15

In der zweiten Oktoberwoche wurden Leonies Gebete bezüglich der Kindergärtnerin erhört. Miss Bates verlobte sich – ein Triumph französischer Hemdhöschen über persönliche Ausstrahlung – und kehrte in das Haus ihrer Eltern in Kettering zurück, um ihre Aussteuer zu nähen. Ihr Zimmer im Erdgeschoß hinten wurde frei, und Paul Ziller zog ein, was alle sehr freute. Ziller brauchte jetzt nicht mehr in der Garderobe des Jewish Day Center zu üben, sondern konnte zu Hause bleiben; Leonie konnte sich seine Hemden zum Bügeln holen, wann immer es ihr paßte; und Onkel Mishak hatte direkten Zugang zum Garten.

Mishak hatte es nicht für nötig gehalten, das Stückchen Land zurückzugeben, das er zur Zeit der Krise von München für sich beschlagnahmt hatte. Man hatte ihm befohlen, Ruhe zu bewahren und zu graben, und das tat er weiterhin. Da er kein Geld hatte, um Pflanzen und Düngemittel zu kaufen, war er in seinen Möglichkeiten beschränkt, aber auch wieder nicht so beschränkt, wie man vielleicht vermutet hätte. Die alte Dame zwei Türen weiter war noch Eigentümerin ihres Hauses, und als Dank für seine Hilfe bei der Gartenarbeit schenkte sie Mishak Samen und Stecklinge aus ihrem Kräutergärtchen. Und auch Mishaks Streifzüge durch die Londoner Parks blieben nicht fruchtlos; er hatte stets sein Schweizer Armeemesser bei sich und eine Anzahl brauner Papiertüten. Es wäre ihm nicht eingefallen, den Pflanzen, denen er unterwegs begegnete, Schaden zuzufügen, aber diskretes und einfühlsames Stutzen hier und dort verhalf ihm zu manch hübschem Setzling, sei es von Jasmin oder Geranien oder anderen blühenden Pflanzen. Und wenn das Geld für Dünger nicht reichte, so bediente man sich eben des Komposts, von dem es in Nummer 27 in Hülle und Fülle gab,, angefangen mit den Resten von Fräulein Lutzenhollers Gemüsesuppen.

Hilda hatte mittlerweile im Britischen Museum den Durchbruch geschafft: Sie hatte sich ein Herz gefaßt und war ins Allerheiligste des Verwalters der anthropologischen Sammlung vorgestoßen, um ihm ihre Ansichten über den Trinkbecher der Mi-Mi kundzutun.

«Er ist nicht von den Mi-Mi», sagte sie, mit ernsthaftem Blick durch ihre Brillengläser spähend, und belegte ihre Behauptung.

Der Kustos hatte ihr nicht zugestimmt, aber er hatte sie auch nicht hinausgeworfen. Wer glaubte, Flüchtlinge dürften nicht arbeiten, befand sich im Irrtum. Kein Mensch hatte etwas dagegen, daß sie arbeiteten, sie durften nur kein Geld für ihre Arbeit nehmen. Nachdem Hilda sich als gelehrte Frau vom Fach ausgewiesen hatte, durfte sie selige Stunden im verstaubten Keller des Museums damit zubringen, die Objekte und Kunstwerke zu sortieren, die unternehmungslustige Weltenbummler im vergangenen Jahrhundert von ihren Reisen mitgebracht hatten.

Ein Hauch vorsichtiger Hoffnung durchwehte also im Oktober das Haus Nummer 27, um so mehr als Ruth, nunmehr ihres Studienplatzes in Thameside sicher, offensichtlich ihre Arbeit liebte. Selbst das finstere Fräulein Lutzenholler hatte jetzt eine neue Beschäftigung: Professor Freud hatte endlich Wien verlassen und sich in einem Haus nur wenige Straßen entfernt etabliert. Sie erwartete zwar nicht, von Freud bemerkt zu werden – der sowieso sehr alt und schwerkrank war –, da sie auf einer Tagung der Psychoanalytischen Gesellschaft im Jahr 1921 Freuds großen Rivalen, Jung, gelobt hatte; aber sie stellte sich gern einfach vor sein Haus und schaute es an, so wie Cézanne die Montagne Ste Victoire angeschaut hatte.

Da Hilda und die Psychoanalytikerin somit aus dem Weg waren, konnte Leonie nun ungehindert ihre Hausarbeit verrichten. Doch als es draußen kälter wurde, machte sie eine schreckliche Entdekkung. Ihr Entsetzen darüber teilte sie, obwohl sie sich in Grund und Boden schämte, mit Miss Violet und Miss Maud.

