15 Apoletta

Nach einer langen Verfolgungsjagd durch die Straßen einer Stadt, deren zerfallende Schönheit für Tanis ein Greuel war, betraten sie einen der Paläste im Zentrum. Sie liefen durch einen ausgestorbenen Garten und einen Korridor, bogen um eine Ecke und blieben stehen. Der rotgekleidete Mann war nirgendwo zu sehen.

»Stufen!« sagte Flußwind plötzlich. Tanis sah, daß sie oben auf einer Marmortreppe standen, die steil abfiel. Darum also hatten sie den Mann aus den Augen verloren. Weiter unten konnten sie wieder die rote Robe flattern sehen.

»Bleibt im Schatten der Mauer«, warnte Flußwind, als er sie zu einer Treppenseite führte. Die Treppe bot so viel Platz, daß fünfzig Männer nebeneinander hätten hinuntergehen können. Verblaßte und rissige Wandgemälde waren immer noch so lebensecht erhalten, daß Tanis wieder den Eindruck bekam, daß die dargestellten Personen lebendiger waren als er. Vielleicht hatten einige genau an dieser Stelle gestanden, als das feurige Gebirge auf den Tempel des Königspriesters gestürzt war… Er setzte seinen Weg fort und versuchte, nicht daran zu denken. Nach etwa zwanzig Stufen kamen sie zu einem breiten Treppenabsatz, der mit lebensgroßen silbernen und goldenen Statuen geschmückt war. Von dort führten die Stufen weiter nach unten zu einem anderen Treppenabsatz, dann folgten noch mehr Stufen, und so ging es weiter, bis sie alle erschöpft waren und nach Luft rangen. Immer noch flatterte vor ihnen die rote Robe.

Plötzlich nahm Tanis eine Veränderung in der Luft wahr. Sie wurde feuchter, ein starker Geruch von Meer. Als er lauschte, hörte er das schwache Geräusch von Wasser, das gegen Stein plätscherte. Flußwind berührte seinen Arm und zog ihn in den Schatten zurück. Sie waren nahe am Ende der Stufen angelangt. Der rotgekleidete Mann stand auf der untersten Stufe und spähte in einen dunklen Teich, der sich vor ihm in eine riesige, düstere Höhle erstreckte.

Der rotgekleidete Mann kniete am Rand des Wassers nieder. Und dann bemerkte Tanis eine andere Gestalt im Wasser! Er konnte im Fackelschein Haare glänzen sehen – sie hatten einen blassen, grünlichen Schimmer. Zwei schlanke weiße Arme ruhten auf den Steinstufen, der Rest der Gestalt war unter Wasser. Der Kopf der Gestalt lag auf ihren Armen in einem Zustand völliger Entspanntheit. Der rotgekleidete Mann streckte eine Hand aus und berührte sanft die Gestalt im Wasser. Sie hob ihren Kopf.

»Ich habe gewartet«, sagte eine Frauenstimme anklagend. Tanis keuchte. Die Frau sprach in der Elfensprache! Jetzt konnte er ihr Gesicht sehen, die großen, strahlenden Augen, die spitz zulaufenden Ohren, die zarten Gesichtszüge…

Eine Meer-Elfe!

Bruchstücke von Geschichten aus seiner Kindheit fielen Tanis wieder ein, während er versuchte, der Unterhaltung zwischen dem rotgekleideten Mann und der Elfenfrau, die ihn liebevoll anlächelte, zu folgen.

»Es tut mir leid, Liebste«, entschuldigte sich der rotgekleidete Mann in der Elfensprache und setzte sich zu ihr. »Ich habe nach dem jungen Mann gesehen, dessentwegen du dir Sorgen gemacht hast. Es geht ihm jetzt gut. Aber er war nahe dran. Du hattest recht. Er wollte unbedingt sterben. Irgend etwas wegen seines Bruders, eines Magiers, der ihn verraten hat.«

»Caramon!« murmelte Tanis. Flußwind sah ihn fragend an. Der Barbar konnte der Elfenunterhaltung natürlich nicht folgen. Tanis schüttelte den Kopf, er wollte nicht verpassen, was der Mann sonst noch erzählte.

