1. Kapitel



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9. September 1940

Aus dem Tätigkeitsbericht des 17. Lissabonner Polizeireviers in der Avenida E. Duarte Pacheco:

15 Uhr 22: Anruf aus dem Hause 45 Rua Marques da Fronteira. Frauenstimme bittet dringend um Hilfe gegen Dieb. Die Sergeanten Alcantara und Branco mit Stationswagen losgeschickt.

16 Uhr 07: Sergeanten Alcantara und Branco kehren zurück und bringen mit:

a) Estrella Rodrigues, röm.-kath., verwitwet, geboren 27. 3. 1905, port. Staatsbürgerin, Konsulin von Costa Rica, wohnhaft 45 Rua Marques da Fronteira.

b) Jean Leblanc, protest., ledig, geb. 2. 1. 1910, franz. Staatsbürger, Bankier, zur Zeit ohne festen Wohnsitz (Flüchtling, portug. Durchreisevisum).

Estrella Rodrigues erklärt zur Sache: »Ich verlange die Festnahme des Jean Leblanc, der mich bestohlen hat. Ich kenne Leblanc seit zwei Wochen. Er hat mich häufig in meiner Villa besucht. Seit fünf Tagen vermisse ich ein schweres goldenes Armband (achtzehnkarätig, feingliedrig, 150 Gramm, mit kleinen und großen Brillanten), hergestellt von dem Juwelier Miguel da Foz in der Rua Alexandre Herculano. Kaufwert: etwa 180 000 Escudos. Ich habe Leblanc den Diebstahl auf den Kopf zugesagt, und er hat ihn auch zugegeben. Ich habe ihm eine letzte Frist bis heute 12 Uhr mittag gesetzt, mir mein Eigentum wiederzugeben. Er hat dies nicht getan.«

Der Ausländer Jean Leblanc, zur Sache vernommen: »Ich habe das Armband nicht gestohlen, sondern nur im Auftrag der Senhora Rodrigues an mich genommen, um es zu verkaufen. Ich habe es ihr längst zurückgegeben, weil ich keinen Käufer fand.«

FRAGE: »Die Senhora Rodrigues sagt, daß es sich nicht mehr in ihrem Besitz befindet. Können Sie es herbeiholen, oder kennen Sie den Verwahrungsort des Armbands?«

ANTWORT: »Nein, denn die Senhora Rodrigues hat es versteckt, um mir zu schaden. Sie will, daß ich verhaftet werde.«

FRAGE: »Warum?«

ANTWORT: »Eifersucht.«

BEMERKUNG: Der Ausländer Leblanc macht bei der Vernehmung einen undurchsichtigen, unverschämten und arroganten Eindruck. Gelegentlich ergeht er sich in drohenden Andeutungen. Er beleidigt die Klägerin in ihrer weiblichen Würde und beschimpft den vernehmenden Kommissar in unflätiger Weise. Zuletzt spielt er den Irren, lacht, redet Unsinn und singt französische Spottlieder.

Sergeanten Alcantara und Branco erklären: »Bei der Festnahme hat der Ausländer Widerstand geleistet. Es mußten ihm Handschellen angelegt werden. Bei seinem Abtransport stellten wir fest, daß sich auf der Straße vor der Villa mehrere verdächtige Subjekte herumtrieben, die jede unserer Aktionen genau verfolgten.«

BEMERKUNG: Es ist anzunehmen, daß der Ausländer Leblanc in Beziehungen zur Unterwelt von Lissabon steht. Er wird festgenommen und über Nacht im Reviergefängnis eingesetzt. Morgen früh wird er mit dem Gefangenentransportwagen auf das Polizeipräsidium überführt und dem Dezernat Diebstahl zur Verfügung gestellt werden.



2



Es war beinahe sechs Uhr abends, als die schöne, wenn schon nicht sonderlich intelligente Konsulin und Deutschenhasserin Estrella Rodrigues, gleichermaßen erschöpft und erregt, in die Rua Marques da Fronteira zurückkehrte. Sie benutzte ein Taxi.

Heftig atmend, mit fiebrig glänzenden Augen und hektisch geröteten Wangen saß sie im Fond. Es hat funktioniert, wie Jean es wünschte und voraussah. Aber, mein Gott, in was für Situationen bringt mich dieser wilde, wunderbare, rätselhafte Mensch …

Sie haben ihn eingesperrt. Im Gefängnis ist er in Sicherheit vor seinen Verfolgern. Doch warum wird er verfolgt? Er hat es mir nicht gesagt, er hat mich geküßt und gebeten, Vertrauen zu ihm zu haben.

Ach, was bleibt mir noch anderes übrig? Ich liebe ihn doch so! Er ist ein tapferer Franzose. Weiß Gott, in welcher geheimen Mission er sich hier aufhält! Ja, vertrauen will ich ihm und alles tun, was er mir aufgetragen hat: das goldene Armband in dem Versteck im Keller lassen; jeden Tag zum Hafen fahren und versuchen, eine Schiffspassage für ihn zu buchen; und mit niemandem über ihn sprechen. Wenn es mir gelingt, eine Passage nach Südamerika zu buchen, dann will ich zum Untersuchungsrichter eilen, das Armband vorweisen, erklären, daß ich es nur verlegt hatte, und meine Anzeige zurückziehen … Ach, wie furchtbar werden nun die Tage und Nächte ohne ihn sein, ohne Jean, meinen süßen Geliebten!

Das Taxi hielt. Die Konsulin stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Als sie auf den Eingang ihres Grundstücks zuschritt, trat hinter einer Palme ein blasser, verhärmter Mann hervor, der einen abgenützten Anzug mit Pfeffer-und-Salz-Musterung trug. Dieser Mensch zog seinen alten Hut vor Estrella und sprach sie in gebrochenem Portugiesisch an: »Senhora Rodrigues, ich muß Sie dringend um eine Unterredung bitten.«

»Nein, nein«, rief die üppige Konsulin zurückweichend.

»Doch, doch«, widersprach er, ihr folgend, die Stimme senkend, »es handelt sich um Jean Leblanc.«

»Wer sind Sie?«

»Mein Name«, erwiderte er, »ist Walter Lewis. Ich komme aus London.« Daß er aus London kam, stimmte. Er war vor einer Stunde gelandet. Daß er Walter Lewis hieß, stimmte nicht. Er hieß Peter Lovejoy, und er war derselbe Lovejoy, der von seinem Chef M 15 losgeschickt worden war, um diesem elenden Burschen Thomas Lieven endlich das Handwerk zu legen …

»Was wollen Sie von mir, Mr. Lewis?«

»Wissen, wo Monsieur Leblanc ist.«

»Was geht Sie das an?«

Der Mann, der sich gerade Lewis nannte, bemühte sich, Estrella mit Blicken aus glanzlosen, von schlechter Bezahlung und schlechter Ernährung melancholisch getrübten Augen zu bannen. »Er hat mich betrogen, er hat mein Land betrogen. Er ist ein Schuft …«

»Schweigen Sie!«

»… ein Subjekt ohne Ehrgefühl, ohne Moral, ohne Charakter …«

»Verschwinden Sie, oder ich schreie um Hilfe!«

»Wie können Sie einem Deutschen helfen? Wollen Sie, daß Hitler den Krieg gewinnt?«

»Hit…« Das Wort blieb der enragierten, nicht eben vom Glück verfolgten Roulettspielerin im schwanenweißen Halse stecken.

»Was haben Sie gesagt?«

»Wie können Sie einem Deutschen helfen?«

»Ein Deutscher? Nein! Nein!« Mit beiden Händen, schwanenweiß, griff die Konsulin sich nach dem Kopf. »Sie lügen!«

»Ich lüge nicht! Thomas Lieven heißt der elende Faschist!«

Indessen sie von heftigem Schwindelgefühl heimgesucht wurde, überlegte Estrella: Jean ein Deutscher? Unmöglich. Unvorstellbar. Nach allem, was ich mit ihm erlebt habe. Dieser Charme. Diese Zärtlichkeit. Dieses … Nein, er muß ein Franzose sein!

Estrella stöhnte: »Unmöglich!«

»Er hat Sie betrogen, Senhora, wie er mich betrogen hat, wie er uns alle betrogen hat. Ihr Jean Leblanc ist ein deutscher Agent!«

»Entsetzlich!«

»Dieses Reptil muß unschädlich gemacht werden, Senhora!«

Die Konsulin warf den schönen Kopf zurück, der schöne Körper straffte sich. »Folgen Sie mir ins Haus, Mr. Lewis. Zeigen Sie mir Ihre Beweise! Ich will Tatsachen sehen, nackte, harte Tatsachen! Wenn Sie mir diese liefern, dann …«

»Dann, Senhora, dann?«

»Dann will ich Rache nehmen! Kein Deutscher soll über Estrella Rodrigues lachen! Keiner, nie!«



3



»Amanha« – so lautete das Wort, das Thomas Lieven in den Wochen seiner Haft am häufigsten hören sollte. »Amanha«, zu deutsch: morgen … »Morgen«, versprachen die Wärter, »morgen«, versprach der Untersuchungsrichter, »morgen«, trösteten sich die Gefangenen, die seit Monaten darauf warteten, daß etwas, irgend etwas mit ihnen geschehen würde.

Nichts geschah. Aber vielleicht geschah morgen etwas! Wärter, Untersuchungsrichter und Gefangene zuckten fatalistisch die Schultern, lächelten vielsagend und bemühten ein Sprichwort, das als Leitsatz über dem gesamten südländischen Strafvollzug stehen konnte: »E-e, ate amanha!« In sinngemäßer Übersetzung etwa: »Morgen ist morgen, und morgen – ach, du lieber Gott, was kann bis dahin alles passieren, also lassen wir uns überraschen!«

Nach seiner Verhaftung landete Thomas Lieven zunächst im Untersuchungsgefängnis der Kriminalpolizei auf dem »Torel«, einem der sieben Hügel, auf denen Lissabon errichtet ist. Der »Torel« erwies sich als ganz arg überfüllt.

Nach wenigen Tagen wurde Thomas Lieven darum in den »Aljube« überstellt, einen mittelalterlichen fünfstöckigen Palast im ältesten Teil der Stadt. Über dem Portal befand sich das Wappen des Erzbischofs Dom Miguel de Castro, der, wie alle Gebildeten wissen, von 1568 bis 1625 in unserm Jammertal geweilt und den scheußlichen alten Kasten als Gefängnis für solche Geistliche etabliert hatte, die sich strafbare Handlungen zuschulden kommen ließen. Es muß, überlegte Thomas Lieven bei seiner Einlieferung, einen hohen Prozentsatz an Strafwürdigen unter dem portugiesischen Klerus des 16. Jahrhunderts gegeben haben, denn der »Aljube« war ein Riesengefängnis!

Hier deponierte jetzt die Polizei ihre Gefangenen, darunter viele unerwünschte Ausländer. Aber es gab auch mindestens ebensoviel Herren, die schlicht gegen völlig unpolitische Paragraphen des portugiesischen Strafgesetzbuches verstoßen hatten. Sie saßen zum Teil in Untersuchungshaft, zum Teil, bereits verurteilt, in Sammelzellen, Einzelzellen und sogenannten »Zellen für begüterte Häftlinge«.

Letztere befanden sich in den obersten Stockwerken und waren am komfortabelsten eingerichtet. Alle Fenster blickten auf den Hof. Angrenzend betrieb ein gewisser Herr Teodoro dos Repos eine Koffer- und Taschenfabrikation, was mit gewissen unangenehmen Gerüchen verbunden war, unter denen die unbegüterten Häftlinge in den tieferen Stockwerken, besonders bei heißem Wetter, sehr litten.

Da ließ es sich oben, bei den Begüterten, besser leben! Sie bezahlten ihre Zimmermiete pro Woche – wie in einem ordentlichen Hotel. Die Höhe der Miete wurde errechnet nach der Höhe der Kaution, die der Untersuchungsrichter gefordert hatte. Sie war gesalzen. Wie in einem ordentlichen Hotel wurde für die Begüterten jedoch auch nach besten Kräften gesorgt. Das Personal war bemüht, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Selbstverständlich gab es Zeitungen und Zigaretten, selbstverständlich konnten die Inhaftierten sich ihr Essen aus nahen, von den Wärtern empfohlenen Speiselokalen herbeibringen lassen.

Thomas, der in Erwartung derartig liebenswürdiger Sitten eine größere Menge Bargeld bei der Gefängnisverwaltung deponiert hatte, hielt es in der Frage der Mahlzeiten so: Jeden Morgen bestellte er Francesco, den dicken Koch, zu sich und sprach mit ihm genau den Küchenzettel des Tages durch. Danach schickte Francesco seinen Gehilfen einkaufen. Der Koch war von »Senhor Jean« hellauf begeistert: Immer neue Rezepte und kulinarische Tricks brachte der Herr aus Zelle 519 ihm bei.

Thomas Lieven fühlte sich glänzend. Den Aufenthalt im Gefängnis betrachtete er als kleinen, wohlverdienten Erholungsurlaub vor der Einschiffung nach Südamerika.

Daß er von Estrella nichts hörte, beunruhigte ihn nicht im geringsten. Gewiß war die Süße eifrig auf der Suche nach einer Schiffspassage …

Eine Woche nach seiner Einlieferung erhielt Thomas Lieven einen Zellengenossen. Am Morgen des 21. September 1940 geleitete der freundliche, von Thomas überreichlich gespickte Wärter Juliao den Neuen in die Zelle.

Thomas fuhr auf seiner Pritsche hoch. Noch nie im Leben hatte er einen häßlicheren Menschen gesehen!

Der Neue sah aus wie weiland der Glöckner von Notre-Dame. Er war klein. Er hatte einen Buckel. Er hinkte. Er war völlig kahl. Er hatte ein leichenblasses Gesicht, dabei aber pralle Hamsterbacken, und er litt unter einem nervösen Zucken des Mundes.

»Bom dia«, sagte der Bucklige grinsend.

»Bom dia«, murmelte Thomas erstickt.

»Mein Name ist Alcoba. Lazarus Alcoba.« Der Neue hielt Thomas eine krallenförmige, schwarzbehaarte Hand hin.

Thomas schüttelte sie voller Schreck und Widerwillen. Er ahnte nicht, daß mit Lazarus Alcoba ein wahrer Freund in sein Leben getreten war – mit einem Herzen treu wie Gold.

Während er sich auf der zweiten Bettstatt wohnlich etablierte, sprach Lazarus Alcoba mit heiserer, eingerosteter Stimme: »Mich haben sie wegen Schmuggel am Wickel, die Schweine – aber diesmal können sie mir nichts nachweisen. Sie werden mich rauslassen müssen, irgendwann. Ich habe keine Eile … E-e, ate amanha.« Er grinste wieder.

»Ich bin auch völlig unschuldig hier«, begann Thomas, aber Lazarus unterbrach ihn mit einer liebenswürdigen Handbewegung: »Ja, ja, du sollst ein Brillantarmband geklaut haben. Pure Verleumdung, wie? Tz, tz, tz – die bösen, bösen Menschen!«

»Woher wissen Sie …«

»Ich weiß alles über dich, Kleiner! Kannst ruhig ›du‹ zu mir sagen.« Der Bucklige kratzte sich ausgiebig. »Du bist Franzose. Du bist Bankier. Die Süße, die dich reingerissen hat, ist die Konsulin Estrella Rodrigues. Du kochst gern …«

»Woher weißt du das?«

»Kleiner, ich habe mir dich doch ausgesucht!«

»Ausgesucht?«

Lazarus strahlte, sein scheußliches Gesicht wurde doppelt so breit dabei: »Klar! Den interessantesten Mann im Kasten. Man will ja schließlich im Knast auch etwas geistige Anregung haben, oder?« Er neigte sich vertraulich vor und tippte auf Thomas Lievens Knie: »Kleiner Hinweis für die Zukunft, Jean: Wenn sie dich wieder eindrehen, dann melde dich sofort beim Hauptwachtmeister. Das mache ich jedesmal so!«

»Warum?«

»Ich melde mich sofort bei dem faulen Schwein von Hauptwachtmeister zur Führung der Rapportbücher. Auf diese Weise habe ich Einblick in sämtliche Akten. Bereits nach wenigen Tagen besitze ich intime Kenntnisse über alle meine Mitgefangenen. Ich kann mir also den nettesten Zellenkumpel aussuchen.«

Thomas begann Gefallen an dem Buckligen zu finden. Er offerierte Zigaretten. »Und warum hast du dir gerade mich ausgesucht?«

»Du bist ein feiner Pinkel, Anfänger zwar leider noch, aber dafür mit guten Manieren. Kann man was lernen. Bankier. Kannst mir ein paar Börsentips geben. Kochst gern. Kann man auch was lernen. Weißt du, man lernt nichts im Leben umsonst …«

»Ja«, sagte Thomas versonnen, »das stimmt.« Und er dachte: Was habe ich schon alles gelernt, seit mich das Schicksal aus meiner friedensvollen Bahn stieß! Wer weiß, was mir noch bevorsteht. Weit, weit hinaus in ein ungewisses Nebelmeer sind meine Sicherheit und bürgerliche Existenz, mein Club in London und meine schöne Wohnung in Mayfair geglitten …

»Vorschlag«, sagte Lazarus. »Wir schmeißen uns zusammen. Du bringst mir alles bei, was du weißt – und ich bringe dir alles bei, was ich weiß. Wie klingt das?«

»Das klingt prima«, sagte Thomas entzückt. »Was willst du zu Mittag essen, Lazarus?«

»Ich hätte schon einen Wunsch, aber ich weiß nicht, ob du das kennst … Der dämliche Küchenbulle kennt es sicher nicht.«

»Na, sag schon!«

»Verstehst du, ich habe so ziemlich in allen Ländern Europas gearbeitet. Ich bin verfressen, ich gebe es zu. Am liebsten französische Küche. Aber nichts gegen die deutsche! Da habe ich mal in Münster einigen Herren die Taschen geleert und vorher einen gefüllten Rippenspeer gegessen, einen Rippenspeer, sage ich dir, also, von dem träume ich heute noch manchmal!« Er verdrehte die Augen und schmatzte.

»Wenn’s weiter nichts ist«, sagte Thomas Lieven sanft.

»Du kennst das Rezept?«

»Ich habe auch mal in Deutschland gearbeitet«, erwiderte Thomas und klopfte an die Zellentür. »Also gefüllten Rippenspeer, na schön. Machen wir uns heute mal einen deutschen Tag. Vorher, würde ich dann sagen, schwäbische Leberspätzlesuppe und nachher – hm – Kastanien mit Schlagsahne …«

Menu • 21. September 1940

Hausmannskost: die beste Stärkung vor dreisten Tricks

Schwäbische Leberspätzlesuppe

Westfälischer gefüllter Rippenspeer

Kastanien mit Schlagsahne auf badische Art

Schwäbische Leberspätzlesuppe: Man rühre 60 Gramm Butter schaumig, vermenge sie mit 200 Gramm geschabter Rindsleber, drei Eiern, einer eingeweichten und ausgedrückten Semmel, 50 Gramm Semmelbröseln, fünf Gramm Majoran, Salz und Pfeffer. Man drücke die Masse durch ein Spätzlesieb in siedendes Wasser und lasse die Spätzle zehn bis fünfzehn Minuten kochen, bis sie oben schwimmen. Man nehme sie mit einem Schaumlöffel heraus, lasse sie abtropfen und gebe sie in einer kräftigen Fleischbrühe zu Tisch.

Westfälischer gefüllter Rippenspeer: Man lasse sich am besten gleich vom Metzger aus einem schönen großen Stück frischen Schweinerücken alle Knochen und Rippen lösen. Man schneide frische Äpfel in Schnitze, vermische sie mit guten Backpflaumen, die man vorher leicht gedämpft hat, gebe ganz wenig geriebene Zitronenschale, einen Schuß Rum und etwas Semmelbrösel darunter. Diese Masse fülle man in das ausgebeinte, gesalzene und gepfefferte Fleisch und nähe es rundherum zusammen.

Man brate den Rippenspeer erst auf allen Seiten schön braun an, lasse ihn dann im Bratofen fertigschmoren. Dazu reiche man Kartoffelpüree.

Kastanien mit Schlagsahne auf badische Art: Man schneide schöne, feste Kastanien auf der runden Seite kreuzweise ein und lasse sie kurz im Bratofen rösten, damit man die harte Schale entfernen kann. Dann lege man sie in kochendes Wasser, bis sich die innere Haut leicht abziehen läßt.

Danach koche man die Kastanien in gesüßter Milch, der ein Stückchen Vanilleschote zugegeben wurde, bis sie weich, aber nicht verkocht sind. Man drehe sie nun durch den Wolf, und zwar nach Möglichkeit gleich auf die Schale, in der sie serviert werden, damit die lockere Schichtung erhalten bleibt. Man umspritze den Kastanienreis mit Schlagsahne, garniere mit eingemachten Kirschen, die leicht mit Kognak parfümiert werden.

Der freundliche Wärter namens Juliao steckte den Kopf herein. »Schick mir den Küchenchef«, sagte Thomas und drückte Juliao einen 100-Escudo-Schein in die Hand. »Ich will mit ihm das Menu für heute zusammenstellen.«



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»Na, wie schmeckt’s? So gut wie damals in Münster?« fragte Thomas Lieven vier Stunden später. An einem sorgfältig gedeckten Tisch saß er in seiner Zelle dem Buckligen gegenüber. Der wischte sich den Mund und stöhnte vor Entzücken: »Besser, mein Kleiner, besser! Nach so einem Rippenspeer traue ich mir zu, sogar dem verehrten Herrn Ministerpräsidenten Salazar die Brieftasche zu ziehen!«

»Einen Schuß mehr Rum hätte der Koch dazugeben sollen.«

»Die Kerle saufen immer alles selber«, sagte Lazarus. »Damit ich mich gleich für dieses Essen revanchiere, mein Kleiner, will ich dir einen ersten Hinweis geben.«

»Das ist nett von dir, Lazarus. Noch ein bißchen Püree?«

»Ja, bitte. Schau mal, wir sind begütert, wir haben Penunze. Da ist es kein Kunststück, gutes Essen zu kriegen. Aber was machst du, wenn sie dich einlochen, und du bist pleite? Das Wichtigste in der Haft ist die gute Ernährung. Du bekommst sie, wenn du zuckerkrank bist.«

»Aber wie werde ich zuckerkrank?«

»Das will ich dir gerade verraten«, erklärte Lazarus mit vollen Hamsterbacken. »Du meldest dich zunächst mal dauernd zur Visite beim Anstaltsarzt. Dir ist einfach dauernd schlecht. In einem glücklichen Moment klaust du dem Doktor eine Injektionsspritze. Dann freundest du dich mit dem Koch an. Gerade dir wird das nie schwerfallen. Den Koch bittest du um etwas Essig. Du willst dein Essen würzen, sagst du. Und dann verlangst du noch ein bißchen Zucker. Für deinen Kaffee.«

»Ich verstehe.« Thomas klopfte. Der Wärter erschien. »Man kann abservieren«, sagte Thomas. »Bitte den Nachtisch.«

Lazarus wartete, bis Juliao mit dem Geschirr verschwunden war, dann fuhr er fort: »Essig und Wasser mischst du im Verhältnis eins zu zwei und sättigst die Lösung mit Zucker. Dann spritzt du dir zwei Kubikzentimeter in den Oberschenkel.«

»Intramuskulär?«

»Ja. Aber langsam, um Gottes willen ganz langsam, sonst gibt’s eine hübsche Phlegmone!«

»Verstehe.«

»Die Injektion machst du dir, eineinhalb Stunden bevor du zum Arzt bestellt bist. In dieser Zeit mußt du dir dein kleines Geschäft verkneifen. Klar?«

»Klar.«

Wächter Juliao brachte den Nachtisch, bekam seinen Teil ab und verschwand zufrieden.

