13

Schon wenige Tage nach Semesterbeginn fühlte sich Ruth in Thameside völlig zu Hause. Um die Universität zu erreichen, mußte sie zu Fuß die Waterloo-Brücke überqueren, und immer gab es dort etwas Herzerfrischendes zu sehen: einen Lastkahn, der voll flatternder Wäsche, die an Deck zum Trocknen aufgehängt war, unter der Brücke hindurchfuhr; einen Schwarm kreischender Möwen, die einander die Brotbröckchen wegzuschnappen suchten, die ihnen eine vermummte alte Frau hinwarf, die bettelarm aussah, aber jeden Tag hier war, um ihr Brot mit den Vögeln zu teilen; einmal einen doppelten Regenbogen hinter der St.-Pauls-Kathedrale.

«Und immer riecht es wie am Meer», schwärmte sie Roger Felton vor, der ihr zu einem Freund wurde. «An den Flüssen zu Hause riecht es nicht so – aber das ist ja klar, dazu ist das Meer viel zu weit entfernt.»

Roger Felton war ein guter Lehrer, der die Begeisterung für sein Fach mit seinen Studenten teilte.

«Schauen Sie nur!» konnte er wie ein kleiner Junge rufen, wenn er unter dem Mikroskop eine Traube durchscheinender Eier eines Seesterns entdeckte oder das Flagellum, mit dessen Hilfe sich ein unendlich kleines Körperchen durch einen Tropfen Flüssigkeit fortbewegte. Wenn Ruth Objektträger vorbereitete und Diagramme zeichnete, befand sie sich in einer Welt, in der es zwischen Wissenschaft und Kunst keine Grenze gab.

Aber so nett die Dozenten waren, so interessant und aufregend die Arbeit, wirklich glücklich machten Ruth in jenen ersten Tagen in Thameside ihre Mitstudenten. Sie arbeiteten bereits seit zwei Jahren miteinander, aber sie nahmen sie ohne Vorbehalt und ohne Zögern unter sich auf. Sie lernte Sam Marsh kennen, einen mageren, hochaufgeschossenen Jungen mit ewig zerzaustem Haar und dem Gesicht einer intelligenten Ratte, der eine Schirmmütze und einen Schal trug, um seine Solidarität mit dem Proletariat zu demonstrieren; ferner Janet Carter, die lebenslustige Pfarrerstochter mit dem krausen roten Haar, deren zahllose Verehrer von Sofas fielen, sich mit den Füßen in den Lenkrädern von Autos verhedderten oder bei ihren verzweifelten Bemühungen, ans Ziel zu gelangen, sonstwie in Schwierigkeiten gerieten; weiter gab es einen großen, schweigsamen Waliser, der eine fatale Neigung besaß, ganz ohne es zu wollen, Reagenzgläser in seinen großen Händen zu zerdrücken; und dann gab es Pilly.

Pilly hieß eigentlich Priscilla Yarrowby, aber der Spitzname war ihr aus ihrer Schulzeit geblieben. Sie hatte ihn ihrem Vater zu verdanken, der einen pharmazeutischen Betrieb besaß, in dem Pillen hergestellt wurden. Pilly hatte kurzes, lockiges hellbraunes Haar und runde blaue Augen, in denen sich häufig hoffnungsloses Unverständnis spiegelte. Sie war bei jeder Prüfung mindestens einmal durchgefallen, sie weinte beim Sezieren und fiel beim Anblick von Blut in Ohnmacht. Die Entdeckung, daß Ruth, die aussah wie die Gänseliesel aus dem Märchen, genau wußte, was sie tat, erfüllte Pilly mit staunender Bewunderung. Und daß diese romantische Fremde – in die Sam sich bereits verliebt hatte – auch noch bereit war, ihr mit Takt und ganz unauffällig bei ihren Arbeiten zu helfen, rief tiefste Dankbarkeit hervor. Sehr bald war Pilly nicht mehr von Ruth zu trennen.

