14 Ich habe ihn einst getötet…

»Ich habe gesehen, was du mit ihm getan hast! Du hast versucht, ihn zu töten!« schrie Caramon Par-Salian an. Als Oberhaupt des Turms der Erzmagier – des letzten Turms der Erzmagier im unheimlichen Wald von Wayreth – war Par-Salian der Ranghöchste des Ordens der Zauberkundigen auf Krynn. Der junge Krieger hätte den verhutzelten alten Mann mit bloßen Händen erschlagen können. Er hatte sich in den vergangenen zwei Tagen eine Menge gefallen lassen müssen, aber nun war er mit seiner Geduld am Ende.

»Mord ist nicht unser Geschäft«, erwiderte Par-Salian mit seiner sanften Stimme. »Dein Bruder wußte, was ihn erwartet, wenn er sich einverstanden erklärt, sich diesen Prüfungen zu unterziehen. Er wußte, daß der Tod die Strafe für Versagen ist.«

»Er wußte es nicht wirklich«, murmelte Caramon und fuhr sich mit einer Hand über die Augen. »Und wenn er es wußte, kümmerte es ihn nicht. Manchmal trübt seine… seine Liebe zur Magie seine Vernunft.«

»Liebe? Nein.« Par-Salian lächelte traurig. »Ich glaube nicht, daß man es als Liebe bezeichnen kann.«

»Nun gut, was auch immer«, murrte Caramon. »Ihm war nicht bewußt, was du mit ihm vorhattest! Es ist alles so verdammt ernst…«

»Natürlich«, sagte Par-Salian nachsichtig. »Was würde mit dir geschehen, Krieger, wenn du in eine Schlacht treten würdest, ohne zu wissen, wie man mit dem Schwert umgeht?«

Caramon blickte finster.

»Versuche nicht, dich herauszuwinden…«

»Was würde geschehen?« fragte Par-Salian hartnäckig.

»Es wäre mein Tod«, antwortete Caramon mit der umständlichen Geduld, die man im Gespräch mit einer älteren, senilen Person an den Tag legt. »Jetzt…«

»Nicht nur du würdest sterben«, fuhr Par-Salian fort, »sondern auch deine Kameraden, die von dir abhängen, könnten aufgrund deiner Unfähigkeit sterben.«

»Ja«, sagte Caramon ungeduldig und wollte seine Schimpferei fortsetzen. Dann hielt er jedoch inne und schwieg.

»Du verstehst, was ich sagen will«, sagte Par-Salian freundlich. »Wir verlangen die Prüfung nicht von allen, die Magie anwenden. Es gibt viele mit der Gabe, die durch das Leben gehen und mit den ersten grundlegenden Zaubersprüchen zufrieden sind, die in den Schulen unterrichtet werden. Als Hilfe im Alltagsleben sind sie ausreichend, und mehr wollen sie auch nicht. Aber manchmal kommt jemand wie dein Bruder. Für ihn ist die Gabe mehr als ein Werkzeug, um durch das Leben zu kommen.

Für ihn ist die Gabe das Leben. Er strebt nach Höherem. Er sucht Wissen und Macht, die gefährlich werden können – nicht nur für den Anwender, sondern auch für andere. Darum zwingen wir alle Zauberkundigen, die in die Bereiche der wahren Macht vorstoßen wollen, sich der Prüfung zu unterziehen. So können wir die Unfähigen aussondern…«

»Du hast dein Bestes getan, um Raistlin auszusondern!« knurrte Caramon. »Er ist nicht unfähig, sondern zerbrechlich, und jetzt ist er verletzt, vielleicht liegt er im Sterben!«

»Nein, er ist nicht unfähig. Ganz im Gegenteil. Dein Bruder war sehr gut, Krieger. Er hat all seine Feinde besiegt. Er hat ausgesprochen gekonnt gehandelt. Fast zu gekonnt.« Par-Salian wirkte nachdenklich. »Ich frage mich, ob jemand ein besonderes Interesse an deinem Bruder hat.«

»Ich weiß es nicht.« Caramons Stimme wurde hart. »Und es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, daß ich dem ein Ende bereiten werde. Und zwar sofort.«

»Das kannst du nicht. Es ist dir nicht gestattet. Er liegt nicht im Sterben…«

»Du kannst mich nicht aufhalten!« erklärte Caramon kühl.

