7 Befehlshaber der Ritter von Solamnia

»Zuerst muß ich ein Schriftstück vorlesen, das ich vor wenigen Stunden von Fürst Gunther erhalten habe.« Der Herrscher von Palanthas zog eine Schriftrolle aus den Falten seines feingewebten wollenen Gewandes hervor, breitete sie auf dem Tisch aus und glättete sie sorgfältig mit seinen Händen. Er legte seinen Kopf zurück und starrte darauf, offensichtlich in dem Versuch, sich zu konzentrieren.

Laurana, sicher, daß dies die Antwort auf ihre Botschaft sein mußte, die sie zwei Tage zuvor an Fürst Gunther geschickt hatte, biß sich vor Ungeduld auf die Unterlippe.

»Es ist zerknittert«, sagte Amothud entschuldigend. »Man kann den Greifen, die uns die Elfenlords netterweise geliehen haben« – er verbeugte sich vor Laurana, die die Verbeugung erwiderte und den Drang unterdrückte, den Brief aus seiner Hand zu reißen – »nicht beibringen, diese Schriftrollen zu transportieren, ohne sie zu zerknüllen. Aha, jetzt komme ich klar. Fürst Gunther grüßt Amothud, Herrscher von Palanthas. Charmanter Mann, der Fürst Gunther.« Der Herrscher sah auf.

»Er war erst im letzten Jahr hier, während des Frühlingsfestes, das, nebenbei bemerkt, heuer in drei Wochen stattfindet, meine Liebe. Vielleicht beehrt Ihr unsere Festlichkeiten…«

»Darüber wäre ich sehr erfreut, Herrscher, falls in drei Wochen überhaupt noch jemand lebt«, sagte Laurana, während sie unter dem Tisch ihre Fäuste ballte, um die Beherrschung nicht zu verlieren.

Amothud blinzelte, dann lächelte er nachsichtig. »Gewiß. Die Drachenarmeen. Nun, ich werde weiterlesen. Ich bin wahrhaft betrübt, über den Verlust so vieler aus unserer Ritterschaft zu hören. Laßt uns Trost in dem Wissen finden, daß sie siegreich gestorben sind im Kampf gegen das große Böse, das unser Land verdunkelt. Ich empfinde eine noch größere persönliche Trauer über den Verlust dreier unserer besten Anführer: Derek Kronenhüter, Ritter der Rose, Alfred Merkenin, Ritter des Schwertes, und Sturm Feuerklinge, Ritter der Krone.« Der Herrscher wandte sich an Laurana. »Feuerklinge. Er war Euer enger Freund, nicht wahr, meine Liebe?«

»Ja, mein Herrscher«, murmelte Laurana. Sie neigte ihren Kopf und ließ ihr goldenes Haar nach vorn fallen, um den Schmerz in ihren Augen zu verbergen. Es war noch nicht lange her, daß sie Sturm in der Kammer von Paladin unter den Ruinen des Turms des Oberklerikers beerdigt hatte. Der Verlust schmerzte noch sehr.

»Lest weiter, Herr«, ließ sich Astinus kühl vernehmen. »Ich kann es mir nicht erlauben, so lange meinen Studien fernzubleiben.«

»Gewiß, Astinus.« Der Herrscher errötete. Eilig fuhr er mit dem Lesen fort. »Diese Tragödie läßt die Ritter in ungewöhnlichen Umständen zurück. Erstens besteht die Ritterschaft nun überwiegend aus Rittern der Krone, dem niedrigsten Ritterorden. Das bedeutet, daß zwar alle ihre Prüfungen bestanden und ihre Schilde erkämpft haben, aber trotzdem jung und unerfahren sind. Für die meisten war das die erste Schlacht gewesen. Zweitens läßt uns diese Tragödie auch ohne angemessene Befehlshaber zurück, da nach dem Maßstab jeweils ein Vertreter der drei Ritterorden das Kommando führen muß

Laurana vernahm das schwache Klirren von Rüstungen und das Rasseln von Schwertern, als sich die Ritter unruhig bewegten. Es waren vorläufige Führer, bis die Frage der Befehlsgewalt geklärt war. Sie schloß die Augen und seufzte. Bitte, Gunther, dachte sie, hoffentlich hast du eine kluge Entscheidung getroffen. So viele sind aufgrund politischer Machenschaften gestorben.

