Die Farben waren anscheinend ohne Bedeutung, aber sie wußte, daß sie heiraten würden - nachdem Caraline ihn fröhlich an der Nase herumgeführt hatte. Und mehr noch - vor ihren Augen erschien plötzlich eine Krone auf Darlins Kopf, ein einfaches goldenes Diadem mit einem leicht gebogenen Schwert seitlich über der Stirn. Die Königskrone, die er eines Tages tragen würde, obwohl sie nicht erkennen konnte, die Krone welchen Landes es war. Tear hatte Hohe Herren anstatt eines Königs.

Bild und Auren verschwanden, als Darlin sein Pferd wendete, um Caraline anzusehen. »Heute ist kein Wild aufzuspüren. Toram ist bereits zum Lager zurückgekehrt. Ich schlage vor, daß wir es ihm gleichtun.« Die blauen Augen schweiften schnell über die umliegenden Bäume. »Anscheinend haben Euer Cousin und seine Frau ihre Pferde verloren. Sie werden sich in einem unbedachten Moment verirren«, fügte er in freundlichem Tonfall an Rand gewandt hinzu. Er wußte sehr gut, daß sie keine Pferde hatten. »Aber gewiß werden Rovair und Ines ihre Pferde abgeben. Ein Spaziergang an der frischen Luft wird ihnen guttun.«

Der stämmige Mann in der mit roten Streifen versehenen Jacke schwang sich sofort mit einem kriecherischen Lächeln für Darlin und einem erheblich weniger herzlichen, wenn auch genauso schmierigen für Rand von seinem großen Kastanienbraunen. Die Frau mit dem ärgerlichen Gesichtsausdruck kletterte einen Moment später steif von ihrer silbergrauen Stute. Sie wirkte nicht erfreut.

Min auch nicht. »Du willst in ihr Lager gehen?« flüsterte sie, als Rand sie zu den Pferden führte. »Bist du verrückt?« fügte sie ohne nachzudenken hinzu.

»Noch nicht«, sagte er leise und berührte mit einer Fingerspitze ihre Nase. »Dank dir weiß ich das.« Und er hob sie schwungvoll auf die Stute, kletterte in den Sattel des Kastanienbraunen und führte das Tier dann neben Darlin.

Sie ließen Rovair und Ines, die sich einander verärgert ansahen, unter den Bäumen zurück, während sie nordwestlich über den Hügel ritten. Als sich die beiden hinter den Cairhienern auf den Weg machten, riefen ihnen die Tairener lachend Wünsche zu, daß sie den Spaziergang genießen sollten.

Min wäre neben Rand geritten, aber Caraline legte ihr eine Hand auf den Arm und hielt sie hinter den beiden Männern zurück. »Ich möchte sehen, was er tut«, erkundigte sich Caraline ruhig. Was wer hat? fragte sich Min. »Ihr seid seine Geliebte?« fragte Caraline.

»Ja«, erwiderte Min trotzig, sobald sie wieder zu Atem kam. Ihre Wangen brannten. Aber die Frau nickte nur, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Vielleicht war es das in Cairhien auch.

Rand und Darlin ritten Knie an Knie unmittelbar vor ihnen, der jüngere Mann einen halben Kopf größer als der ältere, beide in eine Aura aus Stolz gehüllt. Aber sie unterhielten sich. Es war nicht leicht zuzuhören. Sie sprachen leise, und totes Laub raschelte unter den Pferdehufen, und herabgefallene Zweige knackten, was ihre Worte nur allzu häufig zusätzlich dämpfte. Auch der Schrei eines Falken über ihnen oder das Schnattern eines Eichhörnchens in einem Baum übertönten ihre Worte. Dennoch konnte Min einzelne Satzfetzen aufschnappen.

