6

Der Regen fiel seit Tagesanbruch; kalt und ohne Unterlaß. Unten auf dem Platz drängten sich die Tauben unter Maria Theresias patinagrünen Röcken. Wien, die besetzte Stadt, hatte dem Frühling den Rücken gekehrt.

Ruth hatte kaum geschlafen. Jetzt faltete sie die Decke auf dem Feldbett, wusch sich, so gut es ging, unter dem Wasserhahn in der kleinen Garderobe und machte sich eine Tasse Kaffee.

Heute ist mein Hochzeitstag, dachte sie; an diesen Tag werde ich denken, wenn ich einmal auf dem Sterbebett liege – und plötzliche Panik packte sie.

Sie hatte ihren Rock und ihren Pullover unter eine Zeitung gelegt und sie mit einem Brett voller Steine beschwert, aber viel Erfolg hatte dieser Versuch, ihre Kleider zu glätten, nicht gehabt. Sollte sie vielleicht doch lieber das Kleid anziehen, das für Heinis Debüt mit den Philharmonikern gedacht gewesen war? Sie hatte es von zu Hause mitgenommen; es hing jetzt hinter der Tür: brauner Samt mit einem braven Kragen aus cremefarbener Spitze. Es stammte aus dem Warenhaus ihres Großvaters. Jetzt waren die Schaufenster des Kaufhauses zertrümmert, und die Leute wurden angehalten, nicht dort zu kaufen. Dem Himmel sei Dank, daß Großvater tot war.

Nein, das war Heinis Kleid – ihr Umblätter-Kleid, denn es spielte sehr wohl eine Rolle, was man anhatte, wenn man die Noten umblätterte. Man mußte hübsch aussehen, aber doch dezent. Das Kleid hatte die Farbe des Bechstein-Flügels im Musikverein – für einen Engländer, der davonlief, wenn er einen Straußwalzer hörte, war es nicht geeignet.

Sie ging langsam durch die Museumsräume, und im grauen Licht der Morgendämmerung traten ihre alten Freunde einer nach dem anderen aus der Dunkelheit. Der Eisbär, der See-Elefant ... der Ichthyosaurus mit der falschen Wirbelsäule. Und das kleine Fingertier, das sie wieder in seine Vitrine gesperrt hatte.

«Wünsch mir Glück», flüsterte sie dem häßlichen kleinen Tier zu und drückte die Stirn an das Glas. Sie schloß die Augen, und die Halbaffen Madagaskars verschwanden, als Bilder der Hochzeitsfeier vor ihr aufstiegen, die sie sich so oft mit ihrer Mutter zusammen ausgemalt hatte. Nicht hier, sondern am Grundlsee hätte sie stattfinden sollen. In einem langen Konvoi von Booten, weil ja alle, die ihr etwas bedeuteten, dabei sein mußten, wäre man zu der kleinen Kirche mit dem Zwiebelturm gerudert. Onkel Mishak hätte ein bißchen gebrummt, weil er sich fein machen mußte; Tante Hildas Reißverschluß hätte geklemmt – und das Zillerquartett hätte gespielt. «Auf dem Steg», hatte sich Ruth gewünscht, aber Biberstein sagte nein, um auf dem Steg zu spielen, sei er zu dick. Sie hätte weißen Organdy getragen und einen Brautstrauß aus Bergblumen, und am Altar hätte Heini mit seinem lockigen Haar und seinem lieben Lächeln auf sie gewartet.

Ach, Heini, verzeih mir. Ich tu es ja für uns.

Wieder in der Garderobe, warf sie noch einmal einen Blick auf ihr Spiegelbild. Nie hatte sie sich so reizlos und durchschnittlich gefunden. Impulsiv löste sie ihr Haar, füllte das Waschbecken mit kaltem Wasser, nahm die grüne Seife, die das Museum seinen Mitarbeitern zur Verfügung stellte ...

Als Quin kam, war sie fertig, ihr Koffer gepackt.

«Regnet es hier herein?» fragte er überrascht, als er ihr nasses Haar sah.

Sie schüttelte den Kopf. «Ich hab mir die Haare gewaschen, aber die Heizung geht nicht.»

Er sah die Schatten unter ihren Augen, die straffe Haltung ihrer Schultern.

«Kommen Sie. Es wird gleich vorbei sein – und es ist nicht so schlimm wie ein Besuch beim Zahnarzt.»