Unter all den netten Bekanntschaften, die Ruth in den ersten Tagen an der Universität machte, gab es eine Ausnahme. Verena Placketts erster Auftritt bei der ersten Vorlesung des Seminars würde Ruth unvergeßlich bleiben.

Sie saß mit ihren neuen Freunden zusammen, als die Tür geöffnet wurde und der Pförtner des Institutsgebäudes eintrat. Er legte ein Schild mit der Aufschrift «Reserviert» in die Mitte der ersten Bank und ging wieder, mit unverkennbar mißmutiger Miene. Die bereits anwesenden Studenten waren verwundert. Dr. Fitzsimmons, der etwas diffuse Physiologiedozent, der diese erste Vorlesung hielt, lockte normalerweise keine Menschenmengen an.

Einige Minuten verstrichen, dann wurde die Tür erneut geöffnet, und ein hochgewachsenes junges Mädchen in einem marineblauen Schneiderkostüm trat ein, ging zu dem reservierten Platz, entfernte das Schild und setzte sich. Sie öffnete ihre große Aktentasche aus Krokodilleder, entnahm ihr eine Saffianschreibmappe, klappte sie auf und legte einen dicken Schreibblock, ein Lineal aus Ebenholz, einen schwarzen Füller mit Goldfeder und einen silbernen Drehbleistift heraus. Danach zog sie den Reißverschluß der Schreibmappe wieder zu, schob sie in die Aktentasche, schloß die Aktentasche – und war bereit.

Dr. Fitzsimmons begann mit einem Überblick über das menschliche Verdauungssystem. Er ging von den Speicheldrüsen des Mundes langsam weiter zur peristaltischen Bewegung der Speiseröhre und erreichte dann den Magen, den er an die Tafel zeichnete, wobei ihm mehrmals die Kreide brach. Ob er sprach oder skizzierte, Verena zeichnete alles auf. Nicht ein einziges Wort, das aus Dr. Fitzsimmons' Mund kam, ließ sie aus; jedes «und» und «aber» schrieb sie in ihrer großen, deutlichen Schrift nieder. Um fünf vor zehn schließlich drehte sie die Mine ihres Drehbleistifts zurück, schraubte ihren Füller zu, öffnete die Aktentasche und dann die Schreibmappe aus Saffianleder ... Doch selbst nachdem alle ihre Besitztümer wieder ordentlich eingepackt waren, folgte Verena den anderen Studenten nicht gleich ins Labor. Sie wußte, wie schmeichelhaft es für einen Dozenten sein mußte, die Tochter des Vizekanzlers unter seinen Hörern zu haben; darum trat sie zum Podium, auf dem Dr. Fitzsimmons stand und leicht mit Kreide bestäubt den menschlichen Magen von der Tafel wischte.

«Sie werden schon erraten haben, wer ich bin», sagte sie und bot ihm huldvoll die Hand, «aber ich wollte nicht versäumen, Ihnen auch im Namen meiner Eltern für Ihren interessanten Vortrag zu danken.»

Erst als es ins Physiologielabor ging, konnte Verena Plackett den Kontakt mit ihren Kommilitonen nicht länger vermeiden. Auf den Arbeitstischen warteten zusammengerollte Schläuche, von denen jeder an einem Ende mit einer Spitze versehen war. Daneben lagen Blätter mit Anweisungen. Ihre Ausführung verlangte einige Beherztheit. «Schlucken Sie den Schlauch bis zur weißen Markierung hinunter», hieß es da, «und entnehmen Sie den Mageninhalt zur Analyse.»

Der wissenschaftliche Assistent, ein freundlicher junger Mann, war bereit, ihnen zu helfen. «Sie müssen paarweise arbeiten», erklärte er. Und zu Verena sagte er: «Da Sie neu sind, Miss Plackett, dachte ich, Sie würden vielleicht gern mit Miss Berger zusammenarbeiten, die auch dieses Jahr angefangen hat.»

