26

Er hatte Ruth bald nach Tagesanbruch an der Ecke zu ihrer Straße abgesetzt. Jetzt, pünktlich um neun, parkte er den Crossley vor dem eleganten Juweliergeschäft Cavour und Stattersley, seit 1763 Hofjuwelier Seiner Majestät des Königs, und stieg langsam die Treppe hinauf.

Ganz plötzlich hatte ihn dieser Wunsch überkommen, ihr ein Geschenk zu machen, nutzlos und über alle Vernunft hinaus kostbar, um seiner Liebe Ausdruck zu verleihen. Ein überraschender Wunsch, denn es gab keine solche Tradition in Bowmont – keine Familientiara, die im Banktresor lag und an besonderen Festtagen herausgeholt wurde; kein Somerville-Halsband, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Seine Großmutter war Quäkerin gewesen und hatte an ihren Überzeugungen festgehalten; Frances besaß eine Kameenbrosche, die an Silvester das schwarze Chenillekleid schmückte und meistens etwas schief saß.

Doch seine Liebe zu Ruth – seiner Frau, die er eben erst gefunden hatte – wollte er mit einem Fanfarenstoß feiern, dessen Nachhall bis in kommende Generationen reichen würde. Die Zeiten waren dagegen, ebenso sein Gewissen. Als er durch die breite Tür trat, die ihm ein Page hielt, streckten ihm die Waisenkinder von Abessinien, die Arbeitslosen und Hungernden dieser Welt bettelnd die Hände entgegen, aber ohne Erfolg. Später würden sie vernünftig sein, er und Ruth; sie würden pflügen und säen und Wegerechte einräumen; sie würden für weitere singende Stallknechte bürgen, aber jetzt, in diesem Augenblick, würde er seiner Liebsten ein Geschenk senden, und sie würde aus ihrem Bett aufstehen und wissen, was es bedeutete.

Quin betrat also leichten Schrittes das elegante Geschäft, und Mr. Cavour, der ihn kommen sah, leckte sich, bildlich gesprochen, die Lippen.

«Woran hatten Sie denn gedacht?» fragte er, nachdem man Quin zu einem blauen Plüschsessel neben einem Rosenholzsekretär geführt hatte. In den Vitrinen lagen, angestrahlt wie die Schätze der Eremitage, Fabergé-Ostereier; Ohrgehänge mit funkelndem Kristallgeriesel; eine Schmetterlingsbrosche, die die spanische Exilkönigin getragen hatte. «Was für Steine beispielsweise?»

Quin lächelte, war sich wohl bewußt, daß er leicht absurd wirken mußte: Ein Mann, der bereit ist, sich für ein Geschenk in Unkosten zu stürzen, von dessen Art er nur eine verschwommene Vorstellung hat. Ja, an was für Steine hatte er eigentlich gedacht? Diamanten? Sindbad hatte ein ganzes Tal voller Diamanten entdeckt; sie steckten in den Köpfen von Schlangen und wurden von Adlern in die Lüfte getragen. Der Orlow-Diamant war aus dem Auge eines indischen Götzenbilds herausgebrochen worden ... der Großmogul, berühmtestes Juwel der Antike, gehörte zum Schatz des Schah Jahan.

Waren Diamanten das richtige für Ruth mit ihrer Wärme, ihrer Stupsnase, ihrer kindlich komischen Art? Oder war ihr Glanz zu eisig für sie?

«Wir haben einen wunderbaren Rubinschmuck da», sagte Mr. Cavour. «Die Steine stammen aus den Mogok-Minen; einzigartig. Die wahre Taubenblutfarbe. Die Großfürstin Tromatow hatte sie einer Amerikanerin verkauft, und sie sind gerade wieder auf den Markt gekommen.»

Quin überlegte. Mogok, in der Nähe von Mandalay ... Reisfelder ... er war dort gewesen, hatte nach einer früheren Expedition einen Abstecher dorthin gemacht und die Minen besichtigt. Warum nicht Rubine mit ihrem besonderen inneren Feuer?

«Oder würde Sie eher ein Halsband aus Perlen und Saphiren interessieren? Es gibt kaum etwas Ähnliches auf der Welt. Wir haben bereits einen Interessenten dafür, aber wenn Sie ein festes Angebot machen möchten ...» Er sah einen der Verkäufer an und schnippte mit den Fingern. «Gehen Sie hinunter zum Tresor, Ted, und holen Sie Nummer 509 herauf.»

Quins Gedanken gingen ihre eigenen Wege, er wußte nicht, mit welchem Ziel. Die profane Venus wurde immer reich behängt mit einem Perlennetz gemalt. Die himmlische Venus jedoch malten sie nackt, denn sie wußten, diese Weisen der Renaissance, daß die Nacktheit rein war. Beides war ihm recht: Ruth in ihrem Lodencape, mit Schmuck behangen; Ruth nackt um Mitternacht, einen Pfirsich essend.

Das Kästchen wurde gebracht, aufgeklappt. Das Halsband war super.

«Ja ... es ist sehr schön», sagte Quin geistesabwesend.

