6 Palanthas

»Ich sage dir, es war Raistlin!«

»Und ich sage dir, daß ich dir den Hupak um deinen Hals drehe, wenn du mir noch mehr Geschichten über Pelzelefanten, Ringe zur Fernsteuerung und sich von Luft ernährenden Pflanzen erzählst!« schnappte Flint wütend.

»Aber es war Raistlin«, gab Tolpan zurück, doch so leise, daß Flint es nicht hören konnte, während sie durch die Prachtstraßen der wunderschönen Stadt Palanthas spazierten. Der Kender wußte aufgrund seiner langen Freundschaft, wie weit er den Zwerg drängen konnte.

»Und belästige auch Laurana nicht mit deinen verrückten Geschichten«, befahl Flint, da er Tolpans Absicht richtig einschätzte. »Sie hat genug Probleme…«

»Aber…«

Der Zwerg blieb stehen und starrte den Kender unter seinen buschigen weißen Augenbrauen grimmig an.

»Versprichst du es mir?«

Tolpan seufzte: »Oh, in Ordnung.«

Es wäre ja nicht schlimm gewesen, wenn er sich nicht so sicher gewesen wäre, daß er Raistlin gesehen hatte! Er und Flint waren an den Stufen der großen Bibliothek von Palanthas vorbeigegangen, als die scharfen Augen des Kenders eine Gruppe von Mönchen erblickten, die sich um eine auf den Stufen liegende Person versammelt hatte. Als Flint einen Moment anhielt, um ein besonders schönes, von Zwergen erbautes Steinwerk in einem gegenüberliegenden Gebäude zu bewundern, nahm Tolpan die Gelegenheit beim Schopf, um zu den Stufen zu schleichen.

Zu seinem Erstaunen sah er einen Mann, der genauso wie Raistlin aussah – goldfarbene, metallische Haut, rote Robe – und der von den Stufen gehoben und in die Bibliothek getragen wurde. Aber als der aufgeregte Kender über die Straße lief, Flint packte und den murrenden Zwerg zurückzog, war die Gruppe verschwunden.

Tolpan rannte sogar zur Tür, klopfte und verlangte Eintritt. Aber der Ästhet, der in der Tür erschien, wirkte so entsetzt über den Gedanken, einen Kender in die große Bibliothek zu lassen, daß der entrüstete Zwerg Tolpan wegzog, bevor der Mönch seinen Mund öffnen konnte.

Versprechen waren für Kender eine verschwommene Angelegenheit. Tolpan überlegte, Laurana auf alle Fälle davon zu berichten, aber bei dem Gedanken an das Gesicht des Elfenmädchens, wie es seit kurzem war, bleich und abgespannt von Trauer, Sorge und wenig Schlaf, dachte der Kender, daß Flint vielleicht recht hatte. Wenn es Raistlin gewesen war, hatte er wahrscheinlich persönliche geheime Geschäfte zu erledigen und wäre über ihr Hereinschneien bestimmt nicht erfreut. Trotzdem…

Der Kender seufzte und ging weiter und stieß Steinchen vor sich her und sah sich wieder in der Stadt um. Palanthas war wirklich einen Besuch wert. Die Stadt hatte schon während des Zeitalters der Allmacht wegen ihrer Schönheit und Anmut einen legendären Ruf genossen. Auf Krynn gab es keine andere Stadt, die man mit ihr vergleichen konnte – zumindest nach menschlichem Maßstab. Nach einem kreisförmigen Muster wie ein Rad aufgebaut, bildete der Stadtkern im wahrsten Sinne des Wortes die Radnabe. Alle wichtigen amtlichen Gebäude waren hier angesiedelt, und die ausladenden, schwungvollen Treppen und anmutigen Säulen waren in ihrer Großartigkeit atemberaubend. Von diesem zentralen Kreis führten breite Prachtstraßen in die acht Haupthimmelsrichtungen. Gepflastert mit genau übereinstimmenden Steinen (natürlich Zwergenarbeit) und von Bäumen gesäumt, deren Blätter das ganze Jahr über wie Goldborten leuchteten, führten diese Prachtstraßen zum Hafen im Norden und zu den sieben Toren der Alten Stadtmauer.

Auch die Tore waren architektonische Meisterwerke. Jedes Tor war mit Doppelminaretten versehen, die sich mutig über hundert Meter hoch in der Luft erstreckten. In die Alte Mauer waren ausdrucksvolle Bilder gemeißelt, die die Geschichte Palanthas während des Zeitalters der Träume erzählten. Hinter der Alten Stadtmauer lag die Neue Stadt. Sorgfältig geplant, um mit dem ursprünglichen Entwurf übereinzustimmen, erstreckte sich die Neue Stadt von der Alten Stadtmauer aus im gleichen kreisförmigen Muster mit den gleichen breiten, baumgesäumten Prachtstraßen. Jedoch zog sich um die Neue Stadt keine Stadtmauer. Die Palanthianer mochten eigentlich keine Mauern (Mauern ruinierten den gesamten Entwurf), und in dieser Zeit wurde weder in der Alten noch in der Neuen Stadt gebaut, ohne das allgemeine Muster unberücksichtigt zu lassen. Am Abend war die Silhouette von Palanthas am Horizont so lieblich anzusehen wie die Stadt selbst – mit einer Ausnahme. Tolpans Gedanken wurden jäh unterbrochen.