»Wenn ich das so sagen darf, Tomas«, sagte Darlin einmal, während sie den ersten Hügel hinabritten, »und ich will, unter dem Licht, nicht respektlos sein - Ihr habt das Glück, eine wunderschöne Frau zu haben. Wenn das Licht es will, werde ich selbst eine solch wunderschöne Frau haben.«

»Warum besprechen sie nichts Wichtiges?« murrte Caraline.

Min wandte den Kopf, um ein kleines Lächeln zu verbergen. Lady Caraline wirkte nicht halb so verstimmt, wie sie klang. Sie selbst hatte es nie gekümmert, ob jemand sie für hübsch hielt oder nicht. Nun, bis sie Rand begegnete. Vielleicht war Darlins Nase gar nicht so lang.

»Ich hätte ihn das Schwert Callandor dem Stein entnehmen lassen«, sagte Darlin etwas später, als sie einen spärlich bewachsenen Hang hinaufritten, »aber ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie er Aiel-Eindringlinge nach Tear brachte.«

»Ich habe die Prophezeiungen des Drachen gelesen«, sagte Rand, beugte sich auf dem Hals des Kastanienbraunen vor und trieb das Tier vorwärts. Das Pferd wies edlen Glanz auf, aber nicht mehr Tiefgang als sein Reiter, vermutete Min. »Der Stein mußte fallen, bevor er Callandor an sich nehmen konnte«, fuhr Rand fort. »Wie ich gehört habe, folgen ihm andere tairenische Herren.«

Darlin schnaubte. »Sie katzbuckeln und lecken ihm die Stiefel! Ich hätte ihm folgen können, wenn er das gewollt hätte, wenn...« Er schüttelte seufzend den Kopf. »Zu viele offene Fragen, Tomas. Es gibt in Tear ein Sprichwort: › Jeder Streit kann vergeben werden, aber Könige vergessen niemals.‹ Tear wurde seit Artur Falkenflügel von keinem König mehr regiert, aber ich glaube, daß der Wiedergeborene Drache einem König sehr ähnlich ist. Nein, er hat mich des Verrats bezichtigt, wie er es nennt und ich muß weitermachen, wie ich angefangen habe. Wenn es dem Licht gefallt, werde ich Tear noch einmal auf seinem eigenen Land unumschränkt erleben, bevor ich sterbe.«

Es mußte das Werk des Ta'veren sein, erkannte Min. Der Mann hätte niemals so mit jemandem gesprochen, dem er zufällig begegnet war, auch wenn er vermutlich Caraline Damodreds Cousin war. Aber was dachte Rand? Sie konnte es kaum erwarten, ihm von der Krone zu erzählen.

Als sie den Hügelkamm erreichten, trafen sie plötzlich auf eine Ansammlung Speerträger, von denen einige verbeulte Brustharnische oder Helme trugen - die meisten aber ohne beides -und sich verbeugten, sobald sie der Gesellschaft ansichtig wurden. Min konnte zu ihrer Linken und Rechten durch die Bäume weitere Gruppen von Wächtern sehen. Unterhalb erstreckte sich das Lager in einem Staubschleier einen fast unbestandenen Hang, das Hügeltal entlang und den nächsten Hügel hinauf. Jedes der wenigen Zelte war groß und wies das Banner eines Adligen auf, das schlaff an einem Stab über der Zeltspitze hing. Fast ebenso viele Pferde standen an Pflockleinen angebunden, wie sich Menschen im Lager befanden, und Tausende von Männern und eine Handvoll Frauen schritten zwischen den Herdfeuern und den Wagen einher. Niemand jubelte, als ihre Anführer ins Lager ritten.

