2. Kapitel



1



Am Nachmittag des 6. Dezember 1940 suchten die Herren Hunebelle und Fabre das »Hôtel Bristol« und daselbst den rosigen, dicken Rechtsanwalt Jacques Bergier auf, der sie im Salon seines Appartements empfing. Der französische Aufkäufer im Dienste der Gestapo trug einen blauseidenen Morgenmantel, ein Seitentüchelchen in der Brusttasche und roch nach einem erfrischenden Parfüm.

Er protestierte zuerst gegen die Anwesenheit Bastians: »Was soll das, Monsieur Hunebelle? Ich kenne diesen Herrn nicht! Ich will nur mit Ihnen zu tun haben!«

»Dieser Herr ist mein Freund. Ich führe eine ziemlich kostbare Ware bei mir, Monsieur Bergier. Ich fühle mich so sicherer!«

Der Anwalt gab nach. Gekränkt ruhten seine alten Mädchenaugen auf dem eleganten Thomas. Dann gab der Vegetarier, Nichtraucher und Frauenfeind Bergier bekannt: »Mein Freund de Lesseps ist leider nicht hier, wie unangenehm.«

Wie angenehm, dachte Thomas und fragte: »Wo ist er denn?«

»Nach Bandol gefahren.« Bergier spitzte sein rosiges Mündchen, als wollte er pfeifen. »Er kauft da in der Gegend noch einen sehr großen Posten Gold, verstehen Sie. Und Devisen.«

»Ich verstehe.« Thomas gab Bastian einen Wink, dieser schwang einen kleinen Koffer auf den Tisch und ließ die Schlösser aufschnappen. Sieben Goldbarren lagen darin.

Bergier untersuchte sie genau. Er las die Stempel. »Hm. Hm. Scheideanstalt von Lyon. Sehr schön.«

Thomas gab Bastian heimlich einen zweiten Wink, Bastian sagte: »Könnte ich mir mal die Hände waschen?«

»Das Badezimmer ist da drüben.«

Bastian ging ins Badezimmer, in welchem es eine Unmenge von Flaschen und Tiegeln gab. Ein gepflegter Herr war Monsieur Bergier! Bastian drehte einen Wasserhahn auf, dann trat er geräuschlos auf den Gang, zog den Zimmerschlüssel aus dem Schloß, nahm eine alte Blechschachtel voller Bienenwachs aus der Tasche, drückte den Schlüssel von beiden Seiten in das Wachs, steckte ihn wieder ins Schloß und die Schachtel wieder in die Tasche.

Im Salon war Bergier mittlerweile darangegangen, die Goldbarren zu untersuchen. Er verfuhr dabei genau so, wie der kleine Zahnarzt es vorausgesagt hatte: Er benutzte einen Ölstein und Salzsäure von verschiedener Konzentration.

»In Ordnung«, sagte er nach Prüfung der sieben Barren. Dann sah er Thomas träumerisch an. »Was mache ich mit Ihnen?«

»Bitte?« Thomas atmete erleichtert auf, da Bastian gerade in den Salon zurückkam.

»Sehen Sie, ich muß meinen Auftraggebern über jeden einzelnen Kauf natürlich Buch legen. Wir – wir führen Listen über unsere Kunden …«

Listen! Thomas Lievens Herz schlug schneller. Das waren die Listen, die er suchte! Die Listen mit den Namen und Adressen von Kollaborateuren im unbesetzten Frankreich, von Leuten, die ihr Land an die Gestapo und oft genug noch ihre Landsleute dazu verkauften.

Bergier sprach sehr sanft: »Wir zwingen natürlich niemanden, uns Angaben zu machen … wie sollten wir auch!« Bergier lachte. »Aber wenn Sie in der Zukunft mit uns Geschäfte machen wollen, wäre es vielleicht doch zweckmäßig, daß ich mir gewisse Notizen … selbstverständlich absolut vertraulich …«

Absolut vertraulich vor der Gestapo, dachte Thomas, und er sagte: »Wie Sie wünschen. Ich hoffe, Ihnen noch öfter liefern zu können. Auch Devisen.«

»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, bat Bergier und verschwand mit weibisch gezierten Bewegungen im Schlafzimmer.

»Hast du den Abdruck?« fragte Thomas.

»Klar.« Bastian nickte. »Sag mal, ist der Kleine etwa …«

»Du merkst aber auch alles«, sagte Thomas.

Bergier kam zurück. Er trug eine Aktentasche mit vier Schlössern, die er umständlich aufsperrte. Dann holte er mehrere Listen hervor, auf denen viele Namen und Adressen standen. Er zückte eine goldene Füllfeder. Thomas Lieven gab seinen falschen Namen und eine falsche Adresse an. Bergier notierte beides.

»Und nun das Geld«, sagte Thomas.

Bergier lachte: »Keine Angst, es kommt schon. Darf ich Sie bitten, mir ins Schlafzimmer zu folgen …«

Im Schlafzimmer nebenan standen drei riesige Schrankkoffer. Aus einem von ihnen zog der Anwalt eine schmale Schublade. Sie erwies sich bis zum Rand gefüllt mit gebündelten 1000- und 5000-Franc-Scheinen. Es war Thomas klar, daß die Herren Bergier und de Lesseps große Mengen an Bargeld mit sich führen mußten. Ohne Zweifel war auch in den anderen Schubladen der Koffer Geld. Und so beobachtete Thomas höchst gespannt, wo Bergier die Mappe mit den Listen verstaute …

Für den Barren bezahlte Bergier 360 000 Franc, die im Wert etwa 18 000 Reichsmark entsprachen, für sieben Barren also insgesamt 2 520 000 Franc.

Während er die Geldbündel vor Thomas hinlegte, lächelte Bergier werbend und verheißungsvoll und suchte dessen Blick. Thomas aber zählte die vor ihm liegenden Francs …

Endlich sagte Bergier: »Wann sehen wir uns wieder, mein Freund?«

Erstaunt fragte Thomas: »Wieso? Fahren Sie nicht nach Paris zurück?«

»O nein, nur Lesseps. Er kommt morgen nachmittag mit dem Expreß um 15 Uhr 30 hier durch.«

»Durch?«

»Ja, er fährt mit der Ware aus Bandol nach Paris. Ich werde ihm Ihr Gold an den Waggon bringen. Aber nachher könnten wir doch zusammen speisen, wie wär’s, mein Freund?«



2



»15 Uhr 30, Bahnhof St. Charles«, sagte Thomas eine Stunde später in der Bibliothek einer großen, alten Wohnung am Boulevard de la Corderie. Die Wohnung gehörte einem Mann namens Jacques Cousteau, der viele Jahre später als Tiefseeforscher und mit seinem Buch und seinem Film »Die schweigende Welt« berühmt werden sollte.

Im Jahre 1940 war dieser ehemalige Major der Marineartillerie ein wichtiger Mann des eben wieder entstehenden französischen Geheimdienstes: ein junger, energiegeladener Mensch mit schwarzem Haar und schwarzen Augen, durchtrainiert und sportlich.

Cousteau saß in einem alten Lehnsessel vor einer in satten Farben schimmernden Bücherwand und rauchte eine alte Pfeife, die er – faute de mieux – mit wenig Tabak gefüllt hatte.

Oberst Siméon saß neben ihm. Erbarmungswürdig glänzten die Ellbogen und Knie seines schwarzen Anzugs. Wenn er die Beine übereinanderschlug, sah man, daß er ein Loch in der linken Schuhsohle hatte.

Lächerlicher, armer, erbarmungswürdiger französischer Geheimdienst, dachte Thomas. Ich, ein Außenseiter, zur Agententätigkeit gezwungen, bin momentan reicher als das ganze »Deuxième Bureau«!

Elegant und gepflegt stand er da, dieser Thomas Lieven, und neben ihm stand das Köfferchen, in dem die Goldbarren zu Monsieur Bergier gebracht worden waren. Jetzt lagen 2 520 000 Franc in dem Köfferchen …

Thomas Lieven sagte: »Sie müssen sehr aufpassen, wenn der Expreß einläuft. Ich habe nachgesehen. Er hält nur acht Minuten.«

»Wir werden aufpassen«, sagte Cousteau. »Keine Sorge, Monsieur Hunebelle.«

Siméon zupfte an seinem Menjoubärtchen und erkundigte sich mit hungrigen Augen: »Und Sie glauben, daß de Lesseps viel Ware bei sich hat?«

»Nach Bergiers Berichten eine Riesenmenge an Gold, Devisen und sonstigen Werten. Er hat tagelang im Süden eingekauft. Er muß viel bei sich haben, sonst würde er nicht nach Paris fahren. Bergier wird ihm meine sieben Barren übergeben. Ich glaube, es ist das beste, wenn Sie die beiden in dem Augenblick verhaften lassen …«

»Alles schon vorbereitet. Wir haben Freunden bei der Polizei einen Wink gegeben«, sagte Cousteau.

Siméon fragte Thomas: »Aber wie kommen Sie an die Listen heran?«

Lächelnd antwortete Thomas: »Zerbrechen Sie sich nicht Ihren Kopf, Siméon. – Sie könnten mir übrigens helfen. Ich brauche drei Hausdiener in Uniformen des ›Hôtel Bristol‹.«

Siméon sperrte Mund und Augen auf. Man sah, daß er angestrengt nachdachte. Bevor ihm aber etwas einfiel, sagte Cousteau: »Das wird sich machen lassen. Das Bristol läßt in der Großwäscherei Salomon arbeiten. Auch die Uniformen reinigen. Der zweite Direktor in der Wäscherei ist ein Mann von uns.«

»Na fein«, sagte Thomas.

Er sah den mageren Siméon mit der durchlöcherten Schuhsohle und dem abgestoßenen Anzug an. Er sah Cousteau an, der sparsam an der abgekauten Pfeife sog und nur wenig Tabak im Beutel hatte. Er sah sein Köfferchen an. Und dann beging unser Freund eine rührende Handlung, die zeigte, daß er noch immer nicht gelernt hatte, nach den herzlosen Spielregeln einer herzlosen Welt zu leben, in die ein grausames Geschick ihn gestürzt hatte …



3



Als Thomas Lieven eine halbe Stunde später das Haus am Boulevard de la Corderie verließ, sah er, daß sich aus einer Mauernische ein Schatten löste und ihm durch die diesige Dunkelheit folgte. Thomas bog um eine Straßenecke und blieb jäh stehen. Der Mann, der ihm folgte, rannte prompt in ihn hinein.

»Oh, pardon«, sagte er höflich und zog einen alten, speckigen Hut. Thomas erkannte ihn. Es war einer von Chantals Leuten. Er murmelte etwas Unverständliches und schlurfte davon.

In ihrer Wohnung in der Rue Chevalier à la Rose überfiel Thomas Lievens schwarzhaarige, katzenhafte Geliebte ihren Freund mit stürmischen Umarmungen und Küssen. Sie hatte sich für ihn besonders schön gemacht. Kerzen brannten, Champagner stand im Eis. »Endlich, chéri! Ich hatte schon solche Sehnsucht nach dir.«

»Ich war noch …«

»Bei deinem Oberst, ich weiß, Bastian hat es mir erzählt.«

»Wo ist denn Bastian?«

»Seine Mutter ist plötzlich erkrankt, er mußte zu ihr fahren, er kommt morgen wieder.«

»Morgen, aha«, sagte Thomas arglos und öffnete den kleinen Koffer, der noch immer recht voll, aber nicht mehr ganz so voll war wie zu Anbeginn, als Bergier ihn gefüllt hatte.

Chantal pfiff erfreut durch die Zähne.

»Pfeif nicht zu früh, chérie«, sagte er. »Es fehlt eine halbe Million.«

»Was?«

»Ja. Ich habe sie Cousteau und Siméon geschenkt. Die Leute sind pleite. Zum Teufel, sie haben mir leid getan, weißt du … Laß uns sagen, daß die halbe Million mein Anteil war. Hier, der ansehnliche Rest von zwei Millionen und zwanzigtausend Franc ist für dich und deine Mitarbeiter …«

Chantal küßte ihn auf die Nasenspitze. Sie überwand seinen Anfall von Menschenliebe eigentlich mit verdächtiger Leichtigkeit: »Mein Gentleman! Bist du süß … Jetzt hast du gar nichts mehr von der Chose!«

»Ich habe dich«, sagte er freundlich. Und übergangslos: »Chantal, warum läßt du mich beschatten?«

»Beschatten? Ich? Dich?« Sie riß die Katzenaugen auf. »Chéri, was ist das für ein Unsinn?«

»Einer deiner Kerle ist direkt in mich hineingerannt.«

»Oh, sicher nur Zufall … Mein Gott, warum bist du bloß so furchtbar mißtrauisch? Was soll ich denn noch tun, damit du mir endlich glaubst, daß ich dich liebe?«

»Einmal die Wahrheit sagen, du Luder. Aber ich weiß, das ist ein ganz und gar unerfüllbares Ansinnen«, antwortete er.

Als der Paris-Expreß pünktlich um 15 Uhr 30 am 7. Dezember 1940 auf Gleis III in den Gare St. Charles einlief, sah ein Mann von 37 Jahren aus dem herabgelassenen Fenster eines Erstklaßabteils. Paul de Lesseps hatte ein mageres Gesicht mit scharfen Zügen, kalte Haifischaugen und aschblondes, schütteres Haar.

Suchend glitt sein Blick über den Bahnsteig. Dann sah er den rundlichen, auffällig gekleideten Anwalt Bergier, der neben einem kleinen Koffer stand.

Paul de Lesseps hob eine Hand.

Jacques Bergier hob eine Hand.