»Was ist denn mit dir los?« fragte der Kender und sah den Zwerg an, der ihn gestoßen hatte.

»Wo sind wir?« fragte Flint griesgrämig.

»Nun, wir sind…«, Tolpan sah sich um. »Uh… das heißt, ich glaube, wir sind… dann wieder, vielleicht sind wir auch nicht.«

Er musterte Flint mit einem kühlen Blick. »Wie hast du es geschafft, daß wir uns verlaufen konnten?«

»Ich!« explodierte der Zwerg. »Du bist der Führer! Du bist der Kartenleser. Du bist der Kender, der diese Stadt wie sein eigenes Haus kennt!«

»Aber ich habe nachgedacht«, erwiderte Tolpan hochmütig.

»Worüber denn?« brüllte Flint.

»Ich hegte tiefsinnige Gedanken«, gab Tolpan verletzt zurück.

»Ich… oh, laß dich nur nicht stören«, murmelte Flint und begann sich in der Straße umzusehen. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen.

»Es ist gewiß merkwürdig«, sagte Tolpan fröhlich und sprach damit Flints Gedanken aus. »Es ist so leer hier – ganz anders als in den anderen Straßen Palanthas.« Er starrte sehnsüchtig auf die Reihe stummer, leerer Gebäude. »Ich frage mich…«

»Nein«, sagte Flint. »Auf keinen Fall. Wir gehen den Weg zurück, den wir gekommen sind…«

»Ach, komm schon!« sagte Tolpan und steuerte auf die verlassenen Gebäude zu. »Nur ein bißchen, um zu sehen, was es da gibt. Du weißt doch, Laurana hat uns gesagt, wir sollten uns umsehen und die Befesti- Befesta… Dingsbums begutachten.«

»Befestigungen«, murrte Flint, der widerstrebend hinter dem Kender herstapfte. »Hier gibt es keine. Dies ist der Stadtkern! Sie meinte die Mauern um die Stadt.«

»Es gibt keine Mauern um die Stadt«, sagte Tolpan triumphierend. »Jedenfalls nicht um die Neue Stadt. Und wenn dies der Stadtkern sein soll, warum ist er dann so ausgestorben? Ich finde, wir sollten es herausfinden.«

Flint schnaubte verächtlich. Es klang plausibel, was der Kender gesagt hatte.

Die beiden gingen einige Minuten schweigend tiefer in den Stadtkern hinein. Auf einer Seite erhob sich, nur einige Blöcke entfernt, die palastartige Villa des Herrschers von Palanthas. Sie konnten die hohen Türme erkennen. Aber vor ihnen war nichts zu sehen. Alles verschwand in Schatten unter…

Tolpan sah in Fenster und steckte seine Nase in Türen der Gebäude, an denen sie vorbeikamen. Der Kender sprach erst, als sie das Ende des Blocks erreicht hatten.

»Weißt du, Flint«, sagte Tolpan unruhig, »diese Gebäude sind alle leer.«

»Aufgegeben«, sagte Flint heiser. Der Zwerg legte seine Hand an die Streitaxt und zuckte bei Tolpans schriller Stimme nervös zusammen.

»Über diesem Ort liegt etwas Unheimliches«, sagte Tolpan, während er näher zum Zwerg trat. »Ich bin nicht ängstlich, aber…«

»Ich aber«, unterbrach ihn Flint eindringlich. »Laß uns hier verschwinden!«

Tolpan sah zu den hohen Gebäuden auf beiden Seiten der Straße. Sie befanden sich in gutem Zustand. Offenbar waren die Palanthianer so stolz auf ihre Stadt, daß sie sogar Geld ausgaben, um leerstehende Gebäude in Schuß zu halten. Es gab Geschäfte und Häuser jeder Art. Die Straßen waren sauber und ohne Abfälle. Aber es war alles ausgestorben. Das muß einst eine wohlhabende Gegend gewesen sein, dachte der Kender. Mitten im Herzen der Stadt. Warum jetzt nicht mehr? Warum sind alle verschwunden? Er hatte ein unheimliches Gefühl, und es gab nur wenig Dinge auf Krynn, die einem Kender ein unheimliches Gefühl einflößten.

»Es gibt hier nicht einmal Ratten!« murrte Flint. Er faßte Tolpan am Arm und zog ihn mit sich. »Wir haben genug gesehen.«

»Oh, komm schon«, sagte Tolpan. Er zog seinen Arm weg, bekämpfte das merkwürdig unheimliche Gefühl, richtete seine schmalen Schultern auf und ging weiter. Dann hielt er wütend inne und sah zurück. Der Zwerg stand auf der Straße und blickte ihn finster an.