Bei Kastanien mit Schlagsahne schloß Lazarus: »Dem Arzt klagst du über grenzenlosen Durst in der Nacht. Sofort entsteht der Verdacht, du könntest Blutzucker haben. Er bittet dich um eine Urinprobe. Du gibst sie ihm bereitwillig. Die Untersuchung zeigt: tatsächlich schwerer Zucker. Entsprechend gute Ernährung – Gebratenes, Butter, Milch und Weißbrot – ist der Lohn der kleinen Mühe …«

Solches erfuhr Thomas Lieven am ersten Tag seiner Bekanntschaft mit Lazarus, dem Buckligen. In den folgenden Tagen und Wochen erfuhr er mehr. Einen regelrechten Kursus des Verbrechens und des Zuchthauslebens machte er mit. Mathematisch exakt registrierte sein Gehirn jeden Tip, jedes Rezept, das er erhielt.

Zum Beispiel: Wie bekomme ich schnell hohes Fieber, damit ich aufs Revier gebracht werde, von wo sich leichter entfliehen läßt?

Antwort:

Man nehme ordinäre Kernseife und schabe sie zu feinen Flocken. Eine Stunde vor der Visite schlucke man drei Teelöffel davon. Heftige Kopfschmerzen werden auftreten, Fieber bis zu 41 Grad wird innerhalb von einer Stunde die Folge sein, allerdings auch nur eine Stunde lang anhalten. Für längere Fieberperioden schlucke man Seifenkügelchen.

Oder: Wie simuliere ich Gelbsucht?

Man nehme einen Teelöffel Ruß und zwei Teelöffel Zucker, mische und setze mit Essig an. Lasse über Nacht stehen und trinke das Gemisch am nächsten Morgen auf nüchternen Magen. Nach ein bis zwei Tagen treten Gelbsuchtsymptome auf.

Lazarus sagte: »Wir leben in kriegerischen Zeiten, weißt du, Jean. Vielleicht willst du dich einmal auch vor dem Heldentod zurückziehen. Muß ich weitersprechen?«

»Keineswegs«, sagte Thomas Lieven.

Es waren glückliche Wochen. Lazarus lernte perfekt kochen, Thomas lernte perfekt Krankheiten simulieren, die internationale Ganovensprache und Dutzende von Tricks wie die »Weiße Weste«, die »Leihgabe«, den »Autokauf«, die »Schirmmasche«, den »Brillantenerwerb«, den »Schadenersatz«, den »Maßanzug«, die »Intelligenzflucht«, den »Abschleppdienst« und viele andere. Er hatte das Gefühl – mein Gott, wie tief war er bereits gesunken! –, daß er alle diese Tricks noch einmal gut gebrauchen könnte. Sein Gefühl sollte sich hundertprozentig bewahrheiten!

Thomas und Lazarus, Lernende und Lehrende zugleich, lebten in Frieden und Eintracht bis zum Morgen jenes grauenvollen, jenes entsetzlichen 5. November 1940 …

Am Morgen des 5. November 1940 wurde Thomas Lieven – nach langer Zeit wieder einmal – dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Dieser Herr hieß Eduardo Baixa, war stets ganz in Schwarz gekleidet und trug einen Zwicker an einem schwarzen Seidenband. Untersuchungsrichter Baixa war ein gebildeter Mensch. Stets sprach er französisch mit Thomas. So auch heute: »Also, was ist los mit Ihnen, Monsieur, wollen Sie endlich gestehen?«

»Ich habe nichts zu gestehen. Ich bin unschuldig.«

Baixa putzte seinen Zwicker: »Tja, dann werden Sie wohl noch lange, lange in Aljube bleiben, Monsieur. Ihre Beschreibung haben wir inzwischen an alle Polizeistellen Portugals weitergegeben. Wir müssen abwarten.«

»Was abwarten?«

»Nun, die Antworten all dieser Stellen. Wir wissen ja nicht, welche Verbrechen Sie in unserem Land noch begangen haben.«

»Ich habe überhaupt keine Verbrechen begangen! Ich bin unschuldig!«

»Nun ja, gewiß, natürlich … Aber trotzdem, Monsieur Leblanc. Wir müssen es abwarten. Zudem sind Sie Ausländer …« Baixa blätterte in einem Akt. »Eine seltsame Dame, hm, das muß ich sagen.«

»Wer, bitte?«

»Die Klägerin Senhora Rodrigues.«

Thomas Lieven verspürte plötzlich ein unheimliches Kribbeln entlang der Wirbelsäule. Er fragte mit trockenem Mund: »Wieso seltsam, Herr Untersuchungsrichter?«

»Sie kommt nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich habe sie vorgeladen. Aber sie kommt nicht.«

»O Gott«, sagte Thomas, »es wird ihr doch nichts zugestoßen sein!« Das fehlte mir noch, dachte er.

Wieder in der Zelle, ließ er sofort Francesco, den dicken Koch, rufen.

Strahlend meldete der sich zur Stelle. »Was soll es heute sein, Senhor Jean?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Nix kochen. Du mußt mir einen Gefallen tun. Kannst du für eine Stunde aus der Küche weg?«

»Klar.«

»Laß dir in der Gefängnisverwaltung Geld aus meinem Guthaben geben. Kauf zwanzig rote Rosen, nimm ein Taxi und fahr zu der Adresse, die ich dir aufgeschrieben habe. Da wohnt eine Senhora Estrella Rodrigues. Ich bin in großer Sorge um sie. Vielleicht ist sie krank. Erkundige dich, frage, ob du helfen kannst!«

»Ist gut, Senhor Jean!« Der dicke Koch verschwand.

Eine gute Stunde später kehrte Francesco zurück. Er machte einen beklommenen Eindruck. Als er mit einem herrlichen Strauß von zwanzig blutroten Rosen in die Zelle trat, wußte Thomas sogleich, daß etwas Fürchterliches passiert war.

»Die Senhora Rodrigues ist fort«, sagte der Koch.

Thomas plumpste auf seine Bettstatt.

»Was heißt fort?« forschte Lazarus.

»Heißt, was es heißt, Trottel«, gab der Koch zurück. »Fort. Weg. Abgereist. Verschwunden. Nicht mehr da.«

»Seit wann?« fragte Thomas.

»Seit fünf Tagen, Senhor Jean.« Der Koch betrachtete Thomas mitleidig. »Die Dame scheint auch nicht wiederkommen zu wollen, wenigstens, hm, nicht so bald.«

»Warum glaubst du das?«

»Sie hat alle Kleider mitgenommen, ihren Schmuck, ihr Bargeld.«

»Sie hatte doch überhaupt keines!«

»Der Safe stand offen …«

»Der Safe?« Thomas schwankte. »Wie bist du an den Safe herangekommen?«

»Das Stubenmädchen führte mich durchs ganze Haus. Niedliches Mischblut, also wirklich, meine Herren! Erste Klasse! Solche Augen!« Der Koch vollführte eine entsprechende Bewegung vor der Brust.

»Das ist Carmen«, murmelte Thomas.

»Carmen, ja. Ich gehe heute abend mit ihr ins Kino. Sie führte mich ins Ankleidezimmer – alle Schränke leer – ins Schlafzimmer – der Safe leer …«

Thomas ächzte: »Ganz leer?«

»Ganz leer, ja. Ein niedliches schwarzes Seidenhöschen hing über der offenen Stahltür – das war alles. O Gott, ist Ihnen nicht gut, Senhor Jean? Wasser … Trinken Sie einen Schluck Wasser.«

»Hinlegen, ruhig auf den Rücken legen«, riet Lazarus.

Tatsächlich sank Thomas auf sein Lager zurück. Er lallte: »In dem Safe lag mein Geld, alles, was ich besitze, mein ganzes Vermögen …«

»Weiber. Immer der Ärger mit den Weibern«, brummte Lazarus ergrimmt. »Und kein Mittagessen!«

»Aber warum?« flüsterte Thomas. »Warum bloß? Ich habe ihr doch nichts getan … Was sagt Carmen? Weiß sie, wo die Senhora ist?«

»Carmen sagt, sie ist nach Costa Rica geflogen.«

»Allmächtiger Vater«, stöhnte Thomas.

»Carmen sagt, die Villa soll verkauft werden.«

Thomas brüllte plötzlich los wie wahnsinnig: »Fummle mir nicht dauernd mit den verfluchten Rosen vor der Nase herum!« Er nahm sich zusammen. »Entschuldige, Lazarus. Reine Nervensache. Und – und keine Nachricht für mich? Kein Brief? Nichts?«

»Doch, Senhor.« Der Koch holte zwei Kuverts aus der Tasche. Der erste Brief stammte von Thomas’ Freund, dem Wiener Bankier Walter Lindner:

Lissabon, 29. Oktober 1940

Lieber Herr Leblanc!

Ich schreibe diese Zeilen in größter Eile und tiefster Unruhe. Es ist jetzt 11 Uhr. In zwei Stunden geht mein Schiff, ich muß an Bord. Und noch immer kein Lebenszeichen von Ihnen! Mein Gott, wo stecken Sie bloß? Sind Sie noch am Leben?

Ich weiß nur, was Ihre unglückliche Freundin, die Konsulin, mir erzählte: daß Sie am 9. September, nach dem Telefongespräch mit mir, fortgegangen und niemals wiedergekommen sind.

Arme Estrella Rodrigues! Hier haben Sie einen Menschen, der Sie von ganzem Herzen liebt. Wie hat sie sich um Sie gegrämt, wie hat diese Frau um Sie gebangt! Täglich war ich mit ihr zusammen, seit es mir gelang, für uns eine Schiffspassage nach Südamerika zu buchen. Von Tag zu Tag hofften wir, eine Spur von Ihnen zu finden – umsonst.

Diese Zeilen schreibe ich in der Villa Ihrer schönen, verzweifelten Freundin. Weinend steht sie neben mir. Auch heute – am letzten Tag – kein Lebenszeichen. Ich schreibe diese Zeilen immer noch in der Hoffnung, daß Sie wenigstens noch leben und eines Tages hierher, in dieses Haus, zu dieser Sie so innig liebenden Frau zurückkehren können. Wenn der Himmel das gibt, dann werden Sie meinen Brief vorfinden.

Ich werde für Sie beten. Immer noch auf ein Wiedersehen hofft

Ihr sehr ergebener

Walter Lindner.

Das war der erste Brief.

Thomas ließ ihn zu Boden fallen. Er rang nach Luft. Sein Schädel schmerzte plötzlich zum Zerspringen.

Warum hat Estrella meinem Freund nicht gesagt, wo ich bin? Warum ist sie nicht hergekommen und hat mich rausgeholt, wie es besprochen war? Warum hat sie das getan? Warum, war-um?

Darauf gab der zweite Brief Antwort.

Lissabon, 1. November 1940

Elender Schuft!

Nun hat Dein Freund Lindner das Land verlassen. Nun gibt es niemanden mehr, der Dir helfen könnte. Nun will ich meine Rache vollenden.

Du siehst mich nie wieder. In wenigen Stunden bringt mich ein Flugzeug nach Costa Rica.

Dein Freund hat Dir einen Brief geschrieben. Ich lege meinen daneben. Eines Tages wird der Untersuchungsrichter nach mir forschen. Dann wirst Du beide Briefe erhalten.

Für den Fall, daß der Untersuchungsrichter, was sehr wahrscheinlich ist, die beiden Briefe vorher liest, erkläre ich noch einmal: Du hast mich bestohlen, Du Lump!

Und ich erkläre auch (gewiß interessiert es Sie, Herr Untersuchungsrichter!), warum ich Dich nun für immer verlasse: weil ich erfahren habe, daß Du Deutscher bist, ein deutscher Geheimagent, ein gemeiner, gewissenloser, skrupelloser, geldgieriger, zynischer deutscher Schuft! Oh, wie ich Dich hasse, Du Hund! E.



5



»Oh, wie ich dich immer noch liebe, du Hund!« stöhnte die leidenschaftliche, vollschlanke Estrella Rodrigues.

Zur gleichen Zeit, da Thomas Lieven in seiner Zelle im »Aljube« zu Lissabon, ein Gefühl arktischer Kälte in der Magengrube, ihren Abschiedsbrief las, saß die schwarzhaarige, hinreißend gebaute Konsulin auf der anderen Seite der Erdkugel im Salon des teuersten Appartements im teuersten Hotel von San José, der Hauptstadt der Republik Costa Rica.

Estrellas Augen waren gerötet. Mit einem Fächer verschaffte sie sich Kühlung. Ihr Herz pochte unruhig, ihr Atem ging unruhig. Jean, Jean, ohne Unterlaß muß ich an dich denken, du elender Hund, der Thomas Lieven heißt, du elender Lügner, der mich betrogen hat … Mein Gott, und ich liebe dich so!

Die Konsulin, konfrontiert mit diesem tragischen Sachverhalt, stürzte einen doppelten costaricanischen Kognak todesmutig in die schöne Kehle.

Schaudernd schloß sie sodann die Augen, schaudernd erinnerte sie sich der jüngsten Vergangenheit.

Noch einmal sah sie den englischen Agenten vor sich stehen, der ihr die Wahrheit erzählt hatte, die Wahrheit über Thomas Lieven. Und Estrella sah sich selber, nachdem der Engländer sie verlassen hatte. Sich selber: eine vernichtete, zerschmetterte, zusammengebrochene Frau …

Zusammengebrochen hatte Estrella Rodrigues sich am Abend des 9. September 1940 zu dem großen Safe in ihrem Schlafzimmer geschleppt. Weinend hatte sie das Kombinationsschloß eingestellt. Bebend die schwere Tür geöffnet. Da lag das Barvermögen dieses Schuftes vor ihr. Reichsmark, Escudos, Dollars. Beinah tränenblind machte die Verratene, tief unglücklich, Inventur.

An diesem Abend erlebten die Besucher der Spielbank Estoril eine echte Sensation!

Mit einem Kapital von rund 20 000 Dollars erschien Estrella Rodrigues, schöner denn je, bleicher denn je, dekolletierter denn je. Sie, den Angestellten und Croupiers als notorische Verliererin bekannt, sie, von Croupiers und Angestellten nachgerade schon bemitleidet, gewann an diesem Abend, gewann, gewann!

Sie spielte wie in Trance mit Thomas Lievens Geld. Sie spielte nur mit Maximumeinsätzen. Sie spielte die 11. Die 11 kam dreimal nacheinander. Sie spielte die 29 en plein et chevaux. Es kam die 29. Sie spielte das mittlere Dutzend Rot, impair et passe und die 23 en plein et chevaux, alles Maximum. Es kam die 23! Estrella spielte. Estrella gewann, sie konnte setzen, was sie wollte.

Tränen traten in ihre schönen Augen. Neugierig betrachteten Herren im Smoking und Damen mit kostbarsten Nerzstolen diese seltsame Gewinnerin, die bei jedem Gewinn aufschluchzte.

Von den anderen Tischen des Saales mit seinen funkelnden Lüstern, weißgoldenen Riesenspiegeln und kostbaren Gemälden erhoben sich Spieler. Von allen Seiten kamen sie herbei, drängten sich aneinander und starrten die schöne Frau im roten Abendkleid an, die gewann und gewann und dabei immer verzweifelter wurde.

»Sie sind zu schön. Sie haben zuviel Glück in der Liebe! Es wäre ungerecht, wenn Sie auch noch Glück im Spiel hätten!« Diese Worte Thomas Lievens, gesprochen am Abend ihrer Bekanntschaft, brannten wie Feuer in Estrellas Gedächtnis. Zuviel Glück in der Liebe, darum hatte sie immer verloren, und nun – und nun …

»27, rouge, impair et passe!«

Aufschrei der Menge.

Aufschluchzen Estrellas. Denn sie hatte wieder gewonnen, so viel, wie sich auf einen Schlag im Spielsaal von Estoril mit 27, rouge impair et passe überhaupt gewinnen ließ.

»Ich – kann – nicht – mehr«, ächzte die Schöne. Zwei Diener in Escarpins waren vonnöten, um sie an die Bar zu begleiten. Zwei weitere Diener mit Holzkästchen waren vonnöten, um die Jetongebirge, die sie erspielt hatte, zur Kasse zu schleppen, wo man sie einwechselte. Die Umrechnung ergab einen Betrag im Wert von 82 724 Dollar und 26 Cent. Sage noch einer, unrecht Gut gedeihe nicht! –

Estrella ließ sich einen Scheck geben. In ihrer golddurchwirkten Abendtasche fand sie noch einen 10 000-Escudo-Jeton. Von der Bar warf sie ihn über die Köpfe der Spieler hinweg auf das grüne Tuch eines Tisches. Der Jeton fiel auf Rot. Estrella rief schluchzend: »Für die verratenen Lieben!«

Es kam Rot …

Es kam Rot, erinnerte sich Estrella Rodrigues mit tränenfeuchten Augen am 5. November 1940 im Salon des teuersten Appartements im teuersten Hotel von San José. In San José war es halb zehn Uhr morgens costaricanischer Zeit. In Lissabon war es halb ein Uhr mittags portugiesischer Zeit. In Lissabon trank Thomas Lieven auf seinen furchtbaren Schrecken hin einen ersten doppelten Kognak. In San José trank die schöne Konsulin schon den zweiten doppelten des Tages. Den ersten hatte sie gleich nach dem Frühstück gekippt.

Sie kippte in den letzten Tagen immer öfter, immer früher, immer lieber. Sie litt unter einem schrecklichen Herzflattern. Sie mußte einfach trinken!

Denn wenn sie nicht trank, konnte sie die Erinnerung an Jean, den süßen, einmaligen, wunderbaren Jean – diesen Hund, diesen Barbaren! – überhaupt nicht mehr ertragen. Mit Kognak ging es noch einigermaßen. Nun war sie reich, nun hatte sie keine Sorgen mehr. Niemals würde sie ihren Geliebten wiedersehen. Die Schmach, sich ihm hingegeben zu haben, war abgewaschen.

Mit zitternden Fingern holte Estrella aus ihrer Krokodilledertasche einen goldenen Flakon hervor und schraubte ihn auf. Mit zitternden Fingern füllte sie von neuem ihr Glas. Und indessen neue Tränen zu fließen begannen, rief sie in den prunkvollen, leeren Salon hinein: »Niemals, niemals werde ich diesen Mann vergessen!«



6



»Niemals«, sagte Thomas Lieven, »niemals werde ich diese Frau vergessen!«

Perlmutterfarben sank die Abenddämmerung herab auf Lissabon. Wie ein gereizter Tiger lief Thomas Lieven in der Zelle hin und her.

Er hatte Lazarus reinen Wein eingeschenkt. Lazarus wußte nun, wie Thomas in Wahrheit hieß, was er angestellt hatte, was ihm bevorstand, wenn ihn der deutsche oder der britische oder der französische Geheimdienst erwischte.

Eine Zigarette rauchend, betrachtete der Bucklige seinen Freund besorgt und sprach: »Entsetzlich, so eine Hysterikerin! Und dazu weiß man bei so einer Person nie, was ihr noch alles einfällt!«

Thomas hielt vorübergehend in seinem munteren Gelaufe inne. »Das ist es ja! Morgen schreibt die Dame vielleicht einen Brief an den Polizeipräfekten und schiebt mir einen unaufgeklärten Mord in die Schuhe!«

»Oder mehrere.«

»Bitte, was?«

»Oder mehrere unaufgeklärte Morde.«

»Ach so, ja. Nein, nein, meine Lage ist vollkommen verzweifelt! Das verfluchte Armband hat sie natürlich auch mitgenommen! Es wird sich nie mehr finden! Ich kann hier sitzen, bis ich verschimmle.«

»Ja«, sagte Lazarus, »und darum mußt du schnellstens raus hier.«

»Raus hier?«

»Bevor sie dir noch mehr antut.«

»Lazarus, das hier ist ein Gefängnis!«

»Na, wenn schon!«

»Mit Gittern und Mauern und schweren Eisentüren! Mit Richtern und Wächtern und Bluthunden!«

»Stimmt. Ganz so leicht, wie du reingekommen bist, wird es darum für dich nicht sein, wieder rauszukommen.«

Thomas setzte sich auf die Bettkante. »Aber gibt es einen Weg?«

»Klar gibt es einen Weg. Wir müssen uns eben ein bißchen anstrengen. Du sagst, du hast Fälschen gelernt?«

»Und wie!«

»Hm. Eine Druckerei haben wir im Keller. Die stellt alle Vordrucke für die Gerichte her. Den richtigen Stempel werden wir auftreiben. Tja, es hängt alles nur von dir ab, Kleiner.«

»Von mir? Wieso?«

»Du wirst dich verändern müssen.«

»In welcher Richtung?«

Lazarus lächelte melancholisch. »In meine Richtung. Du mußt kleiner werden. Du mußt hinken. Du mußt einen Buckel kriegen. Du mußt Hamsterbacken kriegen. Mit dem Mund mußt du zucken. Und natürlich mußt du einen völlig kahlen Schädel haben. Habe ich dich erschreckt, Kleiner?«

»Ga-gar nicht«, log Thomas Lieven tapfer. »Was tu-tut man nicht alles für seine Freiheit!«

»Sie ist des Lebens höchstes Gut«, erklärte Lazarus. »Nun hör mal genau zu, was ich dir erzähle.«

Er erzählte.

Und Thomas Lieven hörte genau zu.

»Man kommt natürlich immer leichter ins Gefängnis rein als raus«, sagte der bucklige Lazarus Alcoba. »Aber so schwer ist es auch nicht, wieder rauszukommen!«

»Das freut mich aber!«

»Es ist ein Glück, daß wir in Portugal und nicht in deinem Vaterland sitzen. Bei dir daheim ginge der Trick nicht, da ist alles gut geordnet.«

»So, so. Deutsche Gefängnisse sind die besten der Welt, was?«

»Ich war doch selbst zweimal in Moabit!« Lazarus schlug sich aufs Knie. »Ich sage dir, da können die Portugiesen einfach nicht mit! Sie sind viel zu gemütlich; es fehlt der preußische Pflichterfüllungsgeist, die deutsche Disziplin!«

»Ja, das stimmt.«

Der Bucklige klopfte an die Zellentür. Sogleich erschien der freundliche, von Thomas überreichlich gespickte Wärter Juliao – wie der Etagenkellner in einem guten Hotel.

»Ruf mal den Koch herauf, mein Alter«, sagte Lazarus zu ihm. Juliao verschwand mit Verneigungen. Lazarus meinte zu Thomas: »Mit der Küche fängt deine Flucht nämlich an …«

Etwas später sagte der Bucklige zu Francesco, dem fetten Koch: »Hör mal zu, wir haben doch unten im Keller eine Druckerei, nicht wahr?«

»Ja. Sie druckt alles, was die Justiz an Formularen braucht.«

»Auch Entlassungsbefehle der Staatsanwaltschaft?«

»Sicherlich.«

»Kennst du einen von den Häftlingen, die da unten drucken?«

»Nein, warum?«

»Wir brauchen so einen Entlassungsbefehl.«

»Ich kann ja mal rumhören«, sagte der Koch.

»Na, dann hör mal rum«, sagte jetzt Thomas Lieven. »Für den Betreffenden, der uns den kleinen Gefallen tut, ist eine Woche gutes Essen drin.«

Zwei Tage später meldete sich der Koch: »Da wäre einer, aber der will einen ganzen Monat gutes Fressen dafür.«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Lazarus kalt. »Zwei Wochen. Mehr nicht.«

»Muß ich erst fragen«, sagte der Koch.

Als er verschwunden war, sagte Thomas zu dem Buckligen: »Sei doch nicht so geizig! Es ist schließlich mein Geld.«

»Prinzipsache«, erwiderte der Bucklige. »Du darfst nicht die Preise verderben. Im übrigen: Es stimmt doch hoffentlich, was du mir erzählt hast, daß du einen Stempel fälschen kannst?«

»Den Stempel, den ich nicht fälschen kann, gibt’s nicht. Ich bin beim besten Fälscher des Landes in die Lehre gegangen«, erwiderte Thomas und dachte: Ungeheuerlich, wie tief ein Mensch sinken kann – ich bin sogar noch stolz darauf!