»Darum ernenne ich Lauralanthalasa aus dem königlichen Haus der Qualinesti zum Führer über die Ritter…« Der Herrscher hielt einen Moment inne, als ob er glaubte, nicht richtig gelesen zu haben. Laurana riß ihre Augen weit auf und starrte Amothud schockiert und ungläubig an.

Amothud blickte auf die Schriftrolle, um die Stelle noch einmal zu lesen. Aber auf ein ungeduldiges Murmeln von Astinus hin fuhr er fort: »…die zur Zeit die in dieser Hinsicht erfahrenste Person ist und die einzige, die die Drachenlanzen anwenden kann. Um der Glaubwürdigkeit dieses Schreibens willen füge ich mein Siegel bei. Fürst Gunther Uth Wistan, Großmeister der Ritter von Solamnia… und so weiter und so weiter.« Der Herrscher sah auf. »Meine Glückwünsche, meine Liebe – oder vielleicht sollte ich ›General‹ sagen.«

Laurana saß ganz still da. Einen Moment lang war sie so wütend, daß sie am liebsten aus dem Saal gerannt wäre. Erinnerungen kamen ihr – Fürst Alfreds geköpfter Körper, der arme Derek, der im Wahnsinn gestorben war, Sturms leblose Augen, in die Friede eingekehrt war, die aufgereihten Leichname der Ritter, die am Turm gestorben waren… Und jetzt sollte sie die Befehlsgewalt haben. Ein Elfenmädchen aus der königlichen Familie, nach Elfenmaßstab nicht einmal volljährig. Ein verwöhntes kleines Mädchen, das weggelaufen war, um ihrer Jugendliebe Tanis, dem Halb-Elfen nachzulaufen. Dieses verwöhnte kleine Mädchen war erwachsen geworden. Furcht, Schmerz, schwerer Verlust und großes Leid hatten sie älter als ihr Vater werden lassen.

Sie wandte sich um und sah Sir Markham und Sir Patrick Blicke wechseln. Von allen Rittern der Krone hatten diese beiden am längsten gedient. Sie kannte beide als mutige Soldaten und ehrenhafte Männer. Sie hatten mutig um den Turm des Oberklerikers gekämpft. Warum hatte Gunther nicht einen von ihnen ausgewählt?

Sir Patrick erhob sich mit dunklem Gesicht. »Ich kann das nicht akzeptieren«, sagte er mit leiser Stimme. »Lady Laurana ist gewiß eine mutige Kämpferin, aber sie hat niemals Männer ins Feld geführt und kommandiert.«

»Hast du es denn, junger Ritter?« fragte Astinus gelassen. Patrick errötete. »Nein, aber das ist etwas anderes. Sie ist eine Frau…«

»Ach wirklich, Patrick?« lachte Sir Markham. Er war ein sorgloser, unkomplizierter junger Mann – ein bemerkenswerter Gegensatz zu dem strengen und ernsten Patrick. »Haare auf der Brust machen einen noch nicht zum General. Reg dich ab! Das ist Politik! Gunther hat einen klugen Schritt getan.«

Laurana errötete, sie wußte, daß er recht hatte. Sie war eine sichere Wahl. Gunther würde Zeit haben, seine Ritterschaft wieder aufzubauen und sich selbst als Führer zu etablieren.

»Aber so etwas hat es noch nie gegeben!« fuhr Patrick fort und vermied dabei Lauranas Augen. »Ich bin sicher, daß es gemäß dem Maßstab Frauen nicht erlaubt ist, in der Ritterschaft…«

»Du irrst dich«, bemerkte Astinus kategorisch. »Und das gab es schon einmal. Während des Dritten Drachenkrieges wurde eine junge Frau nach dem Tod ihres Vaters und ihrer Brüder in die Ritterschaft aufgenommen. Sie wurde zum Ritter des Schwertes geschlagen und starb ehrenhaft in der Schlacht, betrauert von ihren Kameraden.«

Niemand sprach. Amothud wirkte äußerst verlegen, er wäre bei Sir Markhams Bemerkung über die haarige Brust am liebsten unter dem Tisch verschwunden. Astinus starrte Sir Patrick kühl an. Sir Markham spielte mit seinem Weinglas, warf Laurana lächelnd einen Blick zu. Nach einem kurzen inneren Kampf, der sich deutlich in seinem Gesicht abspielte, setzte sich Sir Patrick mit finsterem Gesicht.