»QueaKI’ICHKeecx«, sagte die Frau verächtlich. Tanis war verwirrt, dieses Wort war sicher nicht elfisch!

»Ja!« Der Mann runzelte die Stirn. »Nachdem ich mich vergewissert hatte, daß die beiden in Sicherheit sind, ging ich zu den anderen. Einer von ihnen – ein Bärtiger, ein Halb-Elf sprang mich an, als ob er mich verschlingen wollte! Den anderen, die wir gerettet haben, geht es gut.«

»Die Toten haben wir den Ritualen entsprechend aufgebahrt«, sagte die Frau, und Tanis konnte den uralten Kummer in ihrer Stimme hören, den Kummer der Elfen um den Verlust von Leben.

»Ich hätte sie gern gefragt, was sie im Blutmeer von Istar zu suchen hatten. Ich habe niemals davon gehört, daß ein Kapitän so dumm ist, sich in den Mahlstrom zu wagen. Das Mädchen hat mir erzählt, daß oben Krieg sei. Vielleicht blieb ihnen nichts anderes übrig.«

Die Elfenfrau spritzte spielerisch den rotgekleideten Mann naß.

»Dort oben ist immer Krieg. Du bist zu neugierig, mein Geliebter. Manchmal glaube ich, du könntest mich verlassen und in deine Welt zurückkehren. Besonders wenn du mit diesen KreeaQUEKH geredet hast.«

Tanis hörte eine Spur aufrichtiger Sorge in der Stimme der Frau, obwohl sie immer noch verspielt den Mann naßspritzte. Der rotgekleidete Mann lehnte sich vor und küßte ihr nasses grünliches Haar, das im Licht der flackernden Fackel, die über ihnen an der Wand hing, glänzte. »Nein, Apoletta. Laß sie ihre Kriege führen, und laß ihnen die Brüder, die ihre Brüder verraten. Laß sie ihre ungestümen Halb-Elfen und ihre dummen Kapitäne haben. Solange meine Magie mir dient, werde ich unter den Wellen bleiben…«

»Um auf ungestüme Halb-Elfen zu sprechen zu kommen«, unterbrach Tanis ihn in der Elfensprache, während er schnell die Stufen hinunterschritt. Flußwind, Goldmond und Berem folgten ihm, obwohl sie keine Ahnung hatten, worüber geredet wurde.

Der Mann wendete beunruhigt seinen Kopf. Die Elfenfrau verschwand so schnell im Wasser, daß sich Tanis einen Moment lang fragte, ob er sich ihre Existenz vielleicht nicht ausgedacht hätte. Nicht eine kleine Welle auf der dunklen Oberfläche verriet, wo sie gewesen war. Als Tanis die unterste Stufe erreicht hatte, konnte er die Hand des Zauberkundigen eben noch ergreifen, als dieser gerade der Meer-Elfe ins Wasser folgen wollte.

»Warte! Ich werde dich nicht verschlingen!« bat Tanis. »Es tut mir leid, wie ich mich verhalten habe. Ich weiß, es macht keinen guten Eindruck, dir so nachzuschleichen, wie wir es getan haben. Aber uns blieb nichts anderes übrig! Ich weiß, ich kann dich nicht aufhalten, wenn du einen Zauber wirfst. Ich weiß, daß du mich in Flammen aufgehen lassen könntest oder mich einschläfern oder mich in Spinnweben einhüllen oder hundert andere Dinge. Ich war mit Magiern zusammen. Aber würdest du uns bitte zuhören? Bitte hilf uns. Ich habe dich von zweien unserer Freunde reden hören – ein großer Mann und ein Mädchen. Du hast gesagt, daß der Mann fast gestorben wäre sein Bruder hätte ihn verraten. Wir wollen sie finden. Willst du uns nicht sagen, wo sie sind?«

Der Mann zögerte.

