17 Dunkle Ereignisse

»Papa! Papa!«

»Was ist denn, Klein-Roger?« Der Fischer, an die aufgeregten Rufe seines jungen Sohnes gewohnt, der gerade alt genug war, um die Wunder der Welt zu entdecken, hob seinen Kopf nicht von der Arbeit. In der Erwartung, etwas über einen gestrandeten Seestern oder einen verlorengegangenen Schuh zu hören, arbeitete er weiter an seinem Netz, als der kleine Junge zu ihm stürzte.

»Papa«, sagte das Kind und grabschte ungeduldig nach dem Knie seines Vaters, »eine schöne Dame.«

»Häh?« fragte der Fischer geistesabwesend.

»Eine schöne Dame. Ertrunken«, wiederholte der kleine Junge ernst und zeigte mit einem Finger in eine bestimmte Richtung. Der Fischer hielt in seiner Arbeit inne und starrte seinen Sohn an. Das war etwas Neues.

»Eine schöne Dame? Ertrunken?«

Das Kind nickte und zeigte wieder zum Strand.

Der Fischer blinzelte gegen die grelle Mittagssonne und spähte zum Strand. Dann sah er wieder zu seinem Sohn, seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Ist das wieder eine Geschichte von Klein-Roger?« fragte er.

»Wenn das so ist, wirst du dein Abendessen im Stehen einnehmen.«

Das Kind schüttelte mit großen Augen den Kopf. »Nein«, sagte es und kratzte, in Erinnerungen verloren, sein Hinterteil.

»Ich verspreche es.«

Der Fischer runzelte die Stirn, dann sah er zum Meer. In der letzten Nacht hatte es einen Sturm gegeben, aber er hatte nichts gehört, kein Schiff, das gegen die Klippen getrieben worden wäre. Vielleicht waren gestern Leute aus der Stadt mit ihren dummen Vergnügungsbooten draußen gewesen und gestrandet. Oder, noch schlimmer, jemand war umgebracht worden. Es wäre nicht die erste Leiche, die mit einem Messer im Herzen an Land gespült worden wäre.

Er winkte seinem ältesten Sohn zu, der Wasser aus dem Beiboot schöpfte, legte seine Arbeit beiseite und erhob sich. Er wollte gerade den kleinen Jungen zu seiner Mutter schicken, als ihm einfiel, daß er das Kind als Führer brauchte.

»Bring uns zu der schönen Dame«, befahl der Fischer und warf seinem anderen Sohn einen bedeutungsvollen Blick zu. Klein-Roger zog ungeduldig seinen Vater nach vorn, dann rannte er zum Strand zurück, während sein Vater und sein älterer Bruder langsamer folgten, ängstlich, was sie vorfinden würden.

Sie waren nur einige Meter gegangen, als sich dem Fischer ein Anblick bot, der ihn zum Laufen brachte, sein älterer Sohn stapfte hinterher.

»Schiffbruch. Kein Zweifel!« keuchte der Fischer.

»Verdammte Landratten! Keinen Verstand, mit diesen Nussschalen hinauszufahren.«

Nicht nur eine schöne Dame lag am Strand, sondern zwei. Neben ihnen lagen vier Männer. Alle waren elegant gekleidet. Holzstücke lagen verstreut herum, offensichtlich die Reste eines jener Vergnügungsboote.

»Ertrunken«, sagte der kleine Junge und beugte sich nieder, um eine der schönen Damen zu streicheln.

»Nein, sind sie nicht!« knurrte der Fischer, der den Puls am Hals der Frau untersuchte. Einer der Männer begann sich bereits zu bewegen – ein älterer Mann, ungefähr fünfzig Jahre alt, setzte sich auf und blickte sich verwirrt um. Als er den Fischer bemerkte, zuckte er angstvoll zusammen, kroch auf Händen und Knien zu einem seiner bewußtlosen Gefährten und schüttelte ihn.