Am nächsten Tag kam der Koch und meldete, der Drucker wäre einverstanden.

»Wo ist der Vordruck?«

»Der Drucker sagt, er will erst die zwei Wochen lang das Fressen.«

»Vertrauen gegen Vertrauen«, knurrte Lazarus. »Entweder wir kriegen das Formular sofort, oder er soll das Geschäft vergessen.«

Eine Stunde später hatten sie den Vordruck.

Seit seiner Einlieferung meldete Lazarus sich täglich beim Hauptwachtmeister des Gefängnisses zur Führung der Rapportbücher und zur Erledigung des Geschäftsverkehrs. Täglich tippte er Dutzende von Briefen auf der Schreibmaschine. Der Hauptwachtmeister las seine Zeitung und kümmerte sich nicht weiter um ihn. In aller Ruhe konnte der Bucklige also einen Entlassungsbefehl für sich selber ausfüllen. Er tippte seinen Namen, seine Personaldaten und die Nummer seines Aktes. Als Datum setzte er den 15. November 1940 ein, obwohl man erst den 8. November schrieb. Eine gute Woche brauchten Lazarus und Thomas noch für das, was sie vorhatten. Einen Tag würde außerdem der Brief für den Instanzenweg im Gefängnis brauchen. – Thomas konnte also, wenn alles gutging, am 16. November entlassen werden. Der 16. war ein Samstag, und am Samstag hatte der freundliche Wärter Juliao immer seinen freien Tag, und … Aber wir müssen der Reihe nach erzählen!

Den Entlassungsbefehl zierte Lazarus zuletzt noch mit der Unterschrift des Oberstaatsanwalts, welche er an Hand eines Briefes, der im Büro angeheftet war, leicht kopieren konnte.

In die Zelle zurückgekehrt, sagte er zu Thomas: »Warst du auch fleißig?«

»Ich habe den ganzen Nachmittag geübt.«

Es war besprochen, daß sich Thomas an Stelle von Lazarus melden sollte, sobald der gefälschte Entlassungsbefehl die Gefängniskanzlei erreichte und der »Häftling Alcoba« aufgerufen wurde. Dazu war es nötig, daß Thomas sich äußerlich soweit wie irgend möglich in diesen verwandelte – eine schwere Aufgabe, wenn man bedenkt, daß Lazarus Alcoba einen Buckel und fast keine Haare mehr auf dem Schädel hatte, daß er Hamsterbacken besaß, kleiner als Thomas war und an einem nervösen Mundzucken litt. Der Bucklige bestand deshalb darauf, daß Thomas täglich übte …

Thomas stopfte sich nun Brotkugeln zwischen Wangen und Zahnfleisch, wodurch er tatsächlich Hamsterbacken bekam. Dann begann er, nervös mit dem Mund zu zucken. Behindert durch das Brot, versuchte er, die Stimme des Buckligen nachzuahmen.

»Nicht so nuscheln, Kleiner! Und was ist denn das für ein Zucken? Du zuckst ja viel zu weit oben!« Lazarus griff sich an den Mund. »Hier unten zucke ich! Tiefer, Junge, tiefer!«

»Tiefer geht’s nicht!« Thomas zuckte, was er konnte. »Die verfluchten Brotkugeln stören!«

»Ohne Brot keine Hamsterbacken! Gib dir nur Mühe, es geht schon tiefer!« Thomas wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Das ist aber auch ein Pech mit deinem Maul.«

»Kann nicht jeder so schön sein wie du. Das ist überhaupt erst der Anfang! Warte mal, bis ich dir die Haare absenge.«

»Absenge?«

»Klar! Glaubst du, die geben uns hier Rasiermesser und Schere?«

»Das halte ich nie durch«, stöhnte Thomas.

»Quatsch nicht, übe lieber. Mach dich kleiner. Zieh meinen Mantel an, damit du siehst, wie weit du die Knie einknicken mußt. Nimm das Kissen. Mach einen anständigen Buckel damit! Und stör mich nicht, ich muß jetzt mal im Hause rumfragen.«

»Wonach?«

»Wer einen Brief vom Oberstaatsanwalt besitzt. Mit einem Stempel darauf. Damit du ihn nachmachen kannst.«

Während Thomas Lieven den alten Mantel des Buckligen anzog und mit eingeknickten Knien durch die Zelle humpelte, begann Lazarus mit einem Schuh an eine Wand zu klopfen. Er wendete dabei das einfachste aller Klopfalphabete an: a = dreimal, b = zweimal, c = einmal, sodann: d = sechsmal, e = fünfmal, f = viermal, sodann: g = neunmal, h = achtmal, i = siebenmal. Und so weiter.

Lazarus klopfte seine Anfrage hinaus, dann wartete er auf Antwort und sah Thomas zu, der zuckte, nuschelte und das Gehen mit eingeknickten Knien übte.

Nach einer Stunde begann der Zellennachbar zu klopfen. Lazarus lauschte und nickte.

Dann sagte er: »Im dritten Stock sitzt ein Häftling namens Maravilha. Der hat sich den Ablehnungsbescheid der Oberstaatsanwaltschaft auf seinen Antrag auf Haftentlassung aufgehoben. Zum Andenken. Da ist ein Stempel drauf.«

»Na also. Biete ihm eine Woche gutes Essen dafür«, nuschelte Thomas, heftig mit dem Mund zuckend.



7



Der November des Jahres 1940 war sehr warm. Man konnte noch im Atlantik schwimmen oder am Strand von Estoril in der Sonne liegen – nach den portugiesischen Vorschriften allerdings nur außerordentlich sittsam bekleidet. Bei den Herren verlangte die Polizei einen kompletten Badeanzug, und bei den Damen waren die Behörden noch strenger.

Am 9. November gegen zwölf Uhr mittags mietete ein säuerlich blickender Herr mit Säbelbeinen bei einem Bootsverleiher am Strand eine sogenannte »Gaivola«, einen altmodischen Wassertreter, der aus zwei Holzkufen, einer Art Liegestuhl mit Pedalen dazwischen, und einem Schaufelrad bestand. Sodann radelte er mit eigener Kraft aufs offene Meer hinaus.

Der Herr von etwa fünfzig Jahren trug einen braunen Badeanzug und einen Strohhut. Nach einer Viertelstunde Fahrt sichtete er eine zweite »Gaivola«, die weit draußen mutterseelenallein im milden Seegang des Atlantiks schaukelte. Auf sie hielt er nun Kurs. Nach einer weiteren Viertelstunde war er nahe genug herangekommen, um den Herrn im Stuhl des zweiten Wassertreters zu erkennen, der aussah wie ein naher Verwandter von ihm: verbittert und überarbeitet.

Der zweite Herr trug einen schwarzen Badeanzug und rief ihm zu: »Gott sei Dank, ich hatte schon Angst, Sie würden nicht kommen!«

Der Herr im braunen Badeanzug glitt längsseits: »Sie deuteten am Telefon an, es ginge um meine Existenz – also kam ich natürlich.«

Der Schwarze sagte: »Haben Sie keine Sorge, Major Loos, hier draußen kann uns niemand hören. Hier gibt es keine Mikrophone. – Geniale Idee von mir, was?«

Der Braune musterte ihn unfreundlich: »Genial, ja. Was wollen Sie von mir, Mr. Lovejoy?«

Der Agent des britischen Geheimdienstes seufzte: »Ihnen einen Vorschlag zur Güte machen, Major. Es handelt sich um diesen Thomas Lieven …«

»Dachte ich es mir doch!« Der deutsche Abwehroffizier nickte grimmig.

Lovejoy sagte verbissen: »Sie sind hinter ihm her. Sie hat er reingelegt. Mich hat er reingelegt … Wir sind Feinde, gut und schön. Wir haben uns zu hassen. Und trotzdem, Major, lassen Sie uns in diesem Fall zusammenarbeiten.«

»Zusammenarbeiten?«

»Major, wir stehen im gleichen Beruf. Ich appelliere an Ihre Kollegialität. Es geht doch wohl zu weit, nicht wahr, daß sich in unserem Metier plötzlich ein blutiger Laie mausert, ein frecher Außenseiter, der die Preise verdirbt und uns lächerlich macht und so tut, als wären wir Idioten!«

Der Major aus Köln sagte dumpf: »Wegen dieses Kerls stehe ich vor dem Hinauswurf!«

»Und ich?« grollte Lovejoy. »Entweder bringe ich ihn nach London – oder sie stecken mich zum Küstenschutz! Wissen Sie, was das heißt? Ich habe eine Frau und zwei Kinder, Major. Sie wahrscheinlich auch.«

»Meine Frau hat sich scheiden lassen.«

»Es ist ja nicht viel, was man verdient, aber wollen wir uns von einem solchen Kerl die Existenz vernichten lassen?«

»Hätte ich ihn damals in Köln nur der Gestapo überlassen! Jetzt ist er verschwunden.«

»Nein, verschwunden nicht.«

»Was?«

»Er sitzt im Gefängnis.«

»Aber …«

»Ich erkläre Ihnen alles. Er wird nicht ewig drinbleiben. Ich habe jemanden in der Verwaltung bestochen, der meldet mir sofort, wenn er rauskommt.« Lovejoy warf die Arme empor. »Aber was passiert dann? Dann geht das Theater zwischen Ihnen und mir doch nur wieder von neuem los mit Jacht und U-Boot, Chloroform und Revolver! Major, Major, ich bin ganz ehrlich: Ich halte das einfach nicht mehr aus!«

»Denken Sie, meiner Galle macht so etwas Freude?«

»Darum mein Vorschlag: Wir arbeiten zusammen. Wenn er rauskommt, stößt ihm was zu. Ich habe da einen Mann an der Hand, na, Sie wissen ja, für die Dreckarbeit. Dann kann ich nach Hause melden, ihr Deutschen habt ihn umgelegt – und Sie können Ihrem Admiral erzählen, wir Engländer waren es. Sie müssen nicht an die Front, ich muß nicht zum Küstenschutz. Ist das etwa kein Vorschlag?«

»Es klingt zu schön, um wahr zu sein …« Der Major seufzte abgrundtief. Plötzlich sagte er tonlos: »Haie!«

»Nein!!!«

»Da vorn.« Loos erstarrte. Durch das blaue Wasser kamen zwei steil aufgerichtete Schwanzflossen direkt auf sie zugeschossen. Dann drei. Dann fünf.

»Wir sind verloren«, sagte Lovejoy.

»Ruhig Blut. Den toten Mann markieren!« befahl der Major. Das erste Tier hatte sie erreicht, glitt unter die beiden Wassertreter und hob sie spielerisch hoch. Die »Gaivolas« hopsten durch die Luft, klatschten aufs Meer und schwankten wüst. Dann schoß ein neues Tier heran und hob sie wieder hoch.

Der Major flog ins Wasser. Er ging unter, kam hoch und legte sich sofort stocksteif auf den Rücken. Ein Riesenvieh glitt an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, das Maul weit aufgerissen. Der Major, in Zoologie bewandert, machte eine beruhigende Feststellung.

Dann hörte er einen fürchterlichen Schrei und sah, wie sein britischer Kollege durch die Luft gewirbelt wurde und neben ihm landete.

»Lovejoy, hören Sie doch, das sind keine Haie – das sind Delphine!«

»De-De-De …«

»Ja. Wir sind in ein Rudel geraten … Delphine tun Menschen nichts, sie spielen nur mit ihnen.«

Das taten sie wirklich. Immer wieder umkreisten und umschwammen sie die beiden Herren, gelegentlich sprangen sie, Wasserfontänen hochreißend, auch über sie hinweg.

Die feindlichen Agenten klammerten sich nun an eine Kufe von Lovejoys umgestürzter »Gaivola«. Sie versuchten, sie zur Küste hinzustoßen. Lovejoy keuchte: »Ich kriege keine Luft … Was sagten Sie eben – Loos?«

Ein Riesendelphin hatte sich gerade steil hinter dem Major erhoben, sprang elegant über ihn hinweg und deckte ihn mit einer kleinen Sintflut zu. Der Major spie eine Menge Meerwasser aus, dann schrie er Lovejoy ins Ohr: »Ich sagte: Am liebsten würde ich den Lumpen eigenhändig über den Haufen schießen, wenn er rauskommt!«



8



In Portugal werden nur wenig Kartoffeln gegessen. Trotzdem trieb Francesco, der Gefängniskoch, besonders schöne auf, als sich die begüterten Häftlinge Leblanc und Alcoba für das Mittagsmahl des 15. November Pellkartoffeln bestellten. Wie man ihm befohlen hatte, kochte Francesco die Kartoffeln in der Schale halb gar und brachte sie sodann, ganz heiß noch, in den fünften Stock empor, wo er sie den Herren Leblanc und Alcoba mit in Essig und Öl eingelegten portugiesischen Sardinen servierte. Wärter Juliao schnitt auf Wunsch der begüterten Häftlinge die nicht ganz weichen Kartoffeln mit einem scharfen Messer in zwei Hälften.

Allein geblieben, ließen beide Herren das Essen stehen. Thomas hatte zu tun. Auf ein Tischchen beim Fenster legte er nebeneinander: den Entlassungsbefehl, den Lazarus mit der Maschine ausgefüllt hatte, und den Brief, in welchem die Oberstaatsanwaltschaft den Antrag des Häftlings Maravilha auf Haftentlassung ablehnte. Dieser Brief trug den Stempel der Oberstaatsanwaltschaft.

In Erinnerung an die wertvollen Lehren des Malers und Paßfälschers Reynaldo Pereira machte Thomas sich an die Arbeit, wobei er den buckligen Lazarus zum interessierten Zuschauer hatte.

Thomas nahm die noch heiße Hälfte einer Kartoffel und drückte die Schnittfläche auf den Stempel der Oberstaatsanwaltschaft. Nach einer Viertelstunde hob er die Kartoffelhälfte ab. Die Schnittfläche zeigte, seitenverkehrt, den Abdruck des Stempels.

»Nun kommt der Haupttrick«, sagte Thomas. Die Macht der Gewohnheit brachte es mit sich, daß er es nuschelnd sagte. Er zuckte auch ein bißchen mit den Mundwinkeln dabei. Das ließ sich seit zwei Tagen nicht mehr ganz nach seinem Belieben abstellen. Man zuckt und nuschelt nicht ungestraft eine Woche lang von früh bis spät. »Gib mal die Kerze her, Lazarus!«

Aus seiner Matratze holte der Bucklige eine Kerze und Streichhölzer hervor, die er im Büro des Hauptwachtmeisters gestohlen hatte. Beides gedachte er auch noch bei der Entfernung von Thomas’ Haaren in Anwendung zu bringen.

Lazarus zündete die Kerze an. Thomas biß vorsichtig ein Stück von der Unterseite der Kartoffelhälfte ab. Danach hielt er das angebissene Ende über die Kerzenflamme, um die Kartoffel neuerlich zu erhitzen.

»Der Fachmann nennt das: eine Glocke machen«, erläuterte er dem ehrfürchtigen Lazarus. – Herrgott, ob ich das alles wohl jemals noch in meinem Club erzählen werde? – »Die Kartoffel erhitzt sich. Du siehst, wie der Abdruck wieder feucht wird. Man sagt: Er kommt zum Leben. Noch ein paar Sekunden, und nun …« Elegant stülpte Thomas die »Glocke« mit dem feuchten, heißen Stempelabdruck auf den Entlassungsbefehl, dorthin, wo der Stempel zu sitzen hatte. Unter leisem Druck ließ er die Kartoffel eine Viertelstunde lang erkalten. Dann hob er sie ab. Ein genaues Abbild des Originalstempels saß auf dem Entlassungsbefehl.

»Phantastisch!« sagte Lazarus.

»Jetzt wollen wir aber schnell essen«, sagte Thomas. »Den Rest können wir nachher erledigen.«

Der Rest sah dann so aus: Am Vormittag hatte Lazarus im Büro des Hauptwachtmeisters viele eben eingegangene Briefe der Oberstaatsanwaltschaft geöffnet. Er öffnete jeden Tag derartige Kuverts. An diesem Vormittag hatte er sich bemüht, einen schlecht verklebten Umschlag besonders sorgfältig zu öffnen. Das war ihm gelungen. Er hatte den Umschlag mitgenommen und eine Tube Klebstoff dazu.

Nach dem Essen faltete Thomas den nun vollständigen Entlassungsbefehl für Lazarus Alcoba sorgfältig zusammen, steckte ihn in das grüne Kuvert, das den Poststempel des Vortages trug, und klebte es sorgfältig wieder zu. Und am Nachmittag legte Lazarus das Kuvert dem Hauptwachtmeister dann unter die Nachmittagspost …

»Jetzt geht es um die Wurst«, sagte der Bucklige an diesem Abend zu Thomas Lieven. »Der Hauptwachtmeister hat meinen Entlassungsbefehl aus dem Verwaltungsbüro schon rüber zur Entlassungsstelle geschickt. Dort werden sie morgen früh ordnungsgemäß einen Entlassungsschein ausstellen, und dann werden sie mich meiner Erfahrung nach so gegen elf Uhr aus der Zelle holen. Das heißt: Dein Haar muß heute nacht runter.«

Das Absengen dauerte eine knappe halbe Stunde – allerdings war es die schlimmste halbe Stunde in Thomas Lievens Leben. Mit gebeugtem Kopf saß er vor Lazarus, der an ihm tat, was man tut, wenn man gerupftes Geflügel absengt. In der rechten Hand hielt er die Kerze, deren Flamme Thomas Lievens Haarsträhnen ganz nahe der Wurzel abfraß. In der linken Hand hielt Lazarus einen feuchten Lappen. Mit ihm betupfte er immer wieder blitzschnell den Schädel, damit der Haut nichts passierte. Manchmal tupfte er trotzdem nicht blitzschnell genug …

Thomas stöhnte vor Schmerz. »Paß doch auf, Idiot, verfluchter!« Darauf antwortete Lazarus mit dem Hinweis auf ein altes portugiesisches Sprichwort: »Wer Freiheit will, muß leiden, das läßt sich nicht vermeiden!«

Endlich war die Tortur vorüber.

»Wie sehe ich aus?« fragte Thomas erschöpft.

»Wenn du dir Brot in die Backen stopfst und hübsch zuckst, wie mir aus dem Gesicht geschnitten«, antwortete Lazarus stolz.

Sie schliefen beide außerordentlich schlecht in dieser Nacht.

Am nächsten Morgen brachte ein fremder Wärter das Frühstück, denn es war Samstag, der 16., und am Samstag hatte, wir sagten es schon, der freundliche Juliao immer seinen freien Tag. Das war Lazarus natürlich schon klar gewesen, als er auf dem Entlassungsbefehl das Datum einsetzte. Der Bucklige nahm dem fremden Wärter das Frühstück in der Tür ab. Thomas Lieven schnarchte noch auf seiner Pritsche, die Decke über den Kopf gezogen.

Nach dem Frühstück schluckte Lazarus drei weiße Pillen und legte sich auf Thomas Lievens Pritsche. Thomas zog den kurzen Mantel des Buckligen an und veranstaltete zwischen acht und zehn noch einmal eine private Generalprobe. Danach behielt er die Brotkugeln endgültig in den Backen und das dicke Kissen zwischen Rücken und Hemd. Er hatte es festgebunden, damit der Buckel nicht verrutschte. Gottergeben zuckte er vor sich hin …

Um elf kam der fremde Wärter wieder. Lazarus schlief, die Decke über dem Kopf. Der fremde Wärter hielt einen Entlassungsschein in der Hand: »Lazarus Alcoba!«

Mit durchgeknickten Knien erhob sich Thomas und zwinkerte den Wärter zuckend an. »Zu Befehl«, nuschelte er.

Der Wärter musterte ihn aufmerksam. Thomas brach der Schweiß aus.

»Sie sind Lazarus Alcoba?«

»Jawohl!«

»Was ist denn mit dem andern los, der pennt ja immer noch!«

»Hat eine schlechte Nacht gehabt«, gab Thomas undeutlich bekannt. »Was wollen Sie denn von mir, Herr Wachtmeister?«

»Sie werden entlassen.«

Thomas griff sich ans Herz, stöhnte und sank aufs Bett. Er spielte den Überwältigten. »Ich habe immer gewußt, daß die Gerechtigkeit siegt«, nuschelte er.

»Quatschen Sie nicht, kommen Sie mit. Los!« Der Wärter zog ihn hoch – zu hoch beinahe. Thomas sackte wieder in die Knie. – Verflucht, tut das weh! Na, es dauert ja nicht lange. – Er folgte dem fremden Wärter durch weite Korridore in den Verwaltungstrakt des Gefängnisses. Schwere Eisengitter wurden vor ihm auf- und nach ihm wieder zugeschlossen. – Das Zucken ist nicht so schlimm, das geht jetzt schon fast von selber. Aber diese durchgeknickten Knie … Wenn ich nur keinen Krampf bekomme, wenn ich nur nicht hinschlage …

Treppen hinauf, Treppen hinab – das halte ich nie durch. Nie!

Wieder Korridore. Der fremde Wärter musterte ihn: »Ist Ihnen heiß, Alcoba? Sie schwitzen ja so. Ziehen Sie den Mantel aus!«

»Nein. Nein, danke. Es – es ist nur die Aufregung … Im Gegenteil – ich – ich friere …«

Dann erreichten sie das Entlassungsbüro. Hier gab es eine Holzbarriere, die den Raum teilte. Hinter der Barriere arbeiteten drei Beamte. Vor der Barriere standen noch zwei andere Häftlinge, die entlassen werden sollten. Zweierlei sah Thomas sogleich: daß die Beamten faule Hunde waren und daß es vor der Barriere keine Sessel gab. Das kann ja gut werden, dachte er schwach. Eine Uhr an der Wand zeigte die Zeit: zehn Minuten nach elf.

Fünf Minuten vor zwölf waren die Beamten mit den beiden Häftlingen immer noch nicht fertig. Vor Thomas Lievens Augen drehten sich bereits feurige Räder; er glaubte jeden Moment ohnmächtig zu werden, so wahnsinnig schmerzten die Knie, und nicht nur die Knie, auch die Waden, die Schenkel, die Knöchel, die Hüften. Unauffällig stützte er sich mit einem Ellbogen auf die Barriere, dann mit beiden. O Himmel, welche Erleichterung, welch süße Wonne …

»He! Sie da!« kläffte der kleinste Beamte los. »Nehmen Sie gefälligst die Arme von der Barriere! Können Sie die paar Minuten nicht vielleicht noch ordentlich stehen? Faules Gesindel!«

Demütig zuckend, sagte Thomas: »Verzeihung, die Herren.« Und nahm die Arme von der Barriere. Im nächsten Moment fiel er einfach um. Er konnte nicht mehr. Verzweifelt dachte er: Nicht ohnmächtig werden. Nur nicht ohnmächtig werden. Sonst ziehen sie mir den Mantel aus. Und sehen, was los ist. Mit meinen Beinen, mit meinem Buckel …

Er wurde nicht ohnmächtig, und jetzt, da feststand, daß der arme Häftling infolge der Aufregung einen Schwächeanfall erlitten hatte, bekam er sogar einen Stuhl. Kaum saß er, dachte er: Das hätte ich früher haben können, ich Idiot!