Ruth drehte den Kopf und lächelte Verena an. Sie hätte lieber mit Pilly gearbeitet, die sie flehentlich ansah, oder mit Sam, aber sie wollte das andere Mädchen keinesfalls brüskieren.

Verena sagte nichts. Sie stand nur da und musterte Ruth von oben bis unten. In Belsize Park war es nach Ruths Aufnahme in Thameside zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Leonie hatte ihre Absicht kundgetan, die Brillantbrosche zu verkaufen, die sie heimlich außer Landes geschmuggelt hatte, um Ruth mit dem Erlös für die Universität auszustatten, aber davon hatte Ruth nichts hören wollen. «Du wirst das Geld bestimmt einmal für wichtigere Dinge brauchen», hatte sie mit Entschiedenheit gesagt.

Darum trug Ruth an diesem Morgen statt eines regulären Labor mantels eine mit kleinen weißen Gänseblümchen bedruckte lavendelblaue Kittelschürze. Sie gehörte Miss Violet, die ein ganzes Sortiment dieser Kleidungsstücke besaß, in denen sie im Willow bediente. Hätte Ruth die Wahl gehabt, so hätte sie sicher nicht dieses Prachtexemplar von einem Kittel für die Laborarbeit ausgewählt, aber sie hatte die Gabe von Miss Violet ebenso dankbar angenommen wie das mit rosaroten Herzen dekorierte Federmäppchen, das Mrs. Burtt ihr bei Woolworth gekauft hatte.

Verena jedoch starrte diese unwissenschaftliche Erscheinung, deren Haar der Ordnung halber auch noch mit einem von Onkel Mishak gestifteten Stück Gartenbast hochgebunden war, mit vielleicht verständlicher Bekümmerung an. Dann sagte sie: «Ich halte es nicht für ratsam, daß zwei Neue zusammenarbeiten.»

Die Abfuhr war unverkennbar. Ruth wurde rot und wandte sich ab, während Verena einen schneeweißen, gestärkten Labormantel anlegte, ehe sie daran ging, ihre Partnerwahl zu treffen. Die Gruppe um Ruth Berger kam natürlich nicht in Frage, und ein möglicher Kandidat – ein gutaussehender, hellhaariger junger Mann – tat sich mit jemand anderem zusammen, ehe sie ihn auf sich aufmerksam machen konnte. Doch schmeichelhaft nahe an ihrer Seite wartete schüchtern ein Junge, der gar nicht übel war, groß und schlank, mit sandblondem Haar, das kurz geschnitten und ordentlich gekämmt war.

«Möchtest du mit mir zusammenarbeiten?» fragte sie Kenneth Easton.

Sie hatte eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Kenneth, der Vögel beobachtete (aber nur seltene), war ein gewissenhafter junger Mann, der seine akademische Laufbahn unter so illustrer Gönnerschaft nunmehr gesichert sah. Eifrig trat er an ihre Seite.

«Hoffentlich erstickt sie an ihrem Schlauch», zischte Sam rachsüchtig. Aber das geschah natürlich nicht. Während sich der kriecherische Kenneth neben ihr aufpflanzte, um zum gegebenen Moment ihren Mageninhalt in Empfang zu nehmen, hob Verena den Gummischlauch zum Mund und schluckte ihn ruhig und routiniert mit einer Reihe von Schlundbewegungen, die an die einer Python erinnerten, hinunter.


Es gab in Thameside viel mehr junge Männer als Frauen, und fast alle waren sie höchst kontaktfreudig. Um von Anfang an klare Verhältnisse zu schaffen, erzählte Ruth daher schon sehr bald von Heini: daß er nachkommen würde; daß er unglaublich begabt war; daß sie – wenn sie ihren Magister hatte – ihr Leben mit ihm teilen wollte.