»Tanis, Tanis!« schrie der Mann dem bärtigen Mann zu, der sich plötzlich aufsetzte.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Fischer, der die Beunruhigung des bärtigen Mannes sah. »Wir wollen nur helfen, wenn wir können. David, lauf zurück und hol Mama. Sie soll Decken und die Flasche Brandy, die ich noch vom Weihnachtsfest habe, mitbringen. Hier, Herrin«, sagte er sanft und half einer der Frauen, sich hinzusetzen. »Nimm es leicht. Es ist alles in Ordnung. Seltsame Sache…«, murmelte der Fischer zu sich, als er die Frau in seinen Armen hielt und ihr tröstend auf die Schulter klopfte. »Ihr wäret fast ertrunken, aber keiner von euch scheint Wasser geschluckt…«

In Decken gehüllt, wurden die Schiffbrüchigen zu dem kleinen Haus des Fischers in der Nähe des Strandes geführt. Hier verabreichte man ihnen Brandy und jedes andere Mittel, das die Frau des Fischers bei fast Ertrunkenen für notwendig erachtete. Klein-Roger betrachtete sie alle mit Stolz. Er wußte, daß sein »Fang« eine Woche lang Dorfgespräch sein würde.

»Vielen Dank nochmals für eure Hilfe«, sagte Tanis.

»Ich bin froh, daß ich da war«, sagte der Mann mürrisch.

»Aber paßt auf. Wenn ihr wieder mit einem kleinen Boot hinausfahrt, kehrt sofort beim ersten Anzeichen eines Sturms um.«

»Äh, ja, ich… wir werden daran denken«, sagte Tanis verwirrt. »Nun, wenn du uns sagen könntest, wo wir sind…«

»Nördlich von der Stadt«, sagte der Fischer. »Ungefähr zwei, drei Meilen. David kann euch im Pferdewagen mitnehmen.«

»Das ist sehr nett von euch«, sagte Tanis, zögerte und sah zu den anderen. Caramon zuckte die Schultern. »Äh, ich weiß, es klingt komisch, aber wir… wir waren vom Kurs abgekommen. Welche Stadt ist nördlich?«

»Nun, Kalaman«, sagte der Fischer, der sie nun argwöhnisch musterte.

»Oh!« sagte Tanis. Er lachte schwach und wandte sich zu Caramon. »Was habe ich dir gesagt! Wir… äh… sind nicht so weit vom Kurs abgekommen, wie du gedacht hast.«

»Sind wir nicht?« fragte Caramon mit aufgerissenen Augen.

»O ja, sind wir nicht«, fügte er hastig hinzu, als Tika ihren Ellbogen in seine Rippen drückte. »Ja, ja, ich habe mich wohl geirrt, wie immer. Du kennst mich, Tanis, ich finde mich nie zurecht…«

»Jetzt übertreib nicht!« murmelte Flußwind, und Caramon verstummte.

Der Fischer musterte sie mit einem finsteren Blick. »Ihr seid komische Vögel, kein Zweifel«, sagte er. »Erst könnt ihr euch nicht erinnern, wie ihr hier gestrandet seid. Jetzt wißt ihr nicht einmal, wo ihr seid. Ich schätze, ihr wart alle stockbetrunken, aber das soll nicht meine Sache sein. Wenn ihr meinen Rat hören wollt, sollte keiner von euch jemals wieder einen Fuß in ein Boot setzen, betrunken oder nüchtern. David, hol den Wagen.«

Der Fischer warf ihnen einen letzten verärgerten Blick zu, hob seinen kleinen Sohn auf seine Schultern und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Sein älterer Sohn verschwand, vermutlich, um den Wagen zu holen.

Tanis seufzte und sah seine Freunde an.

»Weiß jemand von euch, wie wir hierher gekommen sind?« fragte er. »Oder warum wir so gekleidet sind?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Ich erinnere mich an das Blutmeer und den Mahlstrom«, sagte Goldmond. »Aber alles andere kommt mir wie ein Traum vor.«

»Ich erinnere mich an Raist…«, sagte Caramon leise, sein Gesicht war ernst. Als er Tikas Hand spürte, sah er zu ihr. Sein Gesichtsausdruck wurde weicher. »Und ich erinnere mich…«

»Pst«, sagte Tika und errötete. Caramon küßte ihre roten Locken. »Es war kein Traum«, murmelte sie.

