13 Ein friedliches Zwischenspiel

»In Ordnung«, sagte Tanis und starrte wütend auf den Mann, der so ruhig und gelassen vor ihm saß. »Ich will Antworten. Du hast uns absichtlich in den Mahlstrom geführt! Warum? Wußtest du von diesem Ort? Wo sind wir? Wo sind die anderen?«

Berem saß vor Tanis auf einem Holzstuhl. Der Stuhl war mit Vögel- und Tierabbildungen reich verziert in einem bei den Elfen beliebten Stil. In der Tat wurde Tanis stark an Loracs Thron in dem verdammten Elfenkönigreich Silvanesti erinnert. Die Ähnlichkeit konnte ihn jedoch keineswegs beruhigen, und Berem krümmte sich unter den wütenden Blicken des Halb-Elfen. Die Hände, die für den Körper des älteren Mannes zu jung waren, zupften an seiner schäbigen Hose. Er hob seinen Blick und musterte nervös die seltsame Umgebung.

»Verdammt noch mal! Antworte mir!« tobte Tanis. Er warf sich auf Berem, packte ihn an seinem Hemd und riß ihn aus dem Stuhl. Dann fuhren seine Hände zur Kehle des Mannes.

»Tanis!« Goldmond erhob sich schnell und legte eine Hand auf seinen Arm. Aber der Halb-Elf war wie von Sinnen. Sein Gesicht war vor Furcht und Wut verzerrt, sie erkannte ihn kaum wieder. Hektisch riß sie an den Händen, die Berem festhielten.

»Flußwind, halte ihn auf!«

Der große Mann von den Ebenen packte Tanis an den Handgelenken und zog ihn von Berem weg.

»Laß ihn in Ruhe, Tanis!«

Einen Moment lang sträubte sich Tanis, dann erschlaffte er und holte tief und zitternd Luft.

»Er ist stumm«, sagte Flußwind streng. »Selbst wenn er dir etwas erzählen wollte, könnte er es nicht. Er kann nicht sprechen…«

»Doch, ich kann.«

Die drei hielten erschrocken inne und starrten Berem an.

»Ich kann sprechen«, sagte er ruhig in der Umgangssprache. Geistesabwesend rieb er an seiner Kehle, wo sich Tanis’

Fingerabdrücke rot auf der gebräunten Haut abzeichneten.

»Warum gibst du dann vor, es nicht zu können?« fragte Tanis schwer atmend.

Berem rieb sich den Hals, seine Augen waren auf Tanis gerichtet. »Einem Mann, der nicht sprechen kann, werden keine Fragen gestellt.«

Tanis zwang sich zur Ruhe, um im Kopf klar zu werden. Er warf Flußwind und Goldmond einen Blick zu. Flußwind schüttelte nur den Kopf. Goldmond hob die Schultern. Tanis zog einen anderen Holzstuhl heran und setzte sich vor Berem. »Berem«, Tanis sprach langsam, seine Ungeduld zügelnd, »du redest mit uns. Bedeutet das, daß du unsere Fragen beantworten willst?«

Berem starrte Tanis an, dann nickte er einmal.

»Warum?« fragte Tanis.

»Ich… ihr müßt mir helfen, hier zu verschwinden… Ich kann hier nicht bleiben…«

Tanis wurde es trotz der stickigen und warmen Luft in dem Zimmer eiskalt. »Bist du in Gefahr? Sind wir in Gefahr? Was ist das hier für ein Ort?«

»Ich weiß es nicht!« Berem sah sich hilflos um. »Ich weiß nicht, wo wir sind. Ich weiß nur, daß ich hier nicht bleiben kann. Ich muß zurück!«

»Warum? Die Drachenfürsten jagen dich. Einer von d…den Fürsten…«, Tanis hustete, dann sprach er heiser weiter. »Einer von ihnen erzählte mir, daß du der Schlüssel zum endgültigen Sieg der Dunklen Königin bist. Warum, Berem? Was wollen sie von dir?«

»Ich weiß es nicht!« schrie Berem und ballte seine Fäuste.