Und da tauchte es plötzlich auf, das Zeichen, der Hinweis – das, worauf er gewartet hatte: Ruth, wie sie barfuß und mit flatterndem Haar am Strand von Bowmont stand und ihm etwas zeigte, das sie in der Muschel ihrer Hand hielt. «Schauen Sie», sagte sie, «ach, schauen Sie doch!»

Er stand auf und tat das Halsband mit einer kurzen Geste ab. «Ich weiß jetzt, was es sein muß», sagt er. «Ich weiß es ganz genau.»


Was er danach zu tun hatte, war schnell erledigt. Dick Proudfoot war sonnenverbrannt und mit sich und der Welt zufrieden aus Madeira zurückgekehrt. Er hatte vier Aquarelle produziert, von denen nur drei ihm mißfielen. Jetzt blickte er auf das umfangreiche Dokument mit seinen Siegeln und Bändern hinunter – eine Kopie des ersten, die ihm die Sekretärin gerade hereingebracht hatte, als Quin unerwartet in der Kanzlei erschienen war – und fragte dann, den Kopf hebend: «Was hast du da gesagt?»

«Du hast mich doch genau verstanden. Zerreiß das Papier. Vergiß die Nichtigkeitserklärung. Ich bleibe verheiratet.»

Proudfoot lehnte sich in seinem Sessel zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. «So, so. Nun, ich kann nicht behaupten, daß ich überrascht bin.» Er grinste. «Erlaube mir, daß ich dir von Herzen Glück wünsche.»

Ihm fiel auf, daß er Quin seit langem nicht so entspannt und glücklich erlebt hatte. Er zog das umfangreiche Dokument zu sich heran, zerriß es und ließ es in den Papierkorb fallen.

«Ganz abgesehen von allem anderen ist das eine große Erleichterung – wir befanden uns nämlich auf ziemlich unsicherem Boden. Hast du vor, nach Bowmont zu ziehen?»

«Ja. Sie gehört dorthin – sie war nur ein paar Tage dort, aber alle erinnern sich an sie: der Schäfer, die Hausmädchen, es ist wirklich verrückt.» Ein flüchtiger Schatten fiel auf sein Gesicht. «Das Dumme ist nur, daß ich eine Expedition nach Afrika geplant habe.»

Doch noch während Quin sprach, wurde ihm klar, was er tun würde. Das Klima in den Ebenen war gesund; die Reise war nicht gefährlich – und im Notfall konnte Ruth immer in Lindi beim Commissioner und seiner Frau bleiben.

«Soll ich Ruth schreiben?»

«Nein, ich sage es ihr selber. Und vielen Dank für deine Bemühungen, Dick. Wenn du mir die Rechnung nach Chelsea schickst, dann erledige ich das noch, bevor ich reise.»

Er war schon an der Tür, als Proudfoot ihn zurückrief. «Hast du noch einen Moment Zeit?»

Obwohl Quin es eilig hatte, wegzukommen, nickte er. Dick ging zu einer Kommode an der Wand, zog eine Schublade auf, entnahm ihr ein kleines Aquarell: eine zarte, wie gefiedert wirkende Tamariske, jeder Pinselstrich wie ein Hauch, vor einem Hintergrund roter Geranien.

«Das hab ich in Madeira gemalt. Meinst du, es würde Ruth gefallen?»

«Bestimmt.»

«Gut, dann laß ich es rahmen und schicke es ihr.»

Draußen auf der Straße sah Quin auf seine Uhr. Ruth müßte sein Geschenk eigentlich inzwischen bekommen haben – Cavour hatte versprochen, es sofort zu schicken. Ein wenig schwindlig vom Schlafmangel und der Überzeugung, daß er ewig leben würde, steuerte er seinen Wagen in Richtung Museum. Es würde keine Schwierigkeiten bereiten, noch eine weitere Kabine auf dem Schiff zu buchen, aber er wollte doch Milner sofort Bescheid sagen. Und wie angenehm zu wissen, daß Brille-Lamartaine, sollte er nähere Erkundigungen einziehen, nichts als die Wahrheit erfahren würde. Denn er nahm ja tatsächlich eine Frau mit auf die Reise, eine seiner Studentinnen, eine junge Frau, die er leidenschaftlich liebte.


Ruth hatte nicht geglaubt, daß sie noch schlafen könnte, nachdem sie sich von Quin getrennt hatte. Sie hatte sich leise ins Haus geschlichen und war nur von dem Wunsch beseelt in ihr Bett geklettert, diese ganze herrliche Nacht noch einmal zu durchleben, doch sie war augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

Als sie jetzt erwachte, hatte sich die ganze Welt verändert. Das Schlafzimmer mit der wild gemusterten braunen Tapete, das sie mit Tante Hilda teilte, hatte sie nie verlockt, ihren Blick schweifen zu lassen, jetzt jedoch konnte sie sich vorstellen, mit welcher Wonne der Designer seine Muster zu Papier gebracht hatte. Und Hilda selbst, die vor dem kleinen Spiegel stand und sich das dünne Haar bürstete, schien Ruth die Personifizierung des akademischen Ideals zu sein – ihr Leben lang einem Stamm Primitiver verpflichtet, den sie niemals kennengelernt hatte, ekstatisch angesichts einer abgebrochenen Pfeilspitze oder eines Trinkbechers. Was für eine prachtvolle Person Tante Hilda war, wie dankbar Ruth sein konnte, ihre Nichte zu sein!