Min betrachtete sie über das Taschentuch hinweg, das sie zum Schutz vor dem Staub an ihre Nase preßte, ohne sich darum zu kümmern, ob Caraline sah, was sie tat. Entmutigte Gesichter beobachteten ihr Vorüberziehen, und grimmige Gesichter von Menschen, die wußten, daß sie in der Falle saßen. Hier und da ragte der Con eines Hauses starr über dem Kopf eines Mannes auf, aber die meisten schienen zu tragen, was immer sie finden konnten, zusammengestückelte Rüstungsteile, die häufig weder zusammenpaß-ten noch gut saßen. Eine beachtliche Anzahl Männer jedoch, die für Cairhiener zu groß waren, trugen rote Jacken unter ihren verbeulten Brustpanzern. Min erspähte einen fast verborgenen weißen Löwen auf einem schmutzigen roten Ärmel. Darlin konnte auf einem Großboot nur wenige Leute mitgenommen haben, vielleicht nicht mehr als seine Jagdgesellschaft. Caraline blickte stur geradeaus, während sie durch das Lager ritten, aber wann immer sie sich jenen Männern in den roten Jacken näherten, preßte sie die Lippen zusammen.

Darlin stieg vor einem riesigen Zelt ab, dem größten, das Min jemals gesehen hatte, größer, als sie es sich hätte vorstellen können, ein großes, rot gestreiftes Oval, das im Sonnenlicht wie Seide schimmerte, mit nicht weniger als vier hohen konischen Spitzen, über deren jeder sich die Aufgehende Sonne von Cairhien, Gold auf Blau, in einer milden Brise regte. Harfenklänge schwebten durch das Stimmengemurmel heran. Darlin bot Caraline seinen Arm, während Diener die Pferde davonführten. Nach sehr langem Zögern legte sie ihre Finger vollkommen ausdruckslos leicht auf sein Handgelenk und ließ sich von ihm ins Zelt geleiten.

»Meine Gattin?« murmelte Rand lächelnd und streckte den Arm aus.

Min rümpfte die Nase und legte ihre Hand auf seine. Sie hätte ihn am liebsten geschlagen. Er hatte kein Recht, sich über sie lustig zu machen. Er hatte kein Recht, sie hierher zu bringen, Ta'veren oder nicht Ta'veren. Er könnte hier getötet werden, verdammter Kerl! Aber kümmerte es ihn, wenn sie den Rest ihres Lebens um ihn trauernd verbrachte? Sie berührte den gestreiften Zelteingang, während sie hineingingen, und schüttelte daraufhin verwundert den Kopf. Es war Seide. Ein Seidenzelt!

Sie spürte, wie Rand erstarrte, sobald sie das Zelt betreten hatten. Darlins und Caralines abgezehrtes Gefolge drängte sich mit unehrlichen Entschuldigungen um sie. Zwischen den vier Hauptzeltstangen standen auf farbenprächtigen Teppichen, die als Boden ausgelegt worden waren, lange, unter der Last von Speisen und Getränken ächzende Tische, und überall waren Menschen, cairhienische Adlige in ihrem Putz und einige wenige Soldaten mit vorn rasierten und gepuderten Köpfen, dem edlen Schnitt ihrer Jacken nach eindeutig Höherrangige. Einige Handvoll Barden schlenderten spielend durch die Menge und fielen durch ihre hochmütige Haltung auf wie auch durch ihre geschnitzten und vergoldeten Harfen. Und doch wurde Mins Blick, wie von der wahren Quelle von Rands Besorgnis, von drei Aes Sedai angezogen, die miteinander sprachen, die der Grünen, Braunen und Grauen Ajah angehörten, Bilder und Farben blitzten um sie herum auf, aber nichts, was für Min einen Sinn ergeben hätte. Eine Bewegung in der Menge offenbarte eine weitere Aes Sedai, eine Frau mit rundlichem Gesicht. Weitere Bilder, noch mehr aufblitzende Farben, aber Min brauchte nur die mit roten Fransen versehene Stola zu sehen, die über drallen Armen lag.

Rand zog ihre Hand unter seinen Arm und tätschelte sie. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er leise. »Alles verläuft gut.« Sie hätte ihn gefragt, was sie hier taten, aber sie befürchtete, daß er es ihr sagen könnte.