Sir Markham hob sein Glas. »Auf unseren Befehlshaber!«

Laurana reagierte nicht. Sie hatte das Kommando. Kommando worüber? fragte sie sich bitter. Die ruinierten Überreste der Ritter von Solamnia, die nach Palanthas geschickt worden waren; von den Hunderten hatten nicht mehr als fünfzig überlebt. Sie hatten einen Sieg errungen – aber zu welch schrecklichem Preis? Eine Kugel der Drachen war zerstört, der Turm des Oberklerikers lag in Schutt und Asche…

»Ja, Laurana«, sagte Astinus, »sie haben es Euch überlassen, die Scherben aufzuheben.«

Sie sah verwirrt auf, verängstigt über diesen seltsamen Mann, der ihre Gedanken aussprach.

»Ich wollte das nicht so«, murmelte sie wie betäubt.

»Ich glaube nicht, daß einer von uns in diesem Raum um einen Krieg gebetet hat«, bemerkte Astinus sarkastisch. »Aber der Krieg ist eingetreten, und jetzt müßt Ihr das tun, was Ihr tun könnt, um ihn zu gewinnen.« Er erhob sich. Der Herrscher von Palanthas, die Generäle und Ritter standen respektvoll auf. Laurana blieb sitzen, ihre Augen auf ihre Hände gerichtet. Sie spürte, wie Astinus sie anstarrte, und sie weigerte sich dickköpfig, ihn anzusehen.

»Mußt du schon gehen, Astinus?« fragte Amothud traurig.

»Ich muß. Meine Studien warten. Ich war bereits zu lange fort. Ihr habt nun eine Menge Arbeit vor euch, vieles davon ist nüchtern und langweilig. Ihr braucht mich nicht mehr. Und ihr habt euren Anführer.« Er machte mit seiner Hand eine Bewegung.

»Was?« fragte Laurana, die seine Geste aus den Augenwinkeln bemerkt hatte. Jetzt sah sie ihn an, dann fuhren ihre Augen zum Herrscher von Palanthas. »Ich? Das kann nicht Euer Ernst sein. Ich habe nur die Befehlsgewalt über die Ritter…«

»Was dich gleichzeitig zum Befehlshaber der Armee von Palanthas macht, wenn wir uns so entscheiden«, sagte der Herrscher. »Und wenn Astinus Euch empfiehlt…«

»Das tue ich nicht«, erwiderte Astinus barsch. »Ich kann niemanden empfehlen. Ich forme nicht die Geschichte…« Er hielt plötzlich inne, und Laurana war überrascht, die Maske von seinem Gesicht fallen und Trauer und Leid enthüllt zu sehen.

»Das heißt, ich bemühe mich, nicht die Geschichte zu formen. Aber manchmal versage auch ich…« Er seufzte, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und legte seine Maske wieder an.

»Ich habe getan, wozu ich gekommen war – euch ein Wissen über die Vergangenheit zu geben. Es kann für eure Zukunft wichtig sein oder auch nicht.«

Er drehte sich um, um den Raum zu verlassen.

»Warte!« schrie Laurana und erhob sich. Sie wollte auf ihn zugehen, aber sie zauderte, als sie die kalten, strengen Augen auf sich ruhen sah, bedrohlich wie fester Stein. »Du… du siehst alles, was geschieht, so wie es geschieht?«

»Ja.«

»Dann weißt du, wo die Drachenarmeen sind, was sie planen…«

»Pah! Das weißt du genauso gut wie ich.« Astinus wandte sich wieder ab.