»Ich will nur bis zu diesem Wäldchen am Ende der Straße gehen«, erklärte Tolpan. »Sieh mal – es ist ein ganz gewöhnliches Wäldchen mit ganz gewöhnlichen Eichen. Wahrscheinlich ein Park oder so etwas. Vielleicht können wir dort ein Picknick machen…«

»Mir gefällt dieser Ort nicht!« sagte Flint dickköpfig. »Er erinnert mich an… an… Düsterwald -, wo Raistlin mit den Gespenstern gesprochen hat.«

»Ach, das einzige Gespenst hier bist du!« sagte Tolpan ärgerlich, entschlossen, die Tatsache zu ignorieren, daß er ihn auch daran erinnerte. »Es ist hellichter Tag. Wir sind im Zentrum einer Stadt, um Reorx’ Liebe willen…«

»Und warum ist es dann so eisig kalt?«

»Es ist Winter!« rief der Kender und fuchtelte mit seinen Armen. Er verstummte plötzlich und blickte sich um, beunruhigt über die unheimliche Art, wie seine Worte durch die stummen Straßen hallten. »Kommst du jetzt?« fragte er flüsternd.

Flint holte tief Luft. Knurrend seine Streitaxt umklammernd, marschierte er auf den Kender zu und hielt ein wachsames Auge auf die Gebäude, als ob jeden Moment ein Geist auf ihn zuspringen würde.

»Es ist nicht Winter«, murmelte der Zwerg. »Nur hier.«

»Es wird erst in einigen Wochen Frühling sein«, gab Tolpan zurück, erfreut, über etwas streiten zu können, damit er sich von dem ablenkte, was sich in seinem Magen abspielte – Knoten und ähnliches.

Aber Flint wollte nicht streiten – ein schlechtes Zeichen. Schweigend schlichen die beiden die leere Straße entlang, bis sie das Ende des Blocks erreichten. Hier endeten die Gebäude abrupt an jenem Wäldchen. Wie Tolpan gesagt hatte, schienen es ganz gewöhnliche Eichen zu sein – obwohl es sicherlich die größten Eichen waren, die der Zwerg und der Kender jemals auf ihren Reisen auf Krynn gesehen hatten.

Aber als die zwei näher traten, spürten sie das seltsame eisige Gefühl stärker werden, bis es schlimmer wurde als jede Kälte, die sie je erlebt hatten, selbst die Kälte der Gletscher von Eismauer. Es war schlimmer, weil die Kälte aus dem Innern kam und keinen Sinn ergab! Warum sollte es ausgerechnet in diesem Teil der Stadt so kalt sein? Die Sonne schien. Am Himmel hing keine Wolke. Aber bald waren ihre Finger taub und steif. Flint konnte seine Streitaxt nicht mehr festhalten und war gezwungen, sie mit zitternden Händen am Rücken zu befestigen. Tolpans Zähne klapperten, er hatte jedes Gefühl in seinen spitzen Ohren verloren und zitterte heftig.

»L…laß u…uns h…hier ver…schwinden…«, stammelte der Zwerg durch blaugefrorene Lippen.

»W…wir stehen i…im Seh…Schatten ei…eines Geb…bäudes.« Tolpan biß sich fast auf die Zunge. »We…wenn wir w…wieder in d…die So…sonne treten, w…wird u…uns w…wieder w…warm.«

»K…kein F…feuer auf K…k…krynn wird u…uns w…wieder wärmen!« schnappte Flint böse und stapfte herum, um seinen Kreislauf anzuregen.

»N…nur n…noch ei…ein p…paar M…meter…« Tolpan ging mutig weiter, obwohl seine Knie heftig zitterten. Aber er ging allein. Als er sich umdrehte, sah er, daß Flint gelähmt zu sein schien, nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sein Kopf war gebeugt, sein Bart bebte.

Ich sollte zurückgehen, dachte Tolpan, aber er konnte nicht. Die Neugierde, die der Hauptgrund für die sinkende Zahl der Kender war, zog ihn vorwärts.

Tolpan erreichte den Rand des Wäldchens, und hier ließ sein Herz ihn fast im Stich. Kender sind normalerweise immun gegen Angst, darum konnte auch nur ein Kender überhaupt so weit kommen. Aber jetzt fand sich Tolpan selbst als Opfer des größten, vernunftlosen Entsetzens wieder, das er je erlebt hatten. Und was immer die Ursache war, sie befand sich in diesem Eichenwäldchen.

Es sind ganz gewöhnliche Bäume, redete sich Tolpan bebend ein. Ich habe mit Gespenstern im Düsterwald geredet. Ich habe drei oder vier Drachen gegenübergestanden. Ich habe eine Kugel der Drachen zerstört. Nur ein ganz gewöhnlicher Wald. Ich war Gefangener im Schloß eines Zauberers. Ich sah einen Dämon aus der Hölle. Nur ein ganz gewöhnlicher Wald. Langsam, immer weiter auf sich einredend, schritt Tolpan Zentimeter für Zentimeter auf die Eichen zu. Er ging nicht weit, nicht einmal an der äußeren Baumreihe vorbei, denn jetzt konnte er in das Herz des Waldes sehen.

Tolpan schluckte, drehte sich um und rannte.