«Ich habe Mäuse im Haus», sagte sie mit umflorten Augen, denn der Befund schmerzte heftig.

Tatsächlich, mit dem Fortschreiten des Herbsts fielen die Mäuse in Scharen im Haus ein. Sie führten ein temperamentvolles Leben hinter den Sockelleisten von Nummer 27 und quietschten in der Ekstase der Kopulation hinter der Holztäfelung. Leonie deckte alles Eßbare zu, sie schrubbte, sie lauerte, sie schlug mit dem Besen, sie kaufte Gift – und die Mäuse wuchsen und gediehen.

«Haben Sie es mit Fallen versucht?» fragte Miss Maud. «Wir könnten Ihnen welche leihen.»

Aber für Fallen brauchte man Käse, und Käse war sündteuer.

«Dieser Hauswirt!» beschwerte sich Leonie, während sie ihren Kaffee umrührte. «Ich habe ihm immer wieder gesagt, daß er die Mäusefänger holen soll, aber er tut nichts.»

Miss Maud bot ihr eine ihrer jungen Katzen an, aber dieses Angebot schlug Leonie sehr höflich aus. «Ob ich mit Mäusen lebe oder mit Katzen – das ist für mich das gleiche», sagte sie traurig.

Auch Ruth waren die Mäuse nicht geheuer. Sie glaubte zwar nicht, daß sie die Keksdose mit dem Bild der Prinzessinnen auf dem Deckel durchnagen konnten, aber im Zuge von Mr. Proudfoots Bemühungen in ihrer Sache hatten sich mit der Zeit unter den Bodendielen viele wichtige Papiere angesammelt, und die Vorstellung, daß sie in Gefahr waren, von Mäusen gefressen zu werden, war ziemlich irritierend.

Allzuviel jedoch dachte sie nicht darüber nach. Das Leben an der Universität beschäftigte sie viel zu sehr. Hätte sie sich um Heini ängstigen müssen, so hätte sie sich ihrem Studium nicht mit solcher Hingabe widmen können, aber was Heini schrieb, war beruhigend: Sein Vater wußte jetzt genau, wen man schmieren mußte, und Heini rechnete fest damit, Anfang November bei ihr zu sein. Wenn Heini sich überhaupt Sorgen machte, so wegen des Klaviers, aber auch in diesem Bereich entwickelte sich alles gut. Ruth arbeitete nämlich immer noch drei Abende die Woche im Willow, und nun begann das Tea-Room auch Einheimische anzuziehen, die oben auf dem Hügel wohnten. Von den Flüchtlingen hätte sie niemals Trinkgeld genommen, selbst wenn sie es sich hätten leisten können; jedoch von den wohlhabenden Filmproduzenten und jungen Männern in schnittigen Autos, die «Atmosphäre» suchten, nahm sie, was sie bekommen konnte, und das Marmeladenglas war schon zu drei Vierteln gefüllt.


Auf die Nachricht von ihrer «Begnadigung» hatte Ruth damit reagiert, daß sie Quin um ein Gespräch unter vier Augen bat. Sie müsse ihm dringend etwas sagen, hatte sie erklärt.

In dem Bemühen, sich einen Treffpunkt einfallen zu lassen, wo er nicht Gefahr lief, Bekannten zu begegnen, war Quin auf das Tea Pavilion am Leicester Square verfallen. Keiner seiner Verwandten und Freunde hätte es sich im Traum einfallen lassen, dieses Lokal aufzusuchen, und es war erst recht kein bevorzugter Tagungsort prominenter Paläontologen. Er hatte nicht erwartet, daß seine Wahl bei Ruth auf solche Begeisterung stoßen würde. Sie war hingerissen von den Mosaiken nach Art eines türkischen Bads, von den Topfpalmen und den schwarz gekleideten Kellnerinnen. Sie glaubte offensichtlich, sich im Nervenzentrum britischen gesellschaftlichen Lebens zu befinden.

Das Treffen hatte einen schlechten Start. Quin war verdrossen über einen, wie er fand, übertriebenen Ausbruch von Dankbarkeit.»Ruth, würden Sie bitte endlich aufhören, mir zu danken. Und ich nehme keinen Zucker.»