Tanis redete eilig und zusammenhanglos weiter in seinem Versuch, den Mann festzuhalten, der ihnen helfen könnte. »Ich habe die Frau hier mit dir gesehen. Ich hörte sie sprechen. Ich weiß, was sie ist. Eine Meer-Elfe, nicht wahr? Du hast recht, ich bin ein Halb-Elf. Aber ich bin bei den Elfen aufgewachsen und kenne ihre Legenden. Ich dachte, daß es nur Legenden wären. Aber auch bei Drachen dachte ich, daß sie nur eine Legende wären. Oben in der Welt herrscht Krieg. Und du hast recht. Irgendwo scheint immer Krieg zu herrschen. Aber dieser Krieg wird sich nicht auf die Wasseroberfläche beschränken. Wenn die Königin der Finsternis siegt, kannst du sicher sein, daß sie von der Existenz der Meer-Elfen erfährt. Ich weiß nicht, ob es hier auch Drachen gibt, aber…«

»Es gibt Meer-Drachen, Halb-Elf«, sagte eine Stimme, und die Elfenfrau tauchte wieder aus dem Wasser auf. Sie glitt durch das dunkle Wasser, bis sie die Steinstufen erreicht hatte. Sie legte ihre Hände auf die Stufen und sah mit leuchtendgrünen Augen zu ihm auf. »Und wir haben Gerüchte über ihre Rückkehr gehört. Jedoch haben wir ihnen nicht geglaubt. Wir wußten nicht, daß die Drachen erwacht waren. Wessen Schuld war das?«

»Spielt das eine Rolle?« fragte Tanis erschöpft. »Sie haben die uralte Heimat zerstört. Silvanesti ist jetzt ein Land der Alpträume. Die Qualinesti wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Die Drachen töten und verbrennen alles. Nichts, niemand ist sicher. Die Dunkle Königin hat nur eine Absicht – die Herrschaft über alles, was lebt, zu gewinnen. Werdet ihr sicher sein? Selbst hier unten? Denn ich nehme an, daß wir uns unten im Meer befinden.«

»Du hast recht, Halb-Elf«, sagte der rotgekleidete Mann seufzend. »Ihr seid unten im Meer in den Ruinen der Stadt Istar. Die Meer-Elfen haben euch gerettet und hierhergebracht, so wie sie es mit allen Schiffbrüchigen tun. Ich weiß, wo eure Freunde sind, und kann euch zu ihnen führen. Darüber hinaus weiß ich nichts, was ich für euch tun könnte.«

»Uns hier hinausbringen«, sagte Flußwind kategorisch, der die Unterhaltung zum ersten Mal verstand. Zebuiah hatte in der Umgangssprache geredet. »Wer ist diese Frau, Tanis? Sie sieht elfisch aus.«

»Sie ist eine Meer-Elfe. Sie heißt…«, Tanis stockte.

»Apoletta«, sagte die Elfenfrau lächelnd. »Verzeiht mir, daß ich euch nicht richtig begrüßen kann, aber wir bekleiden unsere Körper nicht wie ihr KreeaQUEKH. Selbst nach all diesen Jahren kann ich meinen Gatten nicht überreden, damit aufzuhören, seinen Körper mit dieser lächerlichen Robe zu bedecken, wenn er sich an Land befindet. Er bezeichnet es als Schamgefühl. Darum will ich weder euch noch ihn in Verlegenheit bringen und nicht aus dem Wasser steigen, um euch angemessen zu begrüßen.«

Tanis, der rot geworden war, übersetzte die Worte der Elfenfrau seinen Freunden. Goldmonds Augen weiteten sich. Berem schien nicht zuzuhören, er war in eine Art inneren Traum verloren, ihm war nur vage bewußt, was um ihn herum geschah. Flußwinds Miene veränderte sich nicht. Offenbar konnte ihn nichts mehr erschüttern, was er über Elfen hörte.