»Ich weiß nur, daß sie mich jagen… daß ich vor ihnen fliehe… seit… seit Jahren! Kein Frieden… keine Ruhe!«

»Wie lange, Berem?« fragte Tanis leise. »Seit wann jagen sie dich?«

»Jahre!« antwortete Berem mit erstickter Stimme. »Jahre… ich weiß nicht mehr, wie lange.« Seufzend schien er in seine gelassene Zufriedenheit zurückzusinken. »Ich bin dreihundertzweiundzwanzig Jahre alt. Vielleicht dreiundzwanzig? Vierundzwanzig?« Er zuckte mit den Schultern. »Die meiste Zeit hat mich die Königin gesucht.«

»Dreihundertzweiundzwanzig!« wiederholte Goldmond erstaunt. »Aber… du bist ein Mensch! Das ist unmöglich!«

»Ja, ich bin ein Mensch«, sagte Berem und richtete seine blauen Augen auf Goldmond. »Ich weiß, daß es unmöglich ist. Ich bin gestorben. Viele Male.« Sein Blick fuhr zu Tanis. »Du hast mich sterben sehen. Es war in Pax Tarkas. Ich habe dich erkannt, als du das erste Mal auf dem Schiff warst.«

»Du bist gestorben, als die Felsen auf dich gefallen sind!« rief Tanis aus. »Aber wir haben dich lebendig auf der Hochzeit gesehen, Sturm und ich…«

»Ja, da habe ich euch auch gesehen. Darum bin ich geflohen. Ich wußte… es würden Fragen kommen.« Berem schüttelte den Kopf. »Wie hätte ich dir mein Überleben erklären können? Ich weiß ja selbst nicht, wie ich überlebe! Ich weiß nur, daß ich sterbe und wieder lebendig werde. Immer wieder.« Er ließ seinen Kopf in seine Hände sinken. »Ich will nichts als Frieden finden!«

Tanis war völlig verwirrt. Er kratzte sich am Bart, während er den Mann musterte. Daß er log, schien festzustehen. Oh, nicht wegen des Sterbens und Wiederlebendigwerdens. Tanis hatte das selbst gesehen. Aber er wußte genau, daß die Königin der Finsternis fast alle ihre Kräfte, die sie im Krieg entbehren konnte, auf die Suche nach diesem Mann verwendete. Er mußte einfach den Grund wissen!

»Berem, wie ist der Grüne Juwel in dein Fleisch gekommen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Berem so leise, daß man ihn kaum hören konnte. Unsicher fuhr seine Hand zur Brust, als ob er Schmerzen hätte. »Er ist Teil meines Körpers, wie meine Knochen und mein Blut. Ich… ich glaube, er ist es, der mich immer wieder ins Leben zurückbringt.«

»Kannst du ihn entfernen?« fragte Goldmond sanft und ließ sich auf ein Kissen neben Berem sinken. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

Berem schüttelte heftig den Kopf, sein graues Haar fiel über seine Augen. »Ich habe es versucht!« murmelte er. »Viele Male habe ich versucht, ihn herauszureißen! Genausogut könnte ich versuchen, mein Herz herauszureißen!«

Tanis erbebte, dann stöhnte er verzweifelt. Das brachte sie auch nicht weiter! Er hatte immer noch keine Vorstellung davon, wo sie sich befanden. Er hatte gehofft, Berem könnte es ihnen sagen… Wieder sah sich Tanis in ihrer seltsamen Umgebung um. Sie waren in einem Zimmer eines offensichtlich uralten Gebäudes. Es wurde von einem sanften, schaurigen Licht beleuchtet, das von an den Wänden wie Tapeten hängendem Moos herrührte. Die Möbel waren so alt wie das Gebäude und in angeschlagenem, schäbigem Zustand, obwohl sie einst wertvoll gewesen sein mußten. Es gab kein Fenster. Von draußen war nichts zu hören. Sie hatten keine Ahnung, wie lange sie schon hier waren. Sie hatten jegliches Zeitgefühl verloren, aßen zuweilen von den seltsamen Pflanzen und schliefen unruhig. Tanis und Flußwind hatten das Gebäude erforscht, aber weder einen Ausgang noch ein lebendes Wesen entdeckt. Tanis fragte sich, ob über dem Ganzen nicht ein magischer Zauber hing, ein Zauber, der sie nicht hinausließ. Denn jedes Mal, wenn sie sich vorwärts wagten, führten die engen, kaum beleuchteten Korridore sie unausweichlich in dieses Zimmer zurück. Sie erinnerten sich kaum an die Ereignisse, nachdem das Schiff im Mahlstrom versunken war. Tanis hatte die Holzplanken splittern hören. Die Mäste waren niedergestürzt, die Segel zerrissen. Er hatte Schreie gehört. Er hatte gesehen, wie Caramon von einer gigantischen Welle über Bord gespült wurde. Er hatte Tikas rote Locken im Wasser wirbeln sehen, dann war auch sie verschwunden. Der Drache war dagewesen… und Kitiara… Er hatte noch Kratzer von den Krallen des Drachen am Arm. Dann war eine andere Welle gekommen… er hatte den Atem angehalten, bis er sicher war, daß seine Lungen bersten würden. Er hatte gedacht, daß der Tod einfach und willkommen wäre. Er trieb an die Oberfläche des wirbelnden Gewässers, nur um wieder hinabgezogen zu werden und zu wissen, daß es das Ende war…

Und dann war er an diesem seltsamen Ort in durchnäßten Kleidern wach geworden und hatte Flußwind, Goldmond und Berem vorgefunden.