Beim Anblick des zurücklaufenden Kenders wußte Flint, daß alles vorbei war. Irgend etwas Schreckliches barst aus dem Wald hervor. Der Zwerg wirbelte so schnell herum, daß er über seine Füße stolperte und auf das Pflaster fiel. Tolpan rannte auf ihn zu, packte ihn am Gürtel und zog ihn hoch. Dann stoben die beiden wie von Sinnen durch die Straße. Der Zwerg rannte um sein Leben. Er glaubte gigantische Fußtritte zu hören, die hinter ihm aufschlugen. Er wagte nicht, sich umzudrehen. Visionen eines geifernden Monstrums trieben ihn weiter, bis sein Herz aus seinem Körper zu springen schien. Endlich erreichten sie das Ende der Straße.

Es war warm. Die Sonne schien.

Sie konnten die Stimmen von lebendigen Leuten in den Straßen hören. Flint hielt erschöpft inne und holte keuchend Luft. Ängstlich blickte er sich um, überrascht, zu sehen, daß die Straße immer noch leer war.

»Was war es?« brachte er mühselig hervor.

Das Gesicht des Kenders war leichenblaß. »E…ein T…Turm«, schluckte Tolpan prustend.

Flint riß seine Augen auf. »Ein Turm?« wiederholte der Zwerg. »Ich bin den ganzen Weg gerannt, hätte mich fast umgebracht, und ich bin vor einem Turm weggerannt! Ich glaube nicht«, Flints buschige Augenbrauen schoben sich beunruhigt zusammen, »daß dieser Turm dich gejagt hat.«

»N…nein«, gab Tolpan zu. »Er…er stand einfach da. Aber es war das Entsetzlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe«, bekannte der Kender feierlich mit einem Schaudern.

»Das war wohl der Turm der Erzmagier«, sagte der Herrscher von Palanthas zu Laurana an jenem Abend, als sie im Kartenraum des wunderschönen Palastes saßen, der auf einem Hügel mit Blick auf die Stadt errichtet worden war. »Kein Wunder, daß dein kleiner Freund so verängstigt war. Es überrascht mich, daß er es bis zum Eichenwald von Shoikan geschafft hat.«

»Er ist ein Kender«, erwiderte Laurana lächelnd.

»Ah ja. Das erklärt alles. Das habe ich nicht in Betracht gezogen. Man sollte Kender anheuern für die Arbeiten in den Häusern in der Nähe des Turms. Wir müssen unverschämt hohe Gehälter zahlen, damit Männer einmal im Jahr in diese Gebäude gehen, um sie instandzusetzen. Aber andererseits«, der Herrscher wirkte deprimiert, »ich glaube nicht, daß die Leute hier erfreut wären, eine größere Anzahl von Kendern in ihrer Stadt zu sehen.«

Amothud, Herrscher von Palanthas, wanderte über den polierten Marmorboden des Kartenraums. Laurana schritt neben ihm und versuchte, nicht auf den Saum des langen, fließenden Gewandes zu treten, das die Palanthianer ihr gegeben hatten. Sie waren reizend gewesen und hatten es ihr als Geschenk angeboten. Aber sie wußte, eigentlich waren sie schockiert, eine Prinzessin von Qualinesti in einer blutverschmierten, schlachtzerbeulten Rüstung herumlaufen zu sehen. Laurana blieb nichts anderes übrig, als es anzunehmen; sie konnte es sich nicht leisten, die Palanthianer zu beleidigen, auf deren Hilfe sie rechnete. Aber sie fühlte sich nackt, zerbrechlich und hilflos ohne Schwert und Rüstung.

Und sie wußte, daß die Generäle der palanthianischen Armee, die vorläufigen Befehlshaber der Solamnischen Ritter und die anderen Edelleute – Berater des Stadtsenats – diejenigen waren, die sie sich zerbrechlich und hilflos fühlen ließen. Jeder von ihnen erinnerte sie mit jedem Blick daran, daß sie nur eine Frau war, die Soldat spielte. Zugegeben, sie hatte es gut gemacht. Sie hatte ihren kleinen Krieg geführt, und sie hatte gewonnen. Jetzt – zurück in die Küche…

»Was ist der Turm der Erzmagier?« fragte Laurana unvermittelt. Sie hatte nach einer Woche der Verhandlungen mit dem Herrscher von Palanthas gelernt, daß er zwar ein intelligenter Mann war, daß er aber dazu neigte, seine Gedanken in unergründliche Bereiche gleiten zu lassen, und ständiger Führung bedurfte, um beim Thema zu bleiben.

»Ach ja. Nun, du kannst ihn von diesem Fenster aus sehen, wenn du wirklich möchtest…«, sagte der Herrscher widerstrebend.

»Ich würde ihn gern sehen«, erwiderte Laurana kühl. Mit einem Schulterzucken führte Herrscher Amothud Laurana zu einem Fenster, das ihr bereits aufgefallen war, da es mit dicken Vorhängen verdeckt war. Die Vorhänge der anderen Fenster waren aufgezogen und enthüllten einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt, gleichgültig, in welche Richtung man schaute.