«Das weiß ich», versetzte Ruth gekränkt. «Ich weiß es noch aus Wien. Ich weiß auch, daß die vornehmen Leute erst den Tee eingießen und dann die Milch. Miss Kenmore hat mir erzählt, daß es die Königinmutter so macht. Aber von mir zu verlangen, daß ich Ihnen nicht danken soll, ist eine Zumutung. Sie haben mir schließlich das Leben gerettet, sie haben meinem Vater eine Arbeit besorgt, und jetzt lassen Sie mich doch in Thameside bleiben.»

«Hm, ja, ich hoffe, Sie haben es sich sehr gut überlegt. Ich weiß nicht, ob die Gerichte sich dafür interessieren, wie wir im einzelnen unsere Tage verbringen, aber Sie wissen, was Proudfoot über Kollusion gesagt hat. Wenn Heini hier ankommt und feststellen muß, daß Ihre Heirat mit ihm sich unnötig verzögert, wird er keineswegs erfreut sein. Ich denke, das sollten Sie in Betracht ziehen.»

«Oh, das habe ich getan. Aber ich weiß, daß es auch so gut sein wird. Heini geht es ja mehr um das Zusammensein an sich, wissen Sie. Und dazu wäre es schon viel früher gekommen, aber mein Vater hat die Glas-Wasser-Theorie nie verstanden. In seinem Beisein durfte man nicht einmal darüber sprechen.»

«Was ist denn das nun wieder – die Glas-Wasser-Theorie?»

«Ach, ganz einfach – die Liebe – die körperliche Liebe – ist wie ein Glas Wasser, das man trinkt, wenn man Durst hat. Sie ist etwas ganz Natürliches und den ganzen Wirbel, den man um sie macht, gar nicht wert.»

«Also, ich glaube, in meinem Beisein dürften Sie das auch nicht diskutieren», sagte Quin nachdenklich. «Mir klingt das sehr nach blühendem Unsinn.»

«Tatsächlich?» Ruth sah ihn erstaunt an. «Wie auch immer, ich glaube jedenfalls nicht, daß es Heini mit dem Heiraten so eilig hat. Er denkt nur an seine Karriere.»

«Wer weiß! Die internationale Lage wird seine Gedanken vielleicht auf anderes lenken. Ich könnte mir denken, daß er Sie so bald wie möglich vor Recht und Gesetz zu seiner Frau machen will. Aber nun habe ich meine Bedenken vorgebracht; wenn Sie sich darüber im klaren sind, was Sie tun, sage ich jetzt kein Wort mehr.»

Die Kellnerin brachte das Gebäck, das er für Ruth bestellt hatte, und sie nahm es begeistert in Empfang.

«Englische Patisserie ist so – so bunt, nicht wahr?» meinte sie, während sie die gelben Ränder der Törtchen, das leuchtende Rot und Grün ihrer Füllung betrachtete. Sie bot Quin den Teller an, der sagte, er nehme Natriumbikarbonat nur zu sich, wenn es ihm der Arzt verordnet habe, und reichte ihr den Teller zurück. «Eigentlich wollte ich Sie treffen», sagte sie, «weil ich Ihnen etwas Wichtiges wegen der Eheauflösung sagen muß. Ich meine, für den Fall, daß etwas schiefgeht. Das passiert bestimmt nicht, aber nur für den Fall. Wissen Sie, ich habe mich nämlich mit Mrs. Burtt unterhalten. Sie ist eine gescheite Frau, und sie hat für viele Leute gearbeitet, die sich scheiden ließen. Da ging es nicht um Nichtigkeitserklärung, sondern um Scheidung. Ich wußte gar nicht, daß da so ein großer Unterschied ist.»

«Wer ist Mrs. Burtt?»

«Sie ist die Küchenhilfe im Willow, wo ich ...» Sie brach ab, da sie fürchtete, Quin könnte, wie ihr Vater, ein Theater machen, wenn er hörte, daß sie immer noch abends arbeitete. «Das ist ein Café, wo wir uns immer alle treffen. Na ja, und sie hat mir genau erklärt, was man tun muß, wenn man sich scheiden lassen möchte.»

«Ach, ja?»

«Ja.» Ruth biß in ihr Törtchen. «Man mietet sich in einem Hotel an der Südküste ein. Am besten in Brighton, weil es da einen Pier gibt und Spielautomaten. Da mietet man sich, wie gesagt, in ein Hotel ein, aber mit einer Dame, die man vorher engagiert hat. Und dann bleibt man die ganze Nacht mit der Dame auf und spielt Karten.» Sie sah ihn etwas ratlos an. «Mrs. Burtt hat mir nicht gesagt, was für Kartenspiele – Rommé, nehme ich an, oder vielleicht Siebzehn-und-Vier? Denn für Bridge braucht man ja mehr Leute, nicht wahr, und Poker wäre wohl ein bißchen unpassend.

