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Der Sommer 1938 war ein heißer Sommer. Das Pflaster der Straßen in Belsize Park, Swiss Cottage und Finchley glitzerte, und den Mülltonnen entstiegen erstickende Düfte. In den schlecht ausgestatteten Küchen der Mietskasernen wurde die Milch sauer, und verendende Fliegen brummten verzweifelt an klebrigen Fliegenfängern. Kinder wurden im Sportwagen den Hügel hinauf nach Hampstead Heath geschoben, zum Picknick im versengten Gras oder zum Planschen im Teich. In Spanien errangen Francos Faschisten einen Sieg nach dem anderen; in Deutschland verschärfte Hitler seine Tiraden über den Sudetengau und drohte den Tschechen. Mussolini begann nach Hitlers Vorbild gegen die Juden vorzugehen, wenn auch nicht mit der gleichen Effektivität.

Die Briten hätten es vulgär gefunden, sich vom wütenden Gegeifer schlecht erzogener Ausländer bei ihren Sommerfreuden stören zu lassen. In den Parks wurden Gräben ausgehoben; Flugblätter mit Instruktionen über die Ausgabe von Gasmasken wurden verteilt; die Flotte war in Bereitschaft. Aber die Reichen reisten ohne ein Zeichen der Erschütterung zur Moorhuhnjagd aufs Land oder zur Sommerfrische in ihre Häuser an der See. Die Armen blieben in der Stadt wie immer und sonnten sich auf der Treppe vor dem Haus oder im winzigkleinen Gärtchen.

Die Flüchtlinge waren arm und blieben in der Stadt.

Nach Ruths glücklicher Ankunft konnte die Familie Berger endlich den Versuch machen, ein halbwegs normales Leben zu führen. Kurt Berger ging jetzt jeden Morgen mit seiner Aktentasche unter dem Arm in die öffentliche Bibliothek. Dort saß er zwischen Dr. Levy und einem Landstreicher mit Löchern in den Schuhen, der täglich zum Zeitunglesen kam, und verbarg vor Leonie und zum Teil auch vor sich selbst die Gewißheit, daß sein Buch ohne die Unterlagen und Aufzeichnungen, die er in Wien zurückgelassen hatte, nur eine Travestie dessen werden konnte, was er hätte schreiben können. Tante Hilda, die entdeckt hatte, daß der Eintritt ins Britische Museum frei war, spazierte stundenlang in der anthropologischen Abteilung umher und stieß (unter den Exponaten aus Betschuanaland) auf einen Fehler, der sie in höchste Erregung und Bekümmerung versetzte.

«Es ist kein Trinkbecher der Mi-Mi», sagte sie jeden Abend wieder. «Da bin ich ganz sicher. Das ist eine falsche Zuschreibung.»

«Dann sag es den Leuten dort, Hilda», pflegte Leonie ihr zu raten.

«Nein, nein, das kann ich nicht. Ich bin in diesem Land nur zu Gast. Zu so etwas habe ich kein Recht.»

Onkel Mishak hatte jetzt seine Stammplätze in diversen Parks und Freunde unter den Londoner Stadtgärtnern. Häufig brachte er abends, stolz wie ein kleiner Junge, irgendeinen besonderen Schatz mit nach Hause: ein Büschel noch duftenden Goldlacks, den man auf den Kompost geworfen hatte; eine Handvoll Kirschen, die von einem überhängenden Ast auf die Straße heruntergefallen waren.

Leonie ihrerseits begann, als sie endlich an das Wunder von Ruths glücklicher Heimkehr glauben konnte, die Verbindungen zu Freunden und Verwandten neu zu knüpfen, die in Wien an ihrem Leben Anteil gehabt hatten. Mochten sie auch in alle Winde verstreut sein, so fanden sich doch einige in ihrer Nähe: die Schwester ihrer Patentante zum Beispiel, die vor kurzem in Swiss Cottage angekommen war; eine Schulfreundin, die in Putney mit einem Buchbinder verheiratet war; ein uralter Stiefonkel aus Mähren, der, im Kopf nicht mehr ganz richtig, unter dem Standbild der Königin Victoria am Embankment zu sitzen pflegte und sich einbildete, es sei die Statue Maria Theresias und er befände sich noch in Wien.