Am Fuß der Treppe wartete ein Grüppchen Menschen, die ihr Glück wünschen wollten: die Zugehfrau, der Nachtwächter, der alte Präparator. Sie hatten alle gewußt, daß sie hier untergeschlüpft war, und keiner hatte sie verraten. Daran mußte sie sich später immer erinnern, wenn sie an ihren Landsleuten verzweifeln wollte.

Sie hatte sich unter dem britischen Konsulat etwas Beeindrukkendes vorgestellt, aber nach dem Anschluß hatte eine Reihe von Auslandsvertretungen das Quartier wechseln müssen, und so setzte das Taxi sie nur vor einer Reihe Baracken ab, auf deren Blechdächer immer noch der Regen trommelte. Ein mürrischer Handwerker im Ölmantel stocherte mit einem Werkzeug in der überfließenden Regenrinne herum. Das Bild Georgs VI. im provisorischen Büro des Konsuls hing etwas schief; draußen im Flur war jemand beim Staubsaugen.

Der Stellvertreter des Konsuls erwartete sie, allerdings nicht gerade glänzender Laune. Er hatte eine Bindehautentzündung, eine äußerst unangenehme Geschichte, und hielt ein Taschentuch auf sein Auge gedrückt. Zwar fand er Professor Somerville persönlich ganz sympathisch, aber die Art und Weise, wie der Konsul, vermutlich auf Anweisung des Botschafters, diese ganze Angelegenheit durchgeboxt hatte, konnte er nicht billigen. Verfahren, für die man sonst Tage brauchte, wurden plötzlich innerhalb von Stunden erledigt: die Ausstellung der Visa, das Umschreiben der Reisepässe. Garantiert sind da zwei zusammen auf irgendeinem Nobelinternat gewesen, dachte der Vizekonsul, der aus einfachen Verhältnissen stammte. Professor Somervilles Vater vielleicht mit dem Vetter des Botschafters ... Vermutlich hatte eines dieser vor sichtig tastenden Gespräche stattgefunden, bei denen die Engländer der guten Kreise wie Hunde an Laternenpfählen den Stammbaum des anderen zu erschnüffeln suchen, indem sie von der Schule plaudern – Eton oder Harrow? – und dann feststellen, daß sie im Herzen Brüder sind.

«Kann ich bitte Ihre Papiere haben?»

Quin legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Er sah, wie Ruths Hände sich auf der Stuhllehne verkrampften. Knapp zwanzig Jahre alt, ein Kind des neuen Europa, das Hitler geschaffen hatte.

«Wir brauchen zwei Zeugen. Haben Sie jemand mitgebracht?»

«Nein.»

Der Vizekonsul seufzte und ging in den Korridor hinaus. Das Brummen des Staubsaugers hörte auf, eine Frau mit einer großen Warze am Kinn trat ins Zimmer und blieb stumm an der Tür stehen. Sie hatte an den Innenseiten ihrer Filzpantoffel ein Stück herausgeschnitten, um den Überbeinen an ihren Fußballen Platz zu schaffen, und das war ganz vernünftig. Ruth hatte Verständnis dafür, daß man von jemand, dem die Füße solche Probleme machten, nicht erwarten konnte, daß er lächelte oder einem guten Morgen wünschte. Dann kam der Handwerker, er hatte seinen Ölmantel ausgezogen und roch ziemlich streng – auch das ganz natürlich – nach den Abflüssen, die er gereinigt hatte. Ganz klar, daß auch er nicht gerade erfreut darüber war, bei seiner Arbeit gestört zu werden.

Nun trat der Konsul persönlich ein, ein distinguiert aussehender, formell gekleideter Mann, in der Hand das Gebetbuch der Anglikanischen Kirche, und die Zeremonie begann.

Was nun folgte, hatte Quin allerdings nicht erwartet. «Es ist eine reine Formalität», hatte er Ruth versichert. «In ein paar Minuten ist alles vorbei.» Aber der Konsul waltete seines Amtes mit größter Gewissenhaftigkeit. Zwar verkürzte er das Trauungszeremoniell um einiges, aber er ließ es sich nicht nehmen, die Worte zu sprechen, die seit vierhundert Jahren von anglikanischen Geistlichen bei solchen Zeremonien gesprochen wurden. Quin, dem Böses schwante, runzelte die Stirn und blickte zu Boden.

«Liebe Anwesende, wir haben uns heute im Angesicht Gottes hier zusammengefunden, um diesen Mann und diese Frau zu trauen. Der heilige Stand der Ehe ist ...»

Ruth begann unruhig zu werden. Die Putzfrau mit den löchrigen Filzpantoffeln schniefte.

« ... und soll daher von keinem unberaten, leichtsinnig oder mutwillig unternommen werden, sondern mit Ehrfurcht und Überlegung ...»