Jedenfalls – wenn es dann Morgen wird, legt man sich mit der Dame ins Bett und läutet dem Zimmermädchen, um das Frühstück zu bestellen. Sie kommt, und dann erinnerte sie sich an einen, und der Detektiv, der einen beschattet hat, ruft sie dann beim Scheidungsprozeß als Zeugin auf.»

Höchst zufrieden mit sich, lehnte sie sich zurück.

«Mrs. Burtt scheint ja gut informiert zu sein. Und wenn nötig, werde ich selbstverständlich ...»

«Nein, nein, eben nicht. Das wollte ich Ihnen ja sagen. Sie haben schon so viel für mich getan, daß ich Sie das nicht auch noch tun lassen könnte, vor allen Dingen weil ich glaube, daß es Ihnen gar keinen Spaß machen würde. Darum werde ich es tun. Nur engagiere ich natürlich keine Dame, sondern einen jungen Gentleman. Das kann ich mir dann auch leisten, denn bis dahin habe ich Heinis Klavier bezahlt und habe eine Arbeit. Nur Kartenspiele kann ich keine, aber die kann ich ja lernen und ...»

«Ruth, würden Sie jetzt bitte aufhören, solchen Blödsinn zu reden! Als würde es mir im Traum einfallen, Sie in solche Hintertreppengeschichten hineinzuziehen. Das ist doch Unsinn, und ...»

«Ist es nicht! Für Sie ist es doch auch wichtig, frei zu sein, damit Sie Verena Plackett heiraten können.»

«Ich würde Verena Plackett nicht heiraten, wenn sie die letzte ...», begann Quin unvorsichtig und brach ab.

«Ja, weil Sie finden, daß sie zu groß ist – aber selbst wenn Sie Verena nicht heiraten wollen, wartet bestimmt eine andere Frau auf Sie – und ich möchte Ihnen doch helfen.»

«Damit, daß Sie sich solche dummen Geschichten ausdenken, helfen Sie mir gewiß nicht», erklärte Quin ziemlich grob. «Sagen Sie mir lieber – wie geht es Ihren Eltern? Wie kommen sie mit ihrem neuen Leben in Belsize Park zurecht?»

Obwohl Ruth unverkennbar gekränkt war, daß Quin ihren schönen Plan so schnöde abgelehnt hatte, ging sie bereitwillig auf den Themawechsel ein, und ihre verletzten Gefühle hinderten sie auch nicht daran, ein zweites Törtchen und danach noch ein Schokoladeneclair zu vertilgen. Als sie später das Lokal verließen, machte sie ihm mit gewohnter Hochherzigkeit ein Versprechen.

«Ich weiß, Sie mögen es nicht, wenn man Ihnen dankt, aber für eine Einladung zum Tee bedankt man sich nun mal. Sie können sich also darauf verlassen, daß ich nie wieder versuchen werde, Sie allein zu sprechen. Ich werde nur noch ein anonymes Gesicht in der Menge sein», beteuerte Ruth etwas theatralisch. «Ich werde nicht existent sein.»

Quin sah sie nur schweigend an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Ruths Augen glühten mit dem Feuer jener, die heilige Eide schwören, und ihr ungebärdiges Haar leuchtete im Licht der Lüster. Ein junger Mann, der mit einem Freund vorüberkam, blickte zurück, um sie anzustarren, und stieß mit dem Portier zusammen.

«Da bin ich aber gespannt», sagte Quin gedankenvoll. «Ja, auf Ihre Nichtexistenz bin ich wirklich gespannt.»

Ruth hielt Wort. Bei den Vorlesungen saß sie stets ganz hinten (wenn auch nicht mehr in Hildas Regenmantel); sie wich an die Wand zurück, wenn der Professor an ihr vorüberging; niemals wurde in seinen Seminaren ihre Stimme vernommen.

Das hieß aber nicht, daß sie keine Fragen stellte. Während Quin mit seinen Vorlesungen und Seminaren immer neue Türen in ihrem Geist öffnete, drillte sie ihre Freunde, für sie zu fragen, und es bereitete Quin ein köstliches Vergnügen zu hören, wie Pilly durch Formulierungen stolperte, die unverkennbar Ruths Stempel trugen.