»Magie! Tricks, um Kinder zum Lachen zu bringen! Wahre Macht! Pah! Dafür zu sterben lohnt sich nicht…«

»Dein Bruder glaubt daran«, entgegnete Par-Salian sanft.

»Soll ich dir zeigen, wie sehr er an seine Magie glaubt? Soll ich dir wahre Macht zeigen?«

Par-Salian nicht beachtend, trat Caramon einen Schritt vor, entschlossen, das Leiden seines Bruders zu beenden. Dieser Schritt war sein letzter – zumindest für eine Zeit. Er stand unbeweglich, auf der Stelle festgefroren, als wären seine Füße im Eis gefangen. Caramon wurde von Furcht ergriffen. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er unter einem Zauber stand, und das hilflose Gefühl, völlig unter der Kontrolle eines anderen zu sein, war schrecklicher, als sechs axtschwingenden Goblins gegenüberzustehen.

»Paß auf.« Par-Salian begann seltsame Worte zu singen. »Ich werde dir jetzt eine Vision geben…«

Plötzlich sah Caramon sich selbst den Turm der Erzmagier betreten. Er blinzelte erstaunt. Er geht durch die Türen und durch die schaurigen Korridore! Das Bild war so real, daß Caramon voller Beunruhigung und Angst auf seinen eigenen Körper schaute, ob er auch wirklich hier wäre. Aber er war da. Er schien zur gleichen Zeit an zwei Orten zu sein. Wahre Macht. Der Krieger begann zu schwitzen, dann erbebte er vor Kälte.

Caramon – der Caramon in dem Turm – sucht seinen Bruder. Er wandert durch die leeren Korridore und ruft Raistlins Namen. Und schließlich findet er ihn.

Der junge Magier liegt auf dem kalten Steinboden. Blut fließt aus seinem Mund. Neben ihm liegt der Körper eines dunklen Elfen, tot – durch Raistlins Magie. Aber der Preis dafür ist schrecklich. Der junge Magier scheint selbst dem Tod nahe zu sein.

Caramon läuft zu seinem Bruder und hebt den zerbrechlichen Körper mit seinen starken Armen hoch. Er ignoriert Raistlins verzweifelte Bitten, ihn allein zu lassen, und macht sich daran, seinen Zwillingsbruder aus dem bösen Turm zu tragen. Er wird Raistlin von diesem Ort fortbringen, komme, was wolle. Aber gerade als sie die Tür erreichen, sehen sie eine Geisterscheinung. Eine weitere Prüfung, denkt Caramon grimmig. Nun, dieser Prüfung wird Raistlin sich nicht unterziehen müssen. Sanft legt er seinen Bruder auf den Boden und wendet sich dieser Herausforderung zu.

Was dann geschieht, macht keinen Sinn. Der beobachtende Caramon blinzelt erstaunt. Er sieht sich einen Zauberspruch werfen! Er hat sein Schwert fallen lassen und hält seltsame Gegenstände in den Händen und beginnt Worte zu sprechen, die er nicht versteht! Blitze schießen aus seinen Händen! Die Geisterscheinung verschwindet mit einem Aufschrei.

Der richtige Caramon wirft Par-Salian einen verstörten Blick zu, aber der Magier schüttelt nur den Kopf und zeigt wortlos zu dem Bild, das vor Caramons Augen flackert. Ängstlich und verwirrt wendet sich Caramon wieder der Vision zu.

Raistlin erhebt sich langsam.

»Wie hast du das geschafft?« fragt Raistlin Caramon, der an der Mauer lehnt.