Um halb ein Uhr machten zwei Beamte Mittagspause. Der dritte kümmerte sich endlich um Thomas. Er spannte ein Formular in eine Maschine. Er sprach mild: »Reine Formalität. Ich muß noch einmal Ihre Personalbeschreibung aufnehmen. Damit keine Verwechslung vorkommt.«

Ja, da müßt ihr verflucht aufpassen, dachte Thomas. Seit er sitzen durfte, fühlte er sich wieder ausgezeichnet. Er leierte die Daten seines Freundes herunter, die er auswendig gelernt hatte. »Alcoba Lazarus, ledig, römisch-katholisch, geboren in Lissabon am 12. April 1905 …«

»Zuletzt wohnhaft?«

»Rua Pampulha 51.«

Der Beamte verglich die Angaben mit den Angaben eines zweiten Formulares und tippte weiter: »Haar ergraut, schütter. – Sie sind aber früh kahl geworden!«

»Mein schweres Schicksal.«

»Hrm! Augen schwarz. Größe? Stehen Sie auf!«

Thomas stand auf und knickte die Knie ein. Der Beamte musterte ihn. »Besondere Kennzeichen?«

»Buckel, und dann im Gesicht …«

»Ja, ja, schon gut. Hrm! Setzen Sie sich wieder.«

Der Beamte tippte und schrieb. Dann führte er Thomas in einen anschließenden Raum und übergab ihn dem Asservatenverwalter. Als Untersuchungsgefangener hatte er seinen Anzug, seine Wäsche und seine geliebte goldene Repetieruhr behalten dürfen. Nun erhielt er den Paß und die Personalpapiere seines Freundes, erhielt Lazarus’ Geld, Taschenmesser und Wäscheköfferchen.

»Empfang quittieren«, sagte der Asservatenverwalter. Thomas unterschrieb ungelenk: »Alcoba Lazarus«.

Mein letztes Geld und mein schöner falscher französischer Geheimdienstpaß auf den Namen Jean Leblanc sind also beim Teufel, dachte er wehmütig. Mein Freund, der Maler, muß mir rasch einen neuen machen.

Hatte Thomas gehofft, um 14 Uhr 15 endlich, endlich die gräßliche Anstrengung überstanden zu haben, so erwies sich das als Irrtum. Man führte ihn durch endlose Gänge zum Anstaltsgeistlichen. Dieser, ein älterer Herr, sprach sehr innig zu Thomas und war tief gerührt, als der Entlassene plötzlich – offensichtlich erschüttert – bat, die Ermahnungen des Geistlichen kniend anhören zu dürfen …

Schwankend, mehr taumelnd als gehend, schleppte sich Thomas Lieven zehn Minuten vor drei Uhr portugiesischer Zeit am 16. November 1940 endlich über den Gefängnishof, in dem es nach der Gerblohe des anschließenden Lederwarenbetriebes stank, zum Tor. Zum letztenmal mußte er hier seine Entlassungspapiere vorweisen. Er zuckte schreckenerregend mit dem Mund, und sein Buckel stach schief durch das dünne Mäntelchen.

»Mach’s gut, Alter«, sagte der Mann, der die schwere Eisentür aufschloß. Durch sie schwankte Thomas Lieven in eine mehr als ungewisse Freiheit hinaus. Er schaffte es noch bis um die nächste Straßenecke. Dann fiel er noch einmal um und kroch auf allen vieren in ein Haustor, setzte sich auf eine Treppe und begann vor Wut und Erschöpfung zu heulen. Sein Paß war weg. Sein Geld war weg. Sein Besitz war weg. Sein Schiff war weg.



9



Noch am gleichen Tag wurde die Flucht des Häftlings Jean Leblanc entdeckt. In seiner Zelle fand der Wärter nur den Häftling Lazarus Alcoba vor, und zwar in einem bleischweren Dämmerschlaf.

Ein sofort herbeigerufener Arzt konstatierte, daß Alcoba nicht simulierte, sondern von schwersten Schlafmitteln betäubt war. Die Diagnose stimmte, nur hatte Lazarus sich selber betäubt, und zwar mit drei Pillen, die er dem Anstaltsarzt anläßlich einer Krankenvisite entwendet hatte …

Mit Hilfe von Spritzen und schwarzem Kaffee gelang es, den Häftling halbwegs wach zu bekommen und zu vernehmen. Daß es Alcoba und kein anderer war, den man vor sich hatte, erwies sich, als man den kleinen Mann auszog: An seinem Buckel war nicht zu rütteln!

Alcoba sagte aus: »Dieser verdammte Leblanc muß mir was ins Frühstück gegeben haben. Der Kaffee schmeckte so bitter. Ich bekam Kopfschmerzen und Schwindel – und dann war ich weg. Ich habe ihm erzählt, daß ich heute entlassen werden sollte. Das wußte ich nämlich vom Hauptwachtmeister, für den ich arbeite.«

Der Tageswärter, mit Alcoba konfrontiert, rief ihm zu: »Aber ich habe doch noch heute morgen mit Ihnen gesprochen, als ich das Frühstück brachte! Und später habe ich Sie doch aus der Zelle geholt!«

Darauf antwortete Lazarus Alcoba mit einer Logik, welche die vernehmenden Beamten bezwang: »Wenn Sie mich heute morgen aus der Zelle geholt hätten, säße ich jetzt nicht mehr hier.«

Es wurde den untersuchenden Herren klar, daß Jean Leblanc als Lazarus Alcoba geflüchtet war. Immer streng logisch, dabei heftig gähnend und noch sehr benommen, konstatierte Alcoba: »Der Entlassungsbefehl lautete aber auf mich. Also müssen Sie mich schleunigst entlassen.«

»Nun, hm, das natürlich – aber immerhin, solange die Untersuchung …«

»Hören Sie mal zu: Entweder ich werde morgen früh entlassen, oder ich teile dem Herrn Oberstaatsanwalt mit, was hier für feine Zustände herrschen!« rief Alcoba.

»Pereira! He, Pereira!« rief Thomas Lieven zur gleichen Zeit. Er klopfte an die Wohnungstür seines Freundes, des Fälschers. Aber es kam keine Antwort.

Entweder ist er wieder besoffen, oder er ist nicht zu Hause, überlegte Thomas, nach seinem Schwächeanfall einigermaßen wiederhergestellt. Dann fiel ihm ein, daß der verkommene Maler seine Wohnung niemals abschloß. Er drückte die Klinke herunter, die Tür ging auf. Durch den dunklen Vorraum schritt Thomas Lieven in das große Atelier, dessen riesenhaftes Fenster letztes Tageslicht hereinließ. Immer noch standen und lagen die gleichen scheußlichen Bilder herum, die Wohnung war so unaufgeräumt wie früher. Volle Aschenbecher, Tuben, Pinsel, Federn, Paletten beunruhigten das Auge durch eine Vielzahl von Farben.

Thomas sah in die Küche. Er fand seinen bärtigen Freund auch dort nicht. Also nicht zu Hause und woanders besoffen?

Das war natürlich dumm. Wie lange pflegte Pereira sich zu betrinken? Eine Nacht? Zwei Tage? Drei? Nach den Erfahrungen, die Thomas mit ihm gemacht hatte, mußte man mit dem Schlimmsten rechnen. Gut Rausch braucht sein’ Weil’.

Ich muß auf Pereira warten, überlegte Thomas. Meine Flucht ist vielleicht schon entdeckt; ich darf mich nicht auf der Straße zeigen. Dann hielt er sich eine Hand an den Magen. Nanu! Er verspürte Hunger; der Augenblick der allertiefsten Depression schien vorbei zu sein. Er lachte ein bißchen über sich selber. Dabei bemerkte er, daß er immer noch mit dem Mund zuckte. Auch die Knie taten ihm immer noch weh. Nicht daran denken, nur nicht daran denken.

Erst mal sehen, was Pereira in der Küche hat. Weißbrot, Tomaten, Eier, Käse, Schinken und Zunge, Pistazien, Kapern, Paprika, Pfeffer, Sardellen.

Die bunten Farben regten Thomas an. Ich werde Mosaikbrot und gefüllte Tomaten machen. Auch gleich für Pereira. Er wird etwas Kräftiges brauchen, wenn er heimkommt …

Thomas begann zu kochen. Als er die Pistazien und Kapern zerhackte, schlug er plötzlich mit dem Messer auf das Brett wie ein Wahnsinniger. Er mußte an Estrella denken. Diese Bestie. Diese Hexe. Diese Teufelin. Thomas köpfte Pistazien – in Gedanken köpfte er Estrella.

Der rote Paprika brachte ihn noch mehr in Rage. Die ganze Welt hat sich verschworen gegen mich! Alle sind meine Feinde! Was habe ich getan? Ein anständiger Mensch war ich, ein ordentlicher Bürger. Und jetzt …

Pfeffer dazu! Ordentlich Pfeffer. Brennen soll er wie die Wut in mir!

Ihr Hunde, ihr verfluchten, vom Geheimdienst. Wie weit habt ihr mich gebracht? Im Gefängnis war ich. Aus dem Gefängnis bin ich ausgebrochen. Dokumente fälschen kann ich, mit Gift und Revolver umgehen, mit Sprengstoff und unsichtbarer Tinte. Schießen, morsen, Jiu-Jitsu, boxen, ringen, rennen, springen, Mikrophone einbauen. Gelbsucht, Fieber, Blutzucker simulieren kann ich. Sind das Kenntnisse, auf die ein Privatbankier stolz sein darf? Kein Mitleid mehr mit irgend etwas oder irgend jemandem. Jetzt ist Schluß! Jetzt habe ich den Kanal voll! Jetzt sollt ihr etwas erleben! Alle! Die ganze Welt!

Jetzt werde ich euch anfallen wie ein hungriger Wolf mit meinen kriminellen Kenntnissen. Jetzt werde ich fälschen, simulieren, morsen, Mikrophone einbauen. Jetzt werde ich euch bedrohen und betrügen, so wie ihr mich betrogen und bedroht habt. Jetzt fängt mein Krieg an. Ein Einmannkrieg ist das – gegen euch alle. Und es wird keinen Waffenstillstand geben, keine Pakte, keine Bündnisse – mit niemandem.

Und noch mehr Pfeffer. Und noch mehr Paprika. Und Salz dazu. Und zusammengeschlagen die Masse zu einem formlosen Klumpen – so wie ich euch gerne zusammenschlagen würde, euch Hunde …

Draußen ging die Wohnungstür.

Das wird Pereira sein, dachte Thomas, aus seinen maßlosen Vorstellungen aufschreckend, und rief: »Kommen Sie weiter! Ich bin in der Küche!«

Menu • 16. November 1940

Kalte Küche für heiße Wut

Mosaikbrot

Gefüllte Tomaten

Mosaikbrot: Man köpfe ein Kaviarbrot oder französisches Weißbrot an beiden Enden, hole mit einer Gabel die ganze Krume heraus, ohne die Rinde zu verletzen.

Man braucht zur Füllung 125 Gramm Butter, 100 Gramm Schinken, 100 Gramm gekochte Rinderzunge, ein hartgekochtes Eigelb, 75 Gramm Käse, einen halben Teelöffel Kapern, 25 Gramm Pistazien, etwas Sardellen, Senf, Salz und Pfeffer.

Man verrühre die Butter, zerdrücke das Eigelb, hacke die Pistazien und Kapern, schneide alles andere in kleine Würfel und mische alles leicht mit den Gewürzen. Dann drücke man die Masse fest in das ausgehöhlte Brot, das einige Stunden sehr kalt gestellt werden muß, bevor man es in dünne Scheiben schneidet, die auf einer Platte angerichtet werden. Damit die Platte noch bunter aussieht, garniere man das aufgeschnittene Mosaikbrot mit gefüllten Tomaten.

Gefüllte Tomaten: Man höhle schöne, feste Tomaten aus, bestreue sie innen mit geriebenem Käse und setze in jede ein quer durchgeschnittenes halbes hartes Ei mit der Schnittfläche nach oben. Man bestreue es mit Salz und Rosenpaprika sowie mit reichlich sehr fein gewiegter Petersilie und Schnittlauch.

Im nächsten Moment trat ein Mensch in den Rahmen der offenen Küchentür. Aber es war nicht der bärtige, versoffene Maler Reynaldo Pereira. Es war überhaupt kein Mann. Es war eine Frau.



10



Sie trug einen roten Ledermantel, rote Schuhe und eine rote Kappe, unter der schwarzblaues Haar hervorquoll. Der Mund der jungen Frau war groß und rot, die Augen waren groß und schwarz. Die Haut des Gesichtes war sehr weiß. Sie hatte die Hände in den Manteltaschen und sah Thomas Lieven scharf an. Ihre Stimme klang metallen und ein wenig ordinär: »’n Abend, Pereira. Sie kennen mich nicht.«

»Ich …«, begann Thomas, aber sie unterbrach ihn mit einer herrischen Kopfbewegung, die das schöne lange Haar fliegen ließ: »Seien Sie ruhig, ich bin nicht von der Polente. Im Gegenteil.«

Sie hält mich für Reynaldo Pereira, dachte Thomas. Klar!

Er stotterte: »Wer – wer hat Ihnen die Adresse gegeben?«

Die Frau in Rot musterte ihn mit einem zusammengekniffenen Auge. »Was ist denn los mit Ihnen? Nerven? Koks? Schnaps?«

»Bitte, wieso?«

»Was führen Sie denn mit Ihrem Gesicht auf? Können Sie den Mund nicht ruhig halten? Sie zucken ja dauernd!«

»Das geht vorbei. Habe ich – habe ich manchmal am Abend. Ich frage Sie: Wer hat Ihnen die Adresse gegeben?«

Die Frau in Rot kam dicht an ihn heran. Sie roch ausgezeichnet. Und sie war sehr schön. Mit leiser Stimme sagte sie: »Die Adresse habe ich von einem gewissen Monsieur Débras.«

Major Maurice Débras vom französischen Geheimdienst, dachte Thomas Lieven betäubt. Das auch noch. Der dritte, den ich hereingelegt habe. Natürlich, das mußte ja kommen. Nun sind sie zu dritt hinter mir her. Franzosen, Engländer, Deutsche. Jetzt kann es sich nur noch um Stunden handeln, und ich bin ein toter Mann …

Aus weiter Ferne schien die Frau in Rot ihre nächste Frage zu stellen; Thomas sah sie plötzlich nur noch undeutlich und schemenhaft. Ihre nächste Frage bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen.

»Kennen Sie einen gewissen Jean Leblanc?«

Zunächst klapperte Thomas sehr laut mit Pfannen und Besteck, bevor er undeutlich murmelte: »Jean Leblanc? Nie gehört!«

»Quatschen Sie nicht kariert, Pereira, klar kennen Sie den Mann!«

Die schöne Bestie setzte sich auf einen Küchenhocker und kreuzte die langen, schlanken Beine. »Machen Sie sich nicht gleich in die Hosen!«

Wie dieses Weib mit mir umgeht, dachte Thomas. Unwürdig, absolut unwürdig ist meine Situation. Womit verdiene ich das alles? Ich, jüngster Privatbankier von London. Ich, Mitglied eines der exklusivsten Londoner Clubs. Ich, ein Mann von bester Erziehung, von anständigen Ehrbegriffen, von Lebensart … Da stehe ich in einer dreckigen portugiesischen Küche und muß mir von einem zum Fressen hübschen Weib sagen lassen, ich soll mir nicht in die Hosen machen. Na, die kann jetzt mal was erleben!

Der wohlerzogene Thomas Lieven konterte: »Nun halte aber schnell die Luft an, Puppe, und hau ab, sonst gibt es Ärger!«

Im nächsten Augenblick änderte sich die Situation. Schritte ertönten, und schon stand ein bärtiger Mann mit fleckigen Kordsamthosen und einem ausgebeulten schwarzen Pullover in der Küche. Der Mann war außerordentlich betrunken. Trotzdem erhellte sich sein breites Säufergesicht sogleich zu einem erfreuten Grinsen, als er Thomas erblickte, und er grunzte: »Willkommen in meiner elenden Behausung! Aber, meu amigo, was haben sie bloß mit deinen Haaren gemacht?«

Reynaldo, der Maler, war heimgekehrt …

Plötzlich sprachen die drei Menschen in der kleinen Küche gleichzeitig. Die Frau in Rot sprang auf, starrte Thomas an und rief: »Was, Sie sind gar nicht Pereira?«

»Natürlich ist er nicht Pereira«, rief der besoffene Maler. »Was haben Sie denn getrunken? Ich bin Pereira! Das ist …«

»Maul halten!«

»… mein alter Freund Leblanc!«

»Oh!«

»Und wer – hicks –, schöne Dame, sind Sie?«

»Ich heiße Chantal Tessier«, sagte die junge Frau, ohne den Blick von Thomas zu nehmen. Ein hungriger Ausdruck trat in ihr Katzengesicht. Langsam sagte sie: »Monsieur Jean Leblanc persönlich?« und nach einer Pause: »Was für ein glücklicher Zufall!«

»Was wollen Sie von mir?«

»Sie haben Ihrem Freund Débras doch mal einen falschen Paß besorgt. Débras sagte zu mir: ›Wenn du selber mal einen falschen Paß brauchst, geh zu Reynaldo Pereira in die Rua do Poco des Negros und berufe dich auf Jean Leblanc …‹«

»Sagte Ihr Freund Débras?«

»Sagte mein Freund Débras.«

»Sonst sagte er nichts?«

»Nur, daß Sie ein feiner Kerl sind, der ihm das Leben gerettet hat.«

Thomas dachte: Also alles nur halb so schlimm! Freundlich sagte er: »Wollen Sie nicht mit uns essen? Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen, Mademoiselle Tessier?«

»Für Sie: Chantal!« Das Katzengesicht lächelte und entblößte dabei ein kräftiges Raubtiergebiß. Chantal Tessier war selbstbewußt, sie war gerissen, sie war bestimmt eiskalt. Aber sie schien es nicht gewohnt zu sein, daß Männer ihr aus dem Mantel halfen.

Das Raubtier trug einen engen schwarzen Rock und eine weiße Seidenbluse. Donnerwetter, dachte Thomas, so eine Figur! Dieses Mädchen bekommt bestimmt keine nassen Schuhe, wenn es regnet …

Der Augenblick der Gefahr war vorüber. Thomas konnte wieder er selber sein. Gut erzogen und ritterlich gegen Damen. Gegen jede Art von Damen!

Sie setzten sich neben den betrunkenen Maler, der bereits zu essen begonnen hatte. Er aß mit den Fingern und sprach mit vollem Mund: »Wenn ich so malen könnte, wie Sie kochen können, dann wäre der alte Goya ein Hund gegen mich!« Er erleichterte sich durch zartes Aufstoßen. »Sind da Pi-Pistazien drin?«

»Und Kapern, ja. Halten Sie sich doch die Hand vor! Sie brauchen also einen Paß, Chantal?«

»Nein.« Ihre Augen schwammen jetzt ein bißchen. Und ihr linker Nasenflügel zitterte. Das war eine Angewohnheit von ihr.

»Ich brauche nicht einen Paß, ich brauche sieben.«

»Darf ich mal was bemerken?« erkundigte sich der unrasierte Maler mit vollem Mund.

Ärgerlich sagte Thomas: »Schlucken Sie runter, bevor Sie sprechen. Und unterbrechen Sie nicht dauernd. Sehen Sie lieber zu, daß Sie ein bißchen nüchtern werden.« Und zu der schönen Katze: »Für wen brauchen Sie die sieben Pässe, Chantal?«

»Für zwei deutsche, zwei französische und drei ungarische Herren.«

»Sie besitzen, wie es scheint, einen sehr internationalen Bekanntenkreis.«

Chantal lachte: »Kein Wunder bei meinem Beruf als – Fremdenführerin!«

»Wohin führen Sie denn Ihre Fremden?«

»Von Frankreich durch Spanien nach Portugal. Ganz einträgliches Geschäft.«

»Und wie oft gehen Sie auf Reisen?«

»Einmal im Monat. Es sind immer größere Gesellschaften. Mit falschen Pässen. Oder gar keinen, je nachdem …«

»Weil wir gerade von Pässen reden«, begann der Maler wieder, aber Thomas winkte ihn zur Ruhe.

Chantal berichtete: »Ich gebe mich nur mit reichen Leuten ab. Ich bin teuer. Es ist aber auch noch nie einer hochgegangen bei mir. Ich kenne jeden Zentimeter Grenze! Ich kenne jeden Grenzbeamten! Na ja, und mit dem letzten Schub habe ich eben sieben Herren mitgebracht, die brauchen neue Pässe.« Sie stieß den Maler an. »Kannst dir eine goldene Nase verdienen, mein Alter.«

»Ich brauche auch einen Paß«, sagte Thomas.

»O heilige Jungfrau«, sagte der Bärtige. »Wo ich doch keine Pässe mehr habe!«

Thomas sagte aufgebracht: »Von den siebenundvierzig alten Pässen, die ich Ihnen brachte …«

»Wann brachte? Vor sechs Wochen? Was glauben Sie, wie es bei mir zuging? In vierzehn Tagen war alles weg! Es tut mir wirklich leid – aber ich habe keinen mehr da! Keinen einzigen! Das wollte ich Ihnen schon die ganze Zeit erklären!«



11



Rings um den Largo de Chiado, einem verträumten Platz mit uralten Bäumen, lagen die »Pasteleria Marques«, die kleinen Damencafés, berühmt für ihre süßen Leckereien. In einer Nische der Konditorei »Caravela« saßen am Abend dieses 16. November 1940 zwei Herren. Der eine trank Whisky, der andere aß Eis mit Schlagsahne. Der Whiskytrinker war der britische Agent Peter Lovejoy. Der Eisesser, ein dicker, gutmütiger Riese mit fröhlichen Schweinsäugelchen in einem rosigen Babygesicht, hieß Luis Guzmao.

Peter Lovejoy und Luis Guzmao kannten einander seit zwei Jahren, sie hatten schon ein paarmal erfolgreich zusammengearbeitet …

»Also, es ist soweit«, sagte Lovejoy. »Ich habe Nachricht, daß er heute aus dem Gefängnis geflohen ist.«

»Da müssen wir uns beeilen, damit wir ihn noch in Lissabon erwischen«, sagte Guzmao. Er löffelte und schmatzte. Er liebte Eis mit Schlagsahne. Er bekam nie genug davon.

»Eben«, sagte Lovejoy gedämpft. »Wie wollen Sie die Sache erledigen?«

»Pistole mit Schalldämpfer, denke ich. Was ist mit dem Geld? Haben Sie es mitgebracht?«

»Ja. Sie bekommen fünftausend Escudo jetzt und fünftausend, wenn Sie … also hinterher.«

Lovejoy trank einen großen Schluck Whisky und dachte verärgert: Fünftausend Escudo hat er mir gegeben, mit Geld will er sich an der Sache beteiligen, der feine Herr Major Loos – aber vor der Besprechung mit diesem Guzmao hat er sich gedrückt, dazu war er zu fein!

Lovejoy spülte seinen Ärger über den zartbesaiteten Deutschen mit einem weiteren Schluck Whisky hinab. Dann sagte er: »Jetzt hören Sie gut zu, Guzmao: Leblanc ist in Gestalt und Maske eines gewissen Lazarus Alcoba geflohen. Dieser Alcoba ist bucklig, klein, fast kahl.« Lovejoy beschrieb Alcoba so genau, wie seine Vertrauensperson im Gefängnis ihn beschrieben hatte. Dann sagte er: »Leblanc weiß, daß die Engländer und die Deutschen hinter ihm her sind. Er wird sich also bestimmt verstecken.«

»Wo?«

»Er hat da einen Freund, einen versoffenen Maler in der Altstadt, Rua do Poco des Negros 16. Ich wette, dorthin wird er jetzt laufen. Entweder er spielt weiter den Buckligen – aus Angst vor uns –, oder er verwandelt sich wieder in Jean Leblanc – aus Angst vor der Polizei.«

»Wie sieht Jean Leblanc aus?«

Lovejoy beschrieb Thomas Lieven genau.