Sie schwang die Beine aus dem Bett und lächelte den Schrumpfkopf an. Jetzt ging sie über die Keksdose unter den Dielenbrettern, in der ihr Trauring und ihre Heiratsurkunde lagen. Bald – vielleicht schon heute – konnte sie sie herausholen und ihrer Mutter zeigen.

«Ich bin verheiratet, Mama», würde sie sagen. «Ich bin mit Professor Somerville verheiratet, und ich liebe ihn abgöttisch, und er liebt mich.»

Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging zum Fenster, und auch hier lachte ihr eine Schönheit entgegen, die sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Gewiß, der Gasometer stand immer noch dort, aber ebenso die Platane im Nachbargarten, mit rußiger Rinde zwar und einem abgestorbenen Ast, jedoch in der ganzen Pracht der mutigen jungen Blättchen!

Auf der Treppe traf sie das finstere Fräulein Lutzenholler mit ihrem Kulturbeutel in der Hand. «Er ist im Bad», brummte sie.

Ruth brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. Es war immer Heini, der im Bad war. An diesem Morgen jedoch verteidigte sie Heini nicht, dazu liebte sie Fräulein Lutzenholler viel zu sehr, die mit allem so recht gehabt hatte: Die gesagt hatte, daß wir das verlieren, was wir verlieren wollen, das vergessen, was wir vergessen wollen ... die gesagt hatte, Frigidität habe damit zu tun, ob man einen Menschen liebe oder nicht. Ruth, in der Ekstase ihrer Nichtfrigidität, strahlte die Psychoanalytikerin an und hätte sie geküßt, wäre nicht das Oberlippenbärtchen gewesen und das Wissen, daß Fräulein Lutzenholler sich so früh am Morgen die Zähne noch nicht geputzt haben konnte.

«Beeil dich, Heini!» rief Ruth.

Der Gedanke an Heini ließ sie innehalten. Heini würde tief verletzt sein. Einen Moment lang verdunkelte eine Wolke ihre Freude. Aber nur einen Moment lang. Heini würde einen anderen Star finden – eine ganze Schar in den kommenden Jahren. Seine Liebe gehörte der Musik, und mit Recht – und das, was in der vergangenen Nacht geschehen war, konnte man nicht bedauern.

Ach, Quin, dachte sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper, und Fräulein Lutzenholler, die voller Wut darauf wartete, endlich das Bad benützen zu können, sah sie verblüfft an und erinnerte sich, daß es etwas gab, dem sie in ihrem Beruf selten begegnete: Freude.

Ruth gab die Hoffnung auf das Badezimmer auf und ging in die Küche, wo sie alle seit Heinis Ankunft eine Extra-Zahnbürste aufbewahrten. Ihre Mutter war dabei, den Frühstückstisch zu decken, und Ruth blieb einen Moment an der Tür stehen und sah ihr zu. Leonie sah müde aus, ihr Gesicht hatte Falten, die noch nicht dagewesen waren, als sie Wien verlassen hatten, und in ihrem Haar waren graue Strähnen, aber ihre Tochter fand sie schön. Mit der Liebe, die Ruth einhüllte, mit der Wonne an die erinnerte Nacht stieg eine überwältigende Dankbarkeit in ihr auf; nun endlich würde sie ihren Eltern, Onkel Mishak helfen können.

Ihre Mutter würde nicht in Bowmont leben wollen – Ruth lächelte bei dem Gedanken an das brandende Meer, den kalten Wind, die immer bewegte Luft. Ihre Eltern würden zu Besuch kommen, aber sie würden in der Stadt leben wollen, und das konnten sie jetzt mit Komfort tun. Sie würde an ihren Mann keine großen Ansprüche stellen – keine eleganten Kleider, ganz bestimmt keinen Schmuck, aus dem sie sich sowieso nichts machte. Sie würde lernen, sparsam und vernünftig zu sein, aber um einige Dinge würde sie Quin bitten, und er würde sie ihr gewähren, das wußte sie. Ein kleines Häuschen für Onkel Mishak – Elsie hatte ihr im Dorf eines gezeigt, das leerstand; Besuchsrecht für ihre Freunde, wenn sie einen Ort brauchten, an dem sie arbeiten oder sich erholen konnten; und sie würde mit ihm einmal über das Schaf sprechen. Dafür würde sie nicht darum betteln, auf seine Reisen mitgenommen zu werden. Es fiel ihr nicht leicht, sich vorzustellen, daß sie monatelang ohne ihn auskommen sollte, aber sie würde es schaffen.

Jetzt gab sie ihrer Mutter einen Gutenmorgenkuß. «Du siehst sehr glücklich aus», sagte diese. «War es nett bei Pilly?»

«Ja. Es war wunderschön.»

Ruth errötete, aber es war ihre letzte Lüge. Sie hatten in der Nacht keine Pläne gemacht – es war eine Nacht außerhalb der Zeit gewesen –, aber wenn sie es taten, dann würde sie ihre Ehe nicht mehr verheimlichen, und dann brauchte sie nie wieder zu lügen.