Was die Damen vom Tea-Room Willow anging, so reagierten sie auf die Verschärfung der Situation auf dem Kontinent mit einer Geste, die großen Wagemuts bedurfte. Sie beschlossen, in Zukunft ihr Lokal auch abends geöffnet zu lassen – bis neun Uhr, einer geradezu sündhaft späten Stunde. Das hieß jedoch, daß sie eine neue Kellnerin brauchten, und da hatten sie großes Glück.

Ruths erste Sorge nach ihrer Ankunft war es gewesen, ihre Heiratsurkunde und alle anderen Beweise ihrer Verbindung zu Quinton Somerville, dem sie jetzt nur noch gefällig sein konnte, indem sie ihn verschwieg, zu verstecken. Das allerdings bereitete ihr gewisse Schwierigkeiten: zum einen hatte sie nie vorher Geheimnisse vor ihren Eltern gehabt; und zum andern fehlte es im Haus Belsize Close 27 an stillen Eckchen. Glücklicherweise hatte Ruth viele englische Abenteuergeschichten gelesen, in denen beherzte Jungen und Mädchen geheime Schätze unter losen Dielenbrettern der Häuser, in denen sie jeweils wohnten, versteckten. An die soliden Parkettböden ihrer Heimatstadt gewöhnt, hatte sie das sehr sonderbar gefunden, aber jetzt begriff sie, wieso es möglich war. Der Boden des mit einem durchgesessenen Mokettsofa, einem schweren Eichentisch und braunen Chenillevorhängen grauenvoll möblierten Wohnzimmers war mit Linoleum ausgelegt, und das anschließende Schlafzimmer ihrer Eltern kam natürlich als Versteck nicht in Frage. Aber das Hinterzimmer mit den zwei schmalen Betten, das Ruth mit Tante Hilda teilte, hatte einen Holzfußboden, auf dem nur ein schmutziger Flickenteppich lag. Nachdem sie den Waschtisch weggerückt hatte, gelang es ihr, eines der morschen Dielenbretter herauszuheben und einen Raum zu schaffen, in dem sie die mit einem Bild der Prinzessinnen Elisabeth und Margaret Rose geschmückte Keksdose, die ihre Papiere und den Ehering enthielt, verschwinden ließ. Den Ehering beabsichtigte sie zu verkaufen, aber noch nicht gleich.

Als nächstes mietete sie beim Postamt ein Schließfach, dessen Nummer sie Mr. Proudfoot mitteilte. Dann ging sie auf Arbeitssuche. Sie hatte zwar Quins Ermahnungen noch im Ohr und freute sich darauf, ihr Studium fortzusetzen, aber bis zum Beginn des Wintersemesters am University College waren es noch fast zwei Monate, und in dieser Zeit wollte sie nach besten Kräften zum Unterhalt ihrer Familie beitragen.

Es war nicht schwer, Arbeit als Kindermädchen zu finden. Keine Woche dauerte es, da marschierte Ruth täglich mit den drei progressiv erzogenen Kindern einer Weberin durch Hampstead. Unbeeindruckt von modernen Erziehungstheorien, konnte sie die blassen, verwirrten, in schmutzige Leinenkittel gekleideten kleinen Dinger nur bedauern, die verzweifelt etwas zu tun suchten, was ihnen endlich einmal verboten war. Als der mittlere der drei, ein sechsjähriger Junge, ohne zu fragen über eine verkehrsreiche Straße rannte, gab sie ihm einen kräftigen Klaps aufs Bein und löste damit augenblicklichen Aufruhr unter seinen Geschwistern aus.

«Mach das bei uns auch. Aber richtig», sagte der Älteste. «So daß man den Abdruck sehen kann. Wie bei Peter.»