Caramon weiß es nicht. Wie konnte er etwas tun, wozu sein Bruder jahrelange Studien brauchte! Aber der Krieger sieht sich selbst eine schlagfertige Erklärung abgeben. Caramon sieht auch den schmerzlichen und gequälten Blick im Gesicht seines Bruders.

»Nein, Raistlin!« schreit der echte Caramon. »Es ist ein Trick! Ein Trick von diesem alten Mann! Ich kann so etwas nicht! Ich habe dir niemals deine Magie gestohlen! Niemals!«

Aber der Caramon in der Vision – großspurig und draufgängerisch – macht sich daran, seinen »kleinen« Bruder zu »befreien«.

Raistlin hebt seine Hände und hält sie seinem Bruder entgegen. Aber nicht, um ihn zu umarmen. Nein. Der junge Magier, krank und verletzt und verzehrt vor Eifersucht, beginnt die Worte eines Zaubers zu sprechen – den letzten Zauber, zu dem er noch Kraft hat.

Flammen blitzen aus Raistlins Händen. Das magische Feuer bauscht sich vor und verschlingt seinen Bruder…

Caramon sieht, vor Entsetzen wie gelähmt, zu, wie er in der Vision von dem Feuer verzehrt wird… Er sieht zu, wie sein Bruder auf dem kalten Steinboden zusammenbricht.

»Nein! Raist…«

Kühle, sanfte Hände berührten sein Gesicht. Er konnte Stimmen hören, aber ihre Worte waren bedeutungslos. Er konnte verstehen, wenn er wollte. Aber er wollte sie nicht verstehen. Seine Augen waren geschlossen. Er konnte sie öffnen, aber er weigerte sich. Die Augen zu öffnen, die Worte zu verstehen – das würde seinen Schmerz nur real werden lassen.

»Ich muß mich ausruhen«, hörte Caramon sich sagen, dann sank er in die Dunkelheit zurück.

Wieder nähert er sich einem Turm, aber diesmal ist es ein anderer. Es ist der Sonnenturm in Silvanesti. Wieder ist Raistlin bei ihm, aber nun trägt sein Bruder die Schwarze Robe. Und jetzt ist es Raistlin, der Caramon hilft. Der große Krieger ist verletzt. Blut strömt ununterbrochen aus einer Speerwunde, die ihn fast seinen Arm gekostet hätte.

»Ich muß mich ausruhen«, sagt Caramon.

Sanft legt Raistlin ihn auf den Boden, macht es ihm bequem, lehnt ihn mit dem Rücken gegen den kalten Stein des Turms. Und dann macht Raistlin sich auf, ihn zu verlassen.

»Raist! Nein…«, schreit Caramon. »Du kannst mich hier nicht liegen lassen!«

Der verletzte, hilflose Krieger sieht Horden von untoten Elfen, von denen sie in Silvanesti angegriffen worden waren und die nur darauf warten, auf ihn loszustürmen. Nur eins hält sie noch zurück – die magische Macht seines Bruders.

»Raist! Laß mich nicht allein!« schreit er.

»Wie ist es, wenn man schwach und einsam ist?« fragt Raistlin ihn sanft.

»Raist! Mein Bruder…«

»Ich habe ihn schon einmal getötet, Tanis, ich kann es wieder tun!«

»Raist! Nein! Raist!«

»Caramon, bitte…« Eine andere Stimme, sanft. Sanfte Hände berührten ihn. »Caramon, bitte! Wach auf! Komm zurück, Caramon. Komm zu mir zurück. Ich brauche dich.«

Nein! Caramon schob diese Stimme weg. Er schob die sanften Hände weg. Nein, ich will nicht zurückkommen. Ich will nicht. Ich bin müde. Ich bin verletzt. Ich will mich ausruhen. Aber die Hände, die Stimme ließen ihn nicht ausruhen.