Laurana blickte sich schnell im Raum um. Sie sah, daß der Herrscher und die Generäle sie amüsiert beobachteten. Sie wußte, daß sie sich wie das verwöhnte kleine Mädchen benahm, aber sie mußte Antworten haben! Astinus war schon fast an der Tür, die Diener öffneten sie bereits. Laurana warf den anderen einen trotzigen Blick zu, verließ den Tisch und ging schnellen Schrittes über den polierten Marmorboden, über den Saum ihres Kleides stolpernd. Astinus, der sie hörte, hielt nochmals an.

»Ich habe zwei Fragen«, sagte sie leise, als sie ihn erreicht hatte.

»Ja«, antwortete er und starrte in ihre grünen Augen, »eine Frage des Verstandes und eine Frage des Herzens. Stellt die erste.«

»Gibt es noch eine Kugel der Drachen?«

Astinus schwieg einen Moment. Wieder sah Laurana Schmerz in seinen Augen, während sein zeitloses Gesicht plötzlich alt wirkte. »Ja«, sagte er schließlich. »Soviel kann ich dir sagen. Eine existiert noch. Aber es liegt über Euren Fähigkeiten, sie anzuwenden oder sie zu finden. Streicht es aus Euren Gedanken.«

»Tanis hatte eine«, beharrte Laurana. »Bedeutet das, daß er sie verloren hat? Wo…«, sie zögerte, denn das war ihre Herzensfrage, »wo ist er?«

»Streicht es aus Euren Gedanken.«

»Was meinst du damit?« Laurana fröstelte bei der eisigen Stimme des Mannes.

»Ich sehe nicht die Zukunft voraus. Ich sehe nur die Gegenwart, wie sie zur Vergangenheit wird. So habe ich sie seit Beginn der Zeit gesehen. Ich habe Liebe gesehen, die durch die Bereitschaft, alles zu opfern, Hoffnung in die Welt brachte. Ich habe Liebe gesehen, die versuchte, Stolz zu überwinden, und eine Gier nach Macht, die versagte. Die Welt ist düsterer aufgrund ihres Versagens, aber es ist nur so, als ob eine Wolke die Sonne verdunkelte. Die Sonne – die Liebe – bleibt bestehen. Schließlich habe ich Liebe gesehen, die sich in Dunkelheit verliert. Mißverstandene Liebe, weil der Liebende sein – oder ihr – Herz nicht verstand.«

»Du sprichst in Rätseln«, sagte Laurana wütend.

»Wirklich?« fragte Astinus. Er verbeugte sich. »Lebt wohl, Lauralanthalasa. Ich rate Euch, Euch auf Eure Pflichten zu konzentrieren.«

Der Chronist verließ den Raum.

Laurana starrte ihm nach und wiederholte seine Worte: »Liebe, die sich in Dunkelheit verliert.« War es ein Rätsel, oder wußte sie die Antwort und wollte es sich nur nicht eingestehen, wie Astinus angedeutet hatte?

Ich habe Tanis in Treibgut zurückgelassen, um hier nach dem Rechten zu sehen. Kitiara hatte diese Worte gesagt. Kitiara – die Drachenfürstin. Kitiara – die menschliche Frau, die Tanis liebte. Plötzlich verschwand der Schmerz aus Lauranas Herzen – der Schmerz, den sie spürte, seitdem sie Kitiara diese Worte sprechen gehört hatte – und ließ eine eisige Leere zurück, eine dunkle Leere wie die fehlenden Konstellationen am Nachthimmel. Liebe, die sich in Dunkelheit verliert. Tanis war verloren. Das hatte Astinus ihr zu erklären versucht. Konzentriert Euch auf Eure Pflichten. Ja, sie würde sich auf ihre Pflichten konzentrieren, denn das war alles, was ihr geblieben war.

Sie drehte sich um, um dem Herrscher von Palanthas und seinen Generälen gegenüberzutreten, warf ihren Kopf zurück, ihr goldenes Haar glänzte im Licht der Kerzen. »Ich werde die Führerschaft über die Armee übernehmen«, sagte sie mit einer Stimme, die fast so kalt war wie die Leere in ihrer Seele.