Ruth tat ihnen den Gefallen, und bald wurden die täglichen Spaziergänge im Park viel lustiger, aber die Bezahlung war natürlich nicht sehr gut. Ruths Ankündigung, daß sie in Zukunft abends im Willow bedienen werde, brachte Leonies heiligmäßige Periode der Güte und der Langmut zu einem abrupten Ende.

Tagelang hatte sie sich nach Ruths Heimkehr an ihr Gelöbnis gehalten, nie wieder mit ihrer Tochter zu streiten, nie wieder ein böses Wort zu ihr zu sagen. Nur schon die Hand auszustrecken und über den Tisch hinweg Ruth berühren, sie in der Badewanne singen hören zu können, war ein Glück, das auch den kleinsten Streit mit Ruth verbot. Dies jedoch war zuviel.

«Du wirst nichts dergleichen tun!» schrie sie erregt. «Meine Tochter nimmt keine Trinkgelder und läßt sich nicht von lüsternen alten Männern in den Po kneifen.»

Aber Ruth gab nicht nach. «Wenn Paul Ziller sich sein Geld als Stehgeiger verdienen kann, kann ich auch bedienen. Und überhaupt – du brauchst zu reden! Wer bügelt denn dieser ekelhaften Alten von gegenüber jede Woche die ganze Wäsche?»

Leonie behauptete, das sei etwas ganz anderes, und suchte bei den Stammgästen des Willow Unterstützung, die sie jedoch nicht bekam.

«Wenn das Studium anfängt, ist das natürlich eine andere Sache, aber jetzt möchte sie eben helfen, das ist doch verständlich», sagte Ziller und meinte genau wie Dr. Levy und von Hofmann und der Bankier aus Hamburg, daß er keinen Grund sah, auf das Vergnügen zu verzichten, abends hin und wieder von diesem frischen jungen Mädchen mit dem leuchtenden Haar bedient zu werden.

Ruth wurde also Kellnerin im Willow und tat dem Geschäft ohne Zweifel gut. Den müden, desillusionierten Emigranten war Ruth ein Zeichen, daß es auf der Welt doch noch Hoffnung gab. Sie war auf mysteriöse Weise von einem Engländer gerettet worden, und das an sich schon war eine Tatsache, die Zuversicht erlaubte. Außerdem war Ruth nicht nur jung und hübsch und lustig, sondern sie war auch verliebt.

«Ich habe einen Brief bekommen!» jubelte sie, und bald wußten alle im Willow von Heini, jeder erkundigte sich nach ihm. Die Nachricht, daß Heini nun sehr bald sein Visum bekommen würde, freute sie alle so sehr, als handelte es sich um ihr eigenes Glück – und sie verstanden, daß Heini unbedingt ein Klavier haben mußte, wenn er kam.

Über der Sache mit Heinis Klavier warf Leonie schließlich die letzten Reste heiligmäßiger Duldsamkeit über Bord, an denen sie bisher noch festgehalten hatte. Es gab nämlich nur einen Ort, an dem man es überhaupt aufstellen konnte: im sogenannten Wohnzimmer der Familie Berger – und Leonie hatte völlig recht, als sie sagte, daß man sich dann in dem Zimmer kaum noch um die eigene Achse drehen könnte.

«Er kann meinetwegen hier auf dem Sofa schlafen, bis er etwas Eigenes gefunden hat, aber Heini und das Klavier – sei doch vernünftig, Ruth!»

Aber wann hat Liebe je Vernunft gekannt? Leonie beriet sich mit ihrem Mann, überzeugt, er werde mit der gewohnten Strenge reagieren. Doch die Tage der Angst um die verloren geglaubte Ruth hatten Kurt Berger verändert.

«Es wird schon irgendwie gehen», sagte er. «Ich arbeite ja sowieso in der Bibliothek, und wir können einen der Sessel zu uns ins Schlafzimmer stellen.»