Und jetzt fällt er, fällt in eine entsetzlich rote Finsternis. Skelettfinger umklammern ihn, augenlose Köpfe wirbeln an ihm vorbei, ihre Münder zu stummen Schreien geöffnet. Er holt Luft, dann versinkt er in Blut. Nach Atem ringend, findet er schließlich fast erstickt den Weg zur Oberfläche zurück und schnappt nach Luft. Raistlin! Aber nein, er ist verschwunden. Seine Freunde. Tanis. Auch verschwunden. Er sieht, wie er weggespült wird. Das Schiff. Verschwunden. Zerborsten. Matrosen verwundet, ihr Blut vermischt mit dem blutroten Meer. Tika! Sie ist in seiner Nähe. Er zieht sie zu sich. Sie schnappt nach Luft. Aber er kann sie nicht festhalten. Das wirbelnde Wasser reißt sie aus seinen Armen und zieht ihn nach unten. Dieses Mal findet er die Oberfläche nicht mehr. Seine Lungen brennen, platzen. Tod… Ruhe… süße, warme…

Aber immer diese Hände! Sie ziehen ihn zurück zu der grauenhaften Oberfläche. Lassen ihn die brennende Luft einatmen. Nein, laß mich los!

Und dann andere Hände, die sich aus dem blutroten Wasser strecken. Feste Hände, sie ziehen ihn nach unten. Er fällt nach unten… unten… in die barmherzige Dunkelheit. Geflüsterte Worte der Magie besänftigen ihn, er atmet… atmet Wasser… und seine Augen sind geschlossen… das Wasser ist warm und tröstlich… Er ist wieder ein Kind.

Aber nicht ganz. Sein Zwillingsbruder fehlt.

Nein! Erwachen ist qualvoll. Laß mich für immer in diesem dunklen Traum schweben. Besser als der stechende, bittere Schmerz.

Aber die Hände ziehen ihn. Die Stimme ruft ihn.

»Caramon, ich brauche dich…«

Tika.

»Ich bin zwar kein Kleriker, aber ich glaube, es geht ihm gut. Laß ihn ruhig schlafen.«

Tika wischte schnell ihre Tränen weg, versuchte, stark und beherrscht zu erscheinen.

»Was… was war denn mit ihm?« Sie versuchte, ruhig zu fragen, konnte aber ein Schaudern nicht unterdrücken. »War er verwundet, als das Schiff… in den Strudel geriet? Seit Tagen ist er in diesem Zustand! Seitdem du uns gefunden hast.«

»Nein, ich glaube nicht. Wenn er verwundet gewesen wäre, hätten die Meer-Elfen ihn geheilt. Das war etwas anderes. Wer ist dieser Raist, von dem er immer spricht?«

»Sein Zwillingsbruder«, antwortete Tika zögernd.

»Was ist geschehen? Ist er gestorben?«

»Nein… nein. Ich bin mir nicht sicher, was geschehen ist. Caramon hat seinen Bruder sehr geliebt, und er… Raistlin hat ihn verraten.«

»Ich verstehe.« Der Mann nickte ernst. »So etwas geschieht dort oben. Und du fragst mich, warum ich hier unten lebe.«

»Du hast sein Leben gerettet!« sagte Tika. »Und ich kenne dich nicht… deinen Namen.«

»Zebuiah«, antwortete der Mann lächelnd. »Und ich habe nicht sein Leben gerettet. Er ist aus Liebe zu dir zurückgekehrt.«

Tika senkte ihren Kopf, ihre roten Locken verbargen ihr Gesicht. »Ich hoffe es«, flüsterte sie. »Ich liebe ihn so sehr. Ich würde für ihn sterben, wenn es ihn retten könnte.«

Da sie jetzt sicher war, daß mit Caramon alles in Ordnung war, richtete Tika ihre Aufmerksamkeit auf diesen seltsamen Mann. Er war mittleren Alters, glatt rasiert; seine Augen waren so weitherzig und offen wie sein Lächeln. Er war ein Mensch und in die rote Robe gekleidet. Beutel hingen an seinem Gürtel.