»Und der echte Bucklige?«

»Der sitzt noch! Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie in der Rua do Poco des Negros 16 einen Buckligen erwischen, der fast keine Haare mehr auf dem Kopf hat und auf den Namen ›Leblanc‹ reagiert, dann brauchen Sie keine weiteren Fragen mehr zu stellen …«

Wenige Minuten nach acht Uhr früh, am 17. November 1940, wurde der elfmal vorbestrafte Lazarus Alcoba, ledig, geboren in Lissabon am 12. April 1905, dem Direktor des Gefängnisses »Aljube« vorgeführt. Der Direktor, ein großer, hagerer Mann, sagte zu ihm: »Es wird mir berichtet, daß Sie gestern abend verschiedene wilde Drohungen ausgestoßen haben, Alcoba.«

Der Mund des kleinen Mannes mit dem Buckel zuckte auch beim Sprechen: »Herr Direktor, ich habe mich nur verteidigt, als es hieß, ich könnte nicht entlassen werden, weil ich mit der Flucht dieses Jean Leblanc was zu tun hätte.«

»Ich bin davon überzeugt, daß Sie damit zu tun haben, Alcoba. Sie sollen die Absicht geäußert haben, sich an den Herrn Oberstaatsanwalt zu wenden.«

»Herr Direktor, ich werde mich natürlich nur dann an den Herrn Oberstaatsanwalt wenden, wenn ich nicht sofort entlassen werde. Ich kann doch schließlich nichts dafür, daß dieser Leblanc unter meinem Namen geflohen ist!«

»Hören Sie zu, Alcoba, wir entlassen Sie heute …«

Alcoba grinste breit. »Na also.«

»… aber nicht etwa, weil wir Angst vor Ihnen haben, sondern weil tatsächlich ein Befehl dazu vorliegt. Sie werden sich täglich auf Ihrem Polizeirevier melden und Lissabon nicht verlassen.«

»Nein, Herr Direktor.«

»Grinsen Sie nicht so dämlich, Alcoba! Ihnen ist nicht zu helfen. Ich bin sicher, Sie werden bald wieder bei uns landen. Am besten bleiben Sie gleich bei uns. Ein Mann wie Sie ist hinter Gittern besser aufgehoben.«



12



In den winzigen, krummen Gassen der Altstadt mit ihren verwitterten Rokokopalästen und buntgekachelten Bürgerhäusern lag die Stille der mittäglichen Siestastunde.

Schneeweiße Wäsche hing an unzähligen Leinen. Verkrüppelte Bäume wuchsen auf geborstenen Steintreppen, und immer wieder öffneten sich die Mauern und gaben den Blick frei zum nahen Fluß. Zum Fluß hinab sah auch Thomas Lieven. Er stand an dem großen Fenster im Atelier seines trunksüchtigen Freundes. Chantal Tessier stand neben ihm. Sie war noch einmal in die Rua do Poco des Negros gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie mußte zurück nach Marseille. Und sie drängte Thomas, mit ihr zu fahren. Seltsam unruhig war Chantal, ihr linker Nasenflügel zitterte wieder. Sie legte eine Hand auf Thomas Lievens Arm. »Kommen Sie mit mir, werden Sie mein Partner. Ich hätte einige Geschäfte für Sie, nicht etwa Fremdenführung. Hier sind Sie aktionsunfähig. In Marseille aber – mein Gott, wir könnten meinen Laden ganz groß aufziehen!«

Thomas schüttelte den Kopf und sah hinaus auf das Wasser des Tejo. Das Wasser floß zum Atlantik hin, langsam und träge. Und da unten, an der Mündung in den Atlantik, lagen mancherlei Schiffe, bereit, auszulaufen zu fernen Häfen, bereit, die Verfolgten, Gedemütigten und Geängstigten in ferne, freie Länder zu bringen. Da unten ankerten die Schiffe für Menschen mit Pässen, mit Einreisegenehmigungen, mit Geld.

Thomas hatte keinen Paß mehr. Er hatte keine Einreisegenehmigung. Er hatte kein Geld. Den Anzug, den er auf dem Leib trug, hatte er noch, sonst nichts.

Todmüde fühlte er sich plötzlich. In einem Teufelskreis drehte sich sein Leben, es gab kein Entrinnen. »Ihr Angebot ehrt mich, Chantal. Sie sind eine schöne Frau. Sie sind gewiß auch ein wunderbarer Kamerad.« Er sah sie an und lächelte, und die Frau, die aussah wie eine Raubkatze, errötete wie ein verliebtes Schulmädchen. Sie stampfte unwillig mit dem Fuß auf und murmelte: »Lassen Sie den dämlichen Quatsch …«

Thomas sagte trotzdem: »Sicherlich haben Sie ein gutes Herz. Aber sehen Sie, ich war einmal ein Bankier. Ich möchte wieder Bankier werden!«

Vor einem Tisch, der vollgeräumt war mit Farben, Tuben, Pinseln, vollen Aschenbechern und Flaschen, saß Reynaldo Pereira. Er war jetzt nüchtern und malte an einem ziemlich wüsten Bild. Er sagte: »Jean, es ist viel dran an dem, was Chantal vorschlägt. Mit ihr kommen Sie sicher nach Marseille. Und in Marseille kriegen Sie leichter einen falschen Paß als hier, wo die Polizei Sie sucht. Von Ihren anderen Freunden gar nicht zu reden.«

»Herrgott, aber ich komme doch aus Marseille! Soll denn alles umsonst gewesen sein?«

Chantal sprach brutal und aggressiv: »Sie sind ein sentimentaler Trottel, wenn Sie nicht sehen, was los ist. Sie haben Pech gehabt. Na schön! Wir haben alle einmal Pech im Leben! Aber als erstes brauchen Sie jetzt wieder Pinkepinke und ’ne anständige Fleppe.«

Hätte ich in unserer Zelle nicht Alcobas Privatunterricht genossen, ich wüßte nicht, was die Dame meint, dachte Thomas. Traurig sagte er: »Mit Pereiras Hilfe werde ich auch in Lissabon einen neuen Paß finden. Und was das Geld anbelangt, so habe ich einen Freund in Südamerika, dem werde ich schreiben. Nein, nein, laßt nur, ich schaffe es schon noch, ich …«

Den Satz sprach er nicht mehr zu Ende, denn in diesem Augenblick zerriß das dumpfe Blaffen von Schüssen die mittägliche Stille. Chantal schrie leise auf. Im Hochfahren warf Pereira einen Farbtopf um. Sie starrten einander entsetzt an. Drei Sekunden verstrichen …

Dann klangen aus der Tiefe alarmierte Männerstimmen empor, dann kreischten Frauen, heulten Kinder.

Thomas stürzte in die Küche und riß das Fenster auf. Er sah hinab in den alten Hof. Männer, Frauen, Kinder rannten da unten zusammen, umringten eine Gestalt, die auf dem schmutzigen Katzenkopfpflaster lag, qualvoll gekrümmt, bucklig und klein.



13



»Lazarus, Lazarus, hörst du mich?«

Thomas kniete neben dem kleinen Mann auf dem Pflaster, hinter ihm drängten und stießen fremde Menschen. Blut sickerte aus Alcobas Wunden. Mehrere Kugeln hatten ihn getroffen, in der Brust, im Bauch. Er lag jetzt reglos, die Augen waren geschlossen. Jetzt zuckte der nervöse Mund nicht mehr.

»Lazarus …«, stöhnte Thomas Lieven.

Da öffnete der kleine Bucklige die Augen. Getrübt schon waren die Pupillen, aber trotzdem erkannte Lazarus noch den Mann, der sich über ihn neigte. Er ächzte: »Hau ab, Jean, hau schnell ab, das hat dir gegolten …« Ein Schwall Blut quoll aus seinem Mund.

»Nicht sprechen, Lazarus«, flehte Thomas seinen Freund an. Aber der Bucklige flüsterte: »Der Kerl hat Leblanc gerufen, bevor … Er hat mich für dich gehalten …«

Thomas schossen Tränen in die Augen, Tränen der Wut und der Trauer. »Nicht reden, Lazarus … Es kommt gleich ein Arzt … Sie werden dich operieren …«

»Es – es ist zu spät …« Der Bucklige sah Thomas an, und plötzlich grinste er – listig und verschmitzt – und stieß mühsam hervor: »Schade, Kleiner … Wir hätten noch ein paar schicke Dinger drehen können …« Dann war das Grinsen weggewischt. Die Augen brachen.

Als Thomas Lieven sich von seinem toten Freund erhob, wichen die Menschen vor ihm zurück und ließen ihn schweigend aus ihrer Mitte treten. Denn sie sahen, daß er weinte.

Durch einen Tränenschleier erblickte Thomas Chantal und Pereira, die abseits von der aufgeregten Menge standen. Schwankend ging er zu ihnen. Er stolperte und wäre gestürzt, wenn der Maler ihn nicht aufgefangen hätte.

Von der Straße her kamen zwei Polizisten und ein Arzt in den Hof gelaufen. Indessen der Arzt den Toten untersuchte, redeten sämtliche Anwesenden auf die Polizisten ein. Immer mehr Neugierige strömten zusammen, schrilles Stimmengewirr erfüllte den alten Hof.

Thomas wischte sich die Augen und sah Chantal an. Er wußte: Wenn er jetzt nicht augenblicklich handelte, war es zu spät. Im Bruchteil einer Sekunde, im Heben und Senken der Lider, entschied er sein Schicksal …

Zwei Minuten später hatten die Polizisten den Schilderungen der aufgeregten Augenzeugen entnommen, daß ein fremder Mann sich um den Sterbenden bemüht und mit ihm als letzter gesprochen hatte.

»Wo ist der Mann?«

»Da rübergegangen!« rief eine alte Frau. Sie wies mit einem knochigen Finger zum Eingang des Hinterhauses. Dort stand Pereira, der Maler. Er stand jetzt allein.

»Sie da, he!« rief ein Polizist. »Wo ist der Mann, der mit dem Sterbenden gesprochen hat?«

»Keine Ahnung«, sagte Pereira.

Gleichzeitig drückte der Arzt dem Erschossenen die Augen zu. Im Tode strahlte das häßliche Gesicht des Lazarus Alcoba eine große Würde aus.



14



In den Pyrenäen war es kalt. Schneidender Ostwind tobte über dem kargen, roterdigen Kettengebirge, welches das spanische Aragonien vom südlichen Frankreich trennt.

In der Morgendämmerung des 23. November 1940 bewegten sich zwei einsame Wanderer in nördlicher Richtung auf den Paß von Roncesvalles zu, eine junge Frau und ein junger Mann. Sie trugen beide Bergschuhe, Filzhüte und gefütterte Windjacken. Beide schleppten schwere Rucksäcke. Die Frau ging zuerst. Der Mann folgte ihr durch dichten Wald und Unterholz bergauf.

Nie zuvor in seinem Leben hatte Thomas Lieven schwere Bergschuhe an den Füßen gehabt, nie in seinem Leben hatte er eine gefütterte Windjacke getragen. Er war auch noch nie auf schwierigen und gefährlichen Pfaden im Gebirge herumgeklettert. Traumhaft und unwirklich wie alles in den letzten fünf Tagen erschien ihm auch diese Morgenstunde mit ihren Nebeln und grauen Schatten, in welcher er hinter Chantal Tessier auf die Staatsgrenze Frankreichs zustapfte, mit wundgelaufenen Fersen und Blasen an den Fußsohlen.

Eine großartige Person war diese Chantal Tessier, ein wirklicher Kamerad – das hatte er in jenen fünf Tagen erfahren. Sie kannte Portugal und Spanien tatsächlich wie ihre Tasche, sie kannte die Zollbeamten, die Polizeistreifen in den Zügen, sie kannte Bauern, die einen Fremden übernachten ließen und ihm zu essen gaben, ohne Fragen zu stellen.

Die Hose, die er trug, die Schuhe, die Windjacke, der Hut, das alles stammte von Chantal, sie hatte es für ihn gekauft. Und auch das Geld in seinen Taschen stammte von ihr. Sie hatte es ihm gegeben – »vorgestreckt«, wie sie es nannte.

Von Lissabon waren sie mit der Bahn bis hinauf nach Valencia gefahren. Es hatte zwei Kontrollen gegeben. Beiden war Thomas mit Hilfe von Chantal entronnen. Nachts waren sie über die Grenze nach Spanien gegangen. Über Vigo, León und Burgos waren sie weitergefahren. In Spanien gab es viel mehr Kontrollen und viel mehr Polizei. Trotzdem war alles gutgegangen – dank Chantal …

Nun kam die letzte Grenze, dann waren sie in Frankreich. Die Riemen des Rucksacks schnitten Thomas Lieven in die Schultern, jeder Knochen seines Körpers tat ihm weh. Er war müde zum Umfallen. Leicht und wirr wanderten seine Gedanken, während er Chantal folgte.

Der arme Lazarus Alcoba … Wer hat ihn erschossen? Wer hat ihn erschießen lassen? Die Engländer? Die Deutschen? Wird man den Mörder jemals finden? Wird ein neuer Mörder mich finden? Wie lange habe ich noch zu leben? Ich, der ich hier durch einen dämmrigen Wald schleiche wie ein Schmuggler, wie ein Verbrecher … Wahnsinn, Wahnsinn, das alles, ein Alptraum, unwirklich und grotesk, ein Fiebertraum und doch blutige Wahrheit …

Der Weg wurde jetzt flacher, der Wald trat zurück, sie erreichten eine Lichtung. Hier stand eine verwitterte Futterhütte. Hinter der offenbar unermüdbaren Chantal her schleppte Thomas sich eben an dem großen, überdachten Heustadel vorüber, als, schnell nacheinander, in nächster Nähe drei Schüsse fielen.

Blitzschnell fuhr Chantal herum, blitzschnell war sie neben Thomas. Ihr Atem traf ihm im Gesicht: »Hier rein!«

Sie riß ihn mit sich unter das Dach der Hütte, und sie fielen in das Heu. Keuchend sahen sie sich an.

Wieder donnerte ein Schuß, und noch einer. Dann hörten sie, vom Wind hereingeweht, eine Männerstimme, die aber nicht zu verstehen war.

»Ruhig«, flüsterte Chantal. »Ganz ruhig liegenbleiben. Das können Grenzer sein.«

Es kann auch jemand anderer sein, dachte Thomas bitter. Und es wird wohl auch jemand anderer sein! Die Herren in Lissabon werden nicht sehr lange gebraucht haben, um festzustellen, daß ihnen ein bedauerlicher Irrtum unterlaufen ist. Ein gutzumachender Irrtum …

Thomas fühlte Chantal neben sich. Sie lag ganz ruhig, aber Thomas spürte die Spannung, die Anstrengung, mit der sie sich zur Ruhe zwang.

In diesem Moment war sein Entschluß gefaßt. Er durfte nicht noch ein Menschenleben gefährden! Der Tod des armen Lazarus, das wußte er, würde ihn belasten bis zum eigenen Ende.

Schluß jetzt, dachte Thomas Lieven. Ich spiele nicht mehr mit. Besser ein Ende mit Schrecken als dieser Schrecken ohne Ende. Sucht mich nicht länger, ihr mörderischen Idioten. Verfolgt mich nicht länger, ihr idiotischen Mörder. Ich ergebe mich, aber laßt Unschuldige aus diesem dreckigen Spiel …

Schnell streifte er die Riemen des Rucksacks ab und erhob sich. Chantal fuhr hoch. In ihrem weißen Gesicht brannten die Augen, sie zischte: »Bleib liegen, Wahnsinniger …« Mit aller Kraft wollte sie ihn niederziehen.

»Tut mir leid, Chantal«, murmelte Thomas und wendete einen Jiu-Jitsu-Griff an, von dem er wußte, daß Chantal durch ihn für einige Sekunden die Besinnung verlieren würde. Mit einem Ächzen sank die junge Frau zurück.

Thomas trat ins Freie.

Da kamen sie, zwei Mann, Gewehre in den Händen. Da kamen sie über die Lichtung auf ihn zu, über totes Gras, durch Nebelschwaden, da kamen sie.

Er ging ihnen entgegen. Mit einem unsinnigen Gefühl des Triumphs dachte er: Wenigstens könnt ihr mich nicht »auf der Flucht« in den Rücken schießen.

Jetzt hatten die beiden ihn erblickt, sie hoben die Gewehre. Noch einen Schritt machte Thomas. Und noch einen.

Die Männer ließen ihre Gewehre wieder sinken. Sie kamen rasch näher. Thomas hatte sie noch nie im Leben gesehen. Sie trugen beide Kordsamthosen, Hüte, Windjacken und Bergschuhe wie er. Sie waren beide untersetzt und eher klein. Der eine hatte einen Schnurrbart, der andere trug eine Brille. Nun waren sie herangekommen. Nun blieben sie stehen. Der mit der Brille zog den Hut und sagte höflich auf spanisch: »Guten Morgen.«

»Haben Sie ihn vielleicht gesehen?« fragte der mit dem Schnurrbart.

Um Thomas begann sich alles zu drehen. Männer, Lichtung, Wiese, Bäume, alles. Er fragte tonlos: »Wen?«

»Den Hirsch«, sagte der mit der Brille.

»Ich habe ihn getroffen«, sagte der mit dem Schnurrbart. »Ich weiß es genau, daß ich ihn getroffen habe. Ich sah ihn zusammenbrechen. Dann schleppte er sich fort.«

»Er muß hier in der Nähe sein«, sagte sein Freund.

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Thomas in seinem schlechten Spanisch.

»Oh, Ausländer …! Vermutlich auf der Flucht von drüben«, sagte der mit der Brille.

Thomas konnte nur nicken. Die beiden Spanier wechselten einen Blick. »Wir werden vergessen, daß wir Sie gesehen haben«, sagte der mit dem Schnurrbart. »Guten Morgen und – gute Reise.« Sie zogen beide die Hüte. Auch Thomas zog seinen Hut. Die Jäger gingen weiter und verschwanden im Wald.

Thomas atmete eine Weile tief, dann ging er zu der Futterhütte zurück. Chantal saß im Heu und rieb sich stöhnend den Hals. Er war rot unterlaufen.

Thomas setzte sich neben sie und sagte: »Verzeihen Sie das vorhin, aber ich wollte nicht … Sie sollten nicht …« Er kam ins Stottern und endete hilflos: »Es waren nur Jäger.«

Plötzlich schlang Chantal die Arme um Thomas und preßte sich wild an ihn. Sie sanken zurück.

Über Thomas gebeugt, flüsterte Chantal: »Du hast mich schützen wollen, du wolltest mich nicht in Gefahr bringen, du hast an mich gedacht …« Ihre Hände strichen zärtlich über sein Gesicht. »Das hat noch nie ein Mann getan – kein Mann in meinem Leben …«

»Was?«

»An mich gedacht«, flüsterte Chantal.

In der Süße ihrer gewalttätigen Küsse versanken für Thomas alles Elend und alle Angst, dunkle Vergangenheit und dunkle Zukunft …



15



Im Jahre 1942 umstellten sechstausend Mann deutscher Truppen das alte Hafenviertel von Marseille und zwangen die Bewohner – etwa zwanzigtausend Menschen –, innerhalb von zwei Stunden ihre Wohnstätten zu verlassen, wobei sie höchstens 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen durften. Es wurden über dreitausend Kriminelle verhaftet. Das gesamte alte Hafenviertel wurde gesprengt. Solcherart verschwand die farbenprächtigste Brutstätte des Lasters in Europa, der gefährlichste Ausgangspunkt verbrecherischer Unternehmen.

In den Jahren 1940/41 jedoch erlebte das alte Hafenviertel gerade seine größte Blütezeit. In den düsteren Häusern hinter dem Rathaus wohnten Angehörige sämtlicher Nationen: Flüchtlinge, Schwarzhändler, gesuchte Mörder, Fälscher, politische Verschwörer, Legionen leichter Mädchen.

Die Polizei war machtlos und vermied es überhaupt so lange wie irgend möglich, im »Alten Viertel« zu erscheinen. Herrscher in diesem dunklen Reich waren die Chefs mehrerer Banden, die einander unerbittlich und erbarmungslos bekriegten. Mitglieder dieser Banden waren Franzosen, Nordafrikaner, Armenier, viele Korsen und Spanier.

Die Bandenchefs waren stadtbekannt. Sie bewegten sich stets nur in Begleitung ihrer Leibwachen durch die schmalen, bunten Gassen. Zwei, drei Herren schritten rechts, zwei, drei Herren links von ihrem Boß im Gänsemarsch dahin, die rechte Hand in der Tasche, mit dem Zeigefinger am Abzug des Revolvers.

Staatlicherseits wurden Beamte der »Contrôle économique«, der »Wirtschaftskontrolle«, eingesetzt, deren Aufgabe es war, den blühenden Schleichhandel zu bekämpfen. Doch diese Kommissare erwiesen sich zum größten Teil als bestechlich und zu einem weiteren Teil als feige. Nach Einbruch der Dunkelheit wagten sie sich nicht mehr auf die Straße. Dann aber begann der Tanz der Käseräder, die von einem Haus ins andere rollten, und der Fleischstücke, die aus geheimen Schlächtereien in die Restaurants geschafft wurden.

Aus dunklen Quellen stammten denn auch die schöne, junge Lammkeule, die Butter, die grünen Böhnchen und alle anderen Zutaten, mit welchen Thomas Lieven am Abend des 25. November 1940 in Chantal Tessiers Küche ein wohlschmeckendes Essen bereitete.

Chantal wohnte in der Rue Chevalier à la Rose. Wenn man sich aus dem Fenster neigte, konnte man das schmutzige Wasser des rechteckigen »Alten Hafens« sehen und die bunten Lichter der zahllosen Cafés, die ihn umgaben.

Die Größe, aber auch die Einrichtung von Chantals Wohnung hatten Thomas überrascht. Vieles war barbarisch, so etwa die Zusammenstellung kostspieliger supermoderner Beleuchtungskörper mit echten antiken Möbeln. Ohne Zweifel war Chantal völlig verwildert aufgewachsen, unverbildet und von keiner Kultur beleckt.

An diesem Abend trug sie ein raffiniertes, enganliegendes, hochgeschlossenes Kleid aus bestickter Chinaseide, darüber aber aparterweise einen schweren, handbreiten Ledergürtel. Sie zeigte überhaupt eine Vorliebe für Rohleder und dessen Geruch.

Thomas unterdrückte höflich jede Kritik an Chantals geschmacklichen Verirrungen. Er trug – zum erstenmal in seinem Leben – einen fremden Anzug, der ihm allerdings wie angegossen paßte.

Chantal hatte gleich nach der Ankunft einen großen Schrank geöffnet, der gefüllt war mit Herrenhemden, Herrenwäsche, Krawatten und Anzügen. Sie hatte gesagt: »Nimm, was du brauchst. Pierre war so groß wie du.« Widerstrebend hatte Thomas genommen, was er brauchte, und er brauchte eigentlich alles, um sich sauber anzuziehen, denn er selbst besaß nichts mehr.

Menu • 25. November 1940

Mit einer Lammkeule löste Thomas Lieven

eine Frauenzunge …

Moules à la Marinière

Gebratene Lammkeule mit

Haricots Verts und Pommes Dauphine

Früchte in Caramel

Moules Marinière: Man nehme frische Miesmuscheln, wasche und bürste sie sehr gründlich und gebe sie dann in einen Kessel in wenig kochende Flüssigkeit, halb Wasser, halb Weißwein. Man lasse sie mit geschlossenem Deckel unter öfterem Durchrütteln kochen, bis die Muscheln sich geöffnet haben, schütte sie dann auf ein Sieb und löse das Fleisch der geöffneten Muscheln aus den Schalen. – Man hat inzwischen aus Butter und Mehl eine weiße Sauce gemacht, die man mit dem durch ein frisches Sieb gegebenen Muschelsud aufgießt und sehr gut durchkochen läßt. Man gebe noch etwas Weißwein hinzu, würze mit Salz, Pfeffer und etwas Zitronensaft und ziehe die Sauce mit Eigelb ab. – Man gebe nur das Muschelfleisch und feingehackte Petersilie in die Sauce und lasse zusammen durchziehen, ohne daß es noch einmal zum Kochen kommt.