Dennoch, Mutter Natur hatte Ruth nicht zur Nichtexistenz geschaffen, darauf wiesen besonders Sam und Janet hin, die Ruth offen sagten, sie fänden, sie übertreibe. «Nur weil du ihn in Wien mal gekannt hast, brauchst du doch nicht solche Verrenkungen zu machen, um ihm ja nicht unter die Augen zu kommen», meinte Sam. «Außerdem ist es sowieso die totale Zeitverschwendung – mit deinem Haar kann man dich über den ganzen Hof sehen. Ich wette, der weiß ganz genau, wo du bist.»

Damit hatte Sam leider nur allzu recht. Wenn Ruth sich über die Terrassenbrüstung beugte, um die Enten zu füttern, wenn sie in der Bibliothek hinter einem Stapel Bücher saß und auf einem Grashalm kaute, wenn sie unter dem Walnußbaum saß und Pilly abhörte oder trunken von Musik aus der Chorprobe kam, dann existierte sie auf unübersehbare Weise. Quin hätte von sich ohne jede Überheblichkeit gesagt, daß er im allgemeinen ein Mann mit ausgezeichneten Nerven sei, aber eine Woche demonstrativer Anonymität von seiten Ruths hatte ihren Tribut gefordert.

Während Ruth sich bemühte, Quin Somerville aus dem Weg zu gehen, tat Verena Plackett nichts dergleichen. Pünktlich wie die wandelnde Uhr trat sie jeden Morgen aus dem Haus, unter dem einen Arm ihre Krokodilledertasche, über dem anderen einen blütenweißen Laborkittel, einen von dreien, die sie täglich wechselte. Sie blieb bei ihrer Gewohnheit, jedem Dozenten nach seiner Vorlesung auch im Namen ihrer Eltern zu danken, und bei praktischen Übungen akzeptierte sie einzig den kriecherischen Kenneth Easton als Partner. In Quin Somervilles Seminaren brillierte Verena. Die Beine adrett an den Knöcheln gekreuzt, saß sie auf dem Stuhl gleich neben dem Professor und stellte intelligente Fragen, sprach niemals in abgerissenen Sätzen und ließ deutlich durchblikken, daß sie nicht nur die von ihm empfohlenen Texte gelesen hatte, sondern noch viele andere mehr.

Daß Ruth eine ernstzunehmende Konkurrentin um akademische Ehren sein könnte, war Verena zunächst gar nicht in den Sinn gekommen. So ein schüchternes Ding, das mit Schafen schwatzte, verdiente keine Beachtung. Um so schockierender fand sie es, als sie bei der Rückgabe der ersten Aufsätze feststellen mußte, daß Ruths Noten den ihren in nichts nachstanden und daß man dieses unscheinbare kleine Ding allgemein für fähig hielt, ein erstklassiges Examen zu machen. Verena warf den Kopf in den Nacken und beschloß, noch mehr zu arbeiten. Und Ruth faßte den gleichen Entschluß. Nur machte Ruth sich Vorwürfe, fühlte sich beschmutzt, und in der Nacht, wenn Hilda schlief, setzte sie sich in ihrem Bett auf und sprach sehr ernst mit Gott.

«Bitte, Gott», betete sie, «laß mich nicht konkurrieren. Laß mich immer daran denken, daß es ein Privileg ist, studieren zu dürfen, und laß mich nie vergessen, daß Wissen um seiner selbst willen erworben werden will. Und bitte, bitte gib, daß es mir gleich ist, ob ich in den Prüfungen besser bin als Verena oder nicht.»

Sie betete mit Inbrunst, und es war ihr ernst mit dem, was sie sagte. Aber Gott hatte anderes zu tun in jenem Herbst, als die Internationalen Brigaden geschlagen aus Spanien zurückkehrten und die von Hitler verübten Grausamkeiten weiter zunahmen. Außerdem verpatzte Ruth alles, indem sie nach ihren Gebeten aufzustehen pflegte, um mit ihren Büchern und Heften ins Bad zu gehen, den einzigen Ort in Nummer 27, an dem man, wenigstens in der Nacht, ungestört lernen konnte.


Mit dem Voranschreiten des Semesters kam die Rede immer häufiger auf die Exkursion, die am Ende des Monats unternommen werden sollte. Jene Studenten, die bereits in Bowmont gewesen waren, erzählten stets mit großer Begeisterung von dieser Unterbrechung in der Routine täglicher Seminare und Vorlesungen.

«Man fährt mit Booten raus, abends sitzt man am Lagerfeuer, und am Sonntag gibt's oben im Haus ein Riesenmittagessen.»