Der Zug hielt. Bergier eilte auf den Waggon seines Freundes zu. Danach ging alles sehr schnell. Ehe ein einziger Passagier aussteigen konnte, traten aus der Menge dreißig Kriminalbeamte in Zivil von beiden Seiten an die Waggons heran und hoben zwei lange Seile auf, die zu beiden Seiten der Schienen gelegen hatten. So konnte keine Tür des Zuges mehr geöffnet werden, wenn die Beamten es nicht wollten.

Ein Kriminalkommissar sprach Bergier an und verhaftete den kreidebleichen Anwalt unter dem dringenden Verdacht des Gold- und Devisenschmuggels. Den Koffer mit den sieben Goldbarren hielt Bergier noch in der Hand.

Indessen waren zwei weitere Beamte von beiden Enden in den Waggon gestürmt und nahmen Paul de Lesseps in seinem Abteil fest.

Zur gleichen Zeit schritten drei Hausdiener in der grünen Uniform ihres Standes durch einen Gang im vierten Stock des »Hôtel Bristol«. Zwei von ihnen sahen aus wie Leute aus Chantal Tessiers Bande, der dritte sah aus wie Thomas Lieven. Die Uniformen paßten ihnen nicht besonders gut.

Ohne Schwierigkeit öffnete der Hausdiener, der aussah wie Thomas Lieven, die Tür eines bestimmten Appartements. Mit einer bei Angehörigen ihres Standes selten zu erlebenden Hurtigkeit holten die Herren drei riesige Koffer aus dem Schlafzimmer des Appartements, schleppten sie zum Personalaufzug, fuhren mit ihrer Last in den Hof hinab, wuchteten die Koffer in den Laderaum eines Lieferautos der Großwäscherei »Salomon« und fuhren ungehindert davon. Allerdings nicht zu der erwähnten Großwäscherei, sondern zu einem Haus in der Rue Chevalier à la Rose …

Eine Stunde später betrat ein freudestrahlender Thomas Lieven, wieder normal gekleidet, die Wohnung von Jacques Cousteau am Boulevard de la Corderie. Cousteau und Siméon erwarteten ihn. Aus der Aktentasche des lieblichen Herrn Bergier zog Thomas jene Listen, auf denen Spitzel, Kollaborateure und Seelenverkäufer mit genauen Namen und Adressen angeführt waren. Er schwenkte die Blätter triumphierend durch die Luft. Unverständlicherweise rührten Cousteau und Siméon sich kaum.

Beunruhigt fragte Thomas: »Was ist denn los? Haben Sie die beiden?«

Cousteau nickte. »Im Präsidium.«

»Die sieben Barren?«

»Haben wir auch.«

»Na und?«

»Aber sonst haben wir nichts, Monsieur Hunebelle«, sagte Cousteau langsam. Seine Augen ließen Thomas nicht mehr los. Auch Oberst Siméon musterte Thomas sehr seltsam.

»Was heißt das: sonst haben Sie nichts? Lesseps muß doch ein Vermögen an Gold, Devisen und sonstigen Wertsachen bei sich gehabt haben!«

»Ja, das sollte man glauben, nicht wahr?« Cousteau knabberte an seiner Unterlippe.

»Er hatte nichts bei sich?«

»Nicht ein Gramm Gold, Monsieur Hunebelle. Nicht einen Dollar, keine Pretiosen. Ist das nicht drollig?«

»Aber – aber – er wird es versteckt haben! Im Waggon oder sonstwo im Zug. Er wird mit Eisenbahnern zusammengearbeitet haben. Sie müssen den Zug untersuchen! Alle Passagiere!«

»Das haben wir getan. Wir haben sogar die Kohle aus dem Tender schaufeln lassen. Es kam nichts zum Vorschein.«

»Wo ist der Zug jetzt?«

»Weitergefahren, wir konnten ihn nicht länger aufhalten.«

Siméon und Cousteau bemerkten, daß Thomas plötzlich ingrimmig zu lächeln begann, den Kopf wiegte und lautlos die Lippen bewegte. Hätten Siméon und Cousteau sich aufs Lippenlesen verstanden, so hätten sie auch verstanden, was Thomas hauchte, nämlich: »So ein verdammtes Luder!«

Siméon verstand es nicht. Er reckte sich auf, blähte seine Brust und fragte düster, ironisch und drohend: »Na, Lieven – haben Sie vielleicht eine Idee, wo das Gold sein kann?«

»Ja«, sagte Thomas Lieven langsam, »ich glaube, ich habe eine Idee.«



4



Brennendheiße Wut im Leibe, kämpfte Thomas Lieven mit zusammengepreßtem Kiefer und vorgeneigten Schultern gegen einen eiskalten Nordoststurm an, als er in der Dämmerstunde des 7. Dezember 1940 in die Rue de Paradis zu Marseille einbog.

Dieses Luder von einer Chantal!

Dieser Halunke von einem Bastian!

Der Sturm wurde immer ärger. Er orgelte und pfiff, stöhnte und dröhnte durch die Straßen – gerade das richtige Wetter für Thomas Lievens düstere Stimmung.

Neben der alten Börse erhob sich in der Rue de Paradis ein schmutziges, mehrstöckiges Haus. In diesem Haus befand sich im ersten Stock ein gastliches Etablissement, das sich »Chez Papa« nannte. »Chez Papa« gehörte einem Herrn, dessen Familiennamen kein Mensch kannte und den die ganze Stadt »Olive« nannte. Olive war rosig und fett wie die Schweine, die er schwarz schlachtete.

Dicke Rauchschwaden hingen in den Räumen von »Chez Papa«, fluoreszierend schillerte das Licht der Lampen. Zu dieser frühen Abendstunde besprachen Olives Gäste bei einem Apéritif ihre Geschäfte und bereiteten sich seelisch auf ein Schwarzmarkt-Abendessen vor.

Eine Zigarette im Mundwinkel, lehnte Olive hinter der nassen Theke, als Thomas Lieven eintrat. Seine kleinen Augen blinzelten gutmütig: »Bonsoir, Monsieur. Was soll es sein? Ein kleiner Pastis?«

Es war Thomas Lieven zu Ohren gekommen, daß Olive seinen Schnaps selber herstellte, und zwar mit einem etwas unheimlichen Ausgangsprodukt, nämlich mit Spiritus aus dem Anatomischen Institut. Nichts gegen Spiritus! Aber angeblich wurde solcher verwendet, der im Anatomischen Institut bereits zu Konservierungszwecken von Leichenteilen gedient hatte, bevor er gestohlen worden war. Es hieß, daß Olives »Pastis« bei einzelnen Konsumenten akute Anfälle von Irrsinn hervorgerufen hätte.

So sagte Thomas: »Geben Sie mir einen doppelten Kognak, aber echten!«

Er bekam ihn.

»Hören Sie, Olive, ich muß mit Bastian sprechen.«

»Bastian? Kenne ich nicht.«

»Klar kennen Sie ihn. Er hat seine Wohnung hinter Ihrem Lokal. Ich weiß, daß man nur durch Ihre Kneipe zu ihm kommen kann. Ich weiß auch, daß er sich jeden Besucher durch Sie annoncieren läßt.«

Olive blies die Hamsterbacken auf, und seine Augen wurden plötzlich tückisch: »Bist wohl so ein kleiner Scheißer von der Polente, wie? Hau bloß ab, Junge, ich habe hier ein Dutzend Kameraden an der Hand, die dir die Fresse massieren, wenn ich bloß pfeife.«

»Ich bin nicht von der Polente«, sagte Thomas und trank einen Schluck aus dem Kognakglas. Dann zog er seine geliebte Repetieruhr heraus. Er hatte sie durch alle Fährnisse, ja sogar vor der costaricanischen Konsulin gerettet, hatte sie aus Portugal über Spanien glücklich nach Marseille gebracht. Jetzt ließ er sie schlagen.

Der Wirt schaute erstaunt zu. Dann fragte er: »Woher weißt du denn, daß er hier wohnt?«

»Von ihm selber. Los, sag ihm, sein lieber Freund Pierre will ihn sprechen. Und wenn er seinen lieben Freund Pierre nicht sofort empfängt, dann ist in fünf Minuten was los hier …«



5



Mit ausgebreiteten Armen und einem strahlenden Lächeln kam Bastian Fabre auf Thomas Lieven zu. Jetzt standen sie sich gegenüber in dem engen Gang, der die Kneipenküche mit Bastians Wohnung verband. Mit seinen Riesenpfoten schlug er Thomas auf die Schulter. »Ist das aber eine Freude, mein Kleiner! Ich wollte dich gerade suchen gehen!«

»Nimm sofort deine Flossen weg, du Gauner«, sagte Thomas böse. Er stieß Bastian zur Seite und ging in die Wohnung hinein.

Im Vorzimmer sah es ziemlich wüst aus. Autoreifen, Benzinkanister und Zigarettenkartons lagen herum. Im nächsten Zimmer gab es einen großen Tisch und darauf eine komplette elektrische Spielzeugeisenbahn mit gewundenen Schienen, Übergängen, Bergen, Tälern, Tunnels und Brücken.

Höhnisch fragte Thomas: »Hast du hier einen Kindergarten?«

»Das ist mein Hobby«, sagte Bastian beleidigt. »Stütze dich bitte nicht auf das Kästchen, du machst den Transformator kaputt … Sag mal, warum bist du bloß so wütend?«

»Das fragst du noch? Gestern bist du verschwunden. Heute ist Chantal verschwunden. Vor zwei Stunden hat die Polizei die beiden Gestapo-Aufkäufer verhaftet, Herrn Bergier und Herrn de Lesseps. Herr de Lesseps ist mit Gold, Schmuck, Münzen und Devisen in Bandol losgefahren. Aber in Marseille ist er ohne Devisen, Münzen, Schmuck und Gold angekommen. Die Polizei hat den ganzen Zug auf den Kopf gestellt, es kam nichts zutage.«

»Schau mal einer an, na so was!« Bastian grinste vor sich hin und drückte auf einen Knopf der Anlage. Einer der Züge setzte sich in Bewegung und raste auf einen Tunnel zu.

Thomas riß einen Stecker aus der Wanddose. Der Zug blieb stehen. Zwei Waggons lugten noch aus dem Tunnel hervor.

Bastian richtete sich auf, er sah jetzt aus wie ein gereizter Orang-Utan. »Gleich kriegst du eine aufs Zahnfleisch, Kleiner. Was willst du eigentlich?«

»Ich will wissen, wo Chantal ist! Ich will wissen, wo das Gold ist!«

»Na, nebenan natürlich. In meinem Schlafzimmer.«

»Wo?« Thomas schluckte schwer.

»Was hast denn du gedacht, Mensch? Daß sie mit dem Zeug abhaut? Sie wollte nur alles noch ein bißchen hübsch arrangieren, mit Kerzen und so, damit du eine besondere Freude hast.« Bastian hob die Stimme und rief: »Bist du soweit, Chantal?«

Eine Tür ging auf. Schöner denn je stand Chantal Tessier da. Enganliegende Hosen aus grünem, rauhem Leder trug sie, eine weiße Bluse, einen schwarzen Gürtel. Ihre Raubtierzähne leuchteten in einem strahlenden Lächeln.

»Tag, mein Süßer«, sagte sie und nahm Thomas an der Hand. »Komm mit. Jetzt wird der kleine Junge beschert!«

Willenlos folgte Thomas ihr in das Nebenzimmer. Hier brannten fünf Kerzenstummel, die Chantal auf Untertassen befestigt hatte. Ihr weiches Licht erhellte das altmodische Schlafzimmer mit dem gewaltigen Doppelbett.

Als Thomas diese Ruhestatt näher besah, schluckte er mühsam und mit enger Kehle. Denn auf dem Bett lagen, gleißend und funkelnd im Licht: gut zwei Dutzend Goldbarren, unzählige Goldmünzen und Ringe, Ketten, Armbänder, moderne und antike, ein uraltes, steingeschmücktes Kruzifix neben einer kleinen, goldeingelegten Ikone und daneben gebündelte Dollarnoten und Pfundnoten.

Thomas Lieven empfand ein Gefühl, als ob seine Beine sich in Gelee verwandelt hätten. In einem Anfall von Schwäche plumpste er auf einen alten Schaukelstuhl, der sich sogleich hurtig mit ihm in Bewegung setzte.

Bastian war neben Chantal getreten, rieb sich die Hände, stieß seine Chefin an und grunzte vor Freude: »Das hat hingehauen! Schau ihn dir an! Ganz käsig ist der Kleine!«

»Ein schöner Tag – für uns alle«, sagte Chantal.

In seiner Benommenheit sah Thomas die beiden Gesichter vor sich wie weiße Bälle auf bewegtem Wasser. Auf und nieder tanzten sie. Er stemmte die Füße gegen den Boden. Der Stuhl hielt an. Deutlich sah er nun die Gesichter Chantals und Bastians: zwei selige Kindergesichter, ohne Falsch, ohne Verstellung, ohne Arglist.

Er stöhnte: »Also habe ich recht gehabt. Ihr habt das Zeug geklaut.«

Bastian wieherte und schlug sich auf den Bauch. »Für dich und für uns! Damit haben wir für den Winter ausgesorgt! Junge, Junge, das ist vielleicht ein Schluck aus der Pulle!«

Chantal eilte zu Thomas und gab ihm viele kleine, aber heiße Küsse. »Ach«, rief sie, »wenn du wüßtest, wie süß du jetzt aussiehst! Zum Fressen! Ich bin ja ganz verrückt nach dir!« Sie setzte sich auf seine Knie, der Stuhl geriet wieder in Bewegung, und eine neue Woge der Schwäche flutete über Thomas hin.