«Wie ist er?» wollte Janet wissen.

«Er hat lockiges dunkles Haar und graue Augen, und er spielt Klavier wie ein Gott. Du wirst ihn ja zu hören bekommen, wenn er da ist – vorausgesetzt, ich habe bis dahin das Klavier.»

Heinis Existenz war ein Schlag für Sam, aber er nahm ihn hin wie ein Mann und beschloß, in Ruths Leben den edlen Ritter zu spielen, was für sein Studium sowieso besser sein würde als eine offene Leidenschaft. Er hatte genau wie alle ihre anderen Freunde Verständnis dafür, daß Ruth nur solchen Klubs beitrat, die kostenfrei waren, und nach dem Kolleg nicht ins Pub mitkam. Sie mußte ja die Trinkgelder, die sie im Willow verdiente, für Heinis Klavier sparen. Und bald konnte man sogar Huw Davies, den schweigsamen Waliser, dabei beobachten, wie er in die Schaufenster von Klavierläden spähte, denn nichts ist ansteckender als das Engagement für eine noble Sache.

Später wünschte Ruth, die Woche zu Semesterbeginn, als Quin noch nicht aus Schottland zurück war, wäre nie gewesen. Sie hörte zuviel über Professor Somervilles Verdienste, seine Klugheit und sein Wissen, die großartigen Dinge, die er für seine Studenten getan hatte.

«Ich würde alles darum geben, an einer seiner Exkursionen teilnehmen zu können», sagte Sam, «aber ich habe überhaupt keine Chance; nicht mal, wenn ich eine Eins bekomme. Die Warteliste ist immer endlos.»

Selbst Janet, die eine so niedrige Meinung vom männlichen Geschlecht hatte und ihren unglücklichen Verehrern weiterhin die Köpfe abbiß wie eine dieser exotischen Spinnen im Naturhistorischen Museum, wußte nur Gutes von ihm zu berichten.

«Seine Vorlesungen sind wirklich fabelhaft – weißt du, er zeigt einem eine ganz neue Welt. Und er hat überhaupt keine Allüren. Ich sag dir, ich kriege eine Riesenwut, wenn ich Verena reden höre, als sei er ihr Eigentum. Dabei kennt sie ihn noch nicht mal.»

Am meisten über Quin hörte Ruth jedoch von Pilly. Priscilla mochte unfähig sein, das Konzept der radialen Symmetrie bei der Qualle zu begreifen, aber sie sah und erfaßte die Dinge mit dem Herzen. Und jetzt nahm sie wahr, daß Ruth, ihre Freundin, mittags nicht genug zu essen hatte.

Das stimmte. Ruth hatte ihrer Mutter erzählt, das Mittagessen in der Mensa sei kostenlos. Morgens stieg sie einfach drei Haltestellen vor ihrem Ziel aus der U-Bahn und kaufte sich mit den zwei Pence, die sie dadurch sparte, ein Brötchen, das sie dann mittags am Fluß aß. Sie fand dieses Arrangement absolut zufriedenstellend, Pilly jedoch war anderer Meinung, und an Ruths drittem Tag in Thameside fragte sie, ob es Ruth recht wäre, wenn sie sich in Zukunft auch etwas von zu Hause mitbrächte und mit ihr zusammen am Fluß zu Mittag äße.

«Aber gehst du denn nicht lieber in die Mensa?»

«Nein. Das Essen dort bekommt mir nicht», schwindelte Pilly.

Zu Hause beriet sie sich mit ihrer Mutter. Die Herstellung von Pillen hatten Mr. Yarrowby zum reichen Mann gemacht. Priscilla wurde morgens in einem Rolls-Royce zur Universität gefahren, der sie zwei Straßen entfernt abzusetzen pflegte, weil ihr Reichtum ihr peinlich war; doch ihre Mutter war eine handfeste Frau vom Land. Mrs. Yarrowby war zwar niemals von einem Taubenschwarm überfallen worden, aber sie und Leonie waren sich im Grunde sehr ähnlich.