Sie schnitt sich gerade eine Scheibe Brot ab, als ihr auffiel, daß ihre Mutter auf eine äußerst geräuschvolle Weise mit dem Geschirr hantierte, die früher in Wien nichts Gutes verheißen hatte.

«Ist etwas, Mama?»

Leonie zuckte die Achseln. «Es ist blöd von mir, mich so aufzuregen, ich hätte es von dieser dummen Gans erwarten müssen. Aber ich konnte mir eben trotzdem nicht vorstellen, daß sie ihn nach allem, was er für sie und ihre unmögliche Familie getan hat, so behandeln würde. Wenn ich mir vorstelle, wie sie ihm im Krankenhaus nachgelaufen ist! Und wie sie sich nach der Heirat immer Frau Doktor nennen ließ!»

«Du sprichst wohl von Hennie, Dr. Levys Frau?»

Leonie nickte. «Sie hat ihm geschrieben. Sie möchte die Scheidung. Aus rassischen Gründen. Du hättest ihn gestern sehen sollen, er sieht zehn Jahre älter aus, und trotzdem darf keiner ein Wort gegen sie sagen. Der Mann ist ein wahrer Heiliger.»

Ruth schwieg betroffen. Wie konnte jemand diesem bescheidenen, sanften Menschen wehtun – ein brillanter Arzt, ein großzügiger Freund. Es hatte ausgesehen, als liebte Hennie ihn. Konnte der Einfluß ihrer Familie mit ihrer fatalen Weltanschauung so stark sein?

«Gehst du heute nicht auf die Universität?»

«Erst später.»

Quin hatte gesagt, sie solle sich den Morgen freinehmen. Es hatte sie gewundert, aber sie hatte nichts dagegen. Wenn sie später doch zur Vorlesung ging, mußte sie achtgeben, daß sie nicht in den Saal schwebte und über die Wasserkaraffe hinweg direkt in seine Arme flog.

Sie saß noch mit ihren Träumen beschäftigt bei einer zweiten Tasse Kaffee, als es draußen läutete. Einen Moment lang meinte sie, es müßte Quin sein und schüttelte in einer unbewußten Geste der Koketterie ihr Haar aus. Aber das war albern; Quin hatte gesagt, er habe etwas Wichtiges zu erledigen, als er sich von ihr getrennt hatte.

«Ach, geh doch mal hinunter, Kind», sagte Leonie. «Ziller ist nicht da – er ist üben gegangen. Vielleicht ist es der Mäusefänger», fügte sie optimistisch hinzu.

Aber es war nicht der Mäusefänger. Ein Bote in dunkelblauer Uniform mit Schirmmütze stand vor der Tür. Er mußte mit dem Lieferwagen gekommen sein, der, ebenfalls dunkelblau, am Straßenrand parkte. «Cavour und Stattersley» stand in verschnörkelter Schrift auf der Seite des Wagens, und darüber glänzte eine goldene Krone.

«Ich habe ein Päckchen für Miss Ruth Berger. Ich soll es ihr persönlich übergeben.»

«Ich bin Ruth Berger.»

«Haben Sie einen Ausweis?»

Ruth, die noch im Morgenrock war, seufzte. «Ich kann hinaufgehen und einen Brief holen oder so etwas. Aber ich erwarte gar nichts. Sind Sie sicher, daß das für mich ist?»

«Aber ja. Es ist eine Expreßlieferung. Das Päckchen soll nur persönlich übergeben werden, und ich mußte unverzüglich hierher fahren. Und außerdem mit dem Panzerwagen, den nehmen wir nur, wenn die Lieferung viel Geld wert ist.»

«Ich glaube, das ist ein Mißverständnis», sagte Ruth verwirrt.

Doch jetzt beugte sich der Fahrer aus dem Lieferwagen und rief: «Es ist schon in Ordnung, ich hab hier eine Beschreibung. Du kannst das Päckchen abgeben – laß sie nur unterschreiben.»

Ruth nahm das Päckchen und unterschrieb. Immer noch verwirrt sagte sie: «Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht einmal ein Trinkgeld geben – aber trotzdem vielen Dank. Nur, wenn es doch ein Mißverständnis sein sollte ...?»

«Dann wenden Sie sich an Cavour und Stattersley. Die können Ihnen die Sache dann umtauschen.»

Der Lieferwagen fuhr ab. Ruth öffnete das Päckchen. Im ersten Moment begriff sie nicht, was sie sah: ein Halsband aus grünen Steinen, jeder in Brillanten gefaßt, Glied um Glied mit einer goldenen Kette verbunden. Smaragde, so grün wie das Meer, wie die Augen des Buddha, einer so schön wie der andere.

Dann begriff sie plötzlich. Dies war ein Geschenk – eine Morgengabe, die ihr mit Eilboten gesandt worden war, damit sie sie noch am Morgen nach der Brautnacht erreichte. Eine Morgengabe von obszöner Kostbarkeit, weil Quin großzügig war und sie nicht mit billigem Plunder abfinden wollte, jedoch nicht mißzuverstehen in ihrer Bedeutung.