»Jedenfalls haben uns die Meer-Elfen gerettet«, fuhr Tanis fort. »Wie alle Elfen betrachten sie das Leben als heilig und helfen jedem, der im Meer verloren ist oder ertrinkt. Dieser Mann, ihr Gatte…«

»Zebuiah«, sagte er und reichte ihnen seine Hand.

»Ich bin Tanis, der Halb-Elf, Flußwind und Goldmond vom Stamm der Que-Shu und Berem…«, stammelte Tanis und verstummte, nicht genau wissend, was er sagen sollte. Apoletta lächelte höflich, aber dann verschwand ihr Lächeln.

»Zebuiah«, sagte sie, »such die Freunde, von denen der HalbElf redet, und bring sie hierher.«

»Wir könnten mit dir gehen«, bot Tanis an. »Wenn du schon dachtest, daß ich dich verschlingen würde, kann ich nicht dafür garantieren, was Caramon tun wird…«

»Nein«, sagte Apoletta kopfschüttelnd. »Schick die Barbaren, Halb-Elf. Du bleibst hier. Ich möchte mit dir reden und mehr über den Krieg erfahren, der uns, wie du sagst, in Gefahr bringen könnte. Es macht mich traurig zu erfahren, daß die Drachen erwacht sind. Wenn das stimmt, befürchte ich, daß du recht hast. Unsere Welt wird nicht länger sicher sein.«

»Ich komme bald zurück, Liebste«, sagte Zebuiah.

Apoletta reichte ihrem Gatten die Hand. Er nahm sie, führte sie an seine Lippen und küßte sie sanft. Dann ging er. Tanis übersetzte schnell für Flußwind und Goldmond, die sich sofort bereit erklärten, Caramon und Tika zu suchen.

Als sie Zebuiah zurück durch die unheimlichen, zerstörten Straßen folgten, erzählte er ihnen Geschichten über den Fall von Istar und wies beim Vorbeigehen auf verschiedene Sehenswürdigkeiten.

»Seht ihr…«, erklärte er, »als die Götter das feurige Gebirge auf Krynn schleuderten, schlug es auf Istar ein und bildete einen riesigen Krater im Land. Das Meereswasser stürzte hinein und füllte die Leere auf und schuf das, was als das Blutmeer bekannt ist. Viele Gebäude in Istar wurden zerstört, aber einige überlebten, und hier und dort behielten sie kleine Luftlöcher. Die Meer-Elfen fanden heraus, daß dies ein hervorragender Platz für die Seeleute sei, die sie aus gekenterten Schiffen retteten. Die meisten von ihnen fühlten sich bald wie zu Hause.«

Der Magier sprach mit einer Spur von Stolz, die Goldmond amüsant fand, aber sie war höflich genug, es nicht zu zeigen. Es war der Besitzerstolz, als ob die Ruinen Zebuiah gehörten und er sie zum Vergnügen der Öffentlichkeit hergerichtet hätte.

»Aber du bist ein Mensch. Du bist kein Meer-Elf. Warum lebst du hier?« fragte Goldmond.

Der Magier lächelte, seine Augen blickten zurück in die Vergangenheit. »Ich war jung und gierig«, sagte er leise, »immer in der Hoffnung, einen schnellen Weg zum Reichtum zu finden. Meine magischen Künste führten mich in die Tiefen des Ozeans auf der Suche nach dem verlorenen Schatz von Istar. Ich fand Reichtümer, aber nicht Gold oder Silber. Eines Abends sah ich Apoletta in den Seewäldern schwimmen. Ich sah sie, bevor sie mich sah, bevor sie ihre Gestalt ändern konnte. Ich verliebte mich in sie… und ich habe mich lange Zeit um sie bemüht, bis sie die Meine wurde. Sie kann oben nicht leben, und nachdem ich so lange in Frieden und ruhiger Schönheit hier unten gelebt hatte, wußte ich, daß auch ich auf der Welt oben kein Leben mehr führen könnte. Aber gelegentlich bereitet es mir Vergnügen, mit Menschen zu reden, und darum wandere ich in den Ruinen umher, um nachzusehen, wen die Elfen hergebracht haben.«

Goldmond sah sich um, als Zebuiah eine Pause machte. »Wo ist denn der legendäre Tempel des Königspriesters?« fragte sie. Ein Schatten fuhr über das Gesicht des Magiers. Sein freundlicher Blick bekam einen Ausdruck tiefen Grams, vermischt mit Ärger.