«Ach, du lieber Himmel!» rief Pilly, als sie am folgenden Tag ihr Mittagbrot auspackte. «Das kann ich unmöglich alles aufessen – und wenn ich was übriglasse, ist meine Mutter zu Tode gekränkt.»

In dieser Notlage mußte Ruth ihr einfach zu Hilfe kommen. Leonies gekränktes Gesicht, wenn sie sich bei Tisch nicht ein zweites Mal genommen hatte, gehörte zu ihren Kindheitserinnerungen. Sie teilte sich mit Pilly die Fleischpastetchen, die harten Eier, den Gewürzkuchen, die Weintrauben ... und selbst dann waren noch Brocken für die gefräßigen Enten übrig.

«Ach, Pilly, du hast ja keine Ahnung, wie herrlich es ist, wieder einmal Enten füttern zu können! Jetzt fühle ich mich wie ein richtiger, echter Mensch und nicht wie ein Flüchtling.»

«Du bist immer ein richtiger, echter Mensch», erklärte Pilly treu. «Du bist der richtigste und echteste Mensch, den ich kenne.»

Und während sie an die Brüstung gelehnt am Fluß saßen, hörte Ruth, wie sehr Pilly vor dem Beginn des Paläontologiekurses graute.

«Das schaffe ich niemals», sagte sie unglücklich. «Ich kann ja nicht mal Pleistozän und Plastilin auseinanderhalten.»

«Klar kannst du das ... Aber warum mußt du den Kurs überhaupt nehmen, Pilly? Hättest du denn nicht etwas anderes wählen können?»

Pilly machte ein deprimiertes Gesicht und warf noch ein Stück Pastete ins Wasser. «Es ist wegen Professor Somerville.»

«Wieso?» fragte Ruth erstaunt. «Was hat das mit ihm zu tun?»

«Mein Vater ist der Meinung, er sei der vollkommene Renaissance-Mensch», antwortete Pilly. «Du weißt schon, ein Mensch, der alle seine Fähigkeiten ausgebildet hat. Mein Vater hat ihn vor ungefähr drei Jahren mal in der Wochenschau gesehen. Da kam er gerade mit diesem Neanderthalerschädel aus Java zurück. Und später hat er ihn noch mal gesehen, als er auf einem Yak durch Nepal ritt. Oder vielleicht war es auch ein Maultier. Weißt du, mein Vater mußte mit vierzehn von der Schule und in die Fabrik. Er konnte nie studieren und sich bilden. Deswegen muß ich mich jetzt auf der Uni herumquälen, obwohl ich ihm gesagt habe, daß ich zu dumm dazu bin. Und Professor Somerville ist ein Mensch, wie er gern einer gewesen wäre.»

«Ach, so ist das.»

«Ja. Er schneidet alle Berichte aus, die im National Geographit über ihn erscheinen. Außerdem ist Professor Somerville ein großer Segler vor dem Herrn – er hat mal mit einem Winzlingsboot eine Trophäe gewonnen, obwohl ein Riesensturm war und das Boot beinahe untergegangen wäre. So was gefällt meinem Vater. Und ein toller Liebhaber ist er auch, wie die Medici. Ich glaube allerdings nicht, daß er auch so viele Leute vergiftet.»

«Woher wissen deine Eltern, daß er ein toller Liebhaber ist?»

Pilly seufzte. «Aus der Zeitung. Es steht in den Klatschspalten. Eine Schauspielerin namens Tansy Mallet ist ihm durch ganz Ägypten nachgelaufen, und jetzt hat er eine todschicke Französin. Natürlich wollen alle mit auf seine Exkursionen. Warte nur, bis er wieder da ist – seine Vorlesungen sind immer zum Brechen voll mit Leuten, die hier gar nicht eingeschrieben sind. Sie zahlen der Uni zehn Pfund im Jahr, dann dürfen sie jede Vorlesung besuchen, aber sie kommen nur zu seinen.» Sie biß in ihr Brot. «Und Bowmont wollen natürlich auch alle sehen.»