Darlin und Caraline waren zusammen mit ihren Gefolgsleuten in der Menge verschwunden, aber als ein Diener mit roten, grünen und weißen Streifen an seinen dunklen Manschetten Rand und Min unter Verbeugungen ein Tablett mit Silberbechern darbot, erschien Caraline wieder, während sie die aufdringlichen Bitten eines abgezehrt erscheinenden Burschen in einer jener roten Jacken abwehrte. Er starrte auf ihren Rücken, als sie einen Becher gewürzten Wein nahm und den Diener fortwinkte, und Min hielt beim Anblick der Aura, die plötzlich mit fast schwarzen Schattierungen um ihn herum aufblitzte, den Atem an.

»Vertraut diesem Mann nicht, Lady Caraline.« Sie konnte nicht anders. »Er wird jedermann ermorden, der ihm seiner Ansicht nach im Weg ist. Er wird aus Launen heraus töten, jedermann töten.« Sie biß die Zähne zusammen, bevor sie noch mehr sagte.

Caraline schaute über ihre Schulter, woraufhin sich der hagere Mann hastig ab wandte. »Das könnte ich mir bei Daved Hanion ohne weiteres vorstellen«, sagte sie verzerrt. »Seine Weißen Löwen kämpfen um Gold, nicht um Cairhien, und plündern schlimmer als die Aiel. Andor wurde für sie anscheinend zu riskant.« Letzteres äußerte sie mit einem schelmischen Blick zu Rand. »Toram hat ihm vermutlich viel Gold versprochen, und, soweit ich weiß, auch Besitz.« Sie sah Min an. »Kennt Ihr den Mann, Jaisi?«

Min schüttelte nur den Kopf. Wie sollte sie erklären, was sie über Hanion wußte? Daß seine Hände von weiterem Rauben und Morden rot gefärbt sein würden, bevor er starb? Wenn sie geahnt hätte, wann oder wer... Aber sie wußte nur, daß er es tun würde. Eine Vision wurde ohnehin niemals dadurch verändert, daß man davon erzählte. Was sie sah, geschah, ungeachtet dessen, wen sie warnte. Manchmal war es, bevor sie es besser gelernt hatte, gerade deswegen geschehen, weil sie jemanden gewarnt hatte.

»Ich habe von den Weißen Löwen gehört«, sagte Rand kalt. »Sucht unter ihnen nach Schattenfreunden, und Ihr werdet nicht enttäuscht.« Einige von Gaebrils Soldaten waren Weiße Löwen gewesen. Das wußte Min, aber kaum mehr, außer daß Lord Gaebril in Wahrheit Rahvin gewesen war. Es war anzunehmen, daß sich unter Soldaten, die einem der Verlorenen dienten, auch Schattenfreunde befanden.

»Was ist mit ihm?« Rand deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Mann auf der anderen Seite des Zelts, dessen lange dunkle Jacke genauso viele Streifen aufwies wie Caralines Gewand. Er war sehr groß für einen Cairhiener, weniger als einen Kopf kleiner als Rand, und bis auf breite Schultern schlank und auffallend gutaussehend, mit kräftigem Kinn und nur einer Spur Grau an den dunklen Schläfen. Mins Blick wurde jedoch aus einem unbestimmten Grund von seinem Begleiter angezogen, einem mageren kleinen Burschen mit langer Nase und großen Ohren in einer roten Seidenjacke, die ihm nicht sehr gut paßte. Er betastete ständig einen gebogenen Dolch an seinem Gürtel, eine auffallende Waffe mit goldener Scheide und einem das Heft krönenden, großen roten Stein, der das Licht undeutlich einzufangen schien. Sie sah keine Auren um ihn. Er schien ihr vage vertraut. Die beiden Männer blickten zu ihr und Rand.