»Es tut mir leid«, sagte Goldmond schnell. »Ich wollte dir keinen Kummer bereiten…«

»Nein, es ist in Ordnung«, sagte Zebuiah mit einem kurzen, traurigen Lächeln. »Eigentlich tut es mir gut, mich an diese schrecklich düstere Zeit zu erinnern. Ich vergesse gern bei meinen täglichen Streifzügen, daß dies einst eine Stadt der Freude, des Kummers, des Lebens und der atemberaubendsten Dinge war. Kinder spielten in den Straßen – sie spielten auch an jenem schrecklichen Abend, als die Götter das feurige Gebirge hinunterwarfen.«

Einen Moment lang schwieg er, dann fuhr er mit einem Seufzen fort.

»Du fragst, wo der Tempel steht. Es gibt ihn nicht mehr. An der Stelle, wo der Königspriester gestanden und den Göttern seine hochmütigen Forderungen zugeschrien hat, ist jetzt ein dunkles Loch. Obwohl mit Meereswasser gefüllt, lebt dort nichts. Niemand kennt seine Tiefe, denn die Meer-Elfen wagen nicht, sich ihm zu nähern. Ich habe so lange in das dunkle, stehende Wasser geschaut, bis ich das Entsetzen nicht mehr ertragen konnte, und ich glaube nicht, daß diese Dunkelheit zu einem Grund führt. Das Loch ist so tief wie das Herz des Bösen.«

Zebuiah hielt in einer Straße an und sah Goldmond aufmerksam an. »Die Schuldigen wurden bestraft. Aber warum die Unschuldigen? Warum mußten sie leiden? Du trägst das Medaillon von Mishakal, der Göttin der Heilkunst. Verstehst du es? Hat die Göttin es dir erklärt?«

Goldmond zögerte, über diese Frage verstört, da sie selbst nach der Antwort suchte. Flußwind stand neben ihr, wie immer streng und schweigend seine Gedanken verbergend.

»Ich habe mir diese Frage oft gestellt«, stammelte Goldmond. Sie trat näher zu Flußwind, berührte seinen Arm mit ihrer Hand, als ob sie sich vergewissern wollte, daß er in der Nähe war.

»Einst wurde ich in einem Traum bestraft für meine Fragen, für meinen fehlenden Glauben. Bestraft mit dem Verlust desjenigen, den ich liebe.« Flußwind legte seinen starken Arm um sie und zog sie eng an sich. »Aber immer wenn ich mich wegen meiner Fragen schäme, werde ich daran erinnert, daß es ebendiese Fragen waren, die mich zu den alten Göttern geführt haben.«

Einen Moment lang schwieg sie. Flußwind streichelte über ihr silbergoldenes Haar, und sie sah lächelnd zu ihm hoch. »Nein«, sagte sie leise zu Zebuiah, »ich kenne die Lösung dieses Rätsels nicht. Ich frage immer noch. Ich brenne immer noch vor Zorn, wenn ich die Unschuldigen leiden und die Schuldigen belohnt sehe. Aber ich weiß jetzt, daß mein Zorn wie ein Schmiedefeuer sein kann. In seiner Hitze wird der unbehandelte Erzklumpen, das heißt meine Seele, erwärmt und geformt zu dem glänzenden, stählernen Stab, der mein Glaube ist. Dieser Stab stützt mein schwaches Fleisch.«