Wie durch ein Meer von Watte drang Chantals Stimme an sein Ohr: »Ich habe den Jungens gesagt: Das Ding müssen wir alleine drehen, dazu ist mein Süßer zu moralisch, dazu hat er zu viele Skrupel! Wir wollen ihn gar nicht belasten damit. Wenn wir die Sore vor ihn hinknallen, wird er sich mit uns freuen!«

Kopfschüttelnd und immer noch schwach forschte Thomas: »Wie seid ihr an die Sore – hm – an das Zeug herangekommen?«

Darüber referierte Bastian: »Na, als ich gestern mit dir bei dem Schw…, bei dem komischen Bergier war, da sagte er doch, sein Kumpel Lesseps säße unten in Bandol mit ’ner Riesenladung. Ich also mit drei Kameraden nix wie runter nach Bandol! Habe da meine Freunde, verstehst du? Ich kriege raus, daß Lesseps mit ein paar Eisenbahnern mauschelt. Hat Schiß vor Kontrollen. Will die Sore unter der Kohle von der Lokomotive verbuddeln, mit der er nach Paris fährt. Im Tender, kapiert?«

Bastian bemühte sich, einen heiseren Lachanfall unter Kontrolle zu bringen. Dann fuhr er fort: »Das haben wir ihn erst mal tun lassen. Dann haben wir ihm ’ne schnuckelige Puppe besorgt für den Abend – der Gockel ist ja Gott sei Dank leichter zu bedienen als sein Freund Bergier. Na, und die Kleine hat ihn weisungsgemäß ordentlich auf Trab gebracht. So ordentlich, daß er am nächsten Morgen noch besoffen und knieweich an die Bahn kam!«

»Hach«, sagte Chantal und fuhr mit ihren roten Krallenfingern leidenschaftlich durch Thomas Lievens Haar.

»Beneidenswert«, kommentierte Bastian traurig diese Szene. Er nahm sich zusammen. »Na ja, und während Herr de Lesseps anderweitig beschäftigt war, spielte ich mit den Kameraden ein bißchen Eisenbahn. Mein Hobby, ich sagte es schon. Gibt so viele Kohlentender auf einem Bahnhof. Sieht einer wie der andere aus.«

»Ließ Lesseps seinen Tender denn nicht bewachen?«

»Doch. Von zwei Eisenbahnern.« Bastian hob die Hände und ließ sie fallen. »Er hat jedem von ihnen einen Goldbarren geschenkt. Da schenkten wir jedem von ihnen noch zwei – wir hatten es ja –, und die Chose war geritzt …«

»Die Macht des Goldes«, sagte Chantal und biß Thomas ins linke Ohrläppchen.

»Chantal!«

»Ja, Süßer?«

»Steh mal auf«, bat Thomas. Sie erhob sich verwirrt und trat neben Bastian. Der legte einen Arm um ihre Schulter. So standen sie reglos, zwei eben noch fröhliche, nun erschrockene Kinder. Und es funkelten die Barren, es glänzten die Münzen, es glitzerten Ketten, Ringe und Steine.

Auch Thomas stand auf. Maßlos traurig sagte er: »Mein Gott, das Herz tut mir weh, weil ich euch jetzt die Freude verderben, euch eure Überraschung kaputtmachen muß. Aber das geht natürlich nicht.«

»Was geht natürlich nicht?« fragte Bastian. Seine Stimme klang flach und trocken.

»Daß wir das Zeug behalten. Wir müssen es Cousteau und Siméon abliefern.«

»Wa-w-wahnsinnig.« Bastians Unterkiefer fiel herab. Er sah Chantal an wie ein ratloser Bernhardiner. »Er ist wahnsinnig geworden!«



6



Chantal stand da und rührte sich nicht. Nur ihr linker Nasenflügel zitterte … Ruhig sagte Thomas: »Ich komme von Siméon und Cousteau. Ich habe mit den beiden eine klare Abmachung getroffen. Sie bekommen die Listen der Spitzel und Kollaborateure, dazu alles, was Bergier und Lesseps hier unten zusammengeraubt, erpreßt und geplündert haben. Wir erhalten das Geld in den drei Schrankkoffern, die wir aus Bergiers Schlafzimmer geholt haben. Das sind immerhin auch fast 68 Millionen.«

»68 Millionen Franc!« schrie Bastian auf und rang die Hände. »Francs! Francs! Wo der Scheinfranc täglich weiter runterrutscht!«

»Und dafür gibst du das hier her?« Ganz leise, fast flüsternd, sprach Chantal und wies auf das Bett. »Da liegen mindestens 150 Millionen an Wert, du Idiot!«

Thomas wurde wütend. »Es sind französische Werte! Werte, die Frankreich gehören, die Frankreich gestohlen worden sind. Das Geld in den Koffern ist Gestapo-Geld, das können wir beruhigt behalten. Aber das hier, der Schmuck, das Kruzifix, das Gold aus der Staatsbank … Gott im Himmel, muß ich euch an eure patriotischen Pflichten erinnern, ich, ein Boche?«

Heiser sagte Bastian: »Das ist unsere Sore. Wir haben sie geklaut. Die Gestapo schaut in den Mond. Ich finde, wir haben genug fürs Vaterland getan!«

Bastian und Thomas stritten weiter. Sie regten sich immer mehr auf dabei. Chantal hingegen wurde immer ruhiger, gefährlich ruhig.

Die Arme in die Seiten gestemmt, die Daumen im Ledergürtel, so wippte sie mit dem rechten Schuh, und ihr linker Nasenflügel zitterte. Sehr leise fiel sie zuletzt Bastian ins Wort: »Reg dich nicht auf. Das ist deine Wohnung. Der kleine Idiot muß hier mal erst rauskommen – und Cousteau und Siméon rein.«

Thomas zuckte die Schultern und ging zur Tür. Mit einem Sprung stand Bastian vor ihm. Er hielt einen schweren Revolver in der Hand. »Wo willst du hin?«

»Chez Papa. Telefonieren.«

»Noch einen Schritt, und ich leg’ dich um.« Bastians Atem kam rasselnd. Klick, machte der Sicherungshebel der Waffe.

Thomas trat zwei Schritte vor. Nun berührte der Lauf des Revolvers seine Brust. Er machte noch zwei Schritte.

Bastian stöhnte und wich zwei Schritte zurück. »Kleiner – sei vernünftig … Ich – ich leg’ dich wirklich um …«

»Laß mich gehen, Bastian.« Thomas machte noch einen Schritt. Bastian stand nun mit dem Rücken gegen die Tür. Thomas griff nach der Klinke.

Bastian ächzte: »Warte doch! – Was werden die Schweine denn machen mit der schönen Sore? Vertun und verschieben und verpulvern – Polizei – Staat – Geheimdienst – Vaterland … Was denn, das sind doch alles nur Ganoven!«

Thomas drückte die Klinke herab; hinter Bastian schwang die Tür auf. Bastian war jetzt kreidebleich. Er starrte Chantal an und ächzte: »Chantal, tu doch was – hilf mir doch … Ich – ich kann ihn doch nicht umlegen …«

Thomas hörte ein Geräusch und drehte sich um. Chantal war auf den Rand des Bettes gesunken. Mit ihren kleinen Fäusten schlug sie auf die Barren, auf das Kruzifix, die Münzen.

Ganz hoch, gebrochen, kam ihre Stimme: »Laß ihn gehen, den Idioten, laß ihn gehen …« Tränen liefen über ihr schönes Katzengesicht, sie weinte verzweifelt. Schluchzend sah sie zu Thomas auf. »Geh schon … Ruf Siméon … Er kann alles holen … Oh, du Schuft, hätt’ ich dich doch nie getroffen – und ich hab’ mich so furchtbar gefreut …«

»Chantal! «

»… ich wollte Schluß machen mit allem – wegziehen mit dir – weit weg, in die Schweiz. Ich hab’ doch nur an dich gedacht … Und jetzt …«

»Chantal, Liebling –«

»Nenn mich nicht Liebling, du Scheißkerl!« schrie sie auf. Dann fiel sie kraftlos vorwärts. Ihre Stirn traf mit einem häßlichen Geräusch den Münzenberg. So blieb Chantal liegen. Sie weinte und weinte, als ob sie niemals mehr würde aufhören können.



7



»Ziehen Sie sich aus«, sagte zu dieser Zeit der hübsche junge Justizwachtmeister Louis Dupont. Er stand im Einlieferungsraum des Polizeigefängnisses in der Präfektur von Marseille. Zwei Gefangene waren eben zu ihm gebracht worden, der rosige, wohlgepflegte und wohlparfümierte Jacques Bergier und der jüngere, hagere Paul de Lesseps.

»Was sollen wir?« fragte Lesseps böse. Seine eiskalten Haifischaugen schlossen sich zu Schlitzen, die Lippen waren zwei blutleere Striche.

»Sie müssen sich ausziehen«, sagte Dupont. »Ich will sehen, was Sie in den Kleidern haben. Und am Körper.«

Bergier kicherte: »Was glauben Sie denn, was wir am Körper haben, junger Freund?« Er trat vor und öffnete seine Weste. »Kommen Sie, durchsuchen Sie mich mal nach Waffen!« Er nahm die Krawatte ab und knöpfte das Hemd auf. Dupont half ihm aus den Ärmeln.

Bergier kreischte: »Nicht doch, junger Freund, ich bin ja so kitzlig!«

»Schluß jetzt«, sagte Paul de Lesseps.

»Eh?« Dupont drehte sich um.

»Ich habe jetzt genug. Rufen Sie den Gefängnisdirektor her. Augenblicklich.«

»Hören Sie mal, in dem Ton …«

Paul de Lesseps’ Stimme war fast nur noch ein Flüstern. »Maul halten. Können Sie lesen? Da!« Er hielt dem jungen Beamten einen Ausweis hin. Es war ein Ausweis in deutscher und französischer Sprache, und das Dokument besagte, daß Herr Paul de Lesseps im Auftrag des deutschen Reichssicherheitshauptamtes arbeitete.

»Ach, bei dieser Gelegenheit«, sagte Bergier und holte mit gezierten Bewegungen aus seiner Gesäßtasche eine malvenfarbene Brieftasche hervor, die nach Juchten duftete. Derselben entnahm er ebenfalls einen Ausweis. Beide Dokumente waren ausgestellt von einem gewissen Walter Eicher, Sturmbannführer, SD Paris.

Hochmütig sprach de Lesseps: »Der Herr Sturmbannführer ist von unserer Verhaftung umgehend in Kenntnis zu setzen. Wenn Sie das nicht augenblicklich in die Wege leiten, haben Sie sich alle Folgen selber zuzuschreiben.«

»Ich – ich verständige meinen Vorgesetzten«, stotterte Louis Dupont. Seit er die Ausweise gesehen hatte, waren ihm die beiden Kerle noch widerlicher geworden. Marseille lag im unbesetzten Frankreich. Aber immerhin … SD … Gestapo … Dupont wollte keinen Ärger. Er griff nach dem Telefonhörer.



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– 7 dez 1940 – 17 uhr 39 – fs von präfektur marseille an kriminalpolizei paris – heute 15 uhr 30 bahnhof saint charles festgenommen 1) paul de lesseps und 2) jacques bergier – wegen gold- und devisenschmuggels – 1) zeigt deutschen sd-Ausweis nr 456 832 serie rot und 2) deutschen sd-ausweis nr 11 165 serie blau – beide ausgestellt von sd-sturmbannführer walter eicher – bitte sofort feststellen ob verhaftete tatsächlich im auftrag des sd arbeiten – ende – ende –



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»De Lesseps? Bergier?« Sturmbannführer Walter Eicher lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und lief rot an. Wütend brüllte er in den Telefonhörer, den er am Ohr hielt: »Jawohl, ich kenne die beiden! Jawohl, sie arbeiten für uns! Geben Sie nach Marseille durch, daß man die Herren festhalten soll. Wir kommen und holen sie ab.«

Der französische Beamte am anderen Ende der Leitung bedankte sich höflich für die Auskunft.

»Nichts zu danken. Heil Hitler!« Eicher knallte den Hörer in die Gabel und brüllte: »Winter!«

Aus dem Nebenzimmer kam sein Adjutant gestürzt. Die Herren gingen ihrer makabren Tätigkeit im vierten Stock einer pompösen Villa der Avenue Foch zu Paris nach. Der Mann, der Winter hieß, schnarrte: »Sturmbannführer?«

»De Lesseps und diese alte Tunte, Bergier, sind in Marseille hochgegangen«, fauchte der Mann, der Eicher hieß.

»Um Gottes willen, wieso?«

»Weiß ich noch nicht. Zum Verzweifeln ist das. Arbeiten wir hier eigentlich nur mit Idioten? Stellen Sie sich vor, wenn Canaris etwas davon erfährt! Das wäre doch ein Fressen für ihn! SD kauft das unbesetzte Frankreich aus!«

Das Reichssicherheitshauptamt und die Abwehrorganisation des Admirals Canaris haßten einander wie ein böser Hund eine böse Katze. Die Befürchtungen des Sturmbannführers Eicher bestanden zu Recht. Er knurrte: »Lassen Sie den schwarzen Mercedes nachsehen, Winter. Wir fahren nach Marseille runter.«

»Heute noch?«

»In einer Stunde, Mensch. Damit wir morgen früh da sind! Wir müssen die beiden Idioten rausholen, bevor sie quatschen!«

»Jawohl, Sturmbannführer!« brüllte Winter. Er schmiß die Tür hinter sich ins Schloß. Immer derselbe Ärger. Ein Scheißberuf ist das. Jetzt kann ich wieder der süßen Zouzou absagen. Zwölf Stunden mit dem Ollen im Wagen. Die Nacht um die Ohren. Zum Heulen.