»Ich erinnere mich auch an einiges«, sagte Tanis grimmig, mit einem Blick zu Berem. »Aber es ist zusammenhanglos, zerstückelt. Ich kann die Teile nicht zusammenfügen. Nun, es hat keinen Sinn zurückzublicken. Wir müssen nach vorn sehen. In Kalaman werden wir herausfinden, was passiert ist. Ich weiß nicht einmal, welchen Tag wir heute haben! Oder welchen Monat. Dann…«

»Palanthas«, sagte Caramon. »Wir gehen nach Palanthas.«

»Mal sehen«, antwortete Tanis seufzend. David kam mit dem Wagen zurück, der von einer dürren Mähre gezogen wurde. Der Halb-Elf sah Caramon an. »Bist du dir wirklich sicher, daß du deinen Bruder finden möchtest?« fragte er leise.

Caramon antwortete nicht.

Die Gefährten erreichten gegen Mittag Kalaman.

»Was ist los?« fragte Tanis David, während der junge Mann den Wagen durch die Straßen der Stadt fuhr. »Ist hier ein Fest?«

Die Straßen waren mit Menschen überfüllt. Die meisten Geschäfte waren geschlossen. Alle standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich aufgeregt.

»Es sieht mehr wie eine Beerdigung aus«, sagte Caramon.

»Irgendeine hochstehende Persönlichkeit muß gestorben sein.«

»Das… oder Krieg«, murmelte Tanis. Frauen weinten, Männer blickten traurig oder wütend, Kinder standen herum und starrten ängstlich ihre Eltern an.

»Krieg kann es nicht sein, Herr«, sagte David, »und das Frühlingsfest war erst vor zwei Tagen. Weiß nicht, was los ist. Nur eine Minute. Ich kann es herausfinden.« Er brachte das Pferd zum Halten.

»Geh nur«, sagte Tanis. »Aber nur eine Minute. Warum kann es kein Krieg sein?«

»Nun, wir haben den Krieg gewonnen!« David starrte Tanis erstaunt an. »Bei den Göttern, Herr, mußt du aber betrunken gewesen sein, daß du das vergessen hast. Der Goldene General und die guten Drachen…«

»Ach ja«, unterbrach Tanis eilig.

»Ich halte hier am Fischmarkt an«, sagte David und sprang vom Wagen. »Sie werden es wissen.«

»Wir kommen mit dir.« Tanis machte den anderen Zeichen.

»Was gibt’s Neues?« rief David, während er auf eine Gruppe von Männern und Frauen zulief, die vor einem Geschäft standen.

Einige Männer drehten sich sofort um und sprachen alle auf einmal. Tanis, der hinter dem Jungen ging, fing nur Bruchstücke der aufgeregten Unterhaltung auf. »Goldener General gefangengenommen!… Stadt dem Untergang geweiht… Leute fliehen… böse Drachen…«

Die Gefährten verstanden absolut nichts. Die Leute schienen nur widerstrebend in Anwesenheit von Fremden reden zu wollen – warfen ihnen düstere, mißtrauische Blicke zu, besonders in Anbetracht ihrer eleganten Kleidung.

Die Gefährten dankten David noch einmal für die Mitnahme in die Stadt, dann ließen sie ihn bei seinen Freunden zurück. Nach einer kurzen Diskussion entschieden sie, zum Marktplatz zu gehen, in der Hoffnung, mehr Einzelheiten über die Ereignisse zu erfahren. Die Menge wurde immer dichter, je weiter sie gingen, bis sie sich schließlich ihren Weg durch die vollen Straßen bahnen mußten. Die Leute rannten hin und her, fragten nach den neuesten Nachrichten, schüttelten verzweifelt die Köpfe. Gelegentlich sahen sie Stadtbewohner mit schnell zusammengepackten Bündeln auf die Stadttore zusteuern.