So hatte Ruth nun also auf das Fensterbrett ein Marmeladenglas mit der Aufschrift «Heinis Klavier» gestellt. Es war ein britisches Marmeladenglas, das einmal Oxford Orangenmarmelade enthalten und das sie aus der Mülltonne der Kindergärtnerin im Parterre gefischt hatte, aber leider füllte es sich nicht gerade mit rasender Geschwindigkeit. Ruth hatte sich erkundigt, wie hoch die Anzahlung für ein Klavier von der Art, wie Heini es benötigte, war. Sie betrug 2 Guineen; dazu kamen die wöchentlichen Mietgebühren und der Transportpreis. Was sie als Kindermädchen bei der fortschrittlichen Weberin verdiente, gab sie ihrer Mutter; das Geld vom Tea-Room hatte sie eigentlich sparen wollen, aber immer gab es irgendeinen Notfall: Tante Hilda brauchte Hustenpastillen, oder an der Teekanne war der Schnabel abgebrochen. Obwohl sie sich in diesen langen heißen Sommerwochen nichts für sich selbst leistete, kein Haarband, nicht einmal ein Eis an den glühendsten Tagen, blieb das Häufchen Münzen auf dem Grund des Marmeladenglases jämmerlich klein.

So freudig sie jeden von Heinis Briefen herumzeigte, so geheim hielt sie die Post, die sie in ihrem Schließfach von Mr. Proudfoot empfing. Mr. Proudfoot hatte es für angebracht gehalten, sie über die Voraussetzungen für eine Nichtigkeitserklärung ihrer Ehe eingehend zu informieren, und Ruth fand die Bedingungen bestürzend.

«Wißt ihr wirklich ganz genau, daß es in unserer Familie keine Geisteskrankheit gibt?» fragte sie ihre verwunderten Eltern. «Was ist mit Großtante Miriam?»

«Zu glauben, der Kaiser sei der wiedergeborene Tut-ench-Amun mag exzentrisch sein, aber von Geisteskrankheit kann man da gewiß nicht sprechen», erklärte ihr Vater mit Entschiedenheit.

Doch wenn auch die unmittelbaren Aussichten auf eine Annullierung ihrer Ehe düster waren, so setzte sich Mr. Proudfoot wenigstens energisch für eine Bestätigung ihrer britischen Staatsbürgerschaft ein, sandte ihr Formulare in frankierten Umschlägen und betonte immer von neuem seine Bereitschaft, ihr zu helfen. Von Quin selbst hörte sie nichts, aber sie hatte nichts anderes erwartet und war nicht enttäuscht darüber.

Als es Mitte August wurde, begann die tschechische Krise die Zeitungen zu beherrschen. Hitler wurde immer dreister; Bilder der Wochenschau zeigten ihn, wie er, den Arm um Mussolini gelegt, umherstolzierte oder mit geballter Faust jedem drohte, der es wagte, sich in osteuropäische Belange einzumischen. Kabinettsminister ließen die Moorhühner Moorhühner sein und begannen, zwischen London und Paris, zwischen Paris und Berlin hin- und herzureisen. Die Tschechen baten um Beistand.

Die nunmehr dringlicher betriebenen Kriegsvorbereitungen Englands bekamen die Leute von Belsize Park auf unterschiedliche Weise zu spüren. Mrs. Weiss schaute mit offenem Mund zu einem großen grauen Sperrballon hinauf, der über ihr schwebte, sagte: «Mein Gott, was ist denn das?», stolperte über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig und wurde mit aufgeschlagener Nase ins Krankenhaus gebracht. Onkel Mishak, der an einem Plakat vorüberkam, das ihn aufforderte, Ruhe zu bewahren und fleißig zu graben –Keep Calm and Dig –, tat genau das und legte hinter dem Haus einen kleinen Gemüsegarten an. Im Willow brütete Miss Maud mit gefurchter Stirn über die Anweisung zur Errichtung eines Fertig-Luftschutzbunkers und erhielt viele gute Ratschläge von ihren männlichen Gästen, die vorgaben, die Instruktionen zu verstehen. Mrs. Burtt trällerte beim Abspülen kein Liedchen mehr, da ihr Sohn Trevor für die Air Force tauglich geschrieben worden war, und Dr. Levy wurde, obwohl er ausdrücklich darauf hinwies, daß er als Arzt nicht zugelassen war, in ein Nachbarhaus geholt, um bei einem Mann mit schwachem Herzen, dessen Ehefrau sich den zweifelhaften Spaß erlaubt hatte, mit Gasmaske ins Bett zu kommen, Erste Hilfe zu leisten.