Zebuiah musterte Goldmond schweigend, als sie mitten in den Ruinen von Istar stand, ihr silbergoldenes Haar glänzte wie das Sonnenlicht, das niemals die zerstörten Gebäude berühren würde. Die vollendete Schönheit ihres Gesichts war gezeichnet von den Erlebnissen in den dunklen Straßen, durch die sie gereist war. Jedoch beeinträchtigten diese Spuren des Leidens und der Verzweiflung keineswegs ihre Schönheit, sondern verstärkten sie nur noch. In ihren Augen lag Weisheit, jetzt bereichert von der großen Freude ihres Wissens, daß sie in ihrem Leib ein neues Leben trug.

Der Blick des Magiers wanderte zu dem Mann, der die Frau so sanft in seinen Armen hielt. Auch sein Gesicht trug die Spuren eines langen, qualvollen Weges. Auch wenn dieses Gesicht immer streng und gleichmütig aussehen würde, seine tiefe Liebe zu dieser Frau zeigte sich deutlich in den dunklen Augen des Mannes und in seiner sanften Berührung.

Vielleicht habe ich einen Fehler begangen, so lange hierzubleiben, dachte Zebuiah, der sich plötzlich alt und traurig fühlte. Vielleicht hätte ich helfen können, wenn ich oben geblieben wäre und meinen Zorn gebraucht hätte – so wie diese beiden -, um Antworten zu finden. Statt dessen habe ich meinen Zorn an meiner Seele nagen lassen, bis es leichter schien, ihn hier unten zu vergessen.

»Wir sollten nicht länger warten«, sagte Flußwind abrupt.

»Caramon wird schnell auf die Idee kommen, uns zu suchen, wenn er es nicht bereits tut.«

»Ja«, sagte Zebuiah. »Wir sollten gehen, obwohl ich nicht glaube, daß der junge Mann und die Frau schon aufgebrochen sind. Er war sehr schwach…«

»War er verletzt?« fragte Goldmond besorgt.

»Nicht am Körper«, erwiderte Zebuiah, während sie ein baufälliges Gebäude betraten. »In seiner Seele war er verletzt. Ich konnte das erkennen, schon bevor mir das Mädchen von seinem Zwillingsbruder erzählte.«

Eine dunkle Linie bildete sich zwischen Goldmonds Augenbrauen, ihre Lippen preßten sich zusammen.

»Entschuldige mich, Dame von den Ebenen«, sagte Zebuiah mit einem leichten Lächeln, »aber ich sehe, daß das Schmiedefeuer, von dem du gesprochen hast, in deinen Augen lodert.«

Goldmond errötete. »Ich habe dir gesagt, daß ich immer noch schwach bin. Ich sollte in der Lage sein, Raistlin und das, was er seinem Bruder angetan hat, ohne weiteres zu akzeptieren. Ich sollte den Glauben haben, daß dies alles Teil des größeren Guten ist, das ich nicht begreifen kann. Aber leider kann ich es nicht. Ich kann nur beten, daß die Götter ihn aus meinem Weg halten.«

»Ich nicht«, sagte Flußwind plötzlich mit barscher Stimme.

»Ich nicht«, wiederholte er grimmig.

Caramon starrte in die Dunkelheit. Tika, in seine Arme gekuschelt, war schnell eingeschlafen. Er spürte ihr Herz schlagen, er hörte sie leise atmen. Er fuhr mit seiner Hand durch ihre roten Locken, die über seine Schulter flossen, aber Tika bewegte sich bei seiner Berührung, und er hörte sofort auf, aus Angst, sie zu wecken. Sie soll sich ausruhen. Nur die Götter wissen, wie lang sie nicht geschlafen und über ihn gewacht hatte. Sie würde ihm das niemals erzählen, das wußte er. Als er sie gefragt hatte, hatte sie nur gelacht und ihm erklärt, daß er schnarchen würde.

Aber in ihrem Lachen war ein Beben gewesen, und sie hatte nicht in seine Augen sehen können.