»Das ist wahre Steinmetzarbeit!« stellte Flint zufrieden fest, auf den Zinnen der Alten Stadtmauer herumstapfend. »Zwerge haben das gebaut, daran besteht kein Zweifel. Sieh mal, mit welcher Genauigkeit jeder Stein geschnitten ist, wie perfekt er sich in die Mauer einpaßt, keiner gleicht dem anderen.«

»Faszinierend«, sagte Tolpan gähnend. »Haben Zwerge auch diesen Turm gebaut, den wir…«

»Erinnere mich nicht daran!« schnappte Flint. »Zwerge haben nicht die Türme der Erzmagier gebaut. Sie wurden von ihnen selbst gebaut. Sie errichteten sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den Knochen der Welt, als sie die Steine aus der Erde mit ihrer Magie hochhoben.«

»Das ist ja wundervoll!« keuchte Tolpan, der wieder wach wurde. »Ich wünschte, ich hätte dabeisein können. Wie…«

»Es ist nichts«, fuhr der Zwerg laut fort und blickte Tolpan wütend an, »im Vergleich zu der Arbeit der Zwergensteinmetze, die Jahrhunderte damit zubrachten, ihre Kunst zu verfeinern. Jetzt sieh dir diesen Stein an. Sieh dir die Struktur der eingemeißelten Zeichen an…«

»Da kommt Laurana«, sagte Tolpan dankbar, erfreut, seine Lektion in Sachen Zwergenhandwerk überstanden zu haben. Flints Blick wanderte von der Steinmauer zu Laurana, die aus einem riesigen, dunklen Korridor, der zu den Zinnen führte, auf sie zukam. Sie war wieder in die Rüstung gekleidet, die sie auch im Turm des Oberklerikers getragen hatte; das Blut war von der goldverzierten stählernen Brustplatte entfernt worden, die Beulen ausgebessert. Sie ging langsam, ihre Augen waren auf den östlichen Horizont gerichtet, wo sich die Berge wie dunkle Schatten gegen den sternenklaren Himmel abhoben. Das Mondlicht berührte ihr Gesicht. Als Flint sie ansah, seufzte er.

»Sie hat sich verändert«, sagte er leise zu Tolpan. »Und Elfen verändern sich normalerweise niemals. Erinnerst du dich, als wir ihr in Qualinesti begegnet sind? Im Herbst, nur vor sechs Monaten. Es könnte Jahre her sein…«

»Sie ist immer noch nicht über Sturms Tod hinweg. Es ist erst eine Woche her«, sagte Tolpan. Sein spitzbübisches Kendergesicht war ungewöhnlich ernst und nachdenklich.

»Es ist nicht nur das.« Der alte Zwerg schüttelte den Kopf.

»Es muß mit der Begegnung mit Kitiara oben auf der Mauer des Turms des Oberklerikers zusammenhängen. Kitiara muß irgend etwas getan oder gesagt haben. Der Teufel soll sie holen!« schnappte der Zwerg böse. »Ich habe ihr niemals getraut! Nicht einmal in den guten alten Zeiten. Mich überrascht es nicht, sie in der Aufmachung einer Drachenfürstin zu sehen! Ich würde einen Berg mit Stahlmünzen geben, um zu wissen, was sie Laurana gesagt hat, das ihr den letzten Rest gegeben hat. Sie sah aus wie ein Gespenst, als wir sie von der Mauer geholt haben, nachdem Kitiara und ihr blauer Drache verschwunden waren. Ich wette um meinen Bart«, murmelte der Zwerg, »daß es etwas mit Tanis zu tun hatte.«

»Ich kann nicht glauben, daß Kitiara eine Drachenfürstin ist. Sie war immer… immer…«, Tolpan suchte nach Worten, »nun, lustig!«

»Lustig?« fragte Flint mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Vielleicht. Aber auch kalt und selbstsüchtig. O ja, sie war auch charmant, wenn sie wollte.« Flints Stimme wurde leiser. Laurana hätte etwas hören können. »Tanis hat das nie gesehen. Er glaubte immer, unter Kitiaras Oberfläche stecke mehr. Er meinte, nur er allein würde das kennen, ihr zartes Herz, das sie mit einer harten Schale nur zu verbergen suchte. Hah! Sie hat soviel Herz wie diese Steine hier.«

»Was gibt es Neues, Laurana?« fragte Tolpan fröhlich, als das Elfenmädchen sie erreichte.