Zuerst schien Berem Angst vor ihnen zu haben. Er hatte sich in eine Ecke verkrochen und sie nicht an sich herangelassen. Geduldig hatte Goldmond auf ihn eingeredet und ihm Essen gebracht. Allmählich hatte sie ihn mit ihrer Warmherzigkeit für sich gewonnen. Das und, wie Tanis nun erkannte, sein starkes Verlangen, diesen Ort zu verlassen, hatten den Ausschlag gegeben, sein Verhalten zu ändern.

Tanis hatte anfangs angenommen, daß Berem das Schiff in den Mahlstrom gesteuert hätte, weil er diesen Ort kannte, daß er sie mit Absicht hierhergebracht hätte.

Aber jetzt war sich der Halb-Elf nicht mehr so sicher. Der verwirrte und verängstigte Blick Berems zeigte, daß er auch keine Ahnung hatte, wo sie waren. Die bloße Tatsache, daß er sogar mit ihnen sprach, war ein Indiz dafür, daß er die Wahrheit sagte. Er war verzweifelt. Er wollte hier heraus. Warum?

»Berem…«, begann Tanis, erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Er spürte, daß Berems Blick ihm folgte. »Wenn du vor der Königin der Finsternis wegläufst, dann scheint das doch hier das ideale Versteck zu sein…«

»Nein!« schrie Berem.

Tanis wirbelte herum. »Warum nicht? Warum willst du unbedingt hier weg? Warum willst du dorthin zurück, wo sie dich finden wird?«

Berem krümmte sich auf seinem Stuhl. »Ich… ich weiß nichts über diesen Ort! Ich schwöre es! Ich… ich muß zurück… Es gibt einen Ort, wo ich hingehen muß… Ich suche etwas… Bevor ich es nicht finde, werde ich nicht zur Ruhe kommen.«

»Es finden! Was finden?« schrie Tanis. Er spürte Goldmonds Hand an seinem Arm, und er wußte, er tobte wie ein Wahnsinniger, aber es war so enttäuschend! Etwas zu haben, das der Königin der Finsternis die Macht über die Welt geben könnte, und nicht zu wissen, was es war!

»Ich kann es dir nicht sagen!« wimmerte Berem.

Tanis hielt den Atem an, schloß seine Augen und versuchte, sich zu beruhigen. In seinem Kopf hämmerte es. Er hatte das Gefühl, daß er in tausend Stücke zerbersten würde. Goldmond erhob sich. Sie legte beide Hände auf seine Schultern und flüsterte ihm besänftigende Worte zu, von denen er außer dem Namen Mishakal nichts verstand. Langsam verging das schreckliche Gefühl und ließ ihn leer und erschöpft zurück.

»In Ordnung, Berem.« Tanis seufzte. »Es ist alles in Ordnung. Es tut mir leid. Wir werden darüber nicht mehr reden. Erzähl mir von dir. Woher kommst du?«

Berem zögerte einen Moment lang, seine Augen verengten sich, und er verspannte sich. Tanis war über Berems merkwürdiges Verhalten erstaunt. »Ich komme aus Solace. Woher kommst du?« wiederholte er beiläufig.

Berem musterte ihn argwöhnisch. »Ihr… ihr habt sicherlich nie davon gehört. Ein… ein kleines Dorf außerhalb von… außerhalb von…«, er schluckte, dann räusperte er sich.

»Neraka.«

»Neraka?« Tanis sah fragend zu Flußwind.

Der Barbar schüttelte den Kopf. »Er hat recht. Ich habe noch nie davon gehört.«

»Ich auch nicht«, murmelte Tanis. »Zu schade, daß Tolpan und seine Karten nicht hier sind… Berem, warum…«

»Tanis!« schrie Goldmond.

Der Halb-Elf erhob sich bei dem Klang ihrer Stimme, seine Hand fuhr automatisch zu seinem nicht vorhandenen Schwert. Schwach erinnerte er sich, daß sein Gewicht ihn nach unten gezogen hatte. Er verfluchte sich, Flußwind nicht gebeten zu haben, an der Tür Wache zu halten. Jetzt konnte er nichts unternehmen, sondern nur den rotgekleideten Mann anstarren, der an der Türschwelle stand.