»Ja, das ist der Grund, warum ich die Vorhänge geschlossen halte«, antwortete der Herrscher mit einem Seufzen auf Lauranas Frage. »Eine Schande. Hier hatte man einst die wundervollste Aussicht auf die Stadt, wie aus den alten Aufzeichnungen ersichtlich ist. Aber das war, bevor der Turm verflucht wurde…«

Der Herrscher zog die Vorhänge mit zitternden Händen beiseite, sein Gesicht war von Trauer verdüstert. Laurana, überrascht von diesem Gefühlsausbruch, sah neugierig hinaus. Die Sonne versank hinter den schneebedeckten Bergen und zeichnete purpurrote Streifen in den Himmel. Die lebhaften Farben schimmerten auf den weißen Gebäuden von Palanthas, als der seltene durchsichtige Marmor, aus denen sie gebaut waren, das sterbende Licht einfing. Laurana hatte sich niemals vorstellen können, daß in der Welt der Menschen solche Schönheit existieren könnte. Es machte ihrer geliebten Heimat Qualinesti wahrhaft Konkurrenz.

Dann wurden ihre Augen von einer Dunkelheit inmitten dieser schimmernden, perlmuttfarbenen Herrlichkeit angezogen. Ein einzelnstehender Turm erhob sich in den Himmel. Aus schwarzem Marmor gebaut, hob er sich entschieden vom weißen Marmor der übrigen Stadt ab. Minarette mußten einst seine Zierde gewesen sein, heute waren sie nur noch eine Ruine. Dunkle Fenster starrten wie leere Augenhöhlen blind in die Welt. Ein Zaun umgab den Turm. Auch der Zaun war schwarz, und am Tor des Zaunes sah Laurana etwas flattern. Einen Moment lang dachte sie, es wäre ein riesiger gefangener Vogel, denn er wirkte so lebendig. Sie wollte gerade die Aufmerksamkeit des Herrschers darauf lenken, als dieser mit einem Schauder die Vorhänge zuzog.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich kann es nicht ertragen. Entsetzlich. Und zu denken, daß wir seit Jahrhunderten damit leben…«

»Ich finde es gar nicht so entsetzlich«, sagte Laurana aufrichtig, ihr geistiges Auge erinnerte sich an den Anblick des Turms und die umgebende Stadt. »Der Turm… scheint irgendwie richtig zu sein. Eure Stadt ist sehr schön, aber manchmal ist es solch eine kalte, vollendete Schönheit, daß ich es gar nicht weiter bemerke.« Als sie aus den anderen Fenstern sah, war Laurana wieder von der Aussicht verzaubert, so wie beim ersten Mal, als sie Palanthas betreten hatte. »Aber nachdem ich das gesehen habe – dieser Makel in Eurer Stadt läßt die Schönheit stärker hervortreten… falls Ihr versteht…«

Dem verwirrten Gesichtsausdruck des Herrschers war zu entnehmen, daß er nicht verstand. Laurana seufzte, ihr fiel auf, daß sie mit einer seltsamen Faszination auf die vorgezogenen Vorhänge starrte. »Wieso wurde der Turm verflucht?« fragte sie.

»Es war während der… oh, ich denke, es gibt jemanden, der die Geschichte besser als ich erzählen kann«, sagte Herrscher Amothud und sah erleichtert auf, als sich die Tür öffnete. »Es ist keine Geschichte, die ich gern erzähle, um die Wahrheit zu sagen.«

»Astinus von der Bibliothek von Palanthas«, verkündete der Herold.

Zu Lauranas Verwunderung erhoben sich alle ehrfürchtig selbst die hohen Generäle und Edelleute. All das, dachte sie, für einen Bibliothekar. Zu ihrer noch größeren Verwunderung verbeugten sich der Herrscher von Palanthas und all seine Generäle und alle Edelleute, als der Chronist eintrat. Auch Laurana verbeugte sich in verwirrter Höflichkeit. Als ein Mitglied der königlichen Familie Qualinestis wurde von ihr nicht erwartet, sich vor irgend jemand auf Krynn zu verbeugen, es sei denn, es handelte sich um ihren Vater, die Stimme der Sonnen. Aber als sie sich aufrichtete und den Mann musterte, empfand sie plötzlich die Verbeugung als angemessen und passend. Astinus trat mit solch einer Seelenruhe und Sicherheit ein, daß sie überzeugt war, er könnte sich unverfroren mit allen Herrschern auf Krynn und dem Himmel messen. Er schien in mittlerem Alter zu sein, aber um ihn war etwas Zeitloses. Sein Gesicht schien aus dem Marmor von Palanthas gemeißelt zu sein, und zuerst war Laurana von der Kälte und Leidenschaftslosigkeit dieses Gesichts angewidert. Dann sah sie, daß die dunklen Augen des Mannes sprichwörtlich vor Leben strahlten – als ob es vom Feuer tausender Seelen strahlen würde.

»Du bist spät, Astinus«, sagte Amothud freundlich und mit deutlichem Respekt. Er und seine Generäle sowie die Ritter von Solamnia blieben stehen, bis der Chronist Platz genommen hatte. Fast überwältigt von einer ungewohnten Ehrfurcht sank Laurana auf ihren Stuhl an dem riesigen runden Tisch, der mitten in dem großen Zimmer stand.