Es kam, wie Quin erwartet hatte. Ruth machte plötzlich eine scharfe, abweisende Kopfbewegung, und ein letzter Wassertropfen fiel aus ihrem Haar auf das blanke Linoleum.

Der Konsul kam auf die Bestimmung der Ehe zu sprechen, nannte dazu die Zeugung von Nachkommen und rief damit bei Ruth ein erschrockenes Stirnrunzeln hervor. Danach mußten die Putzfrau und der Handwerker, die kein einziges Wort verstanden, bezeugen, daß ihnen Gründe, die dieser Heirat entgegengestanden hätten, nicht bekannt seien, und dann kam der Konsul endlich zur Sache.

«Willst du, Quinton Alexander St. John, diese Frau zu deiner angetrauten Ehefrau nehmen ...? Willst du sie lieben und ehren in guten wie in schlechten Tagen und ihr treu sein, solange ihr beide lebt?»

«Ich will es.»

«Ruth Sidonie, willst du diesen Mann zu deinem angetrauten Ehemann nehmen ...?»

Ihr «Ich will es» kam deutlich, jedoch mit einem leichten, fast vergessenen schottischen Anklang. Ein Streß-Symptom, so schien es.

Der Konsul räusperte sich. «Haben Sie einen Ring?»

Ruth schüttelte den Kopf, aber im selben Moment nahm Quin einen schlichten goldenen Reif aus seiner Tasche.

Er war selbst auch etwas blaß, als er versprach, Ruth zu seiner angetrauten Ehefrau zu nehmen, sie zu lieben und zu ehren bis an sein Lebensende. Der Ring, den er ihr an den Finger steckte, paßte wie angegossen. Ihre Hände waren eiskalt.

«Mit diesem Ring will ich dich zur Frau nehmen, mit meinem Leib will ich dich lieben, und alle meine weltlichen Güter sollen auch dein sein.» Seine Stimme war jetzt ruhig. Es war beinahe vorbei.

«Das Gebet lassen wir weg», sagte der Konsul und intonierte dann mit angemessener Feierlichkeit und düsterem Nachdruck die Schlußformel: «Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.»

Es war vorbei. Sie unterzeichneten die Urkunde, Quin bezahlte, was er schuldig war, gab den Zeugen ein Trinkgeld, warf eine Spende für die Waisen des Spanischen Bürgerkriegs in den Sammelkasten.

«Kommen Sie um vier Uhr wieder, dann ist Ihr neuer Paß fertig, in den auch Ihre Frau eingetragen wird, und das Visum für Ihre Frau ebenfalls.»

Ruth schaffte es bis zur gekiesten Auffahrt hinaus, ehe sie in Tränen ausbrach.

«Um Himmels willen, Ruth, was ist denn los? Jetzt ist doch alles vorbei. Morgen abend sind Sie bei Ihrer Familie.»

Sie schneuzte sich und schüttelte den Kopf, daß ihre Haare flogen. «Warten Sie nur! Wir sind bestimmt auf ewig verflucht!»

«Verflucht? Was reden Sie da? Ein bißchen weniger Altes Testament, bitte!»

«Sehen Sie, da haben wir es schon – jetzt werden Sie auch noch antisemitisch.»

«Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich finde wirklich, jetzt wäre der Moment, sich an der Ziegenhirtin zu orientieren und nicht an irgendeinem finsteren alten Rabbi. Was soll das heißen, wir sind verflucht?»

«Wegen der Wörter. Weil wir diese Worte vor Zeugen ausgesprochen haben. Ich hatte keine Ahnung, daß sie so stark sind. Und das mit den weltlichen Gütern, die Sie mit mir teilen, hätten Sie auch nicht sagen sollen. Ich meine, selbst wenn wir uns mit dem Leib lieben würden, wäre ja immer noch Morgan zu berücksichtigen.»

«Natürlich. Ich dachte mir doch, daß wir noch einmal von Morgan hören würden. Was soll dieses Theater, Ruth, hm? Sie wissen doch, was Hitler für ein Mensch ist, und Sie wissen, daß es eine andere Möglichkeit nicht gab.»

«Ich hätte schwarz über die Grenze gehen sollen. Ich hätte nicht zulassen sollen, daß Sie lauter Meineide schwören.»

Quin war mit seiner Geduld fast am Ende. Es kostete ihn Anstrengung, mit seiner Meinung über ihre geplante Bezwingung der Kanderspitze hinter dem Berg zu halten. «Kommen Sie, jetzt gehen wir erst mal ins Imperial und tun uns an zwei riesigen Schnitzeln gütlich. Nach so was können Sie nämlich in London lange suchen.»