Vierundzwanzig Stunden später hielt Chantal Tessier in Marseille im Hinterzimmer des Cafés »Brûleur de Loup« eine Betriebsversammlung ihrer Bande ab, bei der es, gelinde gesagt, stürmisch zuging.

Die französischen Schleichhändler und spanischen Paßfälscher, die leichten Mädchen aus Korsika und die Verschwörer und Totschläger aus Marokko, die alle in den vorderen Lokalitäten ihren Geschäften nachgingen, blickten immer wieder mißbilligend zu der Tür im Hintergrund, an welcher eine Tafel mit der Aufschrift baumelte:

GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT

Eine laute geschlossene Gesellschaft war das! Endlich öffnete sich die Tür, und die Kaffeehausgäste (per saldo 500 Jahre Zuchthaus, kulant gerechnet) sahen den ihnen allen wohlbekannten Bastian Fabre in eine Telefonzelle neben der Theke treten. Er machte einen verstörten Eindruck …

Bastian wählte die Nummer des Restaurants »Chez Papa«. Olive, der Wirt, meldete sich. Bastian wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog nervös an seiner schwarzen Zigarre und sagte hastig: »Hier Bastian. Ist der Mann bei dir, der mich gestern nachmittag besucht hat?« Er hatte Thomas aufgefordert, den Ausgang der Sitzung in »Chez Papa« abzuwarten.

Olives Stimme klang überschattet. »Der ist da, ja. Spielt Poker mit meinen Gästen am Stammtisch. Gewinnt dauernd.«

»Ruf mir den Mann mal an den Apparat.« Bastian nahm einen tiefen Zug aus der Zigarre und öffnete die Zellentür, um den Rauch hinauszulassen. Dieser verdammte Pierre – er verdiente es einfach nicht, daß man sich um ihn Sorgen machte.

Vor vierundzwanzig Stunden erst hatte der Kerl diese Brüder vom Geheimdienst herbeigerufen, und die ganze schöne Sore war abgeholt worden. Gott sei Dank, nicht die ganze schöne Sore, dachte Bastian. Während Thomas ans Telefon gegangen war, hatte er mit Chantal schnell noch ein paar Pretiosen und eine erkleckliche Menge Goldmünzen beiseite geräumt … Aber was war das schon, verglichen mit dem millionenschweren Rest? Man durfte gar nicht daran denken …

»Hallo, Bastian! Na, mein Alter, wie steht’s?«

Bastian hörte voller Grimm, wie gleichmütig die Stimme dieses vertrottelten Kerls klang. Er sagte: »Pierre, ich bin dein Freund – trotz allem. Darum einen Rat: Verschwinde. Aber augenblicklich. Es ist keine Minute zu verlieren.«

»Nanu, warum denn?«

»Hier auf der Betriebsversammlung geht alles hinten hinaus. Chantal hat ihren Rücktritt angeboten.«

»Um Gottes willen!«

»Sie hat geweint …«

»Ach, Bastian, wenn du wüßtest, wie peinlich mir das alles ist …«

»Unterbrich mich nicht, Trottel. Sie hat gesagt, daß sie dich liebt – daß sie dich versteht … Darauf ist ein großer Teil der Bande weich geworden …«

»Ah, l’amour! Vive la France!«

»… aber nicht alle. Da ist eine Gruppe um den hinkenden François. Du kennst ihn doch, Pferdefuß nennen wir ihn …«

Thomas kannte ihn nicht, er hatte aber von ihm gehört. »Pferdefuß« war das älteste Mitglied der Bande, er verdankte den Namen zu gleichen Teilen seinem Hinken, seiner Gewalttätigkeit und seinen Methoden bei der Eroberung eines weiblichen Wesens.

»… Pferdefuß ist dafür, dich umzulegen …«

»Charmant.«

»… er hat nichts gegen dich, sagt er, aber dein Einfluß auf Chantal ist verheerend. Du weichst sie auf …«

»Na, na!«

»… du bist der Untergang unserer Bande. Um Chantal zu schützen, sagt er, muß man dich umlegen … Pierre, hau ab! Mach, daß du wegkommst.«

»Im Gegenteil.«

»Was?«

»Hör mal genau zu, Bastian«, sagte Thomas Lieven. Das tat sein Freund, kopfschüttelnd zuerst, zweifelnd sodann, einverstanden zuletzt. Er knurrte: »Na schön, wenn du dir das zutraust. Also dann in zwei Stunden. Aber alles auf deine Verantwortung!« Er hängte auf und ging zurück in das verqualmte Hinterzimmer, in welchem der hinkende François, genannt Pferdefuß, gerade leidenschaftlich dafür plädierte, diesen Jean Leblanc oder Pierre Hunebelle, oder wie er auch immer heißen mochte, in ein besseres Jenseits zu befördern.

»… im Interesse von uns allen«, sagte er eben und stieß dabei die Spitze eines ungemein dünnen, ungemein scharfen Klappmessers in die Tischplatte. Dann fuhr er Bastian an: »Wo warst du?«

»Ich habe mit Pierre telefoniert«, antwortete dieser ungerührt. »Er lädt uns alle zum Essen ein. In zwei Stunden. In meiner Wohnung. Er meint, wir könnten dann alles in Ruhe besprechen.«

Chantal schrie auf. Plötzlich redeten alle durcheinander. »Ruhe!« brüllte der hinkende François. Es wurde still.

»Mut hat der Kerl«, sagte François beeindruckt. Dann lächelte er böse. »Na schön, Kollegen, laßt uns hingehen …«



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»Meine Herren, ich begrüße Sie«, sagte Thomas Lieven. Er küßte der bleichen Bandenchefin, die am Ende ihrer Nervenkraft angelangt war, die Hand.

Die fünfzehn Ganoven drängten in Bastians Wohnung, grinsend zum einen Teil, verbissen und drohend zum anderen. Sie erblickten eine festlich gedeckte Tafel. Mit Hilfe von Olive hatte Thomas sie errichtet – auf Bastians großem Eisenbahntisch. Die Berge, Täler, Brücken, Flüsse und Bahnhöfe hatte er entfernt, aber ein Schienenstrang lief auch noch auf dem weißen Tischtuch von einem Ende der Tafel zum andern, vorbei an Gläsern, Tellern und Bestecken.

»Wohlan«, sprach Thomas händereibend. »Wenn ich die Herrschaften bitten dürfte, Platz zu nehmen. Chantal an der Tête, ich muß aus bestimmten Gründen am anderen Ende der Tafel sitzen. Bitte, meine Herren, machen Sie es sich gemütlich. Verschieben Sie Ihre Mordabsichten noch ein Weilchen.«

Miteinander flüsternd, murmelnd und noch sehr argwöhnisch setzten sich die Männer. Vor Chantals Platz stand eine Vase mit roten Treibhausrosen.

Thomas hatte an alles gedacht …

Olive und zwei seiner Kellner servierten den ersten Gang, Käsesuppe. Thomas hatte sie in der Küche von »Chez Papa« zubereitet. Auch das Geschirr und das Besteck stammten aus der Kneipe. »Gesegnete Mahlzeit«, wünschte Thomas. Er saß am Ende des Tisches. An seinem Platz standen geheimnisvolle Gegenstände. Niemand konnte sie erkennen, da Servietten darüber gedeckt waren. Unter diesen Tuchhügeln endete der Schienenstrang.

Schweigsam verzehrten die Herren die Suppe. Immerhin: Sie waren Franzosen, und sie wußten gutes Essen zu würdigen.

Menu • 8. Dezember 1940

Ein groteskes Essen rettet Thomas Lievens Leben.

Käsesuppe

Kaninchenragout mit breiten Nudeln

Überraschungspastete mit Champignonsauce

Käsesuppe: Man nehme reichlich geriebenen Parmesankäse, weiche ihn in Milch ein und verquirle ihn gründlich. – Man rühre den geriebenen Käse dann vorsichtig, weil er leicht gerinnt, in kochende Fleischbrühe ein, nehme die Suppe vom Feuer und ziehe sie mit Eigelb ab.

Kaninchenragout: Man nehme ein großes junges, gut abgehäutetes Kaninchen und zerhacke es in mittlere Portionsstücke. – Man zerlasse in einer Kasserolle 125 Gramm gewürfelten, durchwachsenen Speck, lasse die Fleischstücke darin von allen Seiten anbraten, füge die Leber, einige kleine Schalotten und feingeschnittene Zwiebeln sowie eine zerdrückte Knoblauchzehe hinzu. – Man streue, sobald alles bräunt, etwas Mehl darüber, verrühre es gut und gieße allmählich mit einem halben Liter kochendem Wasser oder Fleischbrühe auf. Man würze mit Salz, Pfeffer, Gewürzkörnern, Wacholderbeeren und etwas Zitronenschale, gieße die Hälfte einer halben Flasche Rotwein hinzu. – Man lasse das Gericht auf kleiner Flamme schmoren, bis das Fleisch ganz weich ist, gebe dann den Rest des Rotweins hinzu und lasse noch kurz dämpfen. – Man reiche dazu breite Nudeln, die in Salzwasser gekocht und nach dem Abtropfen in Butter geschwenkt wurden.

Überraschungspastete: Man nehme je ein entsprechend der Personenzahl großes Stück Kalbs-, Schweine- und Rinderfilet, die in ihrer Länge dem halben Durchmesser einer großen Tortenform entsprechen.

Man häute das Fleisch gut ab und brate es dann in Butter auf allen Seiten leicht an, salze und pfeffere es. – Man lege Boden und Rand der Tortenform mit Blätterteig aus und ordne die abgekühlten Fleischstücke so an, daß ihre schmalen Enden in die Mitte kommen. – Man nehme die Verteilung des Fleisches so vor, daß möglichst je ein Drittel des Bodens mit einer Fleischsorte belegt ist. – Man markiere oben am Teigrand die Stelle, an der eine Fleischsorte aufhört und die andere anfängt, und übertrage die Markierung gleich auf den daraufgelegten Blätterteigdeckel. Von diesen Stellen aus führe man eine Teigblättchenverzierung zur Mitte hin, so daß eine äußerliche Dreiteilung der Pastete entsteht. – Man schneide zudem aus dem Teig ein Schwein, ein Kalb und ein Rind aus und verziere damit die entsprechenden Drittel, so daß man weiß, welches Fleisch darunter liegt. – Man bestreiche die Pastete mit Eigelb und backe sie bei mittlerer Hitze, bis sie eine schöne goldfarbene Bräunung hat. Man reiche dazu eine Champignonsauce, die folgendermaßen zubereitet wird: Man nehme einige feingehackte Schalotten, dünste sie in Butter leicht an, lasse dann reichlich blätterig geschnittene Champignons mitschmoren. Man streue etwas Mehl darüber, verrühre es gut und fülle dann mit Fleischbrühe auf. Man lasse auf kleiner Flamme dünsten, bis die Pilze weich sind, gebe dann Sahne an die Sauce, die hell geblieben sein muß, würze mit Salz, Pfeffer und etwas Zitronensaft und ziehe mit Eigelb ab. – Man kann nach Belieben noch einen Schuß Weißwein dazugeben.

Chantal ließ Thomas nicht eine Sekunde aus den Augen. Eine ganze Gefühlsskala spiegelte sich in ihren Augen. Pferdefuß aß mit gesenktem Kopf, böse und stumm.

Dann gab es Kaninchenragout. Und dann schleppten Olive und seine Kellner mühsam eine Speise herein, die aussah wie eine überdimensionale Riesentorte. Diese wurde neben Thomas Lieven auf einen Extratisch gestellt.

Nun ergriff Thomas ein gewaltiges Messer. Während er es schärfte, sprach er: »Meine Herren! Ich erlaube mir, Ihnen jetzt eine Novität vorzusetzen, eine eigene Erfindung sozusagen. Es ist mir klar, daß Sie die verschiedensten Temperamente besitzen. Manche unter Ihnen sind sanftmütig und wollen mir vergeben, andere sind Choleriker und wollen mich killen.« Er hob eine Hand. »Bitte, bitte. Über den Geschmack kann man nicht streiten. Aber eben weil man das nicht kann, habe ich mir erlaubt, ein Gericht herzustellen, das jedem Geschmack gerecht wird.« Er wies auf die Torte. »Voilà, die Überraschungspastete!«

Er wandte sich an Chantal: »Liebling, möchtest du Rinds-, Schweine- oder Kalbsfilet?«

»Ka … Ka … Kalbsfilet«, krächzte Chantal. Sie räusperte sich energisch und sagte nun überlaut: »Kalbsfilet!«

»Bitte sehr, bitte gleich.« Thomas betrachtete die Torte scharf, drehte sie ein wenig, schnitt aus einem bestimmten Drittel eine schöne Scheibe Kalbsfilet, eingebacken in Pastetenteig, heraus und legte sie auf einen Teller.

Nun entfernte er die Servietten und enthüllte die Gegenstände neben sich: Bastians elektrische Spielzeuglokomotive und Kohlentender, angehängt ein großer Güterwagen, des weiteren ein Schaltpult zur Bedienung der elektrischen Bahn.

Thomas setzte den Teller mit dem Kalbsfilet auf den Güterwagen und schaltete den Strom ein. Summend fuhr die Lok los und zog Tender, Wagen und Teller über die ganze Tafel, vorbei an fünfzehn staunenden Ganoven. Vor Chantal hielt der Transport. Sie hob den Teller vom Wagen. Ein paar Männer lachten verblüfft, einer klatschte.