Laurana lächelte ihre alten Freunde an, aber, wie Flint gesagt hatte, es war nicht mehr das unschuldige, fröhliche Lächeln des Elfenmädchens, das unter den Espen in Qualinesti gewandelt war. Jetzt war ihr Lächeln wie die düstere Sonne in einem kalten Winterhimmel. Es gab Licht, aber keine Wärme, vielleicht weil ihre Augen keine Wärme ausstrahlten.

»Ich bin Befehlshaber der Armee«, sagte sie einfach.

»Herzliche…«, begann Tolpan, aber seine Stimme erstarb beim Anblick ihres Gesichts.

»Es gibt keinen Grund, mich zu beglückwünschen«, sagte Laurana bitter. »Was befehlige ich? Eine Handvoll Ritter, die in einer zerstörten Bastion meilenweit entfernt in den VingaardBergen festsitzen, und tausend Männer, die auf den Mauern dieser Stadt stehen.« Sie ballte ihre behandschuhten Hände, ihre Augen waren auf den östlichen Himmel gerichtet, der die ersten Anzeichen des Morgenlichts zeigte. »Wir sollten schon von hier weg sein! Während die Drachenarmee immer noch verstreut ist und versucht, sich neu zu gruppieren! Wir könnten sie mühelos besiegen. Aber nein, wir wagen uns nicht hinaus in die Ebenen nicht einmal mit den Drachenlanzen. Denn was nützen sie schon gegen Drachen im Flug? Wenn wir eine Kugel der Drachen hätten…«

Sie schwieg einen Moment lang, dann holte sie tief Luft. Ihr Gesicht verhärtete sich. »Nun, wir haben keine. Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken. So stehen wir also hier, auf den Zinnen von Palanthas, und warten auf den Tod.«

»Nun komm, Laurana«, wandte Flint ein, nachdem er sich geräuspert hatte, »vielleicht steht die Lage gar nicht so schlecht. Diese Stadt ist von guten, soliden Mauern umgeben. Tausend Männer können sie mühelos halten. Die Gnome mit ihren Katapulten bewachen den Hafen. Die Ritter bewachen den einzigen Paß durch die Vingaard-Berge, und wir haben Männer zur Verstärkung nachgeschickt. Und wir haben die Drachenlanzen – zumindest einige, und Gunther hat uns benachrichtigt, daß weitere unterwegs sind. Wir können Drachen im Flug nicht angreifen? Sie werden zweimal darüber nachdenken, die Mauern zu überfliegen…«

»Es reicht aber nicht, Flint!« seufzte Laurana. »Ja, sicher, wir können die Drachenarmee vielleicht eine Woche oder zwei abwehren, vielleicht sogar einen Monat. Aber was dann? Was geschieht mit uns, wenn sie das Land um uns kontrollieren? Alles, was wir gegen die Drachen tun können, ist, uns selbst an sicheren kleinen Zufluchtsorten zu verbarrikadieren. Aber dann wird diese Welt nichts anderes sein als winzige Inseln des Lichts, umgeben von riesigen Ozeanen der Dunkelheit. Und dann wird uns alle die Dunkelheit Schritt für Schritt verschlingen.«

»Wann hast du das letzte Mal geschlafen?« fragte Flint plötzlich streng.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Mein Wachsein und Schlafen scheinen ineinander überzugehen. Die Hälfte der Zeit gehe ich in einem Traum, und die andere Hälfte schlafe ich durch die Wirklichkeit.«

»Dann schlaf jetzt«, sagte der Zwerg mit einer Stimme, die Tolpan als seine Großvaterstimme bezeichnete. »Wir gehen auch schlafen. Unsere Wache ist fast zu Ende.«

»Ich kann nicht«, sagte Laurana, während sie sich die Augen rieb. Der Gedanke an Schlaf ließ ihr plötzlich bewußt werden, wie erschöpft sie eigentlich war. »Ich wollte euch sagen, daß wir Berichte erhalten haben, daß Drachen gesichtet wurden, die weiter westlich über die Stadt Kalaman geflogen sind.«

»Dann steuern sie also in unsere Richtung«, sagte Tolpan, der in seinem Kopf eine Landkarte entwarf.