»Du bist ein Magier«, sagte Tika plötzlich. »Wie Raistlin!«

»Ah, das erklärt alles.« Zebuiah lächelte. »Als er mich in seinem Dämmerzustand gesehen hat, muß er sich an seinen Bruder erinnert haben.«

»Aber was machst du hier?« Tika sah sich zum ersten Mal in der seltsamen Umgebung um.

Sie hatte sie natürlich schon gesehen, als der Mann sie hierhergebracht hatte, aber in ihrer Sorge hatte sie nichts wahrgenommen. Jetzt bemerkte sie, daß sie sich in einer Kammer eines zerstörten Gebäudes befanden. Die Luft war warm und stickig. Pflanzen wuchsen üppig bei der feuchten Luft.

Es gab auch Möbel, so alt und ruiniert wie das Zimmer, die willkürlich aufgestellt waren. Caramon lag auf einem dreibeinigen Bett – die vierte Bettecke wurde von einem Stapel alter, moosbedeckter Bücher gestützt. Dünne Wasserbäche tröpfelten wie kleine, glitzernde Schlangen von einer Steinwand herab, die vor Feuchtigkeit glänzte. Tatsächlich glänzte alles vor Feuchtigkeit und spiegelte das blasse, unheimlich grüne Licht wider, das von dem Moos an der Wand herunterfunkelte.

Das Moos war überall, in jeder Farbe und jeder Art. Dunkelgrün, goldgelb, korallenrot – es kletterte die Wände hoch und wand sich über die kuppelförmige Decke.

»Was mache ich hier?« murmelte sie. »Und was ist hier?«

»Hier ist… Nun, vermutlich kannst du hier sagen«, antwortete Zebuiah freundlich. »Die Meer-Elfen haben euch vor dem Ertrinken gerettet, und ich habe euch hierhergebracht.«

»Meer-Elfen? Ich habe nie von Meer-Elfen gehört«, sagte Tika und sah sich neugierig um, als ob eine im Schrank versteckt sein könnte. »Und ich erinnere mich nicht, daß Elfen mich gerettet haben. Ich kann mich nur noch an so etwas wie riesige, sanfte Fische erinnern…«

»Oh, du brauchst dich nicht nach Meer-Elfen umzusehen. Du wirst sie nicht sehen. Sie fürchten und mißtrauen KreeaQUEKH – Luftatmern, in ihrer Sprache. Und jene Fische waren die Meer-Elfen. Nur in dieser Gestalt zeigen sie sich den KreeaQUEKH. Ihr nennt sie Delphine.«

Caramon bewegte sich und stöhnte im Schlaf. Tika legte ihre Hand auf seine Stirn, strich sein feuchtes Haar aus dem Gesicht, beruhigte ihn.

»Warum haben sie dann unser Leben gerettet?« fragte sie.

»Kennst du Elfen?« fragte Zebuiah.

»Ja«, antwortete Tika weich, an Laurana denkend.

»Dann weißt du auch, daß für alle Elfen das Leben heilig ist.«

»Ich verstehe.« Tika nickte. »Und wie die Elfen auf dem Land sagen sie sich von der Welt los, statt ihr zu helfen.«

»Sie tun, was sie können, um zu helfen«, wies Zebuiah sie streng zurecht. »Urteile nicht über etwas, das du nicht verstehst, junge Frau.«

»Es tut mir leid«, sagte Tika und errötete. Sie wechselte das Thema. »Aber du bist ein Mensch. Warum…«

»Warum ich hier bin? Ich habe weder Zeit noch Lust, dir meine Geschichte zu erzählen, denn offensichtlich würdest du mich nicht verstehen. Auch die anderen nicht.«

Tika hielt den Atem an. »Es gibt noch andere? Hast du noch andere von unserem Schiff gesehen… unsere Freunde?«

Zebuiah zuckte mit den Schultern. »Es sind immer andere hier unten. Es gibt unendlich viele Ruinen hier, und in vielen sind kleine Luftlöcher. Diejenigen, die wir retten, bringen wir in die am nächsten gelegenen Gebäude. Was deine Freunde betrifft, dazu kann ich nichts sagen. Wenn sie mit euch auf dem Schiff waren, sind sie wahrscheinlich gestorben. Die Meer-Elfen haben für die Toten die entsprechenden Rituale durchgeführt und ihre Seelen auf den Weg geschickt.« Zebuiah erhob sich.