Thomas ließ die Lok mit dem leeren Wagen zurückrollen, indessen er gleichmütig fragte: »Der Herr zur Linken von Chantal wünscht?«

Ein wüster Geselle mit Augenklappe verzog den Mund zu einem mächtigen Grinsen und schrie: »Schwein!«

»Schwein, bitte sehr«, sagte Thomas. Wieder fixierte er die Riesenpastete, drehte sie, schnitt aus einem anderen Drittel ein Stück Schweinefilet und beförderte es in der gleichen Weise.

Jetzt wurden die Männer munter. Der Einfall amüsierte sie. Sie redeten durcheinander. Einer schrie: »Mir Rind!«

»Aber gern«, sagte Thomas und bediente ihn. Nun klatschten schon ein paar Männer.

Thomas sah Chantal an. Er kniff ein Auge zu. Da mußte sie wider Willen lächeln. Die Tafelrunde wurde immer lauter, immer ausgelassener. Durcheinander bestellten die Männer. Und immer wieder rollte die kleine Lokomotive über den Tisch.

Zuletzt saß nur noch François, der Pferdefuß, vor einem leeren Teller. Thomas wandte sich an ihn: »Und Sie, Monsieur?« fragte er, während er sein Tranchiermesser neuerlich schärfte.

François sah ihn lange brütend an. Dann erhob er sich langsam und griff in die Tasche. Chantal schrie auf, Bastian zog heimlich seine Pistole, als er sah, daß Pferdefuß plötzlich sein gefürchtetes Messer in der Hand hielt. Blitzend sprang die Klinge heraus. Lautlos machte Pferdefuß einen hinkenden Schritt auf Thomas zu. Noch einen. Und noch einen. Nun stand er vor ihm. Nun war es totenstill. So lange, wie man braucht, um bis zehn zu zählen, sah François dem ruhig stehenden Thomas Lieven in die Augen. Dann grinste er plötzlich und sagte: »Nehmen Sie mein Messer, das ist schärfer. Und geben Sie mir Schwein. Sie elender Hund!«



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Am 8. Dezember 1940 erschienen Sturmbannführer Eicher und sein Adjutant Winter – zivil gekleidet natürlich – in Marseille und verlangten die Übergabe der Herren de Lesseps und Bergier. Sie brachten die beiden sofort nach Paris. Hier erst wurden die Einkäufer gründlich verhört.

Am 10. Dezember 1940 gab der SD Paris eine Fahndungsmeldung an alle seine Dienststellen heraus.

Am 13. Dezember geschah es dann in einem Zimmer des zweckentfremdeten Pariser Hotels »Lutetia«, der Dienststelle der Deutschen Abwehr:

Hauptmann Brenner von der Abteilung III las die Fahndungsmeldung des deutschen Konkurrenzunternehmens. Er las sie einmal flüchtig, stutzte und las sie ein zweites Mal – aufmerksamer.

Ein gewisser Pierre Hunebelle wurde da gesucht; warum, umschrieb das Blatt vage mit »Verrat von SD-Leuten an französische Behörden«.

Und Hauptmann Brenner las noch einmal: Pierre Hunebelle. Schmales Gesicht. Dunkle Augen. Schwarzes, kurzes Haar. Etwa 1,75 groß. Schlank. Im Besitz einer goldenen Repetieruhr, mit der er häufig spielt. Besondere Kennzeichen: kocht gerne.

Hm.

Kocht gerne.

Hm!!!

Hauptmann Brenner rieb sich die Stirn. Da war doch mal … Da gab es doch einmal … Da war doch mal ein General aufs Kreuz gelegt worden von einem Herrn, der gerne kochte. Bei der Eroberung von Paris war das gewesen. Es gab einen Akt darüber …

Akt darüber – Akt darüber …

Eine Stunde später hatte Hauptmann Brenner im Archiv gefunden, was er suchte. Ein dünner Akt war das. Aber die Erinnerung hatte den Hauptmann nicht getrogen. Da stand es: Thomas Lieven, alias Jean Leblanc. Etwa 1,75 groß. Schmales Gesicht. Dunkle Augen. Dunkles Haar. Besitzt eine altmodische goldene Repetieruhr. Besondere Kennzeichen: leidenschaftlicher Koch.

Jagdfieber erwachte in Hauptmann Brenner. Er hatte seine privaten Verbindungen zum SD. Er horchte drei Tage lang herum, dann wußte er, warum der Sturmbannführer Eicher so erbittert hinter Herrn Hunebelle, alias Leblanc, alias Lieven, her war. Grinsend verfaßte Brenner eine Meldung an seinen höchsten Vorgesetzten.

Admiral Wilhelm Canaris las den Bericht des Hauptmanns Brenner in seinem Berliner Büro am Tirpitzufer mit einem immer stärker werdenden Schmunzeln. Die Heiterkeit, die schon seinen Mann in Paris ergriffen hatte, erfaßte auch ihn. Schau mal an, das Reichssicherheitshauptamt! Raubt das unbesetzte Frankreich aus. Das will ich Herrn Himmler mal unter die Nase reiben! Und hereingelegt hat sie ein gewisser Hunebelle, alias Leblanc, alias …

Der Admiral wurde ernst. Er las den letzten Absatz noch einmal. Und ein drittes Mal. Dann rief er seine Sekretärin ins Zimmer: »Liebes Fräulein Sistig, bringen Sie mir doch mal den Akt Thomas Lieven.«

Eine Viertelstunde später lag er vor ihm, ein großes schwarzes Kreuz war auf den oberen Deckel gezeichnet.

Canaris öffnete den Deckel. Er las, was auf dem ersten Bogen stand …

Köln, 4. Dezember 1940

VON: ABWEHR KÖLN

AN: CHEF ABWEHR BERLIN

GEHEIM 135892/VC/40/LV

Aus Lissabon zurückgekehrt, gestatte ich mir ergebenst, Herrn Admiral den Tod des Doppelagenten und Verräters Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, zu melden …

Lange Zeit saß Canaris reglos. Dann nahm er den Hörer ab. Die Stimme des Admirals klang sehr leise, sehr verhangen und sehr gefährlich: »Fräulein Sistig, verbinden Sie mich doch bitte mit der Abwehr Köln. Major Fritz Loos …«



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An dieser Stelle unseres Berichtes halten wir es für richtig, völlig unwichtige Tage zu überspringen, jedoch von einem Abend zu erzählen, der harmonisch und unauffällig begann und dennoch allerschwerste Folgen haben sollte.

Am stürmischen Abend des 28. Dezember 1940 hörte Thomas Lieven die 22.30-Uhr-Nachrichten des Londoner Rundfunks in französischer Sprache. Thomas hörte jeden Abend Radio London, ein Mann in seiner Lage mußte wohlinformiert sein.

Er befand sich in Chantals Schlafzimmer. Seine schöne Freundin lag schon im Bett. Sie hatte das Haar hochgesteckt, und ihr Gesicht war ohne Schminke.

Thomas hatte sie am liebsten so. Er saß bei ihr, und sie streichelte seine Hand, während sie beide der Stimme eines Nachrichtensprechers lauschten:

»… rührt sich in Frankreich vermehrt der Widerstand gegen die Nazis. Gestern nachmittag flog auf der Strecke Nantes–Angers in der Nähe von Varades ein deutscher Truppentransport in die Luft. Die Lokomotive und drei Waggons wurden vollständig vernichtet. Mindestens fünfundzwanzig deutsche Soldaten wurden getötet, weit über hundert wurden zum Teil schwer verletzt.« Noch strichen Chantals Finger über Thomas Lievens Hand.

»… als Vergeltungsmaßnahme haben die Deutschen sofort dreißig französische Geiseln erschießen lassen …«

Chantals Finger hielten an.

»… doch der Kampf geht weiter, und er hat eben erst begonnen. Eine gnadenlose Untergrundbewegung verfolgt und jagt die Deutschen bei Tag und bei Nacht. Wie wir aus zuverlässiger Quelle erfahren, fielen der Résistance in Marseille kürzlich gewaltige Mengen von Gold, Devisen und Wertgegenständen in die Hände, die aus Raub- und Plünderungsaktionen der Nazis stammen. Diese Mittel werden ausreichen, um den Kampf auszudehnen und zu erweitern. Das Attentat von Varades wird nicht das einzige bleiben …«

Thomas war bleich geworden. Er ertrug die Stimme nicht mehr; er schaltete den Apparat ab. Chantal lag still auf dem Rücken und sah ihn an. Und plötzlich konnte er auch ihren Blick nicht ertragen.

Er stöhnte auf und stützte den Kopf in beide Hände. Und in seinem Schädel dröhnte es: fünfundzwanzig Deutsche. Dreißig Franzosen. Über hundert Verwundete. Erst ein Anfang. Der Kampf geht weiter. Finanziert mit gewaltigen Mengen von Nazi-Gold und Nazi-Devisen. Erbeutet in Marseille … Unglück, Blut und Tränen. Finanziert durch wen? Durch wessen Hilfe?

Thomas Lieven hob den Kopf. Immer noch sah Chantal ihn reglos an. Er sagte leise: »Ihr hattet recht – Bastian und du. Wir hätten das Zeug behalten sollen. Ihr hattet einen feinen Instinkt. Siméon und den französischen Geheimdienst betrügen – das wäre bei weitem das kleinere Übel gewesen.«

»Bei allem, was wir bisher angestellt haben, ist noch nie ein Unschuldiger ums Leben gekommen«, sagte Chantal leise.

Thomas nickte. Er sagte: »Ich sehe ein, ich muß mein Leben ändern. Ich habe altmodische Vorstellungen. Ich habe falsche, gefährliche Begriffe von Ehre und Treue. Chantal, weißt du noch, was du mir damals in Lissabon vorschlugst?«

Sie richtete sich schnell auf. »Mein Partner zu werden.«

»Von heute an, Chantal, bin ich’s. Ohne Gnade, ohne Mitleid. Ich habe die Schnauze voll. Ran an die Sore!«

»Süßer, du sprichst ja schon wie ich!«

Sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn wild.

Mit diesem Kuß wurde ein sehr seltsames Bündnis besiegelt, eine Arbeitsgemeinschaft, über die man in Marseille noch heute spricht – und mit Grund. Denn zwischen Januar 1941 und August 1942 wurde der Süden Frankreichs von einem wahren Erdbeben, von einer Sturmflut krimineller Geschehen heimgesucht, die in beinahe märchenhafter Weise eines gemeinsam hatten: Niemand empfand Mitleid mit den Geschädigten.

Das erste Opfer war der Marseiller Juwelier Marius Pissoladière. Wenn es am 14. Januar 1941 in Marseille nicht geregnet hätte, wäre diesem Herrn vielleicht der tragische Verlust von weit über acht Millionen Franc erspart geblieben. Aber ach, es goß in Strömen von morgens bis abends, und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Marius Pissoladières eleganter Laden lag an der Cannebière, der Hauptstraße von Marseille. Monsieur Pissoladière war ein steinreicher Mann, fünfzigjährig, zu Fettleibigkeit neigend, stets nach der letzten Mode gekleidet.

In früheren Jahren hatte Pissoladière seine Geschäfte mit der internationalen Gesellschaft der Riviera abgewickelt. In letzter Zeit war ein neuer Kundenkreis an ihn herangetreten – ein ebenso internationaler. Pissoladière verhandelte mit Flüchtlingen aus allen Ländern, die Hitler überfallen hatte. Pissoladière kaufte den Flüchtlingen ihren Schmuck ab. Sie brauchten Geld, um weiterfliehen, um Beamte bestechen, Einreisegenehmigungen erlangen, falsche Pässe bestellen zu können.

Zu dem Zweck, die Flüchtlinge möglichst elend zu bezahlen, operierte der Juwelier nach einem denkbar einfachen System: Er handelte Tage und Wochen mit den Verkäufern. So lange, bis die Verzweifelten unter allen Umständen Geld haben mußten. Wenn es nach Pissoladière ging, konnte der Krieg ruhig noch zehn Jahre dauern!

Nein, Herr Marius konnte wirklich nicht klagen. Die Geschäfte gingen bestens. Und alles wäre wohl weiter gutgegangen, wenn es am 14. Januar 1941 in Marseille nicht geregnet hätte …

Am 14. Januar 1941, gegen die elfte Vormittagsstunde, betrat ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren das Juweliergeschäft von Marius Pissoladière. Der Herr trug Homburg, kostbaren Stadtpelz, Gamaschen und dezent grau-schwarz gestreifte Hosen. Ach ja, und einen Regenschirm natürlich!

Ergreifend vornehm, dieses schmale, bleiche Aristokratengesicht, fand Pissoladière. Müder Reichtum. Uraltes Geschlecht. Genau das, was der Juwelier bei seinen Käufern liebte …

Pissoladière war allein im Laden. Händereibend, mit untertänigem Blick, verbeugte er sich vor seinem Kunden und wünschte einen guten Morgen.

Der elegante Herr erwiderte Pissoladières Gruß durch ein müdes Neigen des Kopfes und hängte seinen Schirm (mit der Bernsteinkrücke) an die Kante der Ladentheke.

Als er redete, erwies sich seine Sprache ein wenig provinziell akzentuiert. Aristokraten, überlegte Pissoladière, tun das wohl, um ihre soziale Gesinnung zu dokumentieren. Menschen wie du und ich. Großartig! Der Herr sprach: »Ich möcht’ bei Ihnen – hm, ein bißchen Schmuck kaufen. Man sagte mir im ›Bristol‹, daß Sie so was in guter Auswahl hätten.«

»Den schönsten Schmuck von Marseille, Monsieur. Und woran haben Monsieur gedacht?«

»Na ja, halt an ein – hm – Armband mit Brillanten oder so was …«

»Haben wir in allen Preislagen. Was wollen Monsieur etwa anlegen?«

»So zwischen – hm – zwei und – hm, drei Millionen«, erwiderte der Herr und gähnte.