Caramon streichelte besänftigend ihre Schulter, und sie schmiegte sich eng an ihn. Beruhigt stellte er fest, daß sie tief schlief, dann seufzte er. Vor nur wenigen Wochen hatte er Tika geschworen, daß er niemals ihre Liebe annehmen würde, bis er sich ihr mit Körper und Seele völlig hingeben könnte. Er konnte immer noch seine Worte hören: Meine erste Verpflichtung gilt meinem Bruder. Ich bin seine Stärke.

Jetzt war Raistlin verschwunden, er hatte seine eigene Stärke gefunden. So wie er ihm, Caramon, erklärte hatte: Ich brauche dich nicht mehr.

Ich sollte froh sein, sagte sich Caramon, während er in die Dunkelheit starrte, ich liebe Tika, und sie liebt mich. Und jetzt sind wir frei, um diese Liebe zu leben. Ich kann jetzt diese Bindung mit ihr eingehen. Jetzt kann sie die erste in meinen Gedanken sein. Sie liebt, sie gibt. Sie verdient es, geliebt zu werden.

Raistlin hatte es nicht verdient. Zumindest dachten alle so. Wie oft habe ich Tanis Sturm fragen hören, wenn er dachte, ich hörte es nicht, warum ich mich mit dem Sarkasmus, den bitteren Beschuldigungen, den unverschämten Befehlen abfinde. Ich habe ihre mitleidigen Blicke gesehen. Ich weiß, sie denken, daß ich manchmal langsam denke, und es stimmt – verglichen mit Raistlin. Ich bin der Ochse, der sich dahinschleppt, die Last klaglos erträgt. Das denken sie von mir.

Sie verstehen es nicht. Sie brauchen mich nicht. Nicht einmal Tika braucht mich – nicht so, wie Raist mich gebraucht hat. Sie haben ihn niemals gehört, wenn er nachts schreiend aufgewacht ist, als er noch klein war. Man hat uns so oft allein gelassen, ihn und mich. Es war niemand da in der Dunkelheit, der ihn gehört und getröstet hat, nur ich. Er konnte sich nie an diese Träume erinnern, aber sie waren entsetzlich. Sein schmächtiger Körper zitterte vor Angst. Seine Augen waren vom Anblick der furchtbaren Dinge, die nur er sehen konnte, verstört. Er hat sich schluchzend an mich geklammert. Und ich habe ihm Geschichten erzählt oder Schattenspiele an der Wand gemacht, um das Entsetzen zu vertreiben.

»Schau, Raist«, habe ich gesagt, »Häschen…«, und ich habe dann zwei Finger hochgehalten und sie wie Hasenohren bewegt. Nach einer Weile hat er dann mit dem Zittern aufgehört. Er hat nicht gelächelt oder gelacht. Das hat er nie getan, auch nicht, als wir klein waren. Aber er entspannte sich.

»Ich muß schlafen. Ich bin so müde«, hat er geflüstert und meine Hand festgehalten. »Aber du bleibst wach, ja, Caramon? Beschütze meinen Schlaf. Halte sie fern. Sie dürfen mich nicht kriegen.«

»Ich bleibe wach. Niemand wird dir weh tun, Raist!« habe ich versprochen.

Dann hat er fast gelächelt und erschöpft seine Augen geschlossen. Ich hielt mein Versprechen. Ich bin wach geblieben, während er schlief. Und es war schön. Vielleicht hat es sie ferngehalten, denn solange ich wach blieb und aufpaßte, hatte er keine Alpträume.

Und auch als er älter wurde, schrie er immer noch manchmal in der Nacht und griff nach mir. Und ich war da. Aber was wird er jetzt tun? Was wird er ohne mich tun, wenn er in der Finsternis ist, allein, verloren und verängstigt? Was wird er ohne mich tun?

Caramon schloß seine Augen und begann zu weinen, ganz leise, um Tika nicht zu wecken.

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