Ruth war durchaus bereit, sich das alles staunend anzuhören, aber für sie stand fest, daß sie nicht mitfahren würde.

«Ich kann mir schon das Fahrgeld nicht leisten, geschweige denn die Ausrüstung mit Gummistiefeln und Ölzeug und so», erklärte sie. «Außerdem muß ich hier alles bereit haben, wenn Heini kommt. Es macht mir nichts aus, ehrlich.»

Aber Pilly machte es etwas aus, und sie hielt damit, genau wie Ruths andere Freunde, nicht hinter dem Berg. Auch Roger Felton machte es etwas aus. Mehr noch, er war fest entschlossen, Ruth diese Exkursion zu ermöglichen.

Wozu gab es schließlich den Fonds für Härtefälle? Der war doch extra dazu da, Studenten, die finanzielle Schwierigkeiten hatten, unter die Arme zu greifen! Und er wurde vom Finanzausschuß verwaltet, dem Roger genauso angehörte wie allen anderen Ausschüssen, in denen die Fakultät vertreten sein mußte, da Quin von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen hatte, daß er nicht bereit sei, seine Zeit in überheizten Räumen und mit sich ständig wiederholendem Gebrabbel zu vertun.

Der Ausschuß hatte seine nächste Sitzung an einem Samstagmorgen anberaumt, gerade zwei Wochen vor Beginn der Exkursion. Felton hatte bereits bei Ausschußmitgliedern anderer Fakultäten für sein Anliegen geworben und war allseits auf Wohlwollen gestoßen. Er trat daher mit Hoffnung und Zuversicht am Samstagmorgen in den Sitzungssaal.

Aber er hatte die Rechnung ohne den neuen Vizekanzler gemacht. Lord Charlefont hatte Ausschußsitzungen im Galopp vorangetrieben; Sir Desmond, studierter Ökonom, war ein begeisterter Kleinkrämer. Jedes Reagenzglas, jedes Stück Kreide, das gekauft werden sollte, wurde genauestens unter die Lupe genommen, und als man sich um ein Uhr zum Mittagessen vertagte, war die Frage des Zuschusses aus dem Härtefonds für Ruth noch gar nicht diskutiert worden.

«Mußt du wirklich wieder hin?» fragte Lady Plackett, die gehofft hatte, ihren Mann zu einem Kinobesuch überreden zu können.

«Ja. Felton von der zoologischen Fakultät möchte eine seiner Studentinnen in Somervilles praktisches Übungsseminar hineinbugsieren. Und dafür möchte er Geld aus dem Härtefonds. Meiner Ansicht nach ist das eine rein akademische Frage. Inwieweit kann die Nichtteilnahme an einer Exkursion als Härtefall eingestuft werden? Wir werden das sehr genau diskutieren müssen.»

«Er möchte das Geld doch nicht etwa für diese Österreicherin haben? Miss Berger?»

Sir Desmond griff nach der Tagesordnung. «Hier steht kein Name, aber möglich wäre es. Warum?»

«Nun, ich würde es als höchst unangebracht betrachten, ihr das Geld zu geben. Du weißt ja selbst, daß Professor Somerville sie hier eigentlich gar nicht haben wollte – soviel ich weiß, bestand da früher eine Verbindung zu ihrer Familie in Wien. Er war sich offensichtlich der Gefahr bewußt, sich der Bevorzugung schuldig zu machen. Aber Dr. Felton kümmert sich, seit das Mädchen hier ist, in ganz besonderem Maß um sie, wie Verena mir erzählte.»

«Du meinst ...» Sir Desmond sah sie scharf an.

«Nein, nein, nichts dergleichen. Er biegt nur die Vorschriften ein wenig zurecht, damit er ihr entgegenkommen kann. Aber wenn sich herumsprechen sollte, daß Gelder, die ausschließlich für Härtefälle bestimmt sind, dafür verwendet wurden, einem jungen Ding, das hier sowieso aus reiner Menschenfreundlichkeit geduldet wird, einen kleinen Ausflug zu finanzieren, so könnte das, denke ich, zu einer Menge Klatsch und Spekulationen Anlaß geben. Es wäre bestimmt besser, die Gelder für englische Studenten zurückzuhalten, die wirklich in Not sind.»

«Hm, ja, da hast du nicht ganz unrecht», meinte Sir Desmond. «Es wäre natürlich sehr peinlich, wenn es Gerede gäbe, zumal das Mädchen sowieso schon genug Aufmerksamkeit erregt hat.»