Donnerwetter, dachte Pissoladière. Der Morgen hat es in sich! Er trat an einen großen Tresor, stellte das Kombinationsschloß ein und sagte dabei: »In dieser Preislage gibt es natürlich schon sehr schöne Stücke.«

Die dicke Stahltür schwang zurück. Pissoladière wählte neun Brillantarmbänder aus und legte sie auf ein schwarzes Samttablett. Mit diesem trat er vor den Kunden.

Die neun Armbänder glitzerten und brannten in allen Farben des Regenbogens. Der Herr betrachtete sie lange schweigend. Dann nahm er ein Bracelet in die schmale, wohlmanikürte Hand. Es war ein besonders schönes Stück mit kostbaren, flachen Baguetten und sechs zweikarätigen Steinen.

»Wie teuer – hm – ist das hier?«

»Drei Millionen, Monsieur.«

Drei Millionen Franc waren 1941 etwa 150 000 Mark. Das Armband stammte von der Gattin eines jüdischen Bankiers aus Paris. Pissoladière hatte es für 400 000 Franc erhandelt, besser: herausgepreßt.

»Drei Millionen ist zuviel«, sagte der Herr.

Pissoladière erkannte daran sogleich den versierten Schmuckkäufer. Nur Laien akzeptieren den Preis widerspruchslos, den ein Juwelier ihnen zuerst nennt. Ein gewaltiges Handeln begann, ein zähes Hin und Her.

Da öffnete sich die Ladentür. Pissoladière sah auf. Ein zweiter Gentleman kam herein. Weniger wohlhabend gekleidet als der erste – aber immerhin, immerhin. Zurückhaltend. Dezent in Kleidung und Auftreten. Fischgrätenmustermantel. Gamaschen. Hut. Regenschirm.

Eben wollte Pissoladière den zweiten Herrn ersuchen, ein wenig zu warten, da sagte dieser: »Ich brauche nur ein neues Armband für meine Uhr.« Und damit hängte er seinen Regenschirm, so dicht es ging, neben den Regenschirm des Herrn im Stadtpelz, den er scheinbar noch nie im Leben gesehen hatte.

Und in diesem Moment war Marius Pissoladière sozusagen bereits verloren, verraten und verkauft …



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Die beiden Herren, die einander am Vormittag des 14. Januar 1941 in Pissoladières Juweliergeschäft so fremd gegenübertraten, waren in Wirklichkeit uralte Freunde. Sie hatten sich nur in den letzten zwei Wochen äußerlich und innerlich von Grund auf verwandelt.

Vor zwei Wochen noch pflegten die beiden Herren wie Droschkenkutscher zu fluchen, auf den Boden zu spucken, knallgelbe Schuhe und Jacken mit übertrieben auswattierten Schultern zu tragen.

Bis vor zwei Wochen waren ihre Fingernägel immer schwarz und ihre Haare immer zu lang gewesen. Einen halben Monat zuvor hatten sich die beiden Herren noch als deutliche Angehörige jener geheimnisumwobenen asozialen Kaste durchs Leben bewegt, die der gute Bürger gemeinhin schaudernd »die Unterwelt« nennt.

Wem wohl fiel das Verdienst zu, in so kurzer Zeit und im Rahmen eines allerdings anstrengenden Schnellkurses aus zwei alten Ganoven zwei neue Herren zu machen – wem wohl?

Der geneigte Leser hat es erraten: einem gewissen Pierre Hunebelle, alias Jean Leblanc, alias Thomas Lieven.

Um die beiden Ganoven zunächst seelisch auf den geplanten Fischzug bei dem Juwelier Pissoladière vorzubereiten, hatte Thomas Lieven zwei Wochen zuvor ein Essen gegeben.

Das Mahl wurde in einem Hinterzimmer bei »Chez Papa« serviert, dem berühmt-berüchtigten Schwarzschlächterlokal in der Rue de Paradis, neben der Börse. Außer Thomas Lieven und seiner Geliebten, der schönen Bandenchefin Chantal Tessier, erschienen zu dem Essen nur die erwähnten beiden Ganoven – in ihrer ursprünglichen Gestalt und unter ihrem richtigen Namen: Fred Meyer und Paul de la Rue.

Sie gehörten seit Jahren zu der Bande, aber sie waren im Außendienst beschäftigt, in Toulouse. Chantals Organisation hatte Filialen. Es war ein gesund aufgebautes Unternehmen.

Paul de la Rue, Hugenotten-Nachfahre, war groß und schlank und von Beruf gelernter Bilderfälscher. Er sprach mit südfranzösischem Akzent. Trotz aller Ungepflegtheit hatte sein schmaler Schädel etwas Aristokratisches.

Fred Meyers erlernter Beruf war der eines Kassenschränkers. Er hatte auch auf den Fachgebieten Einbruch, Hoteldiebstahl und Zollbetrug dilettiert, und er sprach ebenfalls mit dem Akzent südfranzösischer Volksgenossen.

Händereibend und grinsend waren Paul und Fred zu Thomas und Chantal gekommen. Der Hugenotten-Abkomme rülpste: »Wollen wir noch ’nen kleinen Pastis trinken vorm Fressen, wie?«

»Vor dem Essen«, erwiderte Thomas Lieven eisig, »werden die Herren keinen kleinen Pastis trinken, sondern sich hinunter zum Friseur begeben. Rasieren. Haare schneiden. Hals und Hände waschen. In einem derartigen Zustand geht man nicht zu Tisch.«

»Ta gueule«, knurrte Fred, der, ebenso wie Paul, diesen Pierre Hunebelle noch nicht näher kannte. »Du kannst uns mal, Chantal ist die Chefin.«

Mit schmalen Lippen antwortete Chantal darauf: »Ihr tut, was er sagt. Geht zum Friseur. Sauerei, wie ihr ausseht.« Knurrend zogen die beiden ab.

Allein mit Thomas, bewies Chantal, daß sie ihm zuliebe zwar gewisse Eigentümlichkeiten der Kleidung aufgegeben hatte, sich aber im Inneren treu geblieben war. Wie eine Wildkatze fauchte sie ihn an: »Ich wollte dich nicht bloßstellen. Das wäre nämlich das Ende meiner Autorität vor den Brüdern, wenn es auch noch heißt, ich krache mich mit dir! Aber das ist immer noch meine Bande, kapiert?«

»Tut mir leid, dann wollen wir die Sache lieber lassen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich bin nicht dein Angestellter. Wir sind entweder gleichberechtigte Partner – oder gar nichts.«

Sie sah ihn aus halbgeschlossenen Augen an. Sie murmelte etwas Unverständliches. Dann stieß sie mit der Faust gegen seine Schulter und knurrte, halb gereizt, halb belustigt: »Also gut – du verfluchter Hund!« Und hastig: »Bilde dir bloß keine Schwachheiten ein – von wegen, daß ich mich in dich verknallt habe oder so! Da müßte ich aber wirklich lachen. Ich brauche einfach noch ’nen guten Mann, das ist alles. Klar?«

»Klar«, sagte Thomas. Und blinzelte. Und dann tranken sie einen uralten Kognak zur Versöhnung.

Nach einer Dreiviertelstunde kamen Paul und Fred zurück. Sie sahen jetzt viel manierlicher aus. Bei der Vorspeise erklärte Chantal: »Mal herhören. Wer gegen Pierre was sagt, kriegt es mit mir zu tun, verstanden?«

»Was denn, Chantal, du hast doch noch nie …«

»Schnauze! Pierre ist mein Partner.«

»Oh, heilige Neune, Puppe, dich hat’s aber bös erwischt«, bemerkte der Schränker. Im nächsten Moment hatte er eine schallende Ohrfeige weg, und Chantal zischte: »Kümmere dich um deinen Mist!«

»Man wird doch noch reden dürfen«, maulte Fred.

»Einen Dreck darf man dürfen!« Chantal hatte trotz ihrer Widerspenstigkeit schon einiges von Thomas gelernt: »Friß lieber anständig, du Ferkel! Hat man Töne? Zerschneidet der Kerl die Spaghetti mit dem Messer!«

»Wenn mir das Zeug doch immer wieder von der verflixten Gabel rutscht!«

Menu • 3. Januar 1941

Mit Eßkultur »organisierte« Thomas Lieven

Edelsteine und Platin …

Spaghetti Bolognese

Koteletts Robert mit Pommes frites

Sachertorte

Spaghetti Bolognese: Man nehme auf ein Pfund Spaghetti ein halbes Pfund Fleisch, am besten Rind, Schwein und Kalb gemischt, und schneide es in Würfelchen. – Man nehme die gleiche Menge in feine Ringe geschnittene Zwiebeln, dünste sie in Öl oder Butter an und lasse dann das Fleisch, eine zerdrückte Knoblauchzehe und gehackte Suppenkräuter mitschmoren. Wenn alles gut angebraten ist, füge man enthäutete und entkernte Tomaten oder Tomatenmark hinzu und lasse alles zusammen auf kleinster Flamme möglichst lange dünsten, bis eine sämige Sauce entstanden ist. – Dann lasse man die in Salzwasser nicht zu weich gekochten, auf einem Seiher mit kaltem Wasser überspülten, gut abgetropften Spaghetti in der mit Salz und Pfeffer abgeschmeckten Sauce heiß werden. – Man reiche geriebenen Parmesankäse zu dem Gericht.

Koteletts Robert: Man nehme mittelstarke Schweinekoteletts, kerbe den Fettrand etwas ein und klopfe sie. Man lege sie ohne Fetteingabe in eine sehr heiß gemachte Eisenpfanne. Man lasse die Koteletts auf jeder Seite etwa drei Minuten braten, salze und pfeffere sie, gebe ein großes Stück Butter in die Pfanne und lasse sie darin auf jeder Seite noch eine Minute braten. Man nehme die Koteletts heraus und lege sie auf eine vorgewärmte Platte. – Inzwischen hat man zu gleichen Teilen Rotwein und saure Sahne mit einem Eßlöffel scharfem Senf verrührt. Nun gieße man das Gemisch in eine Pfanne und koche den Bratfond kurz damit auf. – Man gieße diese Sauce über die fertigen Koteletts und serviere sie sofort mit Pommes frites.

Pommes frites: Man nehme roh geschälte Kartoffeln, schneide sie in halbfingerlange, bleistiftdicke Stäbchen, wasche sie und trockne sie mit einem Tuch gut ab. – Man gebe sie in kleinen Mengen in einen Topf mit heißem Schmalz oder Öl und nehme sie mit einem Sieb heraus, sobald sie sich zu färben beginnen, lasse sie abtropfen und abkühlen. – Man mache kurz vor dem Anrichten das Fett wieder sehr heiß, lege die Kartoffelstifte nochmals hinein und lasse sie jetzt schön goldgelb fertigbacken. Man lasse sie auf Löschpapier gut abtropfen, bestreue sie mit feinem Salz und richte sie an.

Sachertorte: Man nehme 125 Gramm Butter und rühre sie schaumig, gebe 150 Gramm Zucker, 150 Gramm Mehl, fünf Eigelb, etwas Vanille und zuletzt 150 Gramm im Wasserbad geschmolzene Schokolade dazu. – Man verrühre alles sehr gut, ziehe den Schnee der fünf Eiweiß darunter, fülle die Masse in eine Tortenform und lasse sie eine halbe Stunde bei mittlerer Hitze backen. – Man nehme für den Tortenguß 90 Gramm geschmolzene Schokolade, 125 Gramm Puderzucker und zwei Eßlöffel heißes Wasser, die man auf dem Feuer tüchtig verrührt. – Man bestreiche die fertig gebackene Torte mit Aprikosenmarmelade, gieße die Glasur darüber und lasse sie eine Minute im heißen Ofen erhärten. Die Torte muß gut ausgekühlt sein, ehe man sie serviert.

»Erlauben Sie einen Tip«, sprach Thomas freundlich. »Wenn es Ihnen schon nicht möglich ist, die Spaghetti mit der Gabel auf zudrehen, dann spießen Sie mit der Gabel zunächst nur einen Mundvoll auf, nehmen mit der linken Hand den Löffel und drücken die Gabelzinken gegen seine Innenseite. So.« Thomas demonstrierte. »Nun drehen Sie die Gabel. Sehen Sie, wie gut das geht?«

Fred machte es nach. Es funktionierte.

»Meine Herren«, sagte Thomas, »in der Tat wird es notwendig sein, daß wir uns ausführlich über gute Manieren unterhalten. Gute Manieren sind das A und O jedes ordentlichen Betruges. Haben Sie schon einmal einen Bankier mit schlechten Manieren erlebt?« – Einen Bankier! Lieber Gott, ich darf gar nicht daran denken. Meine Bank in London. Mein Club. Mein schönes Heim. Vorbei. Vorbei. Vom Winde verweht.

»Gute Manieren, jawohl«, sagte Chantal gebieterisch. »Hier weht jetzt überhaupt ein anderer Wind, kapiert? Mein Partner und ich haben alles besprochen. Wir holen uns die Sore … ich meine, unsere Aktionen gelten nicht mehr jedem x-beliebigen …«

»Sondern?«

»Sondern nur noch Schweinen, die’s verdienen. Nazis, Kollaborateuren, Geheimagenten, egal welchen. Als ersten nehmen wir also diesen Pissoladière …«, begann Chantal und unterbrach, weil Olive, der dicke Wirt, persönlich das Hauptgericht brachte.

Olive liebte Thomas für dessen Kochkünste und strahlte ihn an: »Die Pommes frites selbstverständlich zweimal ins Öl geworfen, Monsieur Pierre!«

»Das habe ich auch nicht anders erwartet«, sagte Thomas herzlich. – Großer Gott, mehr und mehr gefällt mir diese Unterwelt. Wie soll das weitergehen mit mir, wenn das so weitergeht?