«Das Wort kommt aus dem Lateinischen matrimonium ad morganaticum», hatte Quin im Stadtpark erklärt und ihr den Begriff der morganatischen Ehe erläutert. «Es ist eine Ehe, die auf der Morgengabe beruht, mit der der Ehemann sich von jeglicher Verantwortung seiner Frau gegenüber loskauft. In einer solchen morganatischen Ehe hat die Ehefrau keinen Anteil an den Pflichten und der Verantwortung ihres Ehemanns, und die gemeinsamen Kinder erben nicht.»

Deshalb hatte er sie gedrängt, heute morgen zu Hause zu bleiben; damit er sicher sein konnte, daß sie seine Morgengabe erhalten und begreifen würde, daß sie in Bowmont nicht erwünscht war. Eine Frau wie sie, Flüchtling, Ausländerin, teilweise jüdischer Herkunft, durfte sein Bett teilen, aber nicht sein Heim. Wenn so etwas Dr. Levy geschehen konnte, warum dann nicht auch ihr?

Sie klappte das Etui zu und schob es in die Tasche ihres Morgenrocks. Der Schmerz traf sie körperlich, sie litt an ihm wie an einer schweren Krankheit. Warum konnte man dem Zittern, den Schwindelgefühlen, der schrecklichen Flauheit nicht Einhalt gebieten? Und wenn man es schon nicht konnte, warum folgte dann nicht das nächste? Warum starb man nicht einfach?


«Sieh dir das an!» rief Lady Plackett. «Das ist ja unerhört! Wir müssen sofort Professor Somerville informieren, damit er das Nötige veranlassen kann.»

In Verenas Erwartungen bezüglich Afrika nicht eingeweiht, war sie schon lange nicht mehr so begeistert von Quinton Somerville, der ihr nichts zu unternehmen schien, um seine Beziehung zu ihrer Tochter zu fördern.

Verena nahm ihrer Mutter die Zeitung aus der Hand und stimmte ihr zu. Bisher hatte sie nichts gefunden, was sich gegen Ruth verwenden ließ, und gewisse Dinge nagten immer noch an ihr. Warum hatte man Ruth in Bowmont in den Turm gebracht, den sonst kein Mensch betreten durfte? Was für eine Verbindung hatte zwischen Quin und dieser Österreicherin bestanden, bevor sie nach England gekommen war?

«Das wirkt ziemlich herausfordernd», bemerkte sie mit ihrer scharfen, präzisen Stimme und verspürte Genugtuung. Wenn Quin immer noch glaubte, sich zum Beschützer dieser Ausländerin aufspielen zu müssen, dann würde dieses Foto dem gewiß ein Ende bereiten.

«Ich rufe gleich seine Sekretärin an», sagte Lady Plackett.

So kam es, daß Quin, als er vom Museum zurückkehrte, wo er alles Nötige für Ruths Teilnahme an der bevorstehenden Expedition veranlaßt hatte, eine Nachricht von Lady Plackett vorfand. Immer noch auf Wolken des Glücks schwebend, ging er ins Haus des Vizekanzlers hinüber.

«Wir denken, es wird Sie interessieren, wie eine Ihrer Studentinnen ihre Freizeit verbringt», sagte Lady Plackett spitz und schlug die Zeitung auf.

Quin dachte nicht darüber nach, wie das Boulevardblatt Daily Echo seinen Weg in das illustre Heim des Vizekanzlers gefunden hatte. Er dachte nicht darüber nach, weil das Foto – eine halbe Seite in der Mitte des Blatts – ihm einen Schlag versetzte, auf den er überhaupt nicht vorbereitet war.

Es zeigte Ruth und Heini Seite an Seite, sehr nahe beieinander. Sie hielten sich nicht umschlungen, sie räkelten sich auch nicht auf einem Sofa – nichts dergleichen. Heini saß am Flügel, und Ruth neigte sich zu ihm, einen Arm leicht gebogen hinter seinem Kopf mit dem lockigen Haar, und ihr Gesicht direkt der Kamera zugewandt. Glücklich und vertrauensvoll sah sie den Betrachter mit ihrem süßen Lächeln an, und Heini, den eine Locke ihres Haares berührte, blickte anbetend zu ihr auf. Unter dem Bild stand natürlich: Heini und sein Star.

«Ich denke, Sie werden mir zustimmen, daß diese Art der Zurschaustellung in der Sensationspresse absolut inakzeptabel ist», sagte Lady Plackett.

«Und das ist noch nicht alles», warf Verena ein. «Sie hat die Universität mit in Verruf gebracht. Es ist ausdrücklich von Thameside die Rede. Sie wird als eine der brillantesten Studentinnen bezeichnet.»

Quin schwieg. Er verstand nicht die Wirkung, die das Bild auf ihn hatte. Er hätte es weniger schmerzlich gefunden, sie mit Heini im Bett abgelichtet zu sehen. Die Menschen gingen aus allen möglichen Gründen miteinander ins Bett, aber die Hingabe und die Reverenz, mit denen sie sich dem Jungen zuneigte, fand er unerträglich.

«Sie scheint mir einem etwas skrupellosen Journalisten zum Opfer gefallen zu sein», sagte er schließlich.