»Hallo«, sagte der Mann freundlich in der Umgangssprache. Die roten Gewänder brachten Raistlins Bild mit solcher Wucht zurück, daß dem Halb-Elfen alles vor den Augen verschwamm. Einen Moment lang dachte er, es wäre Raistlin. Dann sah er es deutlich. Dieser Magier war älter – viel älter, und sein Gesicht wirkte freundlich.

»Wo sind wir?« fragte Tanis barsch. »Wer bist du? Warum wurden wir hierhergebracht?«

»KreeaQUEKH«, sagte der Mann voller Abscheu, drehte sich um und ging fort.

»Verdammt!« Tanis sprang vor in der Absicht, den Mann zu ergreifen und zurückzuziehen. Aber er spürte einen festen Griff an seiner Schulter.

»Warte«, rief Flußwind. »Beruhige dich, Tanis. Er ist ein Zauberkundiger. Du könntest ihn nicht bekämpfen, selbst wenn du dein Schwert hättest. Wir folgen ihm, mal sehen, wohin er geht. Wenn er über diesen Ort einen Zauber geworfen hat, muß er ihn vielleicht aufheben, um selbst wieder herauszukommen.«

Tanis holte tief Luft. »Du hast natürlich recht. Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle mich so gespannt wie die Haut über einer Trommel. Wir folgen ihm. Goldmond, bleib mit Berem hier…«

»Nein!« schrie Berem. Er sprang auf und klammerte sich mit solcher Kraft an Tanis, daß er ihn beinahe umgeworfen hätte.

»Laß mich nicht hier zurück! Tu es nicht!«

»Wir lassen dich nicht zurück!« sagte Tanis, während er versuchte, sich aus Berems todesähnlich starrem Griff zu befreien. »Nun, in Ordnung. Vielleicht sollten wir lieber alle zusammenbleiben.«

Sie eilten in den schmalen Korridor und dann zu der trostlosen, verlassenen Eingangshalle.

»Da ist er!« zeigte Flußwind.

Im schwachen Licht konnten sie gerade noch ein Stückchen von dem roten Gewand um eine Ecke gleiten sehen.

Geräuschlos folgten sie. Der Korridor führte in einen anderen Korridor mit anderen Räumen, die von ihm abzweigten.

»Das war vorher nicht da!« rief Flußwind aus. »Sonst waren hier immer solide Wände.«

»Solide Illusionen«, murrte Tanis. Sie traten in den Korridor und sahen sich neugierig um. Räume mit den gleichen uralten, nicht zusammenpassenden Möbeln wie in ihrem Zimmer gingen zu beiden Seiten ab. Diese Räume waren auch leer, aber alle von dem gleichen seltsamen Licht beleuchtet. Vielleicht war es ein Wirtshaus. Wenn dem so war, dann waren sie offensichtlich die einzigen Kunden und würden vielleicht die einzigen für die nächsten hundert Jahre bleiben.

Sie setzten ihren Weg durch verfallene Korridore und riesige, säulengeschmückte Hallen fort. Es gab keine Zeit, die Umgebung zu untersuchen, nicht während sie dem rotgekleideten Mann folgten, der sich erstaunlich schnell fortbewegte. Zweimal dachten sie, ihn verloren zu haben, nur um dann wieder einen kurzen Blick auf die rote Robe zu erhaschen, die auf einer Wendeltreppe verschwand oder durch einen abzweigenden Gang flatterte.

An solch einer Verbindungsstelle hielten sie einen Moment inne, blickten in zwei abweichende Flure und fühlten sich verloren und enttäuscht.

»Wir teilen uns auf«, entschied Tanis nach einem Moment.

»Aber geht nicht zu weit. Wir treffen uns wieder hier. Wenn du ihn siehst, Flußwind, pfeif einmal. Ich mache das gleiche.«

Flußwind und Goldmond nickten und glitten in den einen Flur, während Tanis und Berem, der praktisch auf seinen Fersen trippelte, den anderen durchsuchten.

Sie fanden nichts. Der Gang führte zu einem großen Saal, der genauso unheimlich beleuchtet war wie alles andere an diesem seltsamen Ort. Sollte er hineingehen oder umkehren? Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, entschied Tanis, einen kurzen Blick in den Saal zu werfen. In dem Raum stand nur ein runder Tisch. Und auf dem Tisch, erkannte er beim Nähertreten, lag eine bemerkenswerte Karte!