Ruth geriet angesichts der Krise in helle Panik. Sie leerte das Marmeladenglas und schickte verzweifelte Telegramme nach Budapest, aber Heinis Papiere waren, auch wenn sie jeden Moment erwartet wurden, immer noch nicht gekommen. Trotz aller Sorge jedoch beschäftigte Ruth in diesen Tagen noch eine andere Frage, deren Beantwortung sie bei Miss Maud und Miss Violet suchte, die sich als Generalstöchter im Militärwesen eigentlich auskennen mußten.

«Würde man jemanden, der dreißig oder vielleicht etwas darüber ist, auch noch einziehen?»

«Nur wenn der Krieg sehr lange dauern würde», antwortete Miss Maud.

In diesen dunklen Tagen erhielt Ruth eine Nachricht, die sie unter normalen Umständen tief enttäuscht hätte. Das University College hatte ihren Studienplatz in Zoologie an einen anderen Flüchtling vergeben und konnte sie für das kommende Jahr nicht mehr berücksichtigen.

«Es war alles ein Mißverständnis», sagte sie, den Brief zeigend. «Als ich damals nicht mit dem Studententransport hier ankam, haben die Quäker der Universität Bescheid gesagt, und es gab so viele andere Bewerber, daß sie von denen jemanden genommen haben. Sie wollen jetzt versuchen, mich an einer anderen Universität unterzubringen, aber große Hoffnung können sie mir nicht machen, weil es schon so spät ist.»

Nach der ersten Enttäuschung beschloß Ruth, das Beste aus der Situation zu machen. «Es ist gar nicht so schlimm», sagte sie. «Ich möchte sowieso weiterarbeiten, um euch zu helfen, und Heini, wenn er kommt.»

Doch für Kurt und Leonie Berger war Ruths Ablehnung ein großer Schlag. Sie hätten jedes Ungemach auf sich genommen, um ihrem Kind eine freundlichere Zukunft zu ermöglichen. Ruth sollte nicht ihr Leben in der tristen Welt der Flüchtlinge fristen, in einer Welt der niedrigen Arbeiten und der Armut, der ständigen Sorge um Genehmigungen und der Angst, ausgewiesen zu werden.

«Vielleicht sollte ich mich mit Quinton Somerville in Verbindung setzen», meinte Kurt Berger an diesem Abend, nachdem Ruth zu Bett gegangen war. «Er würde Ruth sicher helfen.»

«Nein, tu das nicht.»

Kurt Berger sah seine Frau erstaunt an. «Warum nicht?»

Leonie, die für logische Überlegung nie viel übrig gehabt hatte und lediglich einem Gefühl folgte, das so nebulös war, daß sie es nicht erklären konnte, sagte nur, sie hielte es eben nicht für einen guten Gedanken – und in den folgenden Tagen kam keiner dazu, viel über persönliche Dinge nachzudenken.

Alle Klischees, die später über die tschechische Krise geschrieben wurden, waren wahr. Es war tatsächlich so, daß die Welt den Atem anhielt; daß sich Gewitterwolken über Europa zusammenzogen; daß Fremde auf der Straße stehenblieben, um einander nach Neuigkeiten zu fragen. Dann flog Neville Chamberlain, dieser obstinate alte Mann, der noch nie in einem Flugzeug gesessen hatte, zu Hitler, kam wieder nach Hause, flog noch einmal nach Deutschland und kehrte schließlich mit einem Papier zurück, an das er rückhaltlos glaubte und das er den Menschen mit den Worten «Friede in unserer Zeit» präsentierte.