Er hatte recht. Kurz nach dem Debakel in Janets Wohnung hatte Mantella Ruth zu sich bestellt und mit Zoltan Karkoly, einem ungarischen Journalisten, bekannt gemacht, der jetzt für das Daily Echo arbeitete. Karkoly hatte ihr erklärt, daß sein Artikel Teil einer Serie sein würde, die den Teilnehmern am Bootheby-Klavierwettbewerb und der Musik, die sie spielen würden, gewidmet war. Sehr geschickt hatte er sie ausgehorcht und eine Menge von ihr erfahren, beispielsweise über Mozarts Menagerie; nicht nur über den Star, den er für vierunddreißig Kreuzer auf dem Markt gekauft hatte, sondern auch über einen nachfolgenden Kanarienvogel und das Pferd, auf dem der Komponist durch die Straßen Wiens geritten war. Fragen über Ruth selbst und ihre Beziehung zu Heini flocht er ganz beiläufig ein und erhielt ehrliche Antworten. Ja, sie bediente abends im Willow; ja, sie war gern in Thameside – und ja, sie würde Heini bis ans Ende der Welt folgen, sagte Ruth, die über die Feuerleiter vor ihm geflohen war. Und ja, sie sei bereit, sich fotografieren zu lassen, wenn das Heinis Karriere half.

Karkoly hatte also mehrere Fotos am Bechstein in der Wigmore Hall gemacht, jedoch nur das letzte verwendet, auf dem sie ihren Kopf ein wenig gedreht hatte, weil sie fragen wollte, ob man jetzt fertig sei, und ihr Haar nach vorn fiel, über Heinis Schulter, so daß höchstens ein kompletter Dummkopf die Anspielung auf das Gemälde Von der Liebe überrascht, das in jedem zweiten Wohnzimmer hing, nicht verstehen würde.

Ruth hatte Mr. Hoyles Artikel über das Willow nicht gesehen, und sie hatte auch Karkolys Bericht im Echo nicht gesehen. In Belsize Park hatte man kein Geld für Zeitungen. Doch Quin, der die vollmundigen Worte hingebungsvoller Liebe las, die man ihr in den Mund gelegt hatte, fühlte sich von einer so wahnsinnigen Eifersucht gepackt, daß ihm spätestens dies, wenn schon nichts anderes, zeigen mußte, wie leidenschaftlich seine Liebe war.

«Wir dürfen wohl annehmen, daß Sie mit ihr sprechen werden?» sagte Lady Plackett.

«Ja, natürlich, das werde ich tun.»

Als er etwas später über die Waterloo-Brücke fuhr, war Quin wieder ruhig. Der Artikel war mehrere Tage alt; er wußte, mit welchen Tricks und Entstellungen die Journalisten nur allzuhäufig arbeiteten, aber der Glanz dieses Tages hatte sich getrübt.

Er fuhr nach Hause, wo Lockwood ihn erwartete, der von seinem freien Wochenende zurück war. «Mr. Cavour von der Firma Cavour und Stattersley hat angerufen», sagte er. «Sie möchten ihn bitte zurückrufen, wenn Sie wieder da sind. Er ist bis um halb sieben zu erreichen. Die Nummer habe ich auf den Block geschrieben.»

«Danke, Lockwood.»

Was hatte das zu bedeuten? Sollten sie einen Fehler gemacht haben? Ausgeschlossen, seine Instruktionen waren eindeutig gewesen. Er ging zum Telefon. Wählte, setzte sich.

«Ah, Professor Somerville. Ich bin froh, daß ich Sie erreicht habe. Es ist etwas sehr Merkwürdiges passiert. Das Halsband ist uns zurückgegeben worden.»

«Was?»

«Ja, heute mittag. Miss Berger kam selbst vorbei und hat es zurückgebracht.»

«Um etwas ändern zu lassen? Ist es vielleicht zu lang?»

«Nein, es handelte sich nicht um eine Änderung. Ich dachte, sie zöge vielleicht andere Steine vor. Es gibt Leute, die behaupten, daß die Farbe grün Unglück bringt, wissen Sie. Ich hatte einmal eine Kundin ...»

«Ja, ja. Sagen Sie mir nur, was geschehen ist. Was wollte sie?»

«Sie wirkte sehr ärgerlich. Sie sagte, ich solle Ihnen ausrichten, daß sie den Schmuck nicht haben wolle. Sie war nur ganz kurz im Laden. Sehr erregt, wie mir schien. Wir behalten das Halsband inzwischen hier, Sir, bis wir von Ihnen weitere Anweisungen bekommen. Es kann bis dahin in unserem Tresor bleiben – aber wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie bald von sich hören ließen; ein so wertvolles Stück ist am besten in der Bank aufgehoben.»

«Natürlich.» Man mußte höflich sein. Man mußte Mr. Cavour danken. Man mußte das Abendessen zu sich nehmen, das Lockwood zubereitet hatte.

Sollte es also wirklich diese uralte Geschichte sein? Daß ein junges Mädchen sich einen erfahrenen Mann sucht, um sich in die Kunst der Liebe einführen zu lassen, damit sie dann ohne Angst zu ihrem wahren Geliebten zurückkehren kann? So übel war die Idee gar nicht. Sie hatte sie wahrscheinlich aus irgendeinem Buch.