»Ich hatte Geschäftliches zu erledigen«, entgegnete Astinus mit einer Stimme, die aus einem Brunnen ohne Grund zu kommen schien.

»Ich hörte, Ihr wurdet von einem seltsamen Ereignis belästigt.« Der Herrscher von Palanthas errötete vor Verlegenheit. »Ich muß mich aufrichtig entschuldigen. Wir können uns gar nicht vorstellen, wie es dazu kam, daß der junge Mann in solch einem entsetzlichen Zustand auf Euren Stufen gefunden wurde. Wenn Ihr uns nur benachrichtigt hättet! Wir hätten den Körper entfernen können…«

»Es war keine Belästigung«, sagte Astinus abrupt, während er Laurana ansah. »Alles ist erledigt und vorbei.«

»Aber… äh… was ist mit… äh… den sterblichen Überresten?« fragte Herrscher Amothud zögernd. »Ich weiß, wie schrecklich das sein muß, aber es gibt bestimmte Gesundheitsbestimmungen des Senats, und ich möchte sicherstellen, daß diese befolgt werden…«

»Vielleicht sollte ich gehen«, sagte Laurana kühl und erhob sich, »bis diese Unterhaltung beendet ist.«

»Was! Gehen?« Der Herrscher von Palanthas starrte sie ausdruckslos an. »Ihr seid doch gerade erst gekommen…«

»Ich glaube, unsere Unterhaltung ist für die Elfenprinzessin bedrückend«, bemerkte Astinus. »Die Elfen – wie Ihr Euch erinnern werdet, mein Herrscher – hegen für das Leben große Verehrung. Der Tod wird bei ihnen nicht auf diese gefühllose Weise diskutiert.«

»Oh, mein Gott!« Amothud lief tiefrot an, erhob sich und nahm ihre Hand. »Ich bitte um Verzeihung, meine Liebe. Völlig widerwärtig von mir. Bitte vergebt mir und setzt Euch wieder. Wein für die Prinzessin…«, rief Amothud einem Diener zu, der unverzüglich Lauranas Glas füllte.

»Ihr habt über die Türme der Erzmagier geredet, als ich eintrat. Was wißt Ihr über die Türme?« fragte Astinus, seine Augen starrten in Lauranas Seele.

Dieser durchdringende Blick ließ sie schaudern. Sie trank einen Schluck Wein und bedauerte jetzt, sie erwähnt zu haben.

»Wirklich«, sagte sie schwach, »vielleicht sollten wir uns den Geschäften zuwenden. Ich bin sicher, die Generäle wollen zu ihren Soldaten zurückkehren, und ich…«

»Was wißt Ihr über die Türme?« wiederholte Astinus.

»Ich… äh… nicht viel«, stammelte Laurana, sie fühlte sich, als ob sie in der Schule wäre und von ihrem Mentor zur Rede gestellt würde. »Ich hatte einen Freund – das heißt, ich kannte jemanden, der die Prüfungen im Turm der Erzmagier in Wayreth bestanden hat, aber er ist…«

»Raistlin aus Solace, vermute ich«, sagte Astinus gelassen.

»Ja, das stimmt!« antwortete Laurana verwirrt. »Woher…«

»Ich bin Geschichtsschreiber, junge Frau. Es ist meine Aufgäbe zu wissen«, erwiderte Astinus. »Ich werde Euch die Geschichte über den Turm von Palanthas erzählen. Betrachtet es nicht als Zeitverschwendung, Lauralanthalasa, denn seine Geschichte ist mit Eurem Schicksal verknüpft.« Er ignorierte ihren bestürzten Blick und zeigte auf einen der Generäle. »Öffne den Vorhang. Du verschließt die beste Aussicht auf die Stadt, so wie die Prinzessin bemerkte, bevor ich eintrat. Jetzt also die Geschichte über den Turm der Erzmagier von Palanthas. Meine Geschichte muß mit jener Zeit beginnen, die in nachträglicher Erkenntnis als die Verlorene Schlacht bekannt ist. Während des Zeitalters der Allmacht, als Istars Königspriester begann, Phantomen nachzujagen, gab er seinen Ängsten einen Namen – Magier! Er fürchtete sie, fürchtete ihre weitreichende Macht. Er verstand sie nicht, und so stellten sie für ihn eine Bedrohung dar.

Es war einfach, die Bevölkerung gegen die Magier aufzubringen. Obwohl man sie weitgehend respektierte, vertraute man ihnen niemals, in erster Linie, weil sie in ihren Reihen Vertreter aller drei Mächte des Universums zuließen die Weißen Roben des Guten, die Roten Roben der Neutralität und die Schwarzen Roben des Bösen. Denn sie verstanden, was Istars Königspriester eben nicht verstand – daß das Universum sich zwischen diesen drei Kräften im Gleichgewicht bewegt und daß die Störung dieses Gleichgewichts auf Zerstörung hinausläuft.