»Wir sollten uns Waffen kaufen«, schlug Caramon grimmig vor. »Die Neuigkeiten klingen nicht gut. Wer ist wohl dieser Goldene General? Die Leute scheinen eine Menge von ihm zu halten, wenn sein Verschwinden sie in solch eine Unruhe versetzt.«

»Wahrscheinlich ein Ritter von Solamnia«, antwortete Tanis.

»Und du hast recht, wir sollten uns Waffen kaufen.« Er faßte in seinen Gürtel. »Verdammt! Ich hatte eine Börse mit lustigen alten Münzen, aber sie ist verschwunden! Als ob wir nicht schon genug Ärger hätten…«

»Warte mal!« knurrte Caramon und faßte an seinen Gürtel.

»Was ist das… Meine Börse war hier noch vor einer Sekunde!«

Er wirbelte herum und erhaschte einen Blick auf eine kleine Gestalt, die mit einer verschlissenen Börse in der Hand in der Menge untertauchte. »He! Du! Die gehört mir!« brüllte Caramon. Die Leute grob auseinanderschiebend, sprang er dem kleinen Dieb nach. Er streckte seine riesige Hand aus, bekam eine Wollweste zu packen und hob die sich windende Gestalt hoch. »Jetzt gib sie mir zurück…« Der riesige Krieger keuchte.

»Tolpan!«

»Caramon!« schrie Tolpan.

Caramon ließ ihn vor Erstaunen fallen. Tolpan blickte wild um sich. »Tanis!« schrie er, als er den Halb-Elfen durch die Menge kommen sah. »O Tanis!« Tolpan lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Der Kender vergrub sein Gesicht in Tanis’

Gewand und brach in Tränen aus.

Die Bewohner von Kalaman standen auf den Mauern ihrer Stadt. Noch vor wenigen Tagen hatten sie dasselbe getan, nur war ihre Stimmung festlich gewesen, als die Ritter und die guten Drachen ihren triumphalen Einzug in die Stadt hielten. Jetzt waren sie gedämpft, grimmig vor Verzweiflung. Sie sahen über die Ebenen, als die Sonne den Zenit erreicht hatte. Es war gleich Mittag. Sie warteten schweigend.

Tanis stand neben Flint, seine Hand ruhte auf der Schulter des Zwerges. Der alte Zwerg war beim Anblick seines Freundes fast zusammengebrochen.

Es war ein trauriges Wiedersehen gewesen. Eilig und mit gebrochenen Stimmen hatten Flint und Tolpan abwechselnd ihren Freunden erzählt, was seit ihrer Trennung in Tarsis einige Monate vorher geschehen war. So erfuhren die Gefährten von der Entdeckung der Drachenlanzen, der Zerstörung der Kugel der Drachen und Sturms Tod.

Tanis senkte seinen Kopf, vom Kummer über die Neuigkeiten überwältigt. Einen Moment lang konnte er sich die Welt ohne seinen ehrenhaften Freund nicht vorstellen. Als Flint Tanis’

Kummer sah, begann er, über Sturms großartigen Sieg und den Frieden, den er im Tod gefunden hatte, zu berichten.

»Er ist jetzt in Solamnia ein Held«, sagte Flint. »Sie erzählen sich bereits Geschichten über ihn, so wie sie es bei Huma machen. Sein großes Opfer hat die Ritterschaft gerettet, so wird erzählt. Er hätte nichts anderes gewollt, Tanis.«

Der Halb-Elf nickte stumm. Dann versuchte er zu lächeln.

»Erzähl weiter«, sagte er. »Was hat Laurana getan, als sie in Palanthas ankam? Und ist sie immer noch da? Wenn dem so ist, wir dachten daran…«

Flint und Tolpan tauschten Blicke. Der Zwerg ließ seinen Kopf hängen. Der Kender sah weg, schniefte und schneuzte in ein Taschentuch.