«Und nicht auf die vorteilhafteste Art», fügte Lady Plackett hinzu.


«Was gibt's?» fragte Quin, der gerade aus dem Museum zurückgekehrt war und noch an einem Artikel für eine Zeitschrift arbeiten wollte.

«Dieser Plackett, dieses Ekel!» Roger Felton sah aus, als würde er gleich explodieren. «Er hat den Härtefonds blockiert – wir können kein Geld daraus nehmen, um Ruth die Fahrt nach Bowmont zu ermöglichen. Er möchte auf keinen Fall einen Präzedenzfall schaffen, der den Studenten Anlaß gäbe zu glauben, sie könnten auf Kosten der Universität auf Reisen gehen!»

«Aha! Da steckt wahrscheinlich Lady Plackett dahinter. Sie kann Ruth nicht leiden.» Quin merkte zu seiner eigenen Überraschung, daß er sehr zornig war. Er selber hätte gesagt, daß er Ruth in Bowmont gar nicht haben wollte. Die «unsichtbare» Ruth war hier in Thameside schon schlimm genug– in Bowmont hätte er das nicht ausgehalten; aber die Kleinlichkeit des neuen Regimes war schwer zu akzeptieren.

«Möchte Ruth denn mit auf die Exkursion?» fragte er. «Ist nicht jeden Tag mit Heinis Ankunft zu rechnen?»

«Nein, sie erwartet ihn erst Anfang November. Bis dahin sind wir zurück», antwortete Roger. «Sie würde gern mitfahren, das weiß ich, auch wenn sie so tut, als läge ihr nichts daran.»

«Sie und Elke möchten sie unbedingt dabeihaben, nicht wahr? Weil Sie glauben, daß sie profitieren wird?»

«Ja, klar – verdammt noch mal, Sie leiten das Seminar, Sie wissen, daß es das beste seiner Art im ganzen Land ist. Aber ich wollte ihr die Küste zeigen. Ich schulde ihr ...» Roger zuckte die Achseln. «Ich weiß, Sie finden, wir verwöhnen sie, Elke, Humphrey und ich, aber sie gibt alles zurück und ...»

«Was gibt sie zurück?»

Roger schüttelte den Kopf. «Ach, das ist schwer zu erklären. Man bereitet eine praktische Übung vor – Himmel noch mal, Sie wissen doch selbst, wie das ist. Man treibt sich die halbe Nacht hier herum und versucht, anständiges Material zu finden, und dann kriegt der Techniker die Grippe, und es sind nicht genug Petrischalen da ... Aber am nächsten Morgen steht sie da und schaut durch das Mikroskop, als wäre das der allererste Wasserfloh überhaupt, und plötzlich erinnert man sich, worum es einem einmal ging – warum man sich mit diesen Dingen überhaupt beschäftigt hat. Wenn ihre Arbeit schlampig wäre, dann wäre es etwas anderes. Aber sie ist nicht schlampig. Sie hat eine bessere Bewertung verdient, als Sie ihr für ihre letzte Arbeit gegeben haben.»

«Ich habe ihr zweiundachtzig gegeben.»

«Ja. Und Verena Plackett vierundachtzig. Aber mich geht das ja nichts an. Leider ist es wohl nicht zu ändern, zumal Sie sich so krampfhaft bemühen, sie nur ja nicht zu bevorzugen. Nur weil sie mal auf Ihrem Schoß gesessen hat, als sie noch Windeln trug.»

«Ich tue nichts dergleichen, aber Sie müssen einsehen, daß ich mich da nicht einmischen kann – das würde Ruth nur schaden.» Und als sein Stellvertreter sich nicht von der Stelle rührte, sondern ihn weiterhin unglücklich ansah, fügte er hinzu: «Wie geht's zu Hause? Was macht Lilian?»

Roger seufzte. «Von einem Kind immer noch keine Spur. Und adoptieren will sie nicht. Hätte ich nur damals Humphrey nicht zum Abendessen eingeladen.» Dr. Fitzsimmons hatte es nur gut gemeint, als er Rogers Frau auf den Temperaturabfall hinwies, den jede Frau unmittelbar vor ihren fruchtbaren Tagen erwarten konnte, aber er brauchte nicht mitanzusehen, wie Lilian tagtäglich mit ihrem Thermometer bewehrt aus dem Bad kam und ihm bis zur kritischen Zeit seine ehelichen Rechte verweigerte. «Ich bin froh, wenn ich eine Zeitlang wegkomme, das kann ich Ihnen sagen.»