Gebratene Lammkeule mit Zutaten: Man nehme eine schöne, junge Lammkeule, mache am Knochenansatz einen kleinen Einschnitt in das Fleisch und stecke eine Knoblauchzehe hinein. – Man begieße die Keule in der Pfanne mit reichlich brauner Butter, brate sie auf dem Herd auf allen Seiten gut an und salze und pfeffere sie erst danach. Man stelle sie dann in den Bratofen und brate sie bei guter Hitze unter fleißigem Begießen fertig.

Man nehme frische grüne Böhnchen, putze sie und koche sie in wenig Wasser weich. Verwendet man Konserven, so schütte man sie auf ein Sieb, lasse das Wasser gut ablaufen und übergieße sie dann mit kochendem Wasser. Dadurch verlieren sie jeglichen Büchsengeschmack. Man gebe die gut abgetropften »Haricots« in zerlassene Butter und lasse sie darin heiß werden. Man bestreue sie beim Anrichten mit etwas feinem Salz. Man drücke gekochte Salzkartoffeln durch den Quetscher, verarbeite sie mit ganzen Eiern zu einem feinen Teig, würze mit einer Spur von Muskat. Man forme daraus kleine Bällchen und backe sie in sehr heißem, steigendem Fett, bis sie sich aufplustern und eine schöne braune Farbe annehmen.

Früchte in Caramel: Man nehme Streuzucker und lasse ihn in einer Kasserolle unter ständigem Rühren zerschmelzen und hellgelb werden. Man lösche mit Wasser ab und lasse den hellen Caramel gut durchkochen. – Man nehme geschälte gevierteilte Pfirsiche und Birnen sowie frische Weinbeeren und lasse sie in dem Caramel weich dünsten. Man fülle das erkaltete Kompott in Schalengläser, verziere es mit Schlagsahnetupfen und bestreue es mit gehackten Mandeln.

Als er mehr von Pierre wissen wollte, hatte Chantal unwillig gesagt: »Frag nicht soviel. Eine Liebe von mir. Wir sind auseinander. Seit einem Jahr. Er kommt nicht mehr wieder …«

Überhaupt – Chantal hatte sich in den vergangenen Stunden sehr kühl verhalten. So, als ob es jene wilde Stunde an der Grenze nie gegeben hätte. Auch jetzt, während des Abendessens, saß sie schweigsam da, von schweren Gedanken überschattet. Während sie die Muscheln verzehrte, sah sie Thomas immer wieder an. Bei der schönen, jungen Lammkeule begann ihr linker Nasenflügel wieder zu zittern. Als Thomas ihr die Früchte in Caramel servierte, schlug eine Turmuhr in der Nähe zehnmal.

Chantal vergrub plötzlich das Gesicht in beiden Händen und begann vor sich hin zu murmeln.

»Was ist los, chérie?« erkundigte sich Thomas, in seinen Früchten rührend.

Sie sah auf. Der Nasenflügel zitterte noch immer, aber sonst war das schöne Gesicht zu einer Maske erstarrt. Sie sprach jetzt ganz ruhig: »Zehn Uhr.«

»Ja, und?«

»Jetzt stehen sie unten im Hausflur. Wenn ich das Grammophon anstelle und ›J’ai deux amours‹ spiele, werden sie heraufkommen.«

Thomas legte das Silberlöffelchen fort und forschte: »Wer wird heraufkommen?«

»Oberst Siméon und seine Leute.«

»Oberst Siméon?« wiederholte er schwach.

Nur ihr Nasenflügel zitterte. »Vom ›Deuxième Bureau‹, ja. Ich habe dich verraten, Jean. Ich bin das allergemeinste Stück Dreck von der Welt.« Dann war es eine Weile still im Raum.

Endlich sagte Thomas: »Möchtest du vielleicht noch einen Pfirsich?«

»Jean! Sei nicht so! Ich ertrage das nicht! Warum brüllst du nicht? Warum haust du mir nicht eine in die Fresse?«

»Chantal«, sagte er und fühlte, wie eine ungeheure Müdigkeit ihn überflutete, »Chantal, warum hast du das getan?«

»Die Behörden hier haben mich am Wickel – sehr böse Sache, die noch mit Pierre zusammenhängt. Schwerer Betrug und so … Da taucht plötzlich dieser Oberst, dieser Siméon, auf und sagt: ›Wenn Sie uns Leblanc bringen, kann man die Sache regeln!‹ Was hättest du an meiner Stelle getan, Jean? Ich kannte dich doch nicht!«

Thomas dachte: So ist das Leben. So geht das weiter, immer weiter. Einer jagt den andern. Einer verrät den andern. Einer tötet den andern, um selber nicht getötet zu werden.

Er sagte leise: »Was will Siméon von mir?«

»Er hat seine Anweisungen … Du hast die Leute mit irgendwelchen Listen hereingelegt – stimmt das?«

»Ja, das stimmt«, sagte er.

Sie stand auf und trat vor ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter: »Ich möchte weinen. Aber es kommen keine Tränen. Schlag mich. Bring mich um. Tu etwas, Jean! Sieh mich nicht so an.«

Thomas saß ganz still und dachte nach. Dann fragte er leise: »Welches Lied sollst du spielen?«

»›J’ai deux amours‹«, antwortete sie.

Plötzlich erhellte ein seltsames Lächeln sein bleiches Gesicht. – Er stand auf. Chantal wich vor ihm zurück. Aber er berührte sie nicht. Er ging in das Nebenzimmer. Hier stand ein Grammophon. Er lächelte wiederum, als er die Aufschrift auf der Platte sah. Er schaltete den Apparat ein. Er setzte die Nadel in die erste Rille. Musik erklang. Und Josephine Bakers Stimme sang »J’ai deux amours«, das Lied von den zwei Lieben …

Nun kamen draußen Schritte näher. Noch näher. Ganz nahe. Chantal stand dicht vor Thomas. Fauchend drang ihr Atem durch die geöffneten Lippen, das Raubtiergebiß glitzerte feucht. Hastig hob und senkte sich die Brust unter der dünnen grünen Seide des enganliegenden chinesischen Kleides.

Sie zischte: »Hau ab, noch ist Zeit … Unterm Schlafzimmerfenster gibt’s ein flaches Dach …«

Thomas schüttelte lächelnd den Kopf. Chantal wurde wütend.

»Idiot! Die machen ein Sieb aus dir! In zehn Minuten bist du eine Wasserleiche im Alten Hafen!«

»Es wäre aufmerksam von dir gewesen, wenn du dir das etwas früher überlegt hättest, mein Herz«, sagte Thomas freundlich.

Sie holte wild aus, als wollte sie ihn schlagen, und keuchte: »Quatsch doch nicht so dämlich, ausgerechnet jetzt …«

Aber gleich darauf begann sie zu schluchzen.

Es klopfte.

»Mach auf«, sagte er hart. Chantal preßte eine Faust an den Mund und rührte sich nicht. Es klopfte wieder, diesmal stürmischer. Josephine Baker sang immer noch.

Eine Männerstimme, die Thomas kannte, rief: »Öffnen Sie, oder wir schießen das Türschloß heraus!«

»Guter, alter Siméon«, murmelte Thomas, »immer noch der gleiche Hitzkopf!« Er ließ die bebende Chantal stehen und ging ins Vorzimmer.

Jetzt erzitterte die Wohnungstür unter Faustschlägen. Eine Sicherheitskette war vorgelegt. Thomas drückte die Klinke herab. Die Tür flog auf, so weit die Stahlkette es zuließ. Ein Schuh schob sich in den Spalt, desgleichen eine Pistole.

Thomas trat auf den Schuh, so fest er konnte, und stieß den Lauf der Waffe zurück. »Wenn ich Sie bitten dürfte, diese beiden Gegenstände noch einmal zurückzunehmen, Herr Oberst«, sprach er dazu.

»Das könnte Ihnen so passen!« schrie Siméon von jenseits der Tür. »Wenn Sie nicht sofort öffnen, knallt es!«

»Dann wird es wohl knallen müssen«, meine Thomas sanft. »Denn solange Sie Hand und Fuß in der Tür haben, kann ich die Sicherheitskette nicht entfernen.«

Nach einigem Zögern entsprach der Oberst Thomas Lievens Begehren. Schuh und Waffe verschwanden. Thomas öffnete. Im nächsten Moment hatte er den Pistolenlauf im Magen, und der heroische Jules Siméon stand dicht vor ihm, die Schnurrbarthaare gesträubt, den edlen Kopf mit der Römernase zurückgeworfen.

Thomas dachte: Er ist auch in den letzten Monaten nicht zu Geld gekommen, der Arme; er trägt immer noch diesen alten, abgeschabten Trenchcoat.

Thomas sagte: »Welche Freude, Herr Oberst. Wie geht es Ihnen? Und was macht unsere schöne Mimi?«

Beinahe lippenlos vor Verachtung sprach der Oberst: »Ihr Spiel ist aus, Sie schmutziger Verräter!«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Pistolenlauf woanders hinzudrücken. Beispielsweise an die Brust? Wissen Sie, ich habe soeben gegessen.«

»In einer halben Stunde werden Sie keine Verdauungssorgen mehr haben, Sie Schwein«, antwortete Siméon voll Feuer.

Ein zweiter Mann betrat die Diele, groß, elegant, mit grauen Schläfen und klugen Augen, den Mantelkragen aufgestellt, die Hände in den Taschen, eine Zigarette im Mundwinkel – Maurice Débras.

»Guten Abend«, sagte Thomas. »Ich ahnte, daß Sie in der Nähe sein würden, als Chantal mir den Namen der Schallplatte nannte. Wie geht es, Major Débras?«

Siméon zischte: »Oberst Débras!«

Débras selber antwortete nicht. Er bewegte nur kurz und herrisch den Kopf zur Tür.

Im nächsten Moment ließ ein wütender Schrei sie alle herumfahren. Geduckt wie eine Tigerkatze vor dem Sprung stand Chantal in der Wohnzimmertür, einen gekrümmten malaiischen Dolch in der Rechten. In wilder Wut fauchte sie: »Raus! oder ich bring euch um, alle beide. Laßt Jean in Ruhe! –«

Erschrocken wich Siméon zwei Schritte zurück.

Thomas dachte: Ein ganz so vertrottelter Held wie damals bei der Eroberung von Paris bist du Gott sei Dank doch nicht mehr! Dann sagte er scharf: »Laß den Quatsch, Chantal. Du hattest dem Herrn Oberst doch schließlich versprochen, mich zu verraten.«

Noch mehr krümmte Chantal sich zusammen, noch heiserer flüsterte sie: »Das ist mir ganz egal … Ich hab’ mich benommen comme une salope – aber ich kann alles noch gutmachen …«

»Einen feuchten Kehricht kannst du!« sagte Thomas. »Sie sperren dich doch nur ein, du dummes Luder!«

»Sollen sie mich einsperren … Mir ist alles egal – ich habe noch nie einen Menschen verraten. Geh hinter mich, Jean, schnell, renn ins Schlafzimmer …«

Jetzt stand sie dicht vor ihm. Thomas seufzte und schüttelte den Kopf. Dann schoß sein rechter Fuß hoch. Der Schuh traf Chantals rechtes Handgelenk. Sie schrie vor Schmerz. Der Dolch flog fort und blieb federnd im Türpfosten stecken.

Thomas nahm Hut und Mantel, riß den Dolch aus dem Holz und reichte ihn Débras. »Sie können nicht ahnen, wie peinlich es mir ist, eine Frau anzugreifen«, sagte er. »Aber bei Mademoiselle Tessier scheint Brutalität unumgänglich zu sein … Wollen wir gehen?« Stumm nickte Débras. Siméon stieß Thomas vor sich her auf den Flur hinaus.



16



Die Tür fiel ins Schloß. Chantal war allein. Ein Krampf begann sie zu schütteln. Kraftlos fiel sie auf den Teppich. Dort wälzte sie sich schluchzend und schreiend hin und her. Endlich erhob sie sich und taumelte ins Wohnzimmer. Die Platte war abgelaufen, rhythmisch schlug die Nadel. Chantal riß das Grammophon hoch und schleuderte es gegen die Wand, wo es krachend zerbrach.

Sie fand keinen Schlaf in dieser Nacht, der schlimmsten ihres Lebens. Hin und her wälzte sie sich in ihrem Bett, ruhelos, schuldbewußt, verzweifelt. Sie hatte ihren Geliebten verraten. Sie war schuld an seinem Tod. Denn es war ihr klar, daß Siméon und Débras ihn nun töten würden.

In der Morgendämmerung fiel sie in einen wirren Schlummer.

Der kräftige, falsche Gesang einer Männerstimme weckte sie auf. Mit schmerzendem Kopf und Gliedern aus Blei fuhr sie hoch.

Deutlich zu vernehmen war die Männerstimme: »J’ai deux amours …«

Wahnsinnig, ich bin wahnsinnig geworden, dachte sie entsetzt. Ich höre seine Stimme – die Stimme eines Toten – o Gott, ich habe den Verstand verloren …

»Jean!« schrie sie.

Keine Antwort.

Taumelnd stand sie auf. Im Nachthemd rannte sie aus dem Schlafzimmer. Weg – weg hier …

Jäh hielt sie an. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Und in der Wanne saß Thomas Lieven.

Chantal schloß die Augen. Chantal öffnete die Augen wieder. Thomas saß noch immer in der Wanne. Chantal stöhnte: »Jean …«

»Guten Morgen, du Bestie«, sagte er.

Mehr fallend als gehend, schleppte sie sich zu ihm und sank auf den Wannenrand. Sie lallte: »Wie – was – machst du hier?«

»Ich versuche, meinen Rücken abzuseifen. Wenn du das freundlicherweise für mich erledigen wolltest.«

»Aber – aber – aber …«

»Wie bitte?«

»Aber sie haben dich doch erschossen … Du bist doch tot!!!«

»Wenn ich tot wäre, würde ich mir nicht mehr den Rücken abseifen; was ist das für ein Unsinn«, sagte er rügend. »Wirklich, Chantal, du mußt dich ein bißchen zusammennehmen. Du lebst nicht im Irrenhaus und nicht im Dschungel. Nicht mehr.«

Er hielt ihr ein Stück Seife hin. Sie packte es und schmiß es ins Wasser. Dazu schrie sie gellend: »Sag mir jetzt augenblicklich, was passiert ist!«

Gefährlich leise entgegnete Thomas: »Hol die Seife raus. Auf der Stelle. Nachher bekommst du sowieso deine Prügel. Weiß Gott, Chantal, ich habe bisher noch keine Frau geschlagen. Aber bei dir werde ich meinen heiligsten Prinzipien untreu. Wasch mir den Rücken, vorwärts, wird’s bald?«

Chantal griff ins Wasser, nahm die Seife und tat, was er verlangte. Dabei betrachtete sie ihn mit scheuer Bewunderung.

»Langsam komme ich darauf, wie man dich behandeln muß«, sagte er grimmig.

»Was ist passiert, Jean?« fragte sie heiser. »Erzähl es mir …«

»Es heißt, bitte, erzähl es mir.«

»Bitte, Jean, bitte …«

»Schon besser«, grunzte er, sich wohlig windend. »Höher. Weiter links. Fester. Also, nachdem die beiden mich hier rausgeschleppt hatten, fuhren sie mich rüber zum Hafen …«



17



Zum Hafen fuhren Siméon und Débras mit Thomas Lieven. Eisiger Wind pfiff durch die engen Gassen des »Alten Viertels«. Hunde heulten den Vollmond an. Es war kein Mensch mehr zu sehen.

Débras saß am Steuer des klapprigen Fords, Siméon saß im Fond, neben Thomas, immer noch die Pistole in der Hand. Es wurde nicht gesprochen.

Der Wagen erreichte den »Alten Hafen«. In den Schwarzhändlercafés am Quai du Port brannte noch Licht. Bei der »Intendance Sanitaire« bog Débras nach rechts in den Quai de la Tourette ein und jagte an der ehrwürdigen Kathedrale vorbei in nördlicher Richtung bis zur Place de la Joliette. Den schwarzen, riesenhaften »Gare Maritime« umfuhr er auf dem verlassenen Boulevard de Dunkerque, dann waren sie wieder am Wasser, diesmal am »Bassin de la Gare Maritime«. Der Ford holperte über Eisenbahnschienen und -schwellen und hielt zuletzt an der finsteren Mole A.

»Raus!« sagte Siméon.

Thomas Lieven stieg folgsam aus. Schneidend traf ihn der Herbststurm. Es stank nach Fischen. Die wenigen Lampen der Mole tanzten wild auf und nieder. Irgendwo heulte eine Schiffssirene. Nun hatte auch Débras plötzlich eine schwere Pistole in der Hand. Er machte eine Bewegung mit dem vorgestreckten Arm.

Thomas setzte sich gottergeben in Bewegung und marschierte auf die verlassene Mole hinaus. Immer noch stand ein Lächeln in seinem Gesicht, aber allmählich wurde es starr.

Wasser glänzte im Licht des fahlen Mondes, auf den kleinen Wellen tanzten weiße Gischtkronen. Es roch immer stärker nach Fischen. Thomas trottete weiter. Hinter sich hörte er Siméon stolpern und fluchen. Thomas dachte: Schrecklich, schrecklich, dabei hat er gewiß den Finger am Abzug. Hoffentlich stolpert er nicht noch einmal. Wie leicht kann da das größte Unglück geschehen …

Immer noch hatte der Oberst Débras kein Wort gesprochen, kein einziges Wort. Weit, weit entfernt von jeder atmenden Brust, von jeder Menschenseele waren sie nun.

Wer hier ins Wasser fällt, bleibt lange, lange unentdeckt, dachte Thomas. Besonders, wenn er ein paar Kugeln im Bauch hat. Nun nahm die Mole doch noch ein Ende. Plötzlich war es da: ein Streifen Beton und dahinter das Wasser, das schwarze Wasser.

»Stehenbleiben«, sagte Siméon.

Thomas blieb stehen.

Nun sprach Débras zum erstenmal: »Umdrehen.«

Thomas drehte sich um. Er sah Débras und Siméon an, er hörte die Kirchturmuhren von Marseille die Dreiviertelstunde schlagen, von weit her, verweht und dünn. Und im nächsten Moment hörte er Siméons Stimme, besorgt und eifrig: »Schon dreiviertel elf, Chef. Wir müssen uns beeilen. Um elf sollen wir doch mit ihm bei Madame sein!«

Thomas holte Atem, sein starres Lächeln wurde wieder leicht, und er hustete diskret, als er den einen Oberst zum anderen Oberst sagen hörte: »Sie Vollidiot!«

Lächelnd sprach Thomas zu Débras: »Seien Sie ihm nicht böse; er hat Ihnen die Tour vermasselt. Na ja! Mich hat er vor einem deutschen Oberleutnant auch einmal in schreckliche Verlegenheit gebracht … Trotzdem ist er ein guter Kerl!« Und damit klopfte er dem furchtbar verlegenen Siméon auf die Schulter.

Débras steckte seine Waffe ein und sah zur Seite, denn er mußte grinsen, und er wollte nicht, daß Thomas oder Siméon das sahen. Thomas fuhr fort: »Außerdem, meine Herren, habe ich mir gleich gedacht, daß Sie mich nur furchtbar erschrecken und wahrscheinlich wieder dazu kriegen wollen, für Sie zu arbeiten.«

»Wie kamen Sie zu dieser Ansicht?« stotterte Siméon.

»Als ich Josephine Bakers Platte hörte, ahnte ich, daß Monsieur Débras in der Nähe war. Und ich sagte mir: Wenn der Major – Pardon, Oberst, gratuliere übrigens zur Beförderung –, also, wenn Sie extra aus Casablanca hierherkommen, dann doch bestimmt nicht bloß, um meinem unrühmlichen Ende beizuwohnen. Stimmt’s?«

Débras wandte sich um und nickte. Er sagte: »Sie dreimal verflixter Boche!«

»Wollen wir also diese ungastliche Stätte verlassen. Der Geruch hier peinigt mich. Zudem dürfen wir Madame wirklich nicht warten lassen. Und ich möchte auch gerne noch am Bahnhof vorbeifahren.«

»Wieso Bahnhof?« fragte Siméon mit stierem Blick.

»Dort gibt es eine Blumenhandlung, die nachts offen hat«, belehrte ihn Thomas freundlich. »Ich muß noch ein paar Orchideen kaufen …«

Josephine Baker erschien Thomas Lieven so schön wie noch nie. Sie empfing ihn im Salon ihres Appartements im »Hôtel de Noailles« an der Cannebière, der Hauptstraße von Marseille.

Das blauschwarze Haar trug Josephine zu einer glänzenden Krone hochgesteckt, riesige weiße Ringe hingen in den Ohren. Samtig glänzte die dunkle Haut. Das Regenbogenfeuer eines großen Ringes mit einer Rose aus Brillanten stach Thomas Lieven in die Augen, als er der Frau, die er verehrte, die Hand küßte.

Ernst nahm sie den Cellophankarton mit den drei rosaroten Orchideen in Empfang. Ernst sagte sie: »Ich danke Ihnen, Herr Lieven. Nehmen Sie Platz. Maurice, willst du bitte den Champagner öffnen?«

Sie waren zu dritt, denn Débras hatte den Oberst Siméon in einem Anfall von Ungeduld in sein Quartier geschickt.

Thomas Lieven sah sich im Salon um. Es gab einen großen Spiegel und einen Flügel, auf dem Noten zu Haufen lagen. Thomas erblickte auch ein Plakat:

Opernhaus Marseille

JOSEPHINE BAKER

in DIE KREOLIN

Oper in drei Akten von JACQUES OFFENBACH

Premiere: 24. Dezember 1940

Oberst Débras füllte Kristallgläser. Er sagte: »Trinken wir auf die Frau, der Sie Ihr Leben verdanken, Herr Lieven!«

Thomas verneigte sich tief vor Josephine: »Ich habe immer gehofft, daß Sie meine Handlungsweise verstehen würden, Madame. Sie sind eine Frau. Gewiß hassen Sie Gewalttat und Krieg, Blutvergießen und Mord noch mehr als ich.«

»Gewiß«, sagte die schöne Frau. »Aber ich liebe auch mein Land. Sie haben uns großen Schaden zugefügt, indem Sie die echten Listen vernichteten.«

»Madame«, antwortete Thomas, »hätte ich Ihrem Land nicht noch größeren Schaden zufügen können, wenn ich die Listen nicht vernichtet und den Deutschen übergeben hätte?«

Débras mischte sich ein: »Das stimmt, kein Wort mehr darüber. Schließlich haben Sie mir aus Madrid herausgeholfen. Sie sind eben ein Grenzfall, Lieven. Aber das schwöre ich Ihnen: Wenn Sie uns noch einmal hereinlegen, gibt es keinen Champagner mehr, wie sehr Josephine auch Ihre Handlungsweise verstehen mag. Das nächste Mal kommen Sie nicht von der Mole zurück!«

»Hören Sie, Débras, ich habe Sie gern! Wirklich, aufrichtig. Ich habe auch Frankreich gern. Aber ich schwöre Ihnen schon jetzt: Wenn Sie mich zwingen, wieder für Sie zu arbeiten, dann werde ich Sie wieder hereinlegen, denn ich will keinem Land schaden – auch nicht meinem.«

Leise fragte Josephine: »Und der Gestapo?«

»Bitte?«

»Hätten Sie auch Bedenken, der Gestapo zu schaden?«

»Dies zu tun, Madame, wäre mir ein spezieller Hochgenuß.«

Oberst Débras hob eine Hand: »Sie wissen, daß wir zur Zeit mit englischer Unterstützung im besetzten und unbesetzten Frankreich einen neuen Geheimdienst und eine Widerstandsbewegung aufbauen.«

»Das weiß ich, ja.«

»Von seinen neuen Vorgesetzten in Paris erhielt Oberst Siméon den Auftrag, Sie nach Marseille zu locken und umzulegen. Er sprach aber erst mit Josephine über Sie. Josephine benachrichtigte mich und bat mich einzugreifen …«

»Madame«, sagte Thomas mit einer Verneigung, »darf ich Ihnen noch etwas Champagner nachgießen?«

»Lieven, ich muß zurück nach Casablanca. Josephine folgt mir in den nächsten Wochen. Wir haben gewisse Befehle von London erhalten. Siméon bleibt dann allein hier zurück. Was halten Sie von Siméon?«

Artig antwortete Thomas: »Da müßte ich lügen.«

Débras seufzte: »Siméon ist ein herzensguter Mensch. Ein glühender Patriot.«

»Ein heroischer Soldat!« assistierte Thomas.