»Was ist los?« fragte Tanis mit einer Stimme, die er nicht als seine wiedererkannte. »Sagt es mir.«

Langsam erzählte Flint die Geschichte. »Es tut mir leid, Tanis«, keuchte der Zwerg. »Ich habe sie im Stich gelassen…«

Der alte Zwerg begann so erbärmlich zu schluchzen, das Tanis’ Herz vor Leid schmerzte. Er drückte seinen Freund eng an sich.

»Es war nicht deine Schuld«, sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Es ist meine, wenn sie überhaupt jemanden trifft. Für mich hat sie Tod und Schlimmeres riskiert.«

»Wenn du anfängst, die Schuld zu suchen, wirst du mit dem Verfluchen der Götter aufhören«, sagte Flußwind und legte seine Hand auf Tanis’ Schulter. »So heißt es bei meinem Volk.«

Tanis war nicht getröstet. »Um welche Zeit wird die… die Finstere Herrin kommen?«

»Mittags«, sagte Tolpan leise.

Jetzt war es fast soweit, und Tanis stand mit den anderen Stadtbewohnern auf der Mauer und wartete auf die Ankunft der Finsteren Herrin. Gilthanas stand etwas abseits von Tanis, ihn deutlich ignorierend. Der Halb-Elf konnte ihm keine Schuld geben. Gilthanas wußte, warum Laurana gegangen war, er wußte, welchen Köder Kitiara benutzt hatte, um seiner Schwester eine Falle zu stellen. Als er Tanis kühl gefragt hatte, ob er wirklich mit der Drachenfürsten Kitiara zusammengewesen war, konnte Tanis das nicht abstreiten.

»Dann mache ich dich für alles verantwortlich, was Laurana zustößt«, hatte Gilthanas gesagt, seine Stimme hatte vor Wut gebebt. »Und ich werde jede Nacht zu den Göttern beten, egal, welch grausames Schicksal sie treffen wird, daß du das gleiche haben wirst – nur hundertmal schlimmer!«

»Glaubst du nicht, daß ich solch ein Schicksal dankbar annehmen würde, wenn es sie zurückbrächte!« hatte Tanis gequält geschrien. Aber Gilthanas hatte sich nur abgewendet. Jetzt begannen die Leute zu murmeln und zu zeigen. Ein dunkler Schatten war am Himmel sichtbar – ein blauer Drache.

»Das ist ihr Drache«, sagte Tolpan feierlich. »Ich habe ihn am Turm des Oberklerikers gesehen.«

Der blaue Drache kreiste träge über der Stadt, dann landete er gemächlich in Schußweite von der Stadtmauer. Ein tödliches Schweigen senkte sich über die Stadt, als der Reiter des Drachen sich aus den Bügeln erhob. Die Finstere Herrin nahm ihren Helm ab und begann zu sprechen. Ihr Stimme schallte durch die klare Luft.

»Ihr wißt, daß wir die Elfenfrau, die ihr den Goldenen General nennt, gefangengenommen haben!« rief Kitiara. »Falls ihr einen Beweis haben wollt, so kann ich euch das hier zeigen.«

Sie hob ihre Hand. Tanis sah das Sonnenlicht auf einem wunderschön gearbeiteten silbernen Helm blitzen. »In meiner anderen Hand halte ich eine Locke ihres goldenen Haares, die ihr aber jetzt nicht sehen könnt. Ich werde beide Beweise hier liegenlassen, wenn ich verschwinde, damit ihr ein Erinnerungsstück von eurem General habt.«

Von den Leuten auf den Mauern kam wildes Gemurmel.

Kitiara hörte einen Moment lang zu sprechen auf und musterte sie kalt. Als Tanis sie beobachtete, grub er seine Nägel tief in sein Fleisch, um ruhig zu bleiben. Er hatte einen verrückten Plan entwickelt, er wollte von der Mauer springen und sie angreifen.

Goldmond, die seinen wahnsinnigen, verzweifelten Blick bemerkte, trat zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie spürte seinen Körper zittern, dann versteifte er sich bei ihrer Berührung. Dann hatte er sich wieder gefaßt. Als sie auf seine zusammengeballten Hände sah, war sie entsetzt zu sehen, daß Blut an seinen Handgelenken entlangtröpfelte.