Ruth war über den Beschluß des Finanzausschusses nicht enttäuscht, weil sie von Roger Feltons Bemühungen für sie nichts wußte. Aber wenn sie auch an ihrem Entschluß festhielt, an der Exkursion nicht teilzunehmen, so beteiligte sie sich doch mit viel Spaß an den Mutmaßungen über das Nachtzeug, das Verena Plackett mit auf die Reise nehmen würde.

Denn Verena fuhr selbstverständlich mit nach Northumberland, und die Frage, was sie im Schlafsaal über dem Bootshaus zur Nacht anziehen würde, interessierte ihre Kommilitonen brennend. Janet meinte, sie würde in durchsichtiger schwarzer Spitze in ihr Etagenbett steigen.

«Für den Fall, daß der Professor um Mitternacht mit einem Schädelabguß die Leiter heraufklettern sollte.»

Pilly hielt einen gestreiften Schlafanzug für wahrscheinlicher, mit einer langen Schnur, die Kenneth Easton ihr abends, vor dem Zubettgehen, immer zur Doppelschleife würde binden müssen. Ruth hingegen, die Verena die blütenweißen Laborkittel zutiefst neidete, dachte eher an gesmokten weißen Batist.

«Mit soviel Stärke, daß man es nachts knistern hört», sagte sie.

Tatsächlich jedoch kam keiner von ihnen in den Genuß, Verenas Nachtgewand zu sehen. Die Tochter des Vizekanzlers hatte nämlich ganz andere Pläne.

Wenn Leonie jeden Abend begierig auf Ruths Bericht vom Tage wartete, und Mrs. Weiss mit ihrem gefürchteten «Also?» ihr Verhör im Willow begann, wartete Lady Plackett etwas beherrschter, aber nicht weniger begierig auf Verenas Rapport.

Über die Dozenten ließ sich Verena mit Zurückhaltung aus, über ihre Kommilitonen jedoch gestattete sie sich zu sprechen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. So erfuhr Lady Plackett von dem ungehörigen, um nicht zu sagen unzüchtigen Verhalten Janet Carters auf den Rücksitzen von Automobilen; von den gefährlich radikalen Ansichten Sam Marshs; und von den Böcken, die Priscilla Yarrowby schoß, die wieder einmal den Kieferknochen eines Mammuts mit dem eines Mastodons verwechselt hatte.

«Und Ruth Berger hilft ihr ständig. Das kann man nun wirklich nicht gutheißen», erklärte Verena. «Man tut Leuten, die nicht das Zeug zum Hochschulstudium haben, keinen Gefallen, wenn man sie dauernd anschiebt. Es ist in ihrem eigenen Interesse, wenn sie gleich ausgesiebt werden, damit sie das Niveau finden können, das ihnen angemessen ist.»

Lady Plackett war ganz ihrer Meinung, so wie jeder vernünftige Mensch ihrer Meinung sein mußte. «Sie scheint einen sehr störenden Einfluß zu haben, diese kleine Ausländerin», sagte sie.

Sie war gar nicht erfreut gewesen, als Professor Somerville sich entschieden hatte, das Mädchen doch zu behalten. Diese Ruth Berger hatte etwas ... Exzessives. Selbst die Art, wie sie im Hof an den Rosen roch, war übertrieben, dachte Lady Plackett. Nun, in einer Hinsicht wenigstens konnte Verena ihre Mutter beruhigen: Der Professor hatte für Ruth nichts übrig; er schien ihr bewußt aus dem Weg zu gehen; sie machte in seinen Seminaren nie den Mund auf.

«Und sie kommt nicht mit nach Bowmont, das steht fest», erklärte Verena, die vom Eingreifen ihrer Mutter in dieser Frage nichts wußte.

«Ach ja, Bowmont», meinte Lady Plackett nachdenklich. «Weißt du, Verena, irgendwie behagt es mir gar nicht, daß du in einem Schlafsaal mit jungen Mädchen übernachten sollst, die ... von Sitte und Anstand keine Ahnung zu haben scheinen.»

«Ja, ich muß zugeben, daß mir das auch zu schaffen macht», sagte Verena. «Aber man möchte natürlich demokratisch sein.»

«Das ist richtig», stimmte Lady Plackett zu. «Trotzdem ... alles hat seine Grenzen.» Sie hielt inne und legte ihrer Tochter beruhigend die Hand auf den Arm. «Weißt du, ich habe da eine Idee.»

Verena hob den Kopf. «Ich bin gespannt», erwiderte sie, «ob es die gleiche ist wie meine.»

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