»Es freut mich, daß dein junger Freund überlebt hat. Es gibt hier genug zum Essen. Die meisten Pflanzen sind eßbar. Wenn du möchtest, kannst du in den Ruinen Spazierengehen. Ich habe sie mit einem Zauber belegt, damit du nicht in das Meer gerätst und ertrinkst. Bring hier alles in Ordnung. Du wirst noch mehr Möbel…«

»Aber warte!« schrie Tika. »Wir können hier nicht bleiben! Es gibt doch sicher einen Weg nach oben?«

»Alle fragen mich danach«, sagte Zebuiah mit einer Spur von Ungeduld. »Und offen gesagt, denke ich auch so. Es muß einen Weg nach oben geben. Manche scheinen ihn zufällig zu finden. Dann gibt es noch solche, die einfach entscheiden, daß sie hierbleiben wollen – so wie ich. Ich habe mehrere alte Freunde, die seit Jahren hier leben. Aber, überleg es dir. Sieh dich um. Aber achte darauf, in den Teilen der Ruinen zu bleiben, die wir hergerichtet haben.« Er wandte sich zur Tür.

»Warte! Geh nicht!« Tika sprang auf und lief hinter dem rotgekleideten Magier her. »Du könntest meine Freunde sehen. Du könntest ihnen sagen…«

»Oh, das bezweifle ich«, erwiderte Zebuiah. »Um die Wahrheit zu sagen – und keine Beleidigung, junge Frau -, ich habe genug von deiner Unterhaltung. Je länger ich hier lebe, um so mehr verärgern mich solche KreeaQUEKH wie du. Immer in Eile. Niemals zufrieden mit einem Ort. Du und dein junger Freund, ihr wäret viel glücklicher hier unten auf dieser Welt als oben in der anderen. Aber nein, ihr bringt euch selbst um bei dem Versuch, einen Weg zurück zu finden. Und was erwartet euch oben? Verrat!« Er warf einen kurzen Blick auf Caramon.

»Oben ist Krieg!« schrie Tika leidenschaftlich. »Die Leute leiden. Kümmert dich das nicht?«

»Die Leute oben leiden immer«, antwortete Zebuiah. »Es gibt nichts, was ich dagegen unternehmen könnte. Nein, es kümmert mich nicht. Wohin bringt es dich? Wohin hat es ihn gebracht?«

Er drehte sich um und schlug die klapprige Tür beim Hinausgehen hinter sich zu.

Tika starrte dem Mann unsicher nach, fragte sich, ob sie ihm nicht nachlaufen und ihn festhalten sollte. Er war offenbar ihre einzige Verbindung zu der Welt dort oben. Wo auch immer hier unten war…

»Tika…«

»Caramon!« Zebuiah vergessend, lief Tika zu dem Krieger, der gerade versuchte, sich aufzurichten.

»Wo im Namen der Hölle sind wir?« fragte er und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Was ist passiert? Das Schiff…«

»Ich… ich weiß es nicht genau«, stammelte Tika. »Fühlst du dich kräftig genug, um zu sitzen? Vielleicht solltest du lieber liegen…«

»Mir geht es gut«, schnappte Caramon. Als sie vor seiner Grobheit zusammenzuckte, streckte er seine Arme aus und zog sie an sich. »Es tut mir leid, Tika. Verzeih mir. Es ist nur… ich…« Er schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe«, sagte Tika leise. Sie legte ihren Kopf an seine Brust und erzählte ihm von Zebuiah und den Meer-Elfen. Caramon hörte zu, blinzelte verwirrt, während er langsam die Neuigkeiten verdaute. Mit finsterem Blick sah er zur Tür.