»Von wem sind diese Berichte?« fragte der Zwerg argwöhnisch.

»Die Greife. Jetzt knurr nicht darüber.« Laurana lächelte leicht über den Anblick des angewiderten Zwergs. »Die Greife sind uns eine große Hilfe. Auch wenn die Elfen nicht mehr als ihre Greife gegen diesen Krieg beisteuern, dann haben sie trotzdem eine Menge getan.«

»Greife sind dumme Tiere«, stellte Flint klar. »Ich traue ihnen genauso wenig, wie ich Kendern traue. Außerdem«, fuhr der Zwerg fort und ignorierte Tolpans beleidigten Blick, »macht es keinen Sinn. Die Drachenfürsten schicken keine Drachen zum Angriff ohne Armeen im Gefolge…«

»Vielleicht sind die Armeen gar nicht so unorganisiert, wie wir gehört haben.« Laurana seufzte müde. »Oder vielleicht hat man die Drachen geschickt, damit sie ihre Wut auslassen, Chaos verursachen, die Stadt demoralisieren, das umgebende Land in Schutt und Asche legen. Ich weiß es nicht. Schaut mal, die Nachricht hat sich herumgesprochen!«

Flint blickte sich um. Jene Soldaten, die dienstfrei hatten, standen immer noch an ihren Plätzen und starrten nach Osten zu den Bergen. Sie unterhielten sich mit leisen Stimmen; andere gesellten sich zu ihnen, die gerade erwacht waren und die Neuigkeiten erfuhren.

»Das habe ich befürchtet.« Laurana seufzte. »Das wird eine Panik auslösen! Ich habe Amothud gebeten, die Nachricht geheimzuhalten, aber die Palanthianer sind nicht daran gewöhnt, etwas geheimzuhalten! Schaut, was habe ich euch gesagt?«

Als sie von der Mauer hinuntersahen, konnten die Freunde beobachten, wie sich die Straßen mit Leuten – halbangezogen, verschlafen, verängstigt – füllten. Laurana konnte sich vorstellen, wie sich die Gerüchte verbreiteten, als die Palanthianer von Haus zu Haus liefen.

Sie biß sich auf die Lippen, ihre grünen Augen flackerten vor Wut. »Jetzt muß ich Männer von den Mauern abziehen, damit sie diese Leute in ihre Häuser schaffen. Ich kann sie nicht auf den Straßen lassen, wenn die Drachen angreifen! Ihr Männer, folgt mir!« Sie machte einer in der Nähe stehenden Gruppe von Soldaten Zeichen und eilte davon. Flint und Tolpan sahen ihr nach, als sie die Treppen hinunter – und auf den Palast des Herrschers zulief. Bald sahen sie bewaffnete Patrouillen durch die Straßen ziehen, die versuchten, die Leute in ihre Häuser zu treiben und die aufkommende Panik zu unterdrücken.

»Das bringt es auch!« knurrte Flint, denn die Straßen füllten sich noch mehr.

Tolpan, der auf einem Steinblock stand und über die Mauer starrte, schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle mehr!« flüsterte er verzweifelt. »Flint, schau…«

Der Zwerg kletterte eilig zu seinem Freund hoch. Männer schrien und griffen nach Bogen und Speeren. Hier und dort konnte man die mit Widerhaken versehenen silbernen Spitzen einer Drachenlanze sehen, die im Fackellicht aufblitzte.

»Wie viele?« fragte Flint mit einem schrägen Seitenblick.