»Das«, flüsterte Caraline mit angespannter Stimme, »ist Lord Toram Riatin persönlich mit seinem ständigen Begleiter während der letzten Zeit, Meister Jeraal Mordeth. Ein abscheulicher kleiner Mann. Sein Blick bewirkt, daß ich mich waschen möchte. Sie vermitteln mir beide das Gefühl, unrein zu sein.« Sie blinzelte, überrascht über ihre Worte, aber sie fing sich schnell wieder. Min hatte das Gefühl, daß nichts Caraline lange aus dem Gleichgewicht brachte. Darin war sie Moiraine sehr ähnlich. »Ich wäre vorsichtig, wenn ich an Eurer Stelle wäre, Cousin Tomas«, fuhr sie fort. »Ihr habt mich vielleicht mit einem Wunder oder dem Ta'veren beeinflußt - und vielleicht sogar auch Darlin, obwohl ich nicht weiß, wohin das führen mag; ich mache keine Versprechungen -, aber Toram haßt Euch leidenschaftlich. Bevor Mordeth sich ihm anschloß, war es noch nicht so schlimm, aber seither... Toram würde die Stadt sofort angreifen, noch in der Nacht. Wenn Ihr tot wärt, sagt er, würden die Aiel weichen, aber ich glaube, Euch tot zu sehen, ist ihm in Wahrheit inzwischen wichtiger als der Thron,«

»Mordeth«, sinnierte Rand. Er betrachtete Toram Riatin und den mageren Burschen. »Sein Name ist Padan Fain, und auf seinen Kopf stehen eintausend Goldkronen.«

Caraline hätte beinahe ihren Becher fallen lassen. »Königinnen sind schon für weniger ausgelöst worden. Was hat er getan?«

»Er hat mein Heim verwüstet, weil es mein Heim war.« Rands Gesicht war erstarrt, seine Stimme wie Eis. »Er hat Trollocs veranlaßt, meine Freunde zu töten, weil sie meine Freunde waren. Er ist ein Schattenfreund ... und ein toter Mann.« Er stieß die letzten Worte durch zusammengebissene Zähne hervor. Gewürzter Wein spritzte auf den Teppich, als der Silberbecher in seiner behandschuhten Faust geneigt wurde. Min spürte sein Elend, seine Qual, aber sie legte Rand fast flehentlich eine Hand auf die Brust. Wenn er jetzt nachgab und die Macht lenkte, obwohl wer weiß wie viele Aes Sedai in der Nähe waren... »Um des Lichts willen - beherrsche dich«, begann sie, als hinter ihr die freundliche Stimme einer Frau erklang.

»Wollt Ihr mich Eurem großen, jungen Freund vorstellen, Caraline?«

»Natürlich, Cadsuane Sedai.« Caraline klang erschüttert, aber sie besänftigte ihre Stimme, bevor sie ihren zu Besuch erschienenen ›Cousin‹ und seine ›Frau‹ vorstellte. »Aber ich fürchte, Cairhien ist im Moment kein geeigneter Ort für sie«, fuhr sie, wieder vollkommen beherrscht, fort und lächelte bedauernd, daß sie Rand und Min nicht länger bei sich behalten konnte. »Sie haben sich einverstanden erklärt, meinem Rat zu folgen und nach Andor zurückzukehren.«

»Tatsächlich?« fragte Cadsuane trocken. Mins Herz sank. Auch wenn Rand nicht von ihr gesprochen hatte, war aus der Art, wie sie ihn ansah, deutlich ersichtlich, daß sie ihn kannte. Winzige goldene Vögel und Monde und Sterne schwangen, als sie den Kopf schüttelte. »Die meisten Jungen lernen, ihre Finger nicht mehr in das hübsche Feuer zu strecken, wenn sie sich das erste Mal verbrannt haben, Tomas. Andere müssen geschlagen werden, um zu lernen. Besser ein wunder Hintern als eine verbrannte Hand.«

»Ihr wißt, daß ich kein Kind mehr bin«, beschied Rand ihr barsch.