Thomas verteilte die Koteletts und hob sofort die Augenbrauen. »Monsieur de la Rue, Sie benützen ja die Tortengabel!«

»Da soll sich aber auch einer auskennen mit dem ganzen Teufelsbesteck!«

»Was das Besteck betrifft, meine Herren«, sagte Thomas, »so arbeite man sich stets von außen nach innen. Was man an Besteck zum letzten Gang benötigt, liegt dem Teller am nächsten.«

»Die Rattenkeller möchte ich sehen, in denen ihr aufgewachsen seid«, sagte Chantal hoheitsvoll. Und ganz fein zu Thomas: »Sprich bitte weiter, chéri.«

»Meine Herren, in Verfolgung unserer geänderten Statuten haben wir, wie gesagt, als ersten den Juwelier auf dem Kieker, will sagen, vorgemerkt. Einen ganz üblen Burschen … Monsieur Meyer – also es ist vollkommen unmöglich, daß Sie das Kotelett in die Hand nehmen und den Knochen abnagen! Wo bin ich stehengeblieben?«

»Pissoladière«, soufflierte Chantal. Jetzt sah sie Thomas sehr verliebt an. Manchmal liebte sie ihn, manchmal haßte sie ihn. Ihre Gefühle wechselten jäh, sie kannte sich selbst nicht mehr ganz genau aus. Ganz genau wußte sie nur, daß sie ohne diesen Hund, diesen elenden Hund, nicht mehr leben wollte.

»Pissoladière, richtig.« Thomas erklärte, was für ein übler Bursche der Juwelier war. Dann fuhr er fort: »Ich hasse Gewalt. Blutvergießen lehne ich ab. Einbruch durch die Decke, Überfall mit vorgehaltener Pistole und so weiter kommen also überhaupt nicht in Frage. Glauben Sie mir, meine Herren: Die neue Zeit verlangt neue Methoden. Nur die Phantasievollen werden überleben. Die Konkurrenz ist einfach zu groß. Monsieur de la Rue, man nimmt die Pommes frites nicht in die Hand, man benützt die Gabel.«

Fred Meyer erkundigte sich: »Und wie holen wir dem Pissoladière also die Sore raus?«

»Mit Hilfe von zwei Regenschirmen.«

Olive brachte den Nachtisch.

»Damit die Herren sich gleich daran gewöhnen«, sagte Thomas, »Torte wird mit der kleinen Gabel gegessen und nicht mit dem Löffel.«

Chantal sagte: »Ihr zwei werdet ordentlich ochsen müssen in den nächsten Tagen. Da ist nichts mit Sauferei und Zocken und Weibern, verstanden?«

»Herrgott, Chantal, wenn wir schon einmal in Marseille sind …«

»Erst der Coup, dann das Vergnügen, meine Freunde«, sagte Thomas. »Sie müssen lernen, wie sich Herren anziehen, wie Herren gehen, stehen und sprechen. Möglichst ohne Akzent! Und Sie müssen lernen, wie man Gegenstände unauffällig verschwinden läßt.«

»Wird kein Honiglecken sein, das kann ich euch sagen!« rief Chantal. »Ihr steht meinem Partner von morgens bis abends zur Verfügung …«

»Nur nicht nachts«, sagte Thomas und küßte ihre Hand. Sofort wurde sie dunkelrot und ärgerlich und schlug nach ihm und rief: »Ach, laß das doch – vor den Leuten, Mensch! Unausstehlich, diese Handküsserei!« Und die Bestie Chantal funkelte ihn an.

Tja, das wäre eigentlich alles. Nun können wir ohne Bedenken zum 14. Januar 1941 und jenem Augenblick zurückkehren, in welchem ein unfaßbar veränderter Fred Meyer im Juweliergeschäft des Marius Pissoladière seinen Schirm neben den Schirm eines unfaßbar veränderten Paul de la Rue hängte …



14



Danach ging eigentlich alles sehr schnell.

Der Juwelier legte Fred Meyer am unteren Ende des Ladentisches eine Reihe von Uhrbändern vor. Am oberen Ende des Ladentisches stand Paul de la Rue, über die neun funkelnden Brillanten-Bracelets geneigt. Die beiden Schirme hingen neben ihm.

So wie er es stundenlang unter der Aufsicht von Thomas Lieven geübt hatte, ergriff er nun geräuschlos das Armband, dessen Erwerb drei Millionen Franc kosten sollte, neigte sich vor und ließ es geräuschlos in den leicht geöffneten Schirm seines Freundes Meyer fallen. Die Schirmstreben waren vorher natürlich mit Watte umwickelt worden. Dann ergriff er noch zwei weitere Brillantarmbänder und verfuhr mit ihnen in der gleichen Weise.

Danach wanderte er weit von den Schirmen fort bis zum Ende des Ladens, wo es goldene Armreifen zu bewundern gab. Paul de la Rue bewunderte sie. Dabei strich er mit der rechten Hand über sein neuerdings gepflegtes Haar.

Auf dieses vereinbarte Zeichen hin entschloß sich Fred Meyer ungemein rasch zum Erwerb eines Uhrenarmbandes im Wert von 240 Franc. Er zahlte mit einem Fünftausendfrancschein.

Juwelier Pissoladière schritt zur Kasse. Er registrierte den Preis, holte Wechselgeld heraus und rief dabei zu Paul de la Rue hinüber: »Ich stehe sofort wieder zu Ihren Diensten, Monsieur!«

Pissoladière gab dem Uhrenarmbandkäufer heraus, dieser nahm seinen Regenschirm und verließ den Laden. Hätte der Juwelier ihm nachgeschaut, dann hätte er bemerkt, daß der Uhrenarmbandkäufer trotz strömenden Regens seinen Schirm nicht aufspannte. Vorerst wenigstens …

Eilenden Fußes kehrte Pissoladière zu seinem aristokratischen Kunden zurück. Er sprach: »Und nun, Monsieur …« Aber er sprach nicht weiter. Er sah mit einem Blick, daß drei der wertvollsten Bracelets fehlten.

Zunächst glaubte der Juwelier noch an einen Scherz. Degenerierte Aristokraten haben manchmal solche Anwandlungen makabren Humors. Er lächelte Paul de la Rue schief an, machte: »Haha«, und sagte: »Monsieur, haben Sie mich erschreckt!«

Von Thomas Lieven ausgezeichnet trainiert, hob Paul unnachahmlich seine Augenbrauen und forschte: »Wie meinen Sie? Ist Ihnen nicht gut?«

»Nicht doch, Monsieur, Sie treiben den Scherz zu weit. Bitte, legen Sie die drei Armbänder wieder aufs Tablett.«

»Sagen Sie mal, sind Sie betrunken? Sie meinen, ich hätte drei Armbänder … Ach so, tatsächlich, wo sind denn die drei schönen Stücke?«

Jetzt lief Pissoladière blaurot an. Seine Stimme wurde schrill: »Mein Herr, wenn Sie nicht sofort die Stücke hier auf den Tisch legen, muß ich die Polizei alarmieren!«

Daraufhin fiel Paul de la Rue etwas aus seiner Rolle. Er begann zu lachen.

Das Gelächter nahm dem Juwelier den letzten Rest von Beherrschung. Mit einem Griff hatte er jene Taste unter dem Ladentisch erreicht, die den Diebesalarm auslöste. Krachend fielen vor den Auslagen, der Eingangstür und dem Hinterausgang schwere Stahlgitter herab.

Marius Pissoladière hatte plötzlich einen großen Revolver in der Hand und kreischte: »Hände hoch! Keinen Schritt … Keine Bewegung!«

Lässig antwortete Paul de la Rue, die Hände hochnehmend: »Sie armer Irrer, das wird Ihnen noch leid tun.«

Wenig später erschien das Überfallkommando.

In größter Seelenruhe präsentierte Paul de la Rue einen französischen Reisepaß, lautend auf den Namen Vicomte René de Toussant, Paris, Square du Bois de Boulogne. Es war ein einwandfrei gefälschter Paß, die besten Kräfte des »Alten Viertels« hatten sich um ihn bemüht. Trotzdem zogen die Kriminalbeamten Paul de la Rue bis auf die Haut aus, durchsuchten seine Kleider und trennten die Nähte des Mantels auf.

Es war alles umsonst. Nichts kam zutage, nicht ein einziger Brillant, nicht ein einziger Splitter der drei verschwundenen Bracelets.

Die Beamten verlangten von dem falschen Vicomte den Nachweis, daß er überhaupt in der Lage gewesen wäre, drei Millionen zu bezahlen.

Lächelnd bat der Verdächtige, den Direktor des »Hôtel Bristol« anzurufen. Der Direktor des »Hôtel Bristol« bestätigte, daß der Vicomte im Hotelsafe einen Betrag von sechs Millionen deponiert hätte! Kunststück! Paul de la Rue war natürlich wirklich im »Bristol« abgestiegen und hatte sechs Millionen – Bandenkapital – im Safe deponiert!

Die Kriminalbeamten wurden nun schon bedeutend höflicher.

Als schließlich die Pariser Polizei auf ein entsprechendes Fernschreiben antwortete, am Square du Bois de Boulogne residiere tatsächlich ein Vicomte René de Toussant, sehr vermögend, Verbindungen zu den Nazis und zu der Vichy-Regierung, zur Zeit abwesend von Paris, wahrscheinlich in Südfrankreich, da ließ die Polizei Paul de la Rue mit vielen Entschuldigungen frei.

Völlig gebrochen, kalkweiß im Gesicht, stammelte auch der Juwelier Marius Pissoladière sein Bedauern hervor.

Der unauffällige Uhrenarmbandkäufer, von dem Pissoladière nur eine sehr schlechte Beschreibung geben konnte, war und blieb verschwunden …

All dies hatte Thomas Lieven vorausgesehen, als er Paul de la Rue seiner Erscheinung wegen aussuchte und einen Paß auf den Namen des Vicomtes fälschen ließ.

Mitgeholfen allerdings hatte der »Perpignan-Bote« vom 2. Januar 1941. Denn unter der Rubrik AUS DEN LANDKREISEN hatte Thomas ein Bild des nazifreundlichen Aristokraten und diesen Bericht gefunden:

»Vicomte René de Toussant, Industrieller aus Paris, ist zur Kur in dem malerischen Städtchen Font Romeu an der Pyrenäengrenze eingetroffen …«

Die Sache mit dem Regenschirm war in Marseille natürlich nicht mehr zu wiederholen. So etwas spricht sich ja schließlich herum. Dafür wurde es in Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Avignon und Béziers lebendig. In diesen Städten machten in der nächsten Zeit Juweliere und Antiquitätenhändler trübe und verlustreiche Erfahrungen mit beschirmten Herren. Aber merkwürdigerweise stets nur solche, die einen ähnlich trüben und schäbigen Charakter wie Marius Pissoladière aufwiesen.

Dies, wir sagten es schon, war das gemeinsame Symptom aller Anschläge: Die Geschädigten taten keinem Menschen leid. Im Gegenteil! Im Süden des Landes begann man zu flüstern, daß hier eine ganz eigenwillige Art von Untergrundbewegung am Werk sei, angeführt von einer Art Robin Hood.

Durch eine Verkettung von Umständen geriet die Polizei auf eine falsche Spur, woran Thomas Lieven nicht ganz schuldlos war. Die Polizei glaubte, die Urheber der frechen Juwelendiebstähle wären in den Reihen der »Glatzenbande« zu suchen.

Eine der alteingesessenen Organisationen von Marseille wurde von einem gewissen Dantes Villeforte angeführt, einem Korsen, der aus naheliegenden Gründen den Spitznamen »Die Glatze« erhalten hatte.

Dann passierte die Sache mit den Flüchtlingstransporten nach Portugal. Auch Villeforte und seine Leute waren da ins Geschäft eingestiegen. Aber nun aktivierte Chantal ihr »Transportunternehmen« plötzlich enorm. Doch was sie machte, widersprach allen Regeln der Zunft. Sie verfuhr nach der völlig zu Unrecht veralteten Devise: Kleine Preise – großer Umsatz – guter Gewinn. Beziehungsweise sogar: Fliehen Sie gleich – bezahlen Sie später.

Man kann verstehen, daß »Die Glatze« nicht eben besserer Laune wurde, als Chantal ihm völlig das Geschäft verdarb. Denn zu ihr strömten nun die Kunden, zur »Glatze« kam kaum einer mehr.

Dann hörte »Die Glatze« plötzlich, daß all diese Neuerungen dem Weitblick und der Intelligenz von Chantals Geliebtem zuzuschreiben seien. Diesem Mann vertraute Chantal vollkommen. Dieser Mann war angeblich das Gehirn der Bande – ein vorzügliches Gehirn, wie es schien.

»Die Glatze« beschloß, sich um diesen Mann von nun an ein wenig zu kümmern.



15



Thomas Lieven residierte weiter im »Alten Viertel« von Marseille bis zu einem unheilvollen Gewitterabend im September des Jahres 1942. Er lebte bei Chantal Tessier. Die seltsame Haßliebe dieser beiden Menschen wurde immer leidenschaftlicher, immer intensiver.