»Ein mutiger Draufgänger!« assistierte Josephine.

»Ja, ja, ja«, sagte Débras, »aber etwas fehlt ihm eben leider. Wir wissen alle, was ihm fehlt, ich brauche es nicht auszusprechen.«

Thomas nickte bedauernd.

»Mut beweist man nicht mit der Faust allein«, sagte Josephine. »Man braucht auch den Kopf dazu. Sie, Herr Lieven, und Oberst Siméon, oder der Kopf und die Faust: das wäre ein Team!«

»Allein wird er seiner Aufgabe niemals gewachsen sein«, sagte Débras.

»Welcher Aufgabe?«

Débras biß sich auf die Lippen. »Die Lage ist ernst, Lieven. Ich will meine Landsleute nicht besser machen, als sie sind. Es gibt auch bei uns Schweine.«

»Schweine gibt’s überall«, sagte Thomas.

»Unsere französischen Schweine – im besetzten und unbesetzten Gebiet – arbeiten mit den Nazis zusammen. Sie verraten unsere Leute. Sie verkaufen ihr Land. Französische Schweine im Sold der Gestapo. Ich sagte Gestapo, Herr Lieven …«

»Hab’s gehört«, sagte Thomas.

»Sie sind Deutscher. Sie können mit Deutschen umgehen. Und Sie können auch jederzeit den geborenen Franzosen spielen.«

»O Gott, geht es also schon wieder los!«

»Diese Menschen verraten ihr Land nicht nur, sie rauben es auch aus«, sagte Débras. »Sehen Sie, vor wenigen Tagen erst sind zum Beispiel zwei Männer aus Paris heruntergekommen – Gold- und Devisenaufkäufer.«

»Franzosen?«

»Franzosen, die im Auftrag der Gestapo arbeiten!«

»Wie heißen sie?«

»Jacques Bergier heißt der eine Verräter, Paul de Lesseps der andere.«

Thomas Lieven schaute lange nachdenklich vor sich hin … Dann sagte er: »Gut, Débras, ich werde Ihnen helfen, Ihre beiden Verräter zu finden. Versprechen Sie aber, daß Sie mich danach laufenlassen?«

»Wo wollen Sie hin?«

»Das wissen Sie doch. Nach Südamerika. Dort wartet ein Freund auf mich, der Bankier Lindner. Ich habe kein Geld mehr, aber er hat genug …«

»Herr Lieven …«

»… er hat eine Million Dollar. Wenn ich von Ihnen einen neuen Paß bekomme, bekomme ich auf seine Gutsage auch ein Visum …«

»Herr Lieven, so hören Sie …«

»… und wenn ich das Visum habe, bekomme ich auch ein Schiff …«

Thomas brach ab. »Was haben Sie?«

»Es tut mir leid, Herr Lieven, es tut mir wirklich leid, aber ich fürchte, Sie werden Ihren Freund Lindner nicht wiedersehen.«

»Was soll das heißen? Erzählen Sie mir alles, verschweigen Sie mir nichts. Ich komme mir schon langsam vor wie der selige Hiob. Was ist mit meinem Freund Lindner?«

»Er ist tot«, sagte Débras.

»Tot?« wiederholte Thomas. Sein Gesicht wechselte die Farbe und wurde grau. Walter Lindner tot. Meine letzte Hoffnung. Mein letzter Freund. Meine letzte Chance, diesen Kontinent des Wahnsinns zu verlassen …

»Sie saßen im Gefängnis, Sie können es nicht wissen«, sagte Débras. »Lindners Schiff lief am 3. November 1940 im Gebiet vor den Bermudas auf eine Treibmine. Es sank innerhalb von zwanzig Minuten. Es gab nur ein paar Überlebende. Lindner und seine Frau waren nicht darunter …«

Thomas Lieven saß zusammengesunken da. Er drehte sein Sektglas hin und her.

»Wenn Sie das Schiff erreicht hätten, wären Sie vermutlich jetzt auch tot«, meinte Débras.

»Ja«, sagte Thomas Lieven, »das ist allerdings ein ungemein tröstlicher Gedanke.«



18



In den ersten Morgenstunden des 26. November 1940 kehrte ein stiller, in sich gekehrter Thomas Lieven aus dem »Hôtel de Noailles« in das »Alte Viertel« von Marseille und daselbst in eine Wohnung im zweiten Stock des Hauses in der Rue Chevalier à la Rose zurück. Er hatte in Gesellschaft von Josephine Baker und Oberst Débras noch viel getrunken und viel besprochen, was in nächster Zukunft geschehen sollte.

Einige Sekunden lang war er der Versuchung nahe, die in ihrem zerwühlten Bett schlafende Chantal mit einer Tracht Prügel zu wecken. Dann aber beschloß er, zunächst ein heißes Bad zu nehmen. In diesem fand ihn – seines Gesanges wegen – schließlich seine schöne Freundin.

Indessen Chantal schrubbte und rieb, erzählte er ihr ein wenig von seiner wundersamen Rettung – nicht sehr viel, nur das Nötigste, denn er hatte nun eben nicht mehr unbeschränktes Vertrauen zu ihr.

Abschließend sagte er: »Sie haben mich laufenlassen, weil sie mich brauchen. Ich soll ein Ding für sie drehen. Und für das Ding brauche ich wiederum dich. Auf dieser Basis, denke ich, könnte eine Versöhnung zwischen uns zustande kommen.«

Chantals eben noch demütige Augen begannen zu leuchten: »Du kannst mir vergeben?«

»Ich muß wohl, weil ich dich brauche .«

»Es ist mir egal, ob du mußt, wenn du es nur tust«, flüsterte sie und küßte ihn. »Ich tue auch alles für dich. Was willst du haben?«

»Ein paar Barren Gold.«

»B … B … Gold? Wieviel?«

»Na, so vielleicht im Wert von fünf oder zehn Millionen Franc.«

»Echte Barren?«

»Solche mit Bleikernen natürlich.«

»Wenn’s weiter nichts ist.«

»Du ausgekochtes Stück«, sagte er. »Du elendes Luder, durch dich bin ich wieder in diese Geschichte reingekommen. Schrubb nicht so fest!«

Sie schrubbte noch fester. Sie rief: »Ach, ich bin ja so froh, daß sie dich nicht umgelegt haben, mein Süßer!«

»Du sollst mit dem Schrubben aufhören!«

Sie lachte kehlig und fing an, ihn zu kitzeln.

»Hör auf, oder ich zieh’ dir die Hosen stramm!«

»Das wird dir schwerfallen, ich habe keine an!«

»Na warte!« Er packte sie, sie kreischte auf, Wasser spritzte hoch, und dann lag sie auf ihm, im warmen, seifigen Wasser der Wanne, und schrie und kreischte und lachte und spuckte und wurde still in seinen Armen. Plötzlich mußte er an den armen Lazarus Alcoba denken, an den armen Walter Lindner und seine Frau, an die Passagiere des gesunkenen Schiffes, an die Matrosen, an die armen Soldaten in den Schützengräben, an alle armen Menschen überhaupt. Wie kurz sie lebten. Wie schwer sie es hatten. Wie böse ihr Ende war. Und wie wenig Glück es gab auf dieser Welt.



19



Am Mittwoch, dem 4. Dezember 1940, trafen sich in einem Extrazimmer des »Hôtel Bristol« an der Cannebière drei Herren zu einem vegetarischen Mittagessen, welches einer von ihnen mit der Umsicht des gewiegten Feinschmeckers zusammengestellt und bei seiner Entstehung in der Hotelküche sorgsam überwacht hatte.

Die drei Herren hießen: Jacques Bergier, Paul de Lesseps und Pierre Hunebelle. Paul de Lesseps war ein verschlossener, hagerer Typ mit scharfen Gesichtszügen, etwa 37 Jahre alt. Jacques Bergier war älter, rosiger, dicker, etwas zu elegant gekleidet, mit gezierten Bewegungen, hoher Stimme und kleinen, trippelnden Schritten. Er trug eine dunkelrote Samtweste zu seinem dunkelblauen Anzug und war ein bißchen aufdringlich parfümiert.

Pierre Hunebelle schließlich, der Herr, der sich um das Mittagsmahl gekümmert hatte, sah aus wie unserem Helden Thomas Lieven aus dem Gesicht geschnitten – und das ist kein Wunder, denn um Thomas Lieven handelte es sich auch, er hieß nur jetzt Hunebelle und nicht mehr Leblanc. Dem geneigten Leser wird einleuchten, weshalb. Thomas hatte einen neuen falschen Paß des französischen Geheimdienstes in der Tasche …

Es war das erste Zusammentreffen der Herren Bergier und de Lesseps mit Monsieur Hunebelle, und besonders Bergier betrachtete den reizenden jungen Mann mit steigendem Wohlgefallen. Seine sentimentalen Mädchenaugen ruhten ohne Unterlaß auf ihm. Thomas hatte die beiden zu diesem Essen eingeladen, nachdem er sich bei Rechtsanwalt Bergier als Geschäftspartner angemeldet hatte. »Vielleicht reden wir bei einem guten Essen darüber«, war sein Vorschlag gewesen.

»Mit Freude, Monsieur Hunebelle – aber bitte unter keinen Umständen Fleisch«, hatte der ästhetische Bergier mit hoher Stimme geantwortet.

»Sie sind Vegetarier?«

»Hundertprozentig. Ich rauche auch nicht. Und ich trinke nicht.« Und viel mit Damen scheinst du dich auch nicht abzugeben, mein Kleiner, hatte Thomas gedacht. Nur für die Gestapo mußt du arbeiten, du saubere Seele …

Menu • 4. Dezember 1940

Ein seltsames Schnitzel bringt viele Millionen Franc …

Sellerie auf Genfer Art

Pilzschnitzel

Poire Belle Hélène

Sellerie auf Genfer Art: Man nehme mittlere Sellerieknollen, wasche und bürste sie kräftig und koche sie dann in Salzwasser nicht zu weich. Man schäle sie und schneide sie in dünne Scheiben. Man gebe in eine tiefe Porzellanschüssel etwas frische Butter, darauf eine Lage Selleriescheiben, die man mit geriebenem Emmentaler und Butterflöckchen bestreut, darauf wieder Sellerie und so fort. Man gebe obenauf wieder Käse und Butter, bedecke die Schüssel dann mit einem Deckel und stelle sie auf einen mit leise kochendem Wasser gefüllten Topf, auf dem die Speise mindestens eine Stunde gut durchziehen muß. Man bringe sie in derselben Schüssel zu Tisch, ohne sie umzurühren.

Pilzschnitzel: Man nehme ein Pfund frische Pfifferlinge, putze sie gut, vierteile sie. Man würfle zwei große Zwiebeln und hacke reichlich Petersilie fein, dünste Zwiebeln, Petersilie und Pilze in Butter in einer Pfanne, bis die Pilze zu braten beginnen wollen. Nun füge man zwei eingeweichte, sehr gut ausgedrückte Semmeln ohne Rinde hinzu und lasse sie kurz mitschmoren. Man drehe dann die ganze Masse fein durch einen Wolf, lasse zum Schluß eine trockene Kartoffel durchlaufen. – Man verrühre die Masse sehr gründlich, füge, wenn sie genügend abgekühlt ist, ein Ei hinzu.

Man gebe etwas Semmelbrösel nur dann hinein, wenn sie zu weich geworden sein sollte. – Man würze sehr pikant mit etwas Sardellenpaste und ein paar Tropfen Sojawürze oder einem der anderen Extrakte, die nicht aus Fleisch, sondern aus Hefe hergestellt werden. Man salze und pfeffere erst zum Schluß. – Man forme aus der Masse nicht zu flache Schnitzel, wälze sie nacheinander in Mehl, zerklopftem Ei und Semmelbröseln, brate sie in Butter schön goldbraun. – Man verziere sie mit Zitronenscheiben, die man mit einigen Kapern belegt.

Poire Belle Hélène: Man nehme nicht zu kleine Eisbecher oder Kompottschalen, gebe eine Kugel Vanilleeis hinein, die man mit einer oder zwei Hälften von eingemachten Birnen zudeckt. Man ziehe eine dicke, sehr heiße Schokoladensauce darüber und serviere sofort. – Zur Zubereitung der Schokoladensauce nehme man 100 Gramm feiner, bitterer Schokolade und lasse sie mit etwas Wasser in einem Topf, den man in einen größeren Topf mit kochendem Wasser gestellt hat, zerschmelzen. Man soll sie keinesfalls reiben oder raffeln. Man gebe so viel Milch oder Sahne zu dem Schokoladenbrei, bis eine dickliche Sauce entsteht.

Über der Vorspeise – Sellerie auf Genfer Art – kamen die Herren miteinander ins Gespräch. Bergier, der Gepflegte, sagte: »Wundervoll, Monsieur Hunebelle, einfach wundervoll. Die Scheiben zerschmelzen auf der Zunge.«

»So muß es auch sein«, antwortete Thomas ernst. »Man nehme stets schöne, aber nicht zu große Sellerieknollen.«

»Nicht zu große, aha«, sagte Bergier und verzehrte Thomas mit den Augen.

»Man wasche und bürste sie gut und koche sie sodann in Salzwasser weich – aber nicht zu weich.«

»Aber nicht zu weich«, echote der Rechtsanwalt, dessen Parfüm Thomas in die Nase stieg. »Sie müssen mir das Rezept aufschreiben, Monsieur.«

Er trug vier Ringe mit bunten Steinen an den wohlmanikürten Fingern, und immer schwermütiger ruhte sein Blick auf Thomas Lieven.

Das ist ein klarer Fall, überlegte unser Freund indessen, mit dem werde ich leichtes Spiel haben. Mehr aufpassen muß ich auf Lesseps.

Lesseps fragte denn auch übergangslos: »Und womit können wir Ihnen dienen, Monsieur?«

»Meine Herren, Marseille ist eine kleine Stadt. Es hat sich herumgesprochen, daß Sie aus Paris heruntergekommen sind, um hier gewisse Geschäfte abzuschließen.«

In diesem Moment brachte ein alter Kellner das Hauptgericht, und Thomas sprach nicht weiter. Auf die Platten blickend, rief der Anwalt wehleidig: »Aber ich habe doch ausdrücklich gebeten: kein Fleisch!«

Lesseps schnitt ihm jedoch das Wort ab: »Was für Geschäfte, Monsieur Hunebelle?«

»Nun – hm, Devisen und Gold. Man sagt, Sie interessieren sich dafür.«

Lesseps und Bergier sahen sich an. Es blieb eine ganze Weile still im Extrazimmer. Zuletzt äußerte Lesseps – 1947 wurde er wegen Kollaboration von der französischen Regierung angeklagt und verurteilt – mit kaltem Ton: »Sagt man, wie?«

»Sagt man, ja. Nehmen Sie Sojawürze, Monsieur Bergier?«

»Mein Freund«, antwortete der Anwalt und blickte Thomas tief in die Augen, »ich bin gerührt. Was ich für Fleisch hielt, ist tatsächlich kein Fleisch und schmeckt doch formidable. Um was handelt es sich eigentlich?«

Ärgerlich sagte Lesseps: »Monsieur Hunebelle, Sie sprechen von Geld und Devisen. Und wenn wir uns wirklich dafür interessieren würden?«

Zu Bergier gewandt, sagte Thomas: »Es handelt sich um ein Pilzschnitzel. Delikat, nicht wahr?« Und zu Lesseps: »Ich hätte Gold zu verkaufen.«

»Sie haben Gold?« fragte Lesseps gedehnt.

»Jawohl.«

»Woher?«

»Das ist doch wohl nicht interessant«, meinte Thomas hochmütig. »Ich interessiere mich ja auch nicht dafür, in wessen Namen Sie es kaufen wollen.«

Lesseps sah ihn mit Haifischaugen an: »Wieviel Gold können Sie uns geben?«

»Das kommt darauf an, wieviel Sie haben wollen.«

»Ich glaube kaum«, meinte Lesseps, »daß Sie so viel haben.«

Plötzlich gab der seidenweiche Anwalt kichernd bekannt: »Wir kaufen nämlich bis zu zweihundert Millionen ein!« Donnerwetter, dachte Thomas Lieven, da fängt ja ein Riesending an!



20



Donnerwetter, dachte auch der alte Kellner, der jenseits der Extrazimmertür lauschte, da fängt ja ein Riesending an! Mit der Zunge schnalzend, schritt er in die kleine Bar des Hotels, die zu dieser Stunde fast leer war. An der Theke saß ein vierschrötiger Mann mit Bürstenhaar und trank Pernod.

»He, Bastian«, sagte der Kellner zu ihm.

Der Mann sah auf. Er hatte kleine Augen wie ein Elefant und große Hände wie ein Möbelpacker. »Worüber reden sie?« fragte er.

Der Kellner erzählte ihm, worüber die Herren im Extrazimmer redeten. Der Mann, der Bastian Fabre hieß, pfiff durch die Zähne. »Zweihundert Millionen! Allmächtiger Vater!« Er drückte dem Kellner Geld in die Hand. »Hör weiter zu. Merk dir jedes Wort. Ich komme zurück.«

»Ist gut, Bastian«, sagte der alte Kellner.

Bastian – er trug eine Lederjacke, eine Baskenmütze und graue Hosen – verließ die Bar, schwang sich auf ein altes Fahrrad und radelte am »Alten Hafen« entlang zum Quai des Belges hinauf. Hier standen die beiden berühmtesten Cafés der Stadt, das »Cintra« und das »Le Brûleur de Loup«. In beiden wurden illegale Transaktionen aller Art beschlossen. Das »Cintra« war moderner und hatte die bessere Kundschaft: reiche griechische Händler, Türken, Holländer und Ägypter.

Bastian begab sich in das altmodischere kleinere »Le Brûleur de Loup«. Hier, in dem dunkel getäfelten Raum, dessen große Spiegel matt und beschlagen das graue Licht der Straße reflektierten, saßen fast nur Einheimische. Zu dieser Mittagsstunde tranken die meisten ihren »Pastis«, einen süßen Apéritif, der 1939 noch zwei Franc gekostet hatte und jetzt zehn – eine Quelle ständiger Erbitterung für alle Patrioten.

Weinhändler, Fälscher, Schmuggler, Emigranten und Schieber saßen im »Brûleur de Loup«. Bastian kannte viele von ihnen; er grüßte und wurde gegrüßt. Am Ende des Lokals gab es eine Tür, an deren Klinke eine Tafel mit der Aufschrift GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT hing. Der Riese klopfte viermal lang, zweimal kurz. Daraufhin wurde die Tür geöffnet, und Bastian trat in den Raum. Hier brannte elektrisches Licht, denn es gab kein Fenster. Zum Schneiden dick hingen Tabakschwaden in der Luft. Um einen langen Tisch saßen fünfzehn Männer und eine einzige Frau. Die Männer sahen verwegen aus, bärtig zum Teil, zum Teil mit eingeschlagenen Nasen und Narben. Es gab Afrikaner, Armenier und Korsen unter ihnen.

Die Frau saß an der Spitze des Tisches. Sie trug eine rote Kappe, unter der blauschwarzes Haar hervorquoll. Sie hatte lange Hosen an und eine Jacke aus Rohleder. Einem neutralen Betrachter der seltsamen Tafelrunde wurde auf den ersten Blick klar, daß Chantal Tessier die Herrin, die absolute Herrin dieser Ganovenbande war, eine einsame Wölfin, eine Königin ohne Gnade.

»Warum kommst du erst jetzt?« schnauzte sie sofort Bastian an, der sie mit bettelnden Augen betrachtete. »Wir warten seit einer halben Stunde auf dich!«

»Die drei haben sich Zeit gelassen … Der Anwalt kam zu spät …«

Mit scharfer Stimme unterbrach ihn Chantal. »Willst du dir nicht endlich mal ’ne andere Kappe anschaffen? Zum Kotzen ist das mit euch! Muß denn jeder sehen, daß ihr aus dem Keller kommt?«

»Entschuldige, Chantal«, sagte Bastian gutmütig und verbarg verlegen seine speckige Kappe. Dann berichtete er, was er vom Kellner des »Hôtel Bristol« gehört hatte. Als er die zweihundert Millionen erwähnte, brandete eine Welle der Erregung durch den Raum. Ein paar Herren pfiffen, einer schlug auf den Tisch, alle sprachen durcheinander.

Die eisige Stimme Chantals übertönte sie alle: »Wollen die Herren vielleicht gütigst ihre Fressen halten!«

Es wurde still.

»Hier redet nur, wer gefragt ist, verstanden?« Chantal lehnte sich zurück. Sie befahl: »Zigarette!« Zwei Ganoven beeilten sich, sie zu bedienen.

Chantal stieß eine Rauchwolke aus. »Jetzt hört mal alle genau zu. Jetzt will ich euch erklären, was zu tun ist.«

Chantal Tessier, Bandenchefin und Liebhaberin von Rohleder, erklärte es. Und alle hörten ihr genau zu …



21



Man schrieb Donnerstag, den 5. Dezember 1940. Es war schon sehr kalt in Marseille. Zwei Herren standen in einem Geschäft in der Rue de Rome.

Der eine Herr sagte: »Ich möchte vier Kuchenkastenformen.«

»Und Sie?« fragte die Haushaltswarenverkäuferin den anderen Herrn.

Der andere Herr sagte: »Ich möchte drei Kuchenkastenformen, schönes Kind, wenn’s recht ist.«

Der eine Herr, ein muskulöser Riese mit rötlichem Bürstenhaar, nannte sich Bastian Fabre und hieß auch so.

Der andere Herr war elegant gekleidet und gut erzogen. Er nannte sich gerade Pierre Hunebelle, aber er hieß nicht so. Er hatte sich bis vor kurzem Jean Leblanc genannt und hieß in Wahrheit Thomas Lieven.

Die beiden Herren erwarben zu einem kriegsbedingt überhöhten Preis sieben Eisenblechformen. Die Absicht, Kuchen darin zu backen, schien ihnen jedoch fernzuliegen. Anschließend kauften sie nämlich nicht etwa Butter, Zucker, Safran und Mehl, sondern gemeinsam bei einem Trödler in der kurzen Rue Mazagran neun Kilogramm Blei, eine große Tafel feuerfeste Schamotte sowie eine handliche Stahlflasche voll Propangas.

Danach wandten sie ihre Schritte dem »Alten Viertel« zu. Sie sprachen kaum miteinander, denn sie hatten sich eben kennengelernt.

Thomas Lieven dachte: Jetzt gehe ich also mit diesem Orang-Utan falsche Goldbarren herstellen; ein ungeheuerlicher Gedanke –! Das Allerschlimmste aber: Ich bin richtig neugierig, wie man so etwas fachmännisch macht!