«Was ist Bowmont?»

«Da wohnt Professor Somerville. Du wirst es sehen, wenn du auf Exkursion gehst.»

«Ich gehe nicht auf Exkursion», entgegnete Ruth. «Aber was ist an Bowmont so besonders? Ich dachte, es sei nur ein Haus ohne Zentralheizung.»

Pilly schüttelte den Kopf. «Das kann nicht sein. Turner hat es gemalt.»

«Na und? Der hat auch vieles andere gemalt. Kühe und Sonnenuntergänge und Schiffswracks.»

«Kann schon sein, aber trotzdem wollen alle hin. Ach, Ruth, ich schaffe das nie. Diese Namen – jurassisch, mesozoisch und ...»

«Du schaffst es», behauptete Ruth entschlossen. «Wir machen Listen – eine Liste fürs Bad, eine Liste für die Toilette ... Ihr habt sicher zu Hause viele Bäder, da kannst du viele Listen haben. Und ich höre dich jeden Tag ab. Es sind doch bloß Namen! Wie bei Leuten, die Cynthia oder George heißen.»


Es war schönes Wetter in jener ersten Woche in Thameside, und Ruth fand alles beglückend: Dr. Feltons Seminare, die erste Probe des Bach-Chors, dem sie beigetreten war und der die h-Moll-Messe einstudierte. Sie lernte mit Pilly, sie freundete sich mit einem Doktoranden der germanistischen Fakultät an und machte ihm klar, daß Rilke, wenn man seine Gedichte nur richtig sprach, kein Verrückter war, sondern ein großer Lyriker – und sie hielt dem Schaf die Treue.

Und doch konnte dieser Zustand des Glück, so real er war, innerhalb eines Augenblicks durch eine Erinnerung an die Vergangenheit zerstört werden. Eines Nachmittags ging sie auf dem Rückweg von einem Seminar durch den Hof, als sie aus einem Fenster des Kunstbaus die Klänge des Schubert-Quartetts in d-Moll hörte. Sie hielt an, um sich zu vergewissern, daß sie richtig gehört hatte, daß dort tatsächlich die Zillers spielten, und es war so: immer nahmen sie das Adagio mit dieser himmlischen Langsamkeit, die mit Feierlichkeit nichts zu tun hatte. Und jetzt erhob sich die zweite Geige über die anderen, um das Motiv zu wiederholen, und sie konnte Biberstein vor sich sehen, mit seinen krausen, abstehenden Locken, das Kinn auf sein Instrument gedrückt, während er Schubert – oder Gott – ins Auge sah.

Sie rannte über den Rasen, durch den Torbogen, die Treppe hinauf ... Sie wußte natürlich schon, ehe sie die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete, daß es ausgeschlossen war. Die Zeit hatte sich nicht umgekehrt, sie lief jetzt nicht über die Johannesgasse auf die Fenster des Konservatoriums zu, hinter denen die Zillers probten. Doch ein paar Sekunden lang glaubte ihr Körper, was ihr Hirn schon als Täuschung erkannt hatte. Dann sah sie den Trichter des Grammophons und die Mitglieder des Musik-Kreises, die um es herum saßen, und wußte, daß die Vergangenheit endgültig vorbei und Biberstein tot war.


Am folgenden Tag teilte Verena Plackett ihren Kommilitonen reizenderweise mit, daß Professor Somerville am Montag zurück sein werde, um seine Vorlesung zu halten.

«Bist du sicher?» fragte Sam.

«Aber natürlich», antwortete Verena. «Er wird ja am Abend bei uns essen.»

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