Nein, das war nicht wahr. Das konnte nicht wahr sein. «Ich sterbe, wenn du mich verläßt», hatte sie vor noch nicht vierundzwanzig Stunden zu ihm gesagt. Aber sie hatte auch andere Dinge gesagt. Sie hatte zum Beispiel gesagt: «Ich würde Heini bis ans Ende der Welt folgen.»

Er drückte seine Stirn an die Fensterscheibe und rang um Glauben. Morgen würde er sie sehen. Sie würde zu seiner Vorlesung kommen; sie würde ihm alles erklären. Dieser Abstieg zur Hölle konnte nicht Wirklichkeit sein.

«O Gott, gib mir Glauben», betete Quin, der seit seiner Kindheit nicht mehr gebetet hatte.

Aber Gott schwieg.


Ruth saß in der Untergrundbahn und starrte auf die Reklame auf der Wand gegenüber.

«Leiden Sie an Kälteschauer oder Schüttelfrost? Wenn ja, dann holen Sie sich Mr. Thermo, der heizt Ihnen ein und vertreibt alle Kältegefühle im Nu.»

Mr. Thermo, eine Art Flamme mit Beinen, würde sich anstrengen müssen, um die Kältegefühle aus ihrem Herzen zu vertreiben. Es war nicht etwa so, daß sie nicht geschlafen hatte – nachdem sie das Halsband zurückgebracht hatte, war sie wieder nach Hause gegangen, hatte ihrer Mutter erklärt, sie habe eine Migräne und war ins Bett gekrochen und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Sie hatte tatsächlich geschlafen, denn plötzlich vernichtet zu werden, machte einen todmüde. Nein, das Schlafen war nicht das Problem, sondern der Wachzustand, die Qual ohne Ende, die ewige Wiederholung des gleichen: Es kann nicht wahr sein, ich kann mich doch nicht so getäuscht haben ...

Dennoch hatte sie am Morgen beschlossen, zu den Vorlesungen zu gehen.

«Ruth, es hat doch keinen Sinn, daß du in diesem Zustand gehst», sagte Leonie beim Anblick des angespannten, blassen Gesichts ihrer Tochter.

«Ich muß, Mama. Es ist der letzte Tag heute und Professor Somervilles letzte Vorlesung.»

Sie hatte seinen Namen gesagt. Sie hatte sich so englisch verhalten wie Lord Nelson auf der Säule.

Aber in der Untergrundbahn sah sie der Wahrheit ins Auge. Es war nicht Mut, es war die Unmöglichkeit, nicht dort zu sein, wo er war, und an dieser Stelle, während sie Mr. Thermo anstarrte, kehrten die Gedanken tiefster Verzweiflung zurück. Sie wußte, daß er mit ihr ein klein wenig glücklich gewesen war; ja, das wußte sie. Wenn sie seine Bedingungen annahm, wenn sie sich von Bowmont und aus seinem öffentlichen Leben fernhielt ... wenn sie sich irgendwo in London eine Arbeit suchte und eine Wohnung, eine billige Wohnung wie die Janets, wo sie manchmal zusammensein konnten? Sie konnten ihre Ehe annullieren lassen wie geplant, er konnte sich mit einer Frau seiner eigenen Kreise verheiraten, wenn er das wünschte, aber sie würde immer für ihn da sein. Nur um ihn ab und zu zu sehen, nur um zu wissen, daß sie nicht in graue Wüsten endloser Zeit ohne ihn verstoßen werden würde.

Nein, das hatte keinen Sinn. Geheime Liebesnester waren etwas für Leute, die kontrolliert und beherrscht waren, nicht für solche, die meinten, sie müßten sterben, wenn der Geliebte aus dem Bett aufstand, um ein Glas Wasser zu holen. Sie liebte ihn viel zu sehr dafür, sie würde Szenen machen und Forderungen stellen. Sie konnte nur eines tun: ihren Studienabschluß machen und für immer verschwinden.

Als sie am Embankment ausstieg und zum Aufzug ging, sah sie, daß Kenneth Easton im selben Zug gewesen war. Kenneth war im allgemeinen wenig freundlich, genau wie Verena, aber heute schien er mit ihr zusammen gehen zu wollen, und Ruth sah, daß er blaß war und elend aussah. Das Spiegelbild in einem Schaufenster, an dem sie vorüberkamen, zeigte zwei blasse, niedergeschlagene Unglücksraben.

«Du siehst ein bißchen müde aus», sagte Ruth, während sie zur Brücke gingen.

«Ja, das bin ich auch», antwortete Kenneth. «Ich bin schrecklich müde. Ich habe überhaupt nicht geschlafen.»

«Gut, daß das Semester jetzt zu Ende ist», sagte Ruth.»Von morgen an kannst du nach Herzenslust faulenzen. Das Squashspielen ist ja auch ziemlich anstrengend.»

Kenneth wandte sich ihr zu. Sein langes Gesicht zeigte Dankbarkeit, sie hatte ihm den Anknüpfungspunkt geliefert, den er sich gewünscht hatte.