Tanis beugte sich über die Karte in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, wo sie waren und was das für ein geheimnisvoller Ort war. Die Karte war eine verkleinerte Wiedergabe einer Stadt! Von einer Kuppel aus klarem Kristall geschützt, war sie so genau im Detail dargestellt, daß Tanis das merkwürdige Gefühl hatte, daß die Stadt unterhalb der Kristallkuppel realer war als diejenige, in der er sich offensichtlich aufhielt.

»Zu schade, daß Tolpan nicht hier ist«, dachte er wehmütig und malte sich die Freude des Kenders aus.

Die Gebäude waren im uralten Stil erbaut; zierliche Türme erhoben sich in den kristallklaren Himmel, Licht funkelte von den weißen Kuppeln. Bogengänge aus Stein spannten sich über die mit Bäumen gesäumten Prachtstraßen. Die Straßen waren wie ein großes Spinnennetz angelegt und führten letztendlich im Stadtkern zusammen.

Berem zerrte nervös an Tanis’ Ärmel, damit zum Ausdruck bringend, daß sie besser gehen sollten. Obwohl er sprechen konnte, war es offensichtlich, daß der Mann sich daran gewöhnt hatte oder es vielleicht vorzog zu schweigen.

»Ja, nur einen Moment«, sagte Tanis widerstrebend. Er hatte nichts von Flußwind gehört, und es bestand immerhin die Möglichkeit, daß diese Karte sie vielleicht aus diesem Ort führen konnte.

Er beugte sich über den Tisch und betrachtete die Miniaturen eingehender. Um den Stadtkern standen große Pavillons und säulengestützte Paläste. Gläserne Kuppeln beschützten Sommerblumen vor dem Winterschnee. Mitten im Herzen der Stadt erhob sich ein Gebäude, das Tanis vertraut vorkam, obwohl er wußte, daß er in seinem Leben niemals in dieser Stadt gewesen war. Dennoch erkannte er es wieder. Noch während er das Gebäude aufmerksam betrachtete und sich zu erinnern versuchte, sträubten sich seine Haare.

Es schien ein Tempel für die Götter zu sein. Und es war das schönste Bauwerk, das er je gesehen hatte, schöner als der Sonnenturm und der Sternenturm in den Elfenkönigreichen. Sieben Türme erstreckten sich in den Himmel, als ob sie die Götter für ihre Erschaffung priesen. Der mittlere Turm war höher als die übrigen, als ob er nicht die Götter pries, sondern mit ihnen im Wettstreit lag. Verwirrte Erinnerungen an seine Elfenlehrer kehrten zurück, brachten ihm Geschichten über die Umwälzung, Geschichten über den Königspriester…

Tanis schrak zurück, ihm stockte der Atem. Berem starrte ihn beunruhigt an, das Gesicht des Halb-Elfen war leichenblaß geworden.

»Was ist denn?« krächzte er ängstlich und klammerte sich an Tanis.

Der Halb-Elf schüttelte den Kopf. Er konnte nicht sprechen. Die entsetzliche Erkenntnis, wo sie waren und was vor sich ging, schlug über ihm zusammen wie die roten Wellen des Blutmeeres.

Verwirrt sah Berem auf die Karte. Die Augen des Mannes weiteten sich, dann kreischte er, ein Kreischen, so wie es Tanis noch nie in seinem Leben gehört hatte. Plötzlich warf Berem sich mit seinem Körper auf die Kristallkuppel und schlug auf sie, als ob er sie zerbrechen wollte.

»Die Stadt der Verdammung!« stöhnte Berem. »Die Stadt der Verdammung.«

Tanis versuchte ihn zu beruhigen, als er Flußwinds schrilles Pfeifen hörte. Er packte Berem und zog ihn vom Tisch weg.

»Ich weiß«, sagte er. »Komm, wir müssen hier raus.«

Aber wie? Wie sollte man aus einer Stadt herauskommen, die angeblich vom Angesicht Krynns verschwunden war? Wie sollte man aus einer Stadt herauskommen, die am Grund des Blutmeeres liegen mußte? Wie sollte man aus…

Als er Berem durch die Tür des Kartenraums schob, blickte Tanis nach oben. Worte waren in Marmor eingemeißelt. Worte über eines der Wunder der Welt. Worte, deren Buchstaben nun schon fast unleserlich und mit Moos bedeckt waren. Aber er konnte sie entziffern.

Willkommen, o edler Besucher, in unserer schönen Stadt. Willkommen in der von den Göttern geliebten Stadt.

Willkommen, geehrter Gast, in Istar.

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