Es gab viele, die von falscher Nachgiebigkeit sprachen, und viele – unter ihnen natürlich die Flüchtlinge –, die wußten, was Hitlers Versprechungen wert waren, und daß die Tschechen verraten worden waren. Aber wer konnte denn einen Krieg wollen? Während sich vor dem Buckingham-Palast jubelnde Menschen drängten, tanzte Ruth mit Mrs. Burtt durch die Küche hinter dem Tea-Room, weil Heini nun kommen und Mrs. Burtts Trevor sicher und wohlbehalten in seinem eigenen Bett schlafen konnte.

In dieser Zeit neuer Hoffnung, als in den Körben der Blumenhändler goldene und rostrote Chrysanthemen glühten und kleine Jungen bei Nummer 27 klingelten, um die Kastanien zu holen, die Onkel Mishak auf seinen Streifzügen gesammelt hatte, fand Kurt Berger eines Tages bei der Heimkehr Ruth in einen Brief vertieft und war erstaunt über ihr glücklich strahlendes Gesicht.

«Von Heini?» fragte er. «Kommt er?»

Sie schüttelte den Kopf. «Nein, er ist von der University of Thameside. Sie haben einen Studienplatz für mich. Ich kann nächste Woche anfangen.»

Er nahm den Brief, den sie ihm hinhielt. Die Unterschrift sagte ihm nichts, aber das konnte ihn nicht täuschen.

«Da steckt Somerville dahinter», sagte er, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Der Gedanke, das sein junger Protegé ihn und seine Familie vergessen haben könnte, hatte sehr geschmerzt. «Er ist dort Professor für Zoologie.» Und streng fügte er hinzu: «Ich weiß, du wirst dich seiner Güte würdig erweisen.»

Sie hatte sich hinter ihr Haar zurückgezogen, um ihrer Verwirrung Herr zu werden, und blieb dort – bildlich gesprochen – bis spät abends, bis Tante Hilda endlich eingeschlafen war und sie das Fenster aufmachen und sich in die rußige Nachtluft hinauslehnen konnte, um zu versuchen, ruhig zu werden und klarzusehen.

Warum hatte er es getan? Warum hatte Quin, der ihr klipp und klar gesagt hatte, es sei das beste, wenn sie einander nie wiedersähen, sie als Studentin in seine Abteilung aufgenommen? Was hatte ihn veranlaßt, wider seine bessere Einsicht zu handeln und die Warnungen seines Anwalts bezüglich des möglichen Kollusionsverdachts in den Wind zu schlagen, um ihr diese Chance zu geben?

Aber was zählten schon die Motive! Er hatte es getan, und nun lag die Zukunft hell und freundlich vor ihr. Sie würde die fleißigste Studentin werden, die man in Thameside je gehabt hatte. Sie würde arbeiten wie besessen, um als Beste ihres Jahrgangs abzuschneiden, um alle zu übertreffen, und sie würde es tun, ohne mit ihm Kontakt aufzunehmen, ohne ihm auch nur durch einen Blick zu nahe zu treten.

Der Gedanke, daß Quin mit ihrer Aufnahme vielleicht gar nichts zu tun hatte, daß er möglicherweise nicht einmal davon wußte, kam Ruth und ihren Eltern nicht. Und doch war es so. Quin hatte in diesem Jahr wie immer die Aufnahmeformalitäten seinem Stellvertreter Dr. Felton überlassen. Er selbst hielt sich gar nicht in London auf.

Überzeugt, daß ein Krieg unvermeidlich war, war er zu einem Marinestützpunkt oben in Schottland gereist, um zu versuchen, unter Berufung auf den Namen seines gefürchteten Großvaters, Admiral «Basher» Somerville, bei der Marine unterzukommen. In die Korridore der Macht einzudringen, war ihm dank seinem Namen relativ leicht gefallen; wieder aus ihnen zu entkommen, nachdem die Kriegsgefahr sich verzogen hatte, war schwieriger.

Professor Somerville würde nicht pünktlich zum Semesteranfang in London zurück sein.

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