Was Thomas nicht begriff, war Chantals Betragen. Als er ihr nämlich von den beiden Aufkäufern erzählt hatte, da meinte sie zunächst: »Na prima, prima, Süßer. Meine Organisation steht dir zur Verfügung. Fünfzehn erstklassige Spezialisten. Wir legen die beiden Gestapo-Schweine rein und deinen Oberst Siméon und verscheuern die Listen an den, der am meisten bezahlt!«

»Nein, nicht den Oberst. Ich habe versprochen, ihm zu helfen.«

»Du hast ja einen Vogel! Deutscher Idealismus, was? Zum Heulen. Bitte, dann dreh dir das Ding aber auch alleine! Stell dir selber dein Gold her, Mensch; von meinen Leuten hilft dir keiner!«

Tja, so war die Lage vor drei Tagen gewesen. Mittlerweile schien Chantal sich jedoch alles grundsätzlich anders überlegt zu haben. Sie war so zärtlich und leidenschaftlich wie noch nie. In einer der wenigen stillen Minuten der vergangenen Nacht hatte sie in Thomas Lievens Armen zugegeben: »Du hast ganz recht, du mußt dein Versprechen halten …« Kuß. »Ach, ich liebe dich ja noch viel mehr für deine Anständigkeit …« Zwei Küsse. »Du kannst auch Bastian haben … Du kannst alle meine Leute haben …«

An der Seite des riesigen Bastian Fabre, der einen Handkarren mit den gekauften Utensilien schob, ging Thomas nun durch die winkeligen, schmutzigen Gassen des »Alten Viertels« und dachte: Kann ich Chantal, diesem Biest, trauen? Hat sie mich nicht schon einmal belogen und betrogen? Sie hat etwas vor. Aber was?

Darauf hätte Bastian Fabre erschöpfend antworten können. An der Seite des schlanken, eleganten Thomas Lieven den Karren durch die winkeligen, schmutzigen Gassen des »Alten Viertels« schiebend, überlegte Bastian: Gefällt mir gar nicht, der junge Herr. Wohnt bei Chantal. Völlig klar, was da los ist. Haben schon manche Herren bei Chantal gewohnt. Aber bei diesem Pierre Hunebelle, da muß es tiefer sitzen. Bei dem geht die Chefin mehr aus sich heraus als je. Verdammt noch mal!

Bastian erinnerte sich der Worte, die Chantal auf der Betriebsversammlung ihrer Bande im Café »Le Brûleur de Loup« über den jungen Herrn verloren hatte: »Genialer Kopf. Keiner von euch Hornochsen kann ihm das Wasser reichen.«

»Na, na«, hatte Bastian zu bemerken gewagt.

Wie eine Rakete war Chantal auf ihn losgeschossen: »Ta gueule! Du wirst von heute an alles tun, was er dir aufträgt!«

»Also, Moment mal, Chantal …«

»Maul halten! Das ist eine Order, verstanden? Du wirst mit ihm zu Boule gehen und die falschen Goldbarren herstellen! Und ihr andern, ihr werdet sofort einen ständigen Überwachungsdienst einrichten. Ich muß wissen, was er macht, bei Tag und bei Nacht!«

»Bei Nacht solltest du es doch am besten wissen.«

»Noch ein Wort, und ich klebe dir eine! Das ist meine Liebe, kapiert? Der Junge ist nur zu anständig. Wenn er jetzt mit den beiden Gestapo-Schweinen verhandelt, müssen wir für ihn denken. Er weiß nicht, was für ihn gut ist …«

Also hatte Chantal gesprochen.

Neben Thomas durch das »Alte Viertel« trottend, dachte Bastian ergrimmt: Ich habe das Gefühl, der Junge weiß ganz genau, was für ihn gut ist.

Also dachte Bastian. Aber er sagte nicht, was er dachte. Sondern er sagte: »Wir sind da.« Und blieb stehen vor dem Haus 14 in der Rue d’Aubagne. Rechts vom Eingang gab es eine alte, abgesplitterte Emailtafel mit der Inschrift:

DR. RENÉ BOULE

ZAHNARZT

9–12 und 15–18 Uhr

Sie betraten das Haus und klingelten an einer Tür. Die Tür ging auf.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte Dr. René Boule. Er war der kleinste Mann, den Thomas Lieven in seinem Leben gesehen hatte, und der zierlichste. Er trug einen weißen Mantel und einen goldgefaßten Zwicker und ein funkelndes, einmalig schönes falsches Gebiß. »Kommt rein, Jungs.« Der Doktor hängte eine Tafel an den Türknauf, darauf stand:

HEUTE KEINE SPRECHSTUNDE!

Dann schloß er die Tür und ging durch einen Ordinationsraum mit Drehsessel und blitzenden Geräten voraus in ein Laboratorium, das neben einer kleinen Küche lag. Daselbst machte Bastian die Herren flüchtig miteinander bekannt. Er erklärte Thomas: »Der Doktor arbeitet ständig für uns. Steht bei der Chefin im Exklusivvertrag.«

»Ja, aber nur für falsches Gold. Wenn ihr Brüder was mit den Zähnen habt, geht ihr woandershin«, brummte der Kleine und betrachtete Thomas.

»Komisch, daß wir uns noch nie gesehen haben. Sie sind neu bei der Bande?«

Thomas nickte.

»Kommt gerade aus dem Knast«, erläuterte Bastian Fabre gemütvoll. »Die Chefin hat ’nen Affen an ihm gefressen. Die Arbeit geht auf ihre private Rechnung.«

»In Ordnung. Habt ihr die Formen mitgebracht? Fein, fein. Kann ich gleich sieben Barren auf einmal machen und brauche nicht jedesmal zu warten, bis der Dreck auskühlt.« Dr. Boule packte die Kuchenformen aus und stellte sie nebeneinander. »Die Länge stimmt«, meinte er. »Ihr wollt doch Kilobarren, wie? Dachte ich mir.« Er wandte sich an Thomas. »Wenn es Sie interessiert, können Sie zusehen, junger Mann. Man weiß nie, wozu man so etwas noch braucht.«

»Da haben Sie recht«, sagte Thomas und hob, sich selber anklagend, die Augen zum Himmel.

Bastian brummte: »Ich habe das schon hundertmal gesehen, ich werde mal gehen und uns was zu fressen holen.«

»Aber bitte etwas Kräftiges«, sagte der Zahnarzt, »die Schmelzerei strengt an.«

»Zahlt alles die Chefin. Was soll’s denn sein?«

Der kleine Mann schmatzte: »Henri unten im Haus hat ein paar schicke Enten vom Land reinbekommen, die verschiebt er schwarz, bevor der Kerl von der ›Contrôle économique‹ sie erwischt. Süße, kleine Enten. Wenig Fett und zarte Knochen. Wiegt eine höchstens drei Pfund.«

»Na, dann will ich mal gehen und uns zwei unter den Nagel reißen«, meinte Bastian und verschwand.

Dr. René Boule sprach: »Die Schwierigkeit bei der Herstellung von falschen Goldbarren liegt darin, daß Gold und Blei sehr verschiedene Schmelzpunkte und sehr verschiedene spezifische Gewichte haben. Blei schmilzt schon bei 327 Grad Celsius, Gold erst bei 1063 Grad. Eine so hohe Temperatur würden die Kuchenformen nicht aushalten. Wir müssen sie daher mit Schamotte auslegen.«

Der kleine Mann maß die Formen genau aus, dann zeichnete er Böden und Seitenwände der Kuchenwannen auf die Schamotteplatte, raspelte die Linien mit einer Feile an und brach die Stücke mühelos heraus.

Während er arbeitete, dozierte er: »Nun werden wir uns aus Gips ziegelsteinähnliche Formen herstellen, die gerade so groß sind, daß sie in die mit Schamotte ausgekleideten Kuchenformen passen und dabei an allen Seiten noch drei Millimeter Zwischenraum lassen. Auf der Grundfläche werden wir, solange der Gips noch weich ist, vier Füßchen anbringen, indem wir Streichhölzer in die Masse drücken. Die Hölzchen stehen dann auf der unteren Schamottefläche auf, so daß auch hier der Gips von der Schamotte drei Millimeter entfernt bleibt … Wollen Sie sich nicht Notizen machen?«

»Ich habe ein gutes Gedächtnis.«

»So? Na schön … Wenn die Gipsziegel in der Schamotteauslegung ruhen, können wir darangehen, Gold in einem Tiegel zu schmelzen.«

»Wie erreichen Sie die hohe Temperatur?«

»Mit Hilfe eines Schneidbrenners und der Propangasflasche, die Sie mitgebracht haben, junger Mann.«

»Und was für Gold verwenden Sie?«

»Zweiundzwanzigkarätiges selbstverständlich.«

»Wo bekommt man das?«

»In jeder Scheideanstalt. Ich sammle Bruchgold, und dann tausche ich das Zeug gegen zweiundzwanzigkarätiges um. Wenn das Gold geschmolzen ist, gießen wir die Räume zwischen Schamotteplatten und Gips damit aus und lassen es auf natürlichem Wege erkalten. Nicht etwa mit Wasser abschrecken. – Sie sollten sich doch Notizen machen. – Zuletzt hebe ich den Gipskern heraus und habe nun eine Wanne aus dünnem Goldblech vom Ausmaß eines Einkilogoldbarrens. Und diese Form nun fülle ich mit Blei.«

»Moment mal«, sagte Thomas, »aber Blei ist doch leichter als Gold.«

»Junger Mann, ein Kilo bleibt ein Kilo dem Gewicht nach. Nur das Volumen ändert sich. Und ich gestatte mir kleine Änderungen des Barrens in der Breite. Das ist bei Barren aus Scheideanstalten nicht weiter auffällig …«



22



Bastian kam zurück. Er brachte zwei kleine, feste Enten und zwei Pfund Kastanien mit und begab sich in die Küche.

Thomas sah noch eine Weile dem begabten Zahnarzt zu, wie er die Gipsziegel herstellte. Dann ging er in die Küche, um hier zuzusehen. Dabei erstarrte er vor Widerwillen. Von Goldbarrenfälschung verstand er nichts. Von Enten verstand er eine ganze Menge. Und was hier mit einer Ente geschah, empörte seinen Feinschmeckerstolz.

Menu • 5. Dezember 1940

Thomas Lievens Ente begründet eine

sagenhafte Freundschaft.

Ente chinesisch mit gekochtem Reis

Ente vom Rost mit gedämpften Maronen

Götterspeise

Ente chinesisch: Man bereite eine nicht zu fette Fleischente wie üblich vor und entbeine sie dann. Man koche aus den zerkleinerten Knochen und dem Entenklein eine kräftige, kurze Brühe. – Man schneide das Entenfleisch in Stücke, lasse sie in einer Kasserolle goldbraun anbraten und bestäube sie dann mit Mehl, das man mitrösten läßt, bis es gelb ist. Man gieße mit der Knochenbrühe auf, füge eine enthäutete frische Tomate, einige gehackte Pilze und vier Gramm Glutamat hinzu und lasse alles eine halbe Stunde auf kleiner Flamme schmoren. – Man schneide einige Ananasscheiben auf Achtel, mische sie unter das Fleisch und lasse alles noch eine Viertelstunde schmoren. – Man reiche dazu locker und körnig gekochten Reis.

Ente vom Rost: Man bereite eine junge, nicht zu fette Ente in der üblichen Art vor und reibe sie innen und außen mit Salz ein. Man kann sie je nach Geschmack auch innen mit Knoblauch einreiben und verschiedene Kräuter hineinlegen. – Man lege die Ente mit der Brust nach unten auf den Grill im Ofen und gebe etwas Wasser in die darunterstehende Grillpfanne. Man grille bei mittlerer Hitze, bepinsele die Ente häufig mit dem ausgebratenen Fett, das sich in der Pfanne sammelt. –

Man rechne als Bratdauer, je nach Größe, eine bis höchstens anderthalb Stunden. Man drehe die Ente in den letzten 20 Minuten mit der Brust nach oben. – Man bepinsele die gut gebräunte Haut der fertig gebratenen Ente mit kaltem Wasser und gebe noch für fünf Minuten gute Hitze, wodurch die Haut noch krosser und mürber wird. – Beigericht »Gedämpfte Maronen«: Man nehme soviel Maronen, wie man andernfalls Salzkartoffeln als Beilage benötigen würde, befreie sie von Schale und Haut und dämpfe sie in Salzwasser weich, achte darauf, daß sie nicht zerbröckeln. Man schwenke sie in Butter und gebe sie zu Tisch.

Götterspeise: Man nehme grobgeriebenes, sehr dunkles Brot – am besten Pumpernickel –, belege damit den Boden einer großen Glasschüssel und feuchte es mit etwas Kognak oder Kirschwasser an. Man gebe darauf eine Lage von gut abgetropften, eingemachten Sauerkirschen und darüber eine Lage Schlagsahne. Dann folgt wieder Brot und so fort, als letztes eine Lage Schlagsahne. – Man streue geriebene Schokolade darüber und verziere mit Kirschen. Man stelle die Speise kalt und lasse sie noch gut durchziehen.

Kopfschüttelnd trat er neben Bastian, der mit aufgekrempelten Ärmeln beim Fenster arbeitete. Er hatte ein Tier ausgenommen und rieb die Fleischteile nun innen und außen mit Salz ein.

»Was soll denn das?« fragte Thomas Lieven streng.

»Was heißt, was soll denn das?« knurrte Bastian gereizt. »Ich mache eine Ente. Paßt Ihnen was nicht?«

»Barbar.«

»Was haben Sie gesagt?« Der Riese schluckte.

»Ich habe Barbar gesagt. Ich nehme an, Sie wollen Ente vom Rost machen.«

»Allerdings!«

»Das eben nenne ich barbarisch.«

»Sieh mal an!« Bastian stemmte die Fäuste in die Hüften, vergaß Chantals Ermahnungen, lief vor Wut rot an und brüllte:

»Was verstehen Sie denn vom Kochen, Sie kleiner Klugscheißer?«

»Ein wenig«, antwortete Thomas fein. »Jedenfalls so viel, um sagen zu können, daß Sie hier ein Verbrechen begehen.«

»Ich war Schiffskoch. Und ich habe mein Leben lang Enten nur am Rost gemacht!«

»Dann haben Sie Ihr Leben lang ein Verbrechen begangen. Von anderen nicht zu reden.«

Im allerletzten Moment fielen Bastian die Ermahnungen Chantals ein. Er nahm sich wahnsinnig zusammen. Er legte beide Pfoten auf den Rücken, um zu verhindern, daß sie sich selbständig machten und etwas Unbedachtes taten. Seine Stimme klang gepreßt: »Und wie, hm, würden Sie eine Ente zubereiten, Monsieur Hunebelle?«

»Selbstverständlich nur auf chinesische Art …«

»Ha!«

»… weil allein die Zubereitung mit Ananas und Gewürzen den feinen Entengeschmack unverfälscht erhält, ja, mehr noch, ihn erst richtig herausarbeitet und unterstreicht!«

»Lächerlich«, sagte der Riese. »Vom Rost, das ist das einzig Senkrechte!«

»Weil Sie eben keine Eßkultur kennen«, sagte Thomas. »Gentlemen bevorzugen chinesisch.«

»Hören Sie mal, Sie feiner Pinkel, wenn Sie damit sagen wollen …«, begann Bastian und wurde von dem kleinen Zahnarzt unterbrochen, der ihn am Ärmel zupfte.

»Was ist los, Bastian? Warum streiten? Wir haben doch zwei Enten! Versucht doch beides, Rost und chinesisch! Ich habe noch stundenlang zu tun.«

Bastian knurrte: »Du meinst ein Wettkochen?«

»Meine ich«, sagte der Kleine und schmatzte wieder, »ich mache euch den Schiedsrichter!«

Bastian begann plötzlich zu grinsen. Er fragte Thomas: »Sind Sie einverstanden?«

»Selbstverständlich. Ich brauche allerdings gewisse Zutaten. Pilze, Tomaten, Ananas, Reis.«

Der Zahnarzt kicherte: »Gehen Sie runter zu Henri. Henri hat alles.« Er klatschte vergnügt in die Hände. »Jetzt wird’s gemütlich! Ich bringe euch was bei! Ihr bringt mir was bei! An die Gewehre, Mitbürger!«

Danach entwickelte sich in Küche und Laboratorium des Dr. René Boule ein geschäftiges Treiben.

Während Bastian seine Ente mit Knoblauch abrieb, Kräuter hinzufügte und das Tierchen mit der Brust nach unten auf den Rost des Ofens legte, entbeinte Thomas Lieven das seine, zerhackte die Knochen und bereitete aus diesen und dem Entenklein eine kurze, kräftige Brühe. Während er wartete, daß die Brühe kochte, ging er zu dem kleinen Künstler, der im Labor arbeitete, und sah ihm bei seiner Tätigkeit zu.

Dr. Boule hatte in sieben Kuchenformen mittlerweile sieben dünne Goldwannen hergestellt. Nun füllte er die erste von ihnen mit flüssigem Blei. Der Zahnarzt sprach: »Das Blei erkalten lassen. Jetzt ist nur noch eine Seite der Goldverkleidung offen. Man lege eine Schamotteplatte darauf, damit das Blei nicht wieder flüssig wird, wenn es mit dem flüssigen Gold in Berührung kommt. Diese letzte Schamotteplatte ist sehr wichtig. So vermeidet man Verfärbungen der Goldoberfläche, die jeden Fachmann mißtrauisch machen würden.«

Thomas wanderte in die Küche zurück, um nach seinem Süppchen zu sehen, schnitt das Entenfleisch in Stücke und wanderte zurück ins Labor, um nach seinen Barren zu sehen.

Dr. Boule hatte mittlerweile in einem Tiegel wieder Gold flüssig gemacht und goß dieses nun über die Schamotteplatte in die Kuchenform. Er sprach: »Man warte, bis die Schaumkronen verschwunden sind. Das Gold setzt sich von selber. Die Oberfläche muß einen kleinen erhöhten Rand haben – wie ein Stück Schmierseife. Nun, bevor das Metall erkaltet, schnell das Wichtigste: die Punze.«

»Bitte, die was?«

»Die Punze. Der Prägestempel, der die Echtheit und den Goldgehalt ausweist.« Dr. Boule schrie in die Küche. »Was für einen Stempel soll ich nehmen, Bastian?«

»Scheideanstalt von Lyon!« schrie der Riese zurück. Er bepinselte gerade sein Tierchen mit ausgebratenem Fett.

»Na schön«, sagte Dr. Boule. »Ich habe nämlich eine ganze Sammlung von Punzen der verschiedensten Scheideanstalten und Banken.« Er zeigte sie Thomas. »Ich habe sie als Negativ in Linoleum geschnitten und die Linoleumstückchen auf Holzklötze geklebt. Nun passen Sie auf!«

Er nahm den entsprechenden Prägestempel und beschmierte das Linoleum mit Olivenöl. Sodann drückte er den Stempel in eine Ecke der noch weichen Goldoberfläche des ersten Barrens. Zischend verbrannte der Ölfilm. Blitzschnell hob Dr. Boule den Stempel wieder ab, bevor das heiße Metall das Linoleum zerstören konnte. Der Augenblick des Aufpressens hatte genügt. Der Barren trug jetzt den Stempel genau so, als wäre er hineingeschlagen worden. Der Zahnarzt sagte: »Die Unebenheiten, die Asche, die Schwitze – das alles lasse man am Barren. Echte Barren werden auch nicht gereinigt.«

»Und daß der Betrug entdeckt wird?«

»Praktisch ausgeschlossen.« Dr. Boule schüttelte den Kopf. »Der Bleikern ist jetzt auf allen Seiten von einer drei Millimeter dicken Goldschicht umgeben. Der Käufer prüft mit einem Ölstein und mit Salzsäure. Er kratzt mit dem Stein über eine Kante des Barrens und hat danach einen Goldstrich auf seinem Stein. Den betupft er jetzt nacheinander mit verschiedenen Säurekonzentrationen, die den verschiedenen Karatgehalten entsprechen. Wenn der Goldstrich stehenbleibt, handelt es sich um zweiundzwanzigkarätiges Gold. Na, und um solches handelt es sich doch wirklich!« Plötzlich begann der Zahnarzt zu schnüffeln. »Liebe Himmelsmutter, riecht das gut! Ist das jetzt Ihre Ente oder seine?«

Das Essen nahmen die Herren eine Stunde später schweigend zu sich. Sie verspeisten zuerst die Ente vom Rost und danach die chinesische Ente. Nebenan kühlten die ersten drei Barren aus. Und still war es, andächtig still in Dr. René Boules kleinem Speisezimmer. Zuletzt wischte Bastian sich den Mund ab und sah den Zahnarzt mit zusammengekniffenen Augen an. »Also, los, René, welche war besser?«

Dr. Boule sah unglücklich von einem der Köche zum andern, von Thomas zu Bastian, von Bastian zu Thomas. Bastians Riesenpfoten öffneten und schlossen sich krampfhaft.

Der kleine Doktor stotterte: »Das kann man unmöglich in drei Worten sagen, lieber Bastian … Auf der einen Seite ist deine Ente … aber auf der andren Seite natürlich …«

»Ja-ja-ja«, sagte Bastian. »Du hast die Hosen voll, daß ich dich verkloppe, was? Dann will ich also den Schiedsrichter spielen. Die chinesische war besser!« Er grinste und schlug Thomas auf den Rücken, daß der sich verschluckte. »Ich glaube, ich bin älter. Ich trage dir das Du-Wort an für deine Ente. Ich heiße Bastian.«

»Sag Pierre zu mir.«

»Ich war ja ein lebenslanger Trottel mit meiner Ente am Rost! Pierre, Junge, daß ich dich nicht früher getroffen habe! Weißt du noch so ein paar Rezepte?«

»Einige, ja«, antwortete Thomas bescheiden.

Bastian strahlte. Plötzlich betrachtete er Thomas voller Sympathie und Hochachtung. Seine Verfressenheit hatte einen Sieg über seine Eifersucht davongetragen: »Pierre, weißt du, was ich glaube? Ich glaube, das ist der Beginn von einer prima Freundschaft!«

Bastian glaubte es zu Recht. 1957, in einer Villa an der Cecilien-Allee zu Düsseldorf, sollte diese Freundschaft noch so frisch und stark sein wie an diesem ersten Tag. In den siebzehn Jahren, die dazwischenlagen, sollten viele Mächtige unserer Erde gelernt haben, vor dieser Freundschaft zu zittern …

»Deine Ente war aber auch nicht übel, Bastian«, sagte Thomas. »Wirklich nicht. Ich habe übrigens noch Götterspeise gemacht. Bedient euch. Ich kann nicht mehr. Wenn ich noch einen Bissen esse, falle ich um und bin tot!«

Apropos tot …

Köln, 4. Dezember 1940

VON: ABWEHR KÖLN

AN: CHEF ABWEHR BERLIN

GEHEIM 135892/VC/LU

Aus Lissabon zurückgekehrt, gestatte ich mir ergebenst, Herrn Admiral den Tod des Doppelagenten und Verräters Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, zu melden.

Derselbe wurde am 17. November 1940 um 9 Uhr 35 (Ortszeit) im Hof des Hauses Rua do Poco des Negros 16 erschossen.

Lieven trug zur Zeit seiner Ermordung die Kleidung und Maske eines gewissen Lazarus Alcoba, mit dem er im Gefängnis gesessen hatte.

Obwohl die portugiesischen Behörden verständlicherweise alles taten, um den Vorfall zu verschweigen und seine näheren Umstände in Dunkelheit zu hüllen, ist es mir doch gelungen, eindeutig festzustellen, daß Lieven von einem gekauften Berufsverbrecher auf Anweisung des britischen Geheimdienstes erschossen wurde. Wie Herr Admiral wissen, hat Lieven auch den Engländern gefälschte Listen mit Namen und Adressen französischer Agenten verkauft.

Ich bedaure, daß es mir nicht möglich war, Lieven befehlsgemäß lebend in unsere Hände zu bekommen. Andererseits bedeutet sein verdientes Ende eine Sorge weniger für unsere Dienstobliegenheiten.

Heil Hitler!

Fritz Loos,

Major und Kommandoführer.

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