Und so erhoben sich die Leute gegen die Magier. Die fünf Türme der Erzmagier waren natürlich die wesentlichen Angriffsziele, denn in diesen Türmen konzentrierten sich die Mächte des Ordens. Und zu diesen Türmen gingen die jungen Magier, um sich den Prüfungen zu unterziehen – jene, die es wagten. Denn die Prüfungen sind anstrengend und, noch schlimmer, gefährlich. In der Tat bedeutete Versagen nur eins den Tod!«

»Tod?« wiederholte Laurana ungläubig. »Dann hat Raistlin…«

»Sein Leben bei der Prüfung riskiert. Und fast hätte er dafür diesen Preis bezahlen müssen. Wegen dieser tödlichen Drohung wurden dunkle Gerüchte über die Türme der Erzmagier verbreitet. Vergeblich versuchten die Magier zu erklären, daß ihre Türme nur die Zentren des Lernens wären und daß jeder junge Magier, der sein Leben riskierte, dies freiwillig täte und den Sinn verstünde, der dahinter läge. Auch bewahrten die Magier in den Türmen ihre Zauberbücher und ihre Schriftrollen auf, ihr magisches Handwerkszeug. Aber niemand glaubte ihnen. Geschichten über seltsame Riten und Rituale und Opfer verbreiteten sich unter den Leuten, vom Königspriester und seinen Klerikern für seine eigenen Zwecke noch gefördert. Und dann kam der Tag, an dem sich das Volk gegen die Magier erhob. Und zum zweiten Mal in der Geschichte des Ordens verbündeten sich die Roben. Das erste Mal war während der Schaffung der Kugeln der Drachen gewesen, die die Essenzen des Guten und des Bösen beinhalten, zusammengehalten durch den Ausgleich. Danach gingen sie ihrer Wege. Nun, aufgrund gemeinsamer Bedrohung kamen sie noch einmal zusammen, um sich zu schützen.

Die Magier zerstörten selbst zwei Türme, damit der Mob nicht in sie eindringen und sich mit Dingen einlassen würde, die über seinem Verstehen lägen. Durch die Zerstörung der beiden Türme wurde das umgebende Land verwüstet und folglich der Königspriester eingeschüchtert – denn es gab noch Türme der Erzmagier in Istar und in Palanthas. Um den dritten Turm, der im Wald von Wayreth liegt, sorgten sich die wenigsten, denn er befand sich weit entfernt von aller Zivilisation.

Und so trat der Königspriester mit Ehrfurcht an die Magier heran. Wenn sie die zwei Türme stehen ließen, würde er sie in Frieden ziehen lassen, so daß sie mit ihren Büchern, Schriftrollen und sonstigen Hilfsmitteln zum Turm der Erzmagier nach Wayreth gehen konnten. Bekümmert nahmen die Magier das Angebot an.«

»Aber warum haben sie nicht gekämpft?« unterbrach ihn Laurana. »Ich habe Raistlin und… und Fizban gesehen, wenn sie wütend waren! Ich will mir gar nicht vorstellen, wie wahrhaft mächtig Zauberer sein müssen!«

»Ah, aber überdenkt das, Laurana. Euer junger Freund Raistlin – war bereits erschöpft, wenn er nur einige wenige, relativ geringfügige Zauber geworfen hatte. Und wenn ein Zauber einmal geworfen ist, verschwindet er für immer aus dem Gedächtnis, bis der Magier wieder in seinem Zauberbuch liest und ihn von neuem auswendig lernt. Und das gilt auch für die mächtigsten Magier. Auf diese Weise beschützen uns die Götter vor jenen, die sonst zu mächtig werden und selbst nach der Göttlichkeit streben würden. Zauberer müssen schlafen, sie müssen sich konzentrieren können, sie müssen ihre Zeit mit täglichem Studium verbringen. Wie hätten sie durchhalten können, vom Pöbel belagert? Und wie hätten sie ihr eigenes Volk vernichten können?

Nein, sie meinten, das Angebot des Königspriesters annehmen zu müssen. Selbst die Schwarzen Roben, die sich kaum um die Bevölkerung kümmern, sahen ein, daß sie besiegt waren und daß die Magie aus der Welt verschwinden könnte. Sie zogen sich aus dem Turm der Erzmagier in Istar zurück – und fast unmittelbar danach zog der Königspriester ein, um ihn besetzt zu halten. Dann verließen sie auch den Turm hier in Palanthas. Und die Geschichte dieses Turms ist schrecklich.«

Astinus, der die ganze Zeit mit ausdrucksloser Stimme erzählt hatte, wurde plötzlich ernst, sein Gesicht verdüsterte sich.

»Ich erinnere mich gut an jenen Tag«, sagte er mehr zu sich als zu den am Tisch Versammelten. »Sie brachten mir ihre Bücher und Schriftrollen, um sie in meiner Bibliothek aufzubewahren. Denn es gab so viele Bücher und Schriftrollen in dem Turm, daß sie nicht alles nach Wayreth mitnehmen konnten. Sie wußten, daß ich sie aufbewahren und hüten würde. Viele der Zauberbücher waren sehr alt und konnten nicht mehr gelesen werden, da sie mit Schutzzaubern versehen waren, Zauber, zu denen der Schlüssel… verlorengegangen ist. Der Schlüssel…«

Astinus brach ab und versank in Nachdenken. Dann schob er mit einem Seufzer die dunklen Gedanken beiseite und fuhr fort.