»Tatsächlich?« Sie betrachtete ihn eindringlich von Kopf bis Fuß. »Nun, anscheinend werde ich bald erkennen, ob Ihr geschlagen werden müßt oder nicht.« Die kühlen Augen schweiften zu Min und zu Caraline, und dann entschwebte Cadsuane mit einem letzten Blick auf ihre Stola in die Menge.

Min schluckte den Kloß in ihrer Kehle hinunter und war erfreut, Caraline es ihr, trotz ihrer Selbstbeherrschung, gleichtun zu sehen. Rand -der blinde Narr! - sah der Aes Sedai nach, als wollte er ihr folgen. Dieses Mal legte Caraline eine Hand auf seine Brust.

»Anscheinend kennt Ihr Cadsuane«, sagte sie leise. »Nehmt Euch vor ihr in acht. Selbst die Schwestern haben gewaltigen Respekt vor ihr.« Caralines kehlige Stimme wurde ernst. »Ich habe keine Ahnung, was heute noch geschehen wird, aber was auch immer es ist, denke ich, daß Ihr aufbrechen solltet, ›Cousin Tomas‹. Es ist allerhöchste Zeit. Ich werde Pferde bereitstellen lassen...«

»Ist dies Euer Cousin, Caraline?« fragte die tiefe, volltönende Stimme eines Mannes, und Min zuckte wider Willen zusammen.

Toram Riatin sah aus der Nähe noch besser aus als aus der Ferne, da er die starke männliche Schönheit und Weltgewandtheit besaß, die Min angezogen hätte, bevor sie Rand begegnete. Nun, sie fand ihn dennoch anziehend, wenn auch nicht so anziehend wie Rand. Seine festen, lächelnden Lippen waren recht reizvoll.

Torams Blick fiel auf Caralines noch immer auf Rands Brust ruhende Hand. »Lady Caraline wird meine Frau werden«, sagte er träge, »Wuß-tet Ihr das?«

Caralines Wangen röteten sich zornig. »Wagt es nicht, Toram! Ich habe Euch gesagt, daß ich Euch nicht heiraten werde, und ich werde meine Meinung nicht ändern!«

Toram sah Rand lächelnd an. »Ich glaube, Frauen erkennen niemals, was sie wollen, bis man es ihnen zeigt. Was meint Ihr, Jeraal? Jeraal?« Er sah sich stirnrunzelnd um. Min beobachtete ihn erstaunt. Er sah so gut aus, mit genau der richtigen Art von... Sie wünschte, sie könnte Visionen bewußt heraufbeschwören. Sie wollte zu gerne wissen, was die Zukunft für diesen Mann bereithielt.

»Ich habe Euren Freund in dieser Richtung davoneilen sehen, Toram.« Caraline deutete mit angewidert verzogenem Mund vage in eine Richtung. »Ich denke, Ihr werdet ihn in der Nähe der Getränke finden, wo er die Schankmädchen belästigt.«

»Später, meine Teure.« Er versuchte, ihre Wange zu berühren, und wirkte belustigt, als sie zurückwich. Er übertrug seine Belustigung augenblicklich auf Rand - und auf das Schwert an seiner Seite. »Hättet Ihr Lust auf einen kleinen Wettkampf, Cousin? Ich nenne Euch so, weil wir Cousins sein werden, wenn Caraline erst meine Frau ist. Mit Übungsschwertern natürlich.«

»Gewiß nicht«, erwiderte Caraline lachend. »Er ist ein Junge, Toram, und kann das eine Ende des Schwerts kaum vom anderen unterscheiden. Seine Mutter würde mir niemals verzeihen, wenn ich zuließe ...«

»Ein Wettkampf«, sagte Rand jäh. »Ich könnte vielleicht ebensogut herausfinden, wohin dies führt. Ich nehme die Herausforderung an.«

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