»Zehn«, antwortete Tolpan leise. »Zwei Scharen. Große Drachen. Vielleicht die roten, die wir in Tarsis gesehen haben. Ich kann ihre Farbe nicht erkennen, aber ich kann Reiter auf ihnen sehen. Vielleicht ein Drachenfürst. Vielleicht Kitiara… Donnerwetter«, sagte Tolpan, von einem plötzlichen Einfall überrascht. »Ich hoffe, daß ich dieses Mal mit ihr sprechen kann. Es muß interessant sein, ein Drachenfürst zu sein…«

Seine Worte gingen in dem Glockengeläut unter, das von allen Türmen in der Stadt erscholl. Die Leute in den Straßen sahen zu den Mauern hoch, wo die Soldaten zeigten und schrien. Tief unter sich konnte Tolpan Laurana erkennen, die aus dem Palast mit dem Herrscher und zweien seiner Generäle auftauchte. Der Kender sah an Lauranas hochgezogenen Schultern, daß sie zornig war. Sie deutete auf die Palastglocken, offenbar wollte sie, daß das Geläut aufhörte. Aber es war bereits zu spät. Die Bevölkerung von Palanthas drehte vor Entsetzen durch. Und die meisten der unerfahrenen Soldaten waren beinahe im selben Zustand wie die Zivilisten. Düstere Erinnerungen an Tarsis kamen Tolpan – zu Tode getrampelte Leute in den Straßen, in Flammen explodierende Gebäude.

Der Kender drehte sich langsam um. »Ich glaube, ich möchte nicht mit Kitiara sprechen«, sagte er leise und fuhr sich mit der Hand über die Augen, während er die Drachen immer näher herankommen sah. »Ich möchte nicht wissen, wie es ist, ein Drachenfürst zu sein, weil es bestimmt traurig und düster und entsetzlich ist… Warte…«

Tolpan starrte in den Osten. Er wollte seinen Augen nicht trauen, darum lehnte er sich weiter vor, gefährlich weit über die Mauer.

»Flint!« schrie er und fuchtelte mit den Armen.

»Was ist denn?« schnappte Flint. Er ergriff Tolpan am Gürtel seiner Hose und zog den aufgeregten Kender mit einem Ruck zurück.

»Es ist wie ein Pax Tarkas!« babbelte Tolpan zusammenhanglos. »Wie in Humas Grabmal. Wie Fizban gesagt hatte! Sie sind hier! Sie kommen!«

»Wer ist hier?« brüllte Flint zornig.

Tolpan hüpfte vor Aufregung auf und ab, seine Beutel sprangen auf und ab, während er sich, ohne eine Antwort zu geben, umdrehte und fortsauste und den Zwerg vor Wut kochend auf den Stufen zurückließ, der ihm nachschrie: »Wer ist hier, du Rattenhirn?«

»Laurana!« kreischte Tolpan mit seiner schrillen Stimme, die sich wie eine leicht verstimmte Trompete in die Morgenluft riß.

»Laurana, sie kommen! Sie sind hier! Wie Fizban gesagt hat! Laurana!«

Flint verfluchte den Kender, während er weiter in den Osten starrte. Nachdem der Zwerg sich schnell umgeschaut hatte, ließ er eine Hand in seine Westentasche gleiten. Eilig holte er eine Brille hervor, sah sich noch einmal um, ob ihn auch niemand beobachtete, und setzte sie auf.

Jetzt konnte er erkennen, was vorher nichts weiter als ein rosafarbener Nebel gewesen war, durchbrochen von den dunkleren Massen der Bergkette. Der Zwerg holte tief und zitternd Luft. Seine Augen wurden von Tränen getrübt. Schnell nahm er die Brille von der Nase, ließ sie schnell in seiner Tasche verschwinden. Aber er hatte sie lang genug aufgehabt, um zu sehen, wie die Morgendämmerung von den Flügeln der Drachen in einem rosafarbenen Licht berührt wurde – Rosa, das silbern glänzte.

»Legt eure Waffen weg, Burschen!« schrie Flint den Männern zu, während er sich die Augen mit einem von Tolpans Taschentüchern wischte. »Gepriesen sei Reorx. Jetzt haben wir eine Chance. Jetzt haben wir eine Chance…«

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