»Ich wünschte, ich wäre wach gewesen«, murmelte er. »Dieser Zebuiah kennt mit großer Wahrscheinlichkeit den Weg nach oben. Ich hätte ihn schon dazu gebracht, ihn uns zu zeigen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Tika zweifelnd. »Er ist ein Zauberkundiger wie…« Sie brach eilig ab. Als sie den Schmerz in Caramons Gesicht sah, schmiegte sie sich enger an ihn und streichelte sein Gesicht.

»Weißt du, Caramon«, sagte sie leise, »irgendwie hat er recht. Wir könnten hier unten glücklich sein. Ist dir klar, daß wir zum ersten Mal allein sind? Ich meine, richtig allein, nur du und ich? Und es ist irgendwie so ruhig und friedlich und schön. Das schimmernde Licht von dem Moos ist so weich und heimelig, nicht so grob und stechend wie das Sonnenlicht. Und hör das Wasser murmeln, es singt für uns. Dann diese uralten Möbel, dieses lustige Bett…«

Tika verstummte. Sie spürte Caramons Arme um ihren Körper. Seine Lippen fuhren über ihr Haar. Ihre Liebe zu ihm wallte in ihr auf, ließ ihr Herz vor Schmerz und Verlangen fast stillstehen. Schnell schlang sie ihre Arme um ihn, hielt ihn fest, spürte sein Herz gegen ihr Herz schlagen.

»O Caramon!« flüsterte sie atemlos. »Laß uns glücklich sein! Bitte! Ich… ich weiß, daß wir irgendwann gehen müssen. Wir müssen die anderen finden und zu der Welt nach oben zurückkehren. Aber jetzt, laß uns allein sein – nur du und ich!«

»Tika!« Caramon umklammerte sie, drückte sie an sich, als ob er ihre Körper zu einem verschmelzen wollte, zu einem einzigen Lebewesen. »Tika, ich liebe dich! Ich… ich habe dir schon einmal gesagt, daß ich erst mit dir Zusammensein kann, wenn ich mich völlig dir hingeben kann. Ich kann es nicht noch nicht.«

»Doch, du kannst!« sagte Tika heftig. Sie schob sich von ihm fort und sah ihm in die Augen. »Raistlin ist nicht mehr da, Caramon! Du kannst jetzt dein eigenes Leben führen!«

Caramon schüttelte sanft den Kopf. »Raistlin ist immer noch ein Teil von mir. Er wird es immer sein, so wie ich immer ein Teil von ihm sein werde. Kannst du das verstehen?«

Nein, sie konnte es nicht, aber sie nickte trotzdem, ließ ihren Kopf hängen.

Lächelnd holte Caramon Luft. Dann legte er seine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. Ihre Augen sind wunderschön, dachte er. Grün, mit braunen Pünktchen. Jetzt schimmerten sie von Tränen. Ihre Haut war gebräunt, und sie hatte mehr Sommersprossen als sonst, und sie waren ihr lästig. Tika würde sieben Jahre ihres Lebens für eine makellose Haut, wie Laurana sie hatte, geben. Aber Caramon liebte jede Sommersprosse, er liebte ihr krauses, lockiges rotes Haar.

Tika sah die Liebe in seinen Augen. Sie hielt den Atem an. Er zog sie näher zu sich. Sein Herz klopfte schneller, als er flüsterte: »Ich gebe dir alles, was ich von mir geben kann, Tika, wenn du dich damit zufrieden gibst. Ich wünschte um deinetwillen, es wäre mehr.«

»Ich liebe dich!« sagte sie nur und umarmte ihn.

Er wollte sichergehen, daß sie verstanden hatte. »Tika…«, begann er.

»Pst, Caramon…«

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