«Ja, es ist nicht nur anstrengend, es ist auch sehr teuer. Und das ist nicht das einzige ... weißt du, es ist gar nicht so einfach, dauernd statt zu sagen und solches Zeug. Manchmal versteht meine Mutter überhaupt nicht, was ich meine. Und die Leute in Edgware Green schauen mich komisch an, weil ich plötzlich versuche, keinen Dialekt mehr zu sprechen. Aber das hat mir alles nichts ausgemacht, weil ich wirklich dachte, Verena würde mich mit der Zeit immer mehr mögen.»

Sie hatten den Fluß erreicht, und einen Moment lang verlor Ruth die Konzentration («Ich kaufe tausend Limonadenflaschen und stecke in jede ein Briefchen, und jede ...»)

Als sie Kenneths Stimme wieder hörte, bekannte er gerade seine große Torheit. «Ich habe ihr praktisch einen Antrag gemacht. Das war gestern abend nach dem Squash, als wir im Club noch etwas zusammen getrunken haben. Es war sehr nett. Ich vergaß völlig, daß mein Vater nur ein Lebensmittelhändler war. Er ist tot, aber das macht es nur noch schlimmer. Wäre er am Leben geblieben, hätte er es vielleicht weiter gebracht, aber jetzt ist er auf immer und ewig ein Lebensmittelhändler.»

«Und Verena hat dir einen Korb gegeben?»

«Ja. Und dann hat sie mir von Professor Somerville erzählt, und das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ich wußte ja, daß sie eine Schwäche für ihn hat, aber ich dachte, es wäre einseitig – aber als sie mir dann das mit Afrika sagte, war mir klar ...»

Sieh ins Wasser, sagte sich Ruth. Wasser heilt ... es schwemmt den Schmerz weg. «Was ist denn mit Afrika?»

«Der Professor nimmt sie mit. Sie wußte es schon vorher, aber sie hat nichts gesagt, weil es geheim bleiben soll – und gestern war sie bei der Geophysikalischen Gesellschaft und hat erfahren, daß der Assistent des Professors gerade noch eine weitere Kabine gebucht hatte. Niemand darf etwas wissen – eigentlich sollte ich dir das gar nicht erzählen. Du wirst doch nichts sagen, Ruth? Versprichst du mir das?»

«Natürlich, Kenneth. Du kannst dich auf mich verlassen.»

«Ich hätte es wissen müssen. Die besseren Leute bleiben immer unter sich. Leute wie wir sind ihnen zur Abwechslung mal ganz recht, aber wenn es darauf ankommt, sind wir Luft. Mein Vater war Lebensmittelhändler, das sagt alles. Ich hatte nie eine Chance.»

Nein, auch ich hatte nie eine Chance. Mein Vater ist etwas viel Schlimmeres als Lebensmittelhändler. Nun, wenigstens blieb ihr die Demütigung erspart, sich Quin als eine Art Konkubine anzubieten. Die Reise nach Afrika würde Monate dauern, und es war undenkbar, daß er nicht irgendwann Verena heiraten würde. Kenneth hatte ihr einen Gefallen getan, indem er die letzten Hoffnungsfunken ausgetreten hatte.

Sie schaffte es, ihm ein paar tröstende Worte zu sagen, und dann gingen sie gemeinsam durch den Torbogen in den Hof der Universität. Am anderen Ende, wie zur Bestätigung all dessen, was Kenneth gesagt hatte, standen Quin und Verena in lebhaftem Gespräch unter dem Walnußbaum. Quin hob den Kopf; er sah sie direkt an. In der Nacht hatte sie geglaubt, es könnte nicht schlimmer werden, aber sie hatte sich getäuscht. Sie durfte jetzt nicht zu ihm laufen, sich nicht in seine Arme werfen und ihn bitten, sie aus diesem Alptraum zu befreien, und das war noch schlimmer. Sie zupfte Kenneth am Ärmel.

«Kenneth, ich glaube, ich geh doch nicht zur Vorlesung – Heini hatte mich gebeten, in den Konzertsaal zu kommen, wo er übt, und ich finde, das sollte ich tun. Würdest du Professor Somerville Bescheid sagen und mich entschuldigen? Sag ihm, daß ich zu meinem Verlobten muß, und frage Sam, ob ich später seine Notizen haben kann.»

Kenneth, der ebenfalls litt, brachte eine hochherzige Geste zustande. «Du kannst meine Notizen haben, Ruth. Meine Schrift ist viel klarer als die von Sam.»


Quin hatte sie kommen sehen; hatte ihr leuchtendes Haar gesehen, ihren schönen Gang, ihre anmutige Gestalt in dem abgetragenen Cape, und sein Herz hatte einen Sprung getan. Jetzt, am Morgen, wußte er, daß das, was er in der Nacht gedacht hatte, unmöglich war, und er wartete darauf, daß sie ihm entgegenlaufen würde. Aber dann blieb sie stehen und drehte sich um und ging davon, und noch ehe Kenneth ihm Ruths Worte ausrichtete, packte der Schmerz ihn mit eisernen Zangen, und aus der Ungläubigkeit wurde Überzeugung. Er war gebraucht und verraten worden.

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