»Das Volk von Palanthas versammelte sich um den Turm, als der Höchste des Ordens – der Zauberer der Weißen Roben – die schlanken goldenen Türme des Turms mit einem silbernen Schlüssel verschloß. Der Herrscher von Palanthas sah ihm gierig zu. Alle wußten, daß der Herrscher beabsichtigte, in den Turm zu ziehen, wie es sein Mentor, Istars Königspriester, getan hatte. Seine Augen weilten hungrig auf dem Turm, denn Legenden über seine Wunder, sowohl gute als auch böse, hatten sich im ganzen Land verbreitet.«

»Von all den schönen Gebäuden in Palanthas«, murmelte Amothud, »soll der Turm der Erzmagier das schönste gewesen sein. Und jetzt…«

»Was geschah dann?« fragte Laurana, der es kühl wurde, als die Dunkelheit der Nacht durch den Raum kroch, und sie hoffte, daß jemand die Diener rufen würde, um die Kerzen anzuzünden.

»Der Zauberer wollte gerade den silbernen Schlüssel dem Herrscher überreichen«, erzählte Astinus mit tiefer, trauriger Stimme. »Plötzlich erschien einer der Schwarzen Roben in einem Fenster in den oberen Etagen. Als die Leute ihn voller Entsetzen anstarrten, schrie er: ›Die Tore werden geschlossen bleiben und die Hallen leer, bis der Tag kommt, an dem der Herr über Vergangenheit und Gegenwart mit Macht zurückkehrt.‹ Dann beugte sich der böse Magier heraus und warf sich auf die Tore. Und als die silbernen und goldenen Widerhaken seine schwarze Robe durchbohrten, warf er einen Fluch über den Turm. Sein Blut besudelte den Boden, die silbernen und goldenen Tore verfielen und wurden schwarz. Der weißrot schimmernde Turm verblaßte zu eisgrauem Stein, seine schwarzen Minarette verfielen. Der Herrscher und das Volk flohen vor Entsetzen, und bis zu diesem Tag wagt es niemand, sich dem Turm von Palanthas zu nähern. Nicht einmal Kender«, Astinus lächelte kurz auf, »der Fluch ist so mächtig, daß er alle Sterblichen fernhält…«

»Bis der Herr über Vergangenheit und Gegenwart zurückkehrt«, murmelte Laurana.

»Pah! Der Mann war verrückt.« Amothud schnaufte verächtlich. »Kein Mensch kann Herr über Vergangenheit und Gegenwart sein – höchstens du, Astinus.«

»Ich bin kein Herrscher!« sagte Astinus in solch einem hohlen, schallenden Ton, daß alle im Raum ihn anstarrten. »Ich erinnere mich an die Vergangenheit, ich zeichne die Gegenwart auf. Ich trachte nicht danach, sie zu beherrschen!«

»Verrückt, wie ich schon sagte.« Der Herrscher zuckte mit den Schultern. »Und jetzt sind wir gezwungen, einen Schandfleck wie den Turm zu ertragen, weil niemand vermag, dort in der Nähe zu leben oder nahe genug heranzugehen, um ihn niederzureißen.«

»Ich finde, ihn niederzureißen wäre eine Schande«, sagte Laurana leise, während sie durch das Fenster zum Turm blickte.

»Er gehört hierher…«

»Das tut er in der Tat, junge Frau«, erwiderte Astinus, der sie seltsam musterte.

Die Schatten der Nacht hatten sich während Astinus’

Erzählung vertieft. Bald war der Turm in Dunkelheit getaucht, während in der restlichen Stadt Lichter auffunkelten. Palanthas schien zu versuchen, die Sterne zu übertreffen, dachte Laurana, aber ein runder Fleck Dunkelheit wird immer in seinem Zentrum bleiben.

»Wie traurig und tragisch«, murmelte sie, da sie das Gefühl hatte, irgend etwas sagen zu müssen, weil Astinus sie direkt ansah. »Und dieses… dieses dunkle Ding, was ich flattern gesehen habe, das am Zaun hängt…« Sie hielt vor Entsetzen inne.

»Verrückt, verrückt«, wiederholte Amothud düster. »Ja, wir vermuten, das ist das, was von dem Körper übriggeblieben ist. Niemand war in der Lage gewesen, näher heranzutreten, um es herauszufinden.«

Laurana erschauderte. Sie legte ihre Hände an ihren schmerzenden Kopf, denn sie wußte, daß diese fürchterliche Geschichte sie noch nächtelang verfolgen würde, und sie wünschte, sie niemals gehört zu haben. Mit ihrem Schicksal verknüpft! Wütend versuchte sie, den Gedanken aus ihrem Gehirn zu verbannen. Es spielte keine Rolle. Sie hatte dafür keine Zeit. Ihr Schicksal sah ohne alptraumhafte Kindergeschichten schon düster genug aus.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, erhob sich Astinus plötzlich und rief nach mehr Licht. »Denn«, sagte er kühl, während er Laurana anstarrte, »die Vergangenheit ist verloren. Die Zukunft gehört uns. Und wir haben noch eine Menge Arbeit vor uns, bevor der neue Tag anbricht.«

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