«Ich kann in diesen alten Sachen nicht ins Imperial. Und wenn ich gesehen werde ...»

Quins Arroganz war gänzlich unbewußt. «Jetzt kann Ihnen nichts mehr passieren. Sie sind jetzt britische Staatsbürgerin – und in meiner Obhut.»


Die Schnitzel waren ein Erfolg. Als sie das Restaurant verließen, war ihr Haar trocken und umgab ihr Gesicht auf eine etwas wirre, aber durchaus heiter reizvolle Art. Er hatte bereits festgestellt, daß es eine Art Stimmungsbarometer war.

«Wir haben noch drei Stunden Zeit. Was möchten Sie an Ihrem letzten Nachmittag in Wien unternehmen?»

Zu seiner Überraschung schlug sie vor, mit der Straßenbahn an die Donau zu fahren. Er wußte, wie wenig der breite graue Fluß, der sich in einem Bogen um die Industriegebiete vor der Stadt wand, den Wienern tatsächlich am Herzen lag. Der melancholische Johann Strauß mit seinem gefärbten Schnurrbart und seiner Unfähigkeit zu lächeln hatte zwar zu Ehren des Flusses den berühmtesten Walzer der Welt geschrieben, aber die gefährlichen Überschwemmungen der Donau hatten die Stadtbewohner schon vor Jahrhunderten von ihren Ufern vertrieben.

Als sie auf der Reichsbrücke standen, war klar, daß Ruth auf Erinnerungsreise war.

«Sehen Sie die kleine Bucht da drüben, gleich neben dem Lagerhaus?»

Er nickte.

«Da hat mein Onkel Mishak früher immer geangelt – das heißt, in Wirklichkeit ist er mein Großonkel. Das ist Jahre her. Damals saß der Kaiser noch auf dem Thron, und Österreich-Ungarn existierte noch. Man konnte mit dem Schiff nach Budapest fahren – man brauchte keinen Paß und nichts. Onkel Mishak hatte damals gerade bei meinem Großvater im Warenhaus angefangen, aber er vermißte das Landleben, und darum ist er jeden Sonntag zum Angeln hier herausgefahren. Und eines Sonntags zog er anstelle eines Fischs eine Flasche heraus.» Sie wandte sich Quin eifrig zu. «Es war eine Limonadenflasche mit einem Brief darin. Eine Flaschenpost.»

Quin zeigte sich gebührend beeindruckt.

«In dem Brief hieß es: Darunter hatte sie die Adresse der Schule geschrieben, an der sie unterrichtete. Es war ein Dorf an der Donau, in der Nähe von Dürnstein – Sie wissen schon, wo Richard Löwenherz gefangen war.»

«Und weiter?»

«Der Direktor der Schule war ihr Vater. Er war ein grausamer Tyrann. Marianne hatte noch eine ältere Schwester, aber die hatte geheiratet und war so dem sadistischen Vater entkommen. Marianne war ein stilles und schüchternes Mädchen und nicht besonders hübsch, und außerdem stotterte sie leicht. Sie fand keinen Mann. Ihr Vater hatte sie gezwungen, die Kleinen zu unterrichten, und die äfften sie natürlich alle nach. Jedesmal wenn sie ins Klassenzimmer kam, wäre sie am liebsten gestorben.»

Ruth machte eine Pause und sah Quin vielsagend an, um die Spannung zu erhöhen.

«Eines Tages, als sie gerade Geographieunterricht gab und mit den Kindern die Flüsse Südamerikas durchnahm, ging plötzlich die Tür auf, und ein kleiner Mann in einem dunklen Anzug und mit einem Homburg auf dem Kopf kam herein. Er hatte eine Aktentasche dabei.

Die Kinder fingen an zu lachen, aber sie hörte sie gar nicht. Sie stand nur da und starrte den kleinen Mann an. Da nahm mein Onkel Mishak seinen Hut ab – er war damals schon ganz schön kahl, und er trug einen goldenen Zwicker – und sagte: Eine richtige Frage war es gar nicht, er wußte ja, daß sie es war, aber er wartete trotzdem, bis sie nickte, und dann sagte er: Einfach so. Ich bin gekommen, um Sie zu holen. Er machte seine Aktentasche auf und nahm den Brief heraus, den er in der Flasche gefunden hatte.»

«Und ist sie mit ihm gegangen?»