»Das Elfenmädchen, Lauralanthalasa, wurde nach Neraka zur Königin der Finsternis gebracht. Sie wird dort bei der Königin als Geisel bleiben, bis die folgenden Bedingungen erfüllt sind. Erstens verlangt die Königin, daß ihr sofort ein Mensch namens Berem oder Ewigan ausgeliefert wird. Zweitens verlangt sie, daß die guten Drachen nach Sanction zurückkehren, wo sie sich freiwillig Lord Ariakus stellen. Schließlich wird der Elfenlord Gilthanas den Rittern von Solamnia und den Elfen, sowohl den Qualinesti als auch den Silvanesti, übermitteln, daß sie die Waffen niederzulegen haben. Der Zwerg Flint Feuerschmied wird dieselbe Forderung seinem Volk überbringen.«

»Das ist Wahnsinn!« schrie Gilthanas als Antwort, trat zum Mauerrand vor und starrte auf die Finstere Herrin. »Wir können uns mit diesen Forderungen nicht einverstanden erklären! Wir wissen nicht, wer dieser Berem ist oder wo er sich aufhält. Ich kann weder für mein Volk noch für die guten Drachen sprechen. Diese Forderungen sind völlig unvernünftig!«

»Die Königin ist alles andere als unvernünftig«, gab Kitiara freundlich zurück. »Ihre Dunkle Majestät haben vorausgesehen, daß für die Erfüllung dieser Forderungen Zeit nötig sein wird. Euch bleiben drei Wochen. Wenn ihr bis dahin nicht den Mann Berem gefunden habt, der sich unserer Meinung nach in der Gegend um Treibgut aufhält, und wenn ihr nicht die guten Drachen weggeschickt habt, werde ich zurückkommen, und dann werdet ihr mehr als nur eine Haarlocke von eurem General an den Toren von Kalaman vorfinden.«

Kitiara hielt inne.

»Ihr werdet ihren Kopf vorfinden.«

Damit warf sie den Helm vor ihrem Drachen auf den Boden. Auf ein Wort von ihr spreizte Skie seine Flügel und erhob sich in die Luft.

Lange Zeit sprach niemand ein Wort oder bewegte sich. Die Leute starrten auf den Helm, der vor der Mauer lag. Die roten Bänder, die am Helm flatterten, schienen die einzige Bewegung zu sein, die einzige Farbe. Dann schrien einige vor Entsetzen auf und zeigten nach vorn.

Am Horizont tauchte etwas Unglaubliches auf. Der Anblick war so schrecklich, daß anfangs jeder glaubte, der Wahnsinn wäre über ihn gekommen. Aber das Etwas trieb immer näher, und alle waren gezwungen, seine Existenz zuzugeben, was ihr Entsetzen nicht minderte.

Denn die Bewohner von Krynn hatten zum erstenmal Lord Ariakus’ genialste Kriegsmaschine gesehen – die Fliegende Zitadelle.

In den Tiefen der Tempel von Sanction wirkend, hatten die schwarzgewandeten Magier und dunklen Kleriker eine Burg aus ihren Fundamenten gerissen und in die Luft gesetzt. Jetzt, auf dunklen, grauen Sturmwolken schwebend, beleuchtet von gezackten Widerhaken weißer Blitze, umgeben von hundert Scharen roter und schwarzer Drachen, ragte die Zitadelle über Kalaman, löschte die Sonne aus und warf ihre schrecklichen Schatten auf die Stadt.

Die Leute flohen entsetzt von den Mauern. Drachenangst breitete sich aus, löste Panik und Verzweiflung aus bei allen, die in Kalaman lebten. Aber die Drachen an der Zitadelle griffen nicht an. Drei Wochen hatte ihre Dunkle Königin befohlen. Sie würden diesen erbärmlichen Menschen drei Wochen geben. Und sie würden aufpassen, daß in diesen drei Wochen die Ritter und die guten Drachen nicht zuerst angriffen.

Tanis wandte sich den Gefährten zu, die auf der Mauer zusammenstanden und düster zur Zitadelle starrten. An die Wirkungen der Drachenangst gewöhnt, waren sie in der Lage gewesen, ihr zu widerstehen, und nicht wie die Bewohner Kalamans in Panik geflohen. Nun standen sie allein auf der Mauer.

»Drei Wochen«, sagte Tanis laut, und seine Freunde wandten sich ihm zu.

Zum ersten Mal, seit sie Treibgut verlassen hatten, sahen sie sein Gesicht vom Wahnsinn der Selbstbeschuldigung befreit. In seinen Augen lag Friede, so wie Flint ihn in Sturms toten Augen gesehen hatte.

»Drei Wochen«, wiederholte Tanis mit ruhiger Stimme, die Flint schaudern ließ. »Uns bleiben drei Wochen. Das sollte ausreichen. Ich werde nach Neraka zur Dunklen Königin gehen.« Seine Augen fuhren zu Berem, der schweigend neben ihm stand. »Und du kommst mit mir.«

Berems Augen waren vor blankem Entsetzen weit aufgerissen.

»Nein!« wimmerte er und wich zurück. Caramon, der sah, daß der Mann weglaufen wollte, streckte seine riesige Hand aus und packte ihn.

»Du gehst mit mir nach Neraka«, sagte Tanis mit weicher Stimme, »oder ich übergebe dich gleich Gilthanas. Der Elfenlord liebt seine Schwester über alles. Er würde nicht zögern, dich der Königin der Finsternis auszuliefern, wenn er meint, daß er Laurana dadurch freibekommt. Du und ich wissen es besser. Wir wissen, daß es wenig ändern würde, wenn man dich ausliefern würde. Aber er weiß es nicht. Er ist ein Elf, und er würde glauben, daß sie ihre Versprechen hält.«

Berem starrte Tanis argwöhnisch an. »Du lieferst mich nicht aus?«

»Ich will herausfinden, was los ist«, erklärte Tanis kühl, »auf jeden Fall brauche ich einen Führer, der das Land kennt…«

Berem riß sich aus Caramons Griff frei und sah ihn gehetzt an. »Ich komme mit«, wimmerte er. »Liefer mich nicht dem Elfen aus…«

»In Ordnung«, sagte Tanis kühl. »Hör auf zu greinen. Ich will heute Abend aufbrechen und habe noch eine Menge zu erledigen…«

Als er sich abrupt wegdrehte, war er nicht überrascht, eine starke Hand auf seinem Arm zu spüren. »Ich weiß, was du sagen willst, Caramon.« Tanis drehte sich nicht um. »Und die Antwort ist nein. Berem und ich gehen allein.«

»Dann geht ihr allein in den Tod«, sagte Caramon ruhig und hielt Tanis weiter fest.

»Nun, dann ist es das, was wir tun!« Tanis versuchte ohne Erfolg, sich von dem Krieger zu befreien. »Ich werde keinen von euch mitnehmen.«

»Und du wirst versagen«, sagte Caramon. »Ist es das, was du willst? Gehst du nur, um einen Weg zum Sterben zu finden, der deine Schuldgefühle beendet? Wenn das so ist, kann ich dir jetzt gleich mein Schwert anbieten. Aber wenn du wirklich Laurana befreien willst, dann brauchst du Hilfe.«

»Die Götter haben uns zusammengeführt«, sagte Goldmond leise. »Sie haben uns wieder zusammengeführt zu einer Zeit, in der größte Not herrscht. Es ist ein Zeichen der Götter, Tanis. Leugne es nicht.«

Der Halb-Elf senkte seinen Kopf. Er konnte nicht weinen, er hatte keine Tränen mehr. Tolpans kleine Hand schlüpfte in seine.

»Außerdem«, sagte der Kender fröhlich, »denk doch mal an den Ärger, den du haben wirst, wenn ich nicht bei dir bin!«

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