Ruth lächelte. «Sie hat kein Wort gesagt. Sie hat den Lappen genommen und sehr sorgfältig die Flüsse Südamerikas von der Tafel gelöscht – den Negro und die Madeira und den Amazonas. Dann hat sie die Kreide in die Schachtel gelegt, hat einen Schrank aufgemacht, ihren Hut herausgenommen und aufgesetzt. Die Kinder hatten aufgehört zu kichern. Sie sperrten plötzlich Mund und Augen auf. Aber sie ist zwischen den Bänken hindurchgegangen, ohne sie zu sehen; sie existierten nicht mehr für sie. An der Tür bot Onkel Mishak ihr seinen Arm, und dann gingen beide über den Hof zur Straße hinaus, marschierten zur Donau und nahmen den Raddampfer nach Wien – und wurden im Dorf nie wieder gesehen.»

«Und sie sind glücklich geworden?»

Ruth hob eine Hand zu den Augen. «Sehr. Es war rührend, sie miteinander zu sehen – wie einer dem anderen die Kissen aufschüttelte, den Sessel zurechtrückte – all die kleinen Aufmerksamkeiten. Als sie starb, wollte er auch sterben, aber es gelang ihm nicht. Da hat meine Mutter ihn zu uns geholt.»

Wieder in der Innenstadt, zeigte ihm Ruth den Balkon, auf den sie sich mit neun Jahren eines Nachts splitterfasernackt in der Hoffnung hinausgestellt hatte, sie werde sich eine Lungenentzündung holen, die sie von Schmach und Schande erlösen würde.

«Es war die Wohnung meiner Großtante, und ich hatte gerade gehört, daß ich in der Musikprüfung nur ein bekommen hatte und kein <äußerst lobenswert>. Ach, und da ist die Bank, auf der meine Mutter saß, als die Tauben über sie herfielen und mein Vater sie retten mußte.»

«In Ihrer Familie scheint es viele glückliche Ehen gegeben zu haben», bemerkte Quin.

«Ich weiß nicht – Onkel Mishak war glücklich, und meine Eltern waren es auch ... aber ich glaube nicht, daß bei uns die Ehe als das betrachtet wurde, was einen glücklich macht.»

«Was dann?»

Ruth krauste die Stirn und wickelte eine Haarlocke um ihren Finger. «Die Arbeit an einem Ziel – das Festhalten an etwas, das man sich vorgenommen hatte. Geduld und Ausdauer – wie wenn man ein Feld umpflügt. Oder wie wenn man ein Bild malt – man fügt immer wieder neue Farben hinzu und bemüht sich, die richtige Perspektive zu bekommen. Das galt besonders für die Frauen. Meine Tante Miriam war mit einem Mann verheiratet, der sie dauernd betrogen hat. Immerzu hat sie meine Mutter angerufen und gesagt, sie würde ihn umbringen. Aber als jemand ihr vorschlug, sich scheiden zu lassen, war sie entsetzt.» Ruth blickte auf und drückte hastig eine Hand auf den Mund. «Entschuldigen Sie – ich habe natürlich nicht von uns gesprochen. Das waren richtige Ehen, keine Vernunftehen.»

Ihr letzter Besuch galt dem Stephansdom, Symbol und Herzstück der Stadt.

«Ich würde gern eine Kerze anzünden», sagte Ruth, und er ließ sie allein durch das dämmrige, nach Weihrauch duftende Schiff zum Altar gehen. Während er draußen vor dem Portal wartete, sah er, wie auf der anderen Seite des Platzes zwei verängstigte hellhaarige junge Burschen mit breiten Bauerngesichtern von einer Gruppe Soldaten zu einem Militär-Lkw geschleift wurden.

«Sie treiben jetzt die ganzen Sozis zusammen», sagte eine rundliche Frau mittleren Alters mit einer Feder im Hut. In ihrer Stimme war kein Tadel; in dem runden, blassen Gesicht zeigte sich keine Gefühlsregung.

Als er in die Kirche trat, um Ruth zu holen und sie durch eine Seitentür hinauszuführen, sah er, daß sie nicht eine Kerze, sondern deren zwei angezündet hatte. Unnötig zu fragen, für wen – bei diesem Mädchen führten alle Wege zu Heini.

«Was glauben Sie, werde ich je hierher zurückkommen?»

Quin antwortete nicht. Ob Ruth in diese zum Tode verurteilte Stadt zurückkehren würde, konnte er nicht sagen; aber für ihn war klar, daß er und andere seinesgleichen hierher kommen würden, denn es gab kein anderes Mittel, diesem Unheil Einhalt zu gebieten, als den Krieg.

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