Stürmisch um den Hals beispielsweise fiel die schöne Bestie ihrem kochgewandten Freund nach einem gelungenen Coup – dasselbe Hotel zweimal an deutsche Aufkäufer verkauft – im Februar 1941. Jedoch nur, um im nächsten Atemzug zu versichern: »Du widerst mich an mit deinem überlegenen Lächeln! Diese Überheblichkeit! Glaubst du, du hast alles allein gemacht, was? Wir sind bloß kleine, idiotische Kröten! Ich will dir mal was sagen: Dein Grinsen reicht mir jetzt! Ich will dich nie mehr sehen, nie mehr, hau ab!«

Also zog Thomas gottergeben zu seinem Freund Bastian. Kaum war er zwei Stunden in dessen Wohnung, da rief Chantal an. »Ich habe hier Blausäure, Veronal und einen Revolver. Wenn du nicht sofort zu mir kommst, bin ich morgen früh eine Leiche.«

»Aber du hast doch gesagt, du willst mich nie mehr sehen!«

»Du Hund – du verfluchter Hund, ich krieg’ keine Luft mehr, wenn du nicht da bist …«

Thomas kehrte umgehend heim in die Rue Chevalier à la Rose. Es gab eine Versöhnung, von der er sich zwei Tage lang erholen mußte. Danach widmete sich unser Freund mit voller Kraft der selbstgestellten Aufgabe, die Bösen im Lande zu schädigen – und dabei einen Haufen, aber wirklich einen Haufen Geld zu verdienen.

Weil das Leben Thomas Lievens so überreich angefüllt ist mit Gefahren, tollkühnen Streichen und schönen Frauen, sehen wir uns gezwungen, ökonomisch vorzugehen. Aus der Fülle seiner Unternehmungen in den Jahren 1941 und 1942 sei uns gestattet, nur drei herauszugreifen, nämlich:

die Sache mit dem Platin aus dem zaristischen Rußland,

die Sache mit den verschobenen Industriediamanten und

die Sache mit den gefälschten Falange-Dekreten.

Wohlan!

Im August 1941 tauchte in Toulouse ein gewisser Wassili Maria Orlow Fürst Lesskow auf. Dieser Mann kam, wie es schien, aus dem Nichts, denn es war einfach unmöglich, seine Spur in die Vergangenheit zu verfolgen. Der hagere, außerordentlich hochmütige Aristokrat bewies sogleich eine magnetische Anziehungskraft auf Agenten des deutschen, englischen, französischen, ja sogar des sowjetrussischen Geheimdienstes sowie auf Mitglieder der Bande von Dantes Villeforte.

Während jedoch alle diese Herrschaften in Toulouse ein auffälliges und dummes Gehabe mit Verschwörermienen, heimlichen Treffs und Kneipenprügeleien an den Tag legten, hielt sich eine sechste Gruppe von Interessenten unauffällig im Hintergrund. Es waren ein paar Herren aus Chantal Tessiers Bande. Thomas hatte sie mittlerweile alle so gut erzogen wie die Herren de la Rue und Meyer. Fürst Lesskow erregte nicht umsonst solch Aufsehen, führte er doch – echtes Platin bei sich. Nur einige Barren zur Probe, wie er sagte, es gebe aber einen ganzen Platinbarrenschatz, dessen Verwalter er sei.

Nun, Platin, dieses edle Metall, fand in der Rüstungsindustrie Verwendung und war, insbesondere beim Flugzeugbau, unentbehrlich für die Herstellung von Unterbrechern und Magnetzündungen.

Ein gewaltiges Werben setzte ein. Deutsche, französische und britische Agenten wollten das Platin für die jeweiligen Vaterländer in ihren Besitz bringen; die Sowjets sahen es von vornherein als ihr Eigentum an.

Die Männer um Dantes Villeforte hatten eine noch weit einfachere Eigentumsauffassung!

Thomas Lieven hingegen besaß seine eigene Geschäftsphilosophie. Sie lautete: »Wir wollen warten und hoffen …«

Der Satz raubte Chantal ihr seelisches Gleichgewicht. Sie rief: »Du machst mich schon wieder rasend, du kalter Hund!«

Wie Thomas vorausgesehen hatte, bewies der hochmütige Fürst eine übertriebene Tüchtigkeit. Er spielte die verschiedenen Agenten gegeneinander aus und trug zweifellos die Schuld daran, daß ein sowjetischer und ein deutscher Geheimagent in einem Feuergefecht am 24. August 1941 um 0.30 Uhr morgens ums Leben kamen.

Vierundzwanzig Stunden später wiederum fand man den Fürsten ermordet in seinem Hotelappartement auf. Die Platinbarren, die er stets unter seinem Bett verborgen hatte, waren verschwunden. Rasch wurde die französische Polizei verständigt. Sie verdächtigte zwei Männer in schwarzen Ledermänteln, die den Fürsten als letzte besucht und danach Toulouse mit einem schwarzen Peugeot in nördlicher Richtung verlassen hatten.

Diese beiden Männer tauchten wenige Stunden später in dem Dorf Grisolles vor Montauban wieder auf. Sie hatten ihren Wagen und ihren ganzen Besitz verloren. Sie bewegten sich barfuß und in Unterhosen. Sie gaben an, von einem entgegenkommenden Laster geblendet und zum Halten gezwungen worden zu sein. Eine Bande von sechs vermummten Männern hatte sie ausgeraubt.

Die Platinbarren tauchten in Frankreich nicht mehr auf. Kurze Zeit später jedoch befanden sie sich in dem geräumigen Stahlsafe, das ein gewisser Eugen Wälterli, Schweizer Staatsbürger, am 27. August 1941 bei der Nationalbank in Zürich gemietet hatte. Herr Wälterli war aus dem unbesetzten Frankreich auf unwirtlichen Schleichpfaden in die Schweiz gekommen. Seine Freundin Chantal Tessier, wohlbewandert in illegalen Grenzübertritten, hatte ihm den Weg erklärt. Eugen Wälterli, alias Thomas Lieven, hatte sich seinen falschen Schweizer Paß von ersten Fachleuten des »Alten Viertels« herstellen lassen …



16



Einen Moment!

So etwas erzählt sich leichter, als es sich ereignet. Vor der Deponierung der Platinbarren in der Schweiz hatte Thomas Lieven schwere Stunden zu durchleben – nicht mit der Polizei, nicht mit Villefortes Leuten, nein, mit Chantal …

Einer Furie gleich fuhr sie ihm entgegen, als er seinen Plan entworfen hatte. »In die Schweiz? Ah, ich kapiere … Du willst abhauen! Du willst mich hier sitzenlassen! Dir eine andere unter den Nagel reißen! Glaubst du, ich weiß nicht, wen?« Sie schwieg nur einen Moment, um Atem zu holen, weil sie sonst erstickt wäre, und schrie sofort weiter: »Dieser Fetzen Yvonne! Ich sehe es seit Wochen, wie sie sich dir ranschmeißt, ha!«

»Chantal, du bist meschugge, äh, verrückt. Ich schwöre dir …«

»Halt’s Maul! Ich habe keinen anderen Mann mehr angesehen, seit ich dich kenne! Und du – und du – ach, alle Männer sind Schweine! Und noch dazu mit so einer! Einer Gefärbten!«

»Sie ist nicht gefärbt, mein Kind«, sagte Thomas sanft.

»Aaaahhh!« Jetzt ging sie mit Krallen und Zähnen auf ihn los. »Du Hund, woher weißt du das?«

Sie prügelten sich. Sie versöhnten sich. Eine ganze Nacht benötigte Thomas, um Chantal zu beweisen, daß er die blonde Yvonne nie geliebt hatte und niemals lieben würde.

Im Morgengrauen sah sie alles ein und war sanft wie ein Lamm und zärtlich wie ein Bademädchen in Hongkong. Und nach dem Frühstück ging sie, ihm einen Schweizer Paß zu besorgen …



17



Es hieß, es wäre für Reichsmarschall Hermann Göring eine herbe Enttäuschung gewesen, als er bei seinem ersten Besuch im besetzten Paris die beiden weltberühmten Juweliere Cartier und Van Cleff aufsuchte und dabei von den Verkäufern zu hören bekam, sie könnten den illustren Kunden leider nicht bedienen, weil die Geschäftsinhaber alle kostbaren Stücke vor dem Einmarsch der Deutschen nach London verlagert hätten.

Was in Paris gelang, war in Antwerpen und Brüssel mitnichten gelungen. Brüssel und Antwerpen sind seit Jahrzehnten die Zentren der internationalen Edelsteinschleifereien. Die hier vorgefundenen Diamanten und -brillanten wurden nach der Besetzung zum Teil von den deutschen Behörden käuflich erworben – oder einfach beschlagnahmt. Dann nämlich, wenn sie sich in jüdischem Besitz befanden, was meistens der Fall war.

Das Deutsche Reich benötigte sogenannte »Industriediamanten« für die Rüstungsindustrie zum Schleifen von Motorkurbelwellen und zum Bearbeiten von Hartmetallen. Mit der Beschaffung dieses wertvollen Materials wurde Oberst Feltjen vom Amt für den Vierjahresplan beauftragt.

Er versuchte, Steine und Steinabfälle auch in neutralen Ländern, wie etwa in der Schweiz, zu erwerben. Der größte Teil seiner deutschen Aufkäufer war jedoch korrupt. Die Herren operierten nach einem einfachen System: Sie beschlagnahmten in Belgien jüdischen Diamantenbesitz, lieferten ihn jedoch nur zum Teil oder gar nicht an den Oberst Feltjen ab, sondern schafften ihn mit eigenen Kurieren durch das besetzte und das unbesetzte Frankreich in die neutrale Schweiz. Hier wurde das Material wiederum einem anderen deutschen Aufkaufbevollmächtigten zum Erwerb angeboten. Der Mann kaufte zu höchsten Preisen. Die korrupten Ersteinkäufer lachten sich in das bekannte Fäustchen.

Zwischen September 1941 und Januar 1942 wurden vier derartige »Kuriere« abgefangen und um die gestohlenen oder beschlagnahmten Steine erleichtert. Diese Industriediamanten und -brillanten tauchten kurze Zeit später in dem geräumigen Stahlsafe der Nationalbank in Zürich wieder auf, das ein gewisser Eugen Wälterli daselbst gemietet hatte …

Vom Konto des besagten Schweizer Staatsbürgers Eugen Wälterli wurde am 22. Januar 1942 die Summe von 300 000 Schweizer Franken auf das Londoner Konto der Organisation »Wannemeester« überwiesen. Diese Organisation hatte sich zum Ziel gesetzt, mit Bestechung und Geld rassisch und politisch verfolgte Personen aus den von Hitler besetzten Teilen Europas heraus und in Sicherheit zu bringen.



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Im Juli 1942 berief Dantes Villeforte, genannt »Die Glatze«, in Marseille seine Bande zu einer Vollversammlung ein, die in einer Wohnung in der Rue Mazenod 4 stattfand.

»Meine Herren«, sagte Dantes Villeforte zu seinen Mitarbeitern, »mir reicht es jetzt. Ich habe jetzt den Kanal voll von Chantals Organisation. Die Platinsache hat sie uns vermasselt; wir waren schon so schön am Zuge. Das Portugalgeschäft ist seit einem Jahr abgerutscht. Und jetzt auch noch die Sache mit den Falange-Dekreten!«

Die Sache mit den Falange-Dekreten war ebenso einfach wie imposant angelaufen. Eingedenk seiner Lektionen bei dem genialen portugiesischen Maler und Fälscher Reynaldo Pereira, hatte Thomas Lieven mit den »Talenten« des »Alten Viertels« eine Dokumenten-Großfälscherei in Gang gesetzt. Diese arbeitete in Tag- und Nachtschichten. Damit konnte das gleichartige Unternehmen der »Glatze« einfach nicht mehr konkurrieren.

Die Dokumente der Organisation Chantal Tessier waren preiswerter und besser, und sie wurden schneller geliefert. In letzter Zeit verkaufte die Organisation auch noch eine Novität an alle interessierten Rotspanier, die seinerzeit vor Franco fliehen mußten und Sehnsucht nach ihrer alten Heimat empfanden. Diesen Leuten wurden mit den falschen spanischen Pässen auch noch makellos nachgemachte Dank-, Anerkennungs- und Auszeichnungsdiplome mitgeliefert, auf denen der Franco-Staat ihnen ihre Verdienste um die Falange bestätigte. Das war der absolute Verkaufsschlager des Sommers 1942.

»Meine Herren«, sprach Dantes Villeforte auf seiner Betriebsversammlung. »Chantal Tessier allein war schon eine Heimsuchung. Sie hat uns reingelegt. Sie hat uns geschadet noch und noch. Aber jetzt dieser Scheißkerl Pierre oder wie er sonst heißt – das ist zuviel!«

Beifälliges Gemurmel.

»Ich sage: Mit Chantal werden wir gerade eben noch fertig. Sie ist auch nicht ohne! Ich höre, sie liebt diesen Kerl. Was würde ihr also einen fürchterlichen Schlag versetzen?«

»Wenn wir ihren Süßen umlegten«, sagte einer.

»Du sprichst wie ein Vollidiot«, ärgerte sich Villeforte. »Umlegen, umlegen. Das ist alles, was euch einfällt. Was denn? Wozu haben wir Beziehungen zur Gestapo? Ich habe herausbekommen, daß dieser Mann unter anderem Hunebelle heißt. Und einen Hunebelle sucht die Gestapo. Wir können uns eine goldene Nase verdienen, wenn wir … Muß ich noch weitersprechen?«

Er mußte es nicht.

Am Abend des 17. September 1942 gab es ein heftiges Gewitter. Chantal und Thomas hatten ursprünglich die Absicht gehabt, ins Kino zu gehen. Nun entschlossen sie sich, daheim zu bleiben.

Sie tranken Calvados und spielten Schallplatten, und Chantal war in einer fast unglaublichen Weise anschmiegsam, sentimental und weich.

»Was hast du aus mir gemacht …«, flüsterte sie. »Ich erkenne mich manchmal selber nicht wieder …«

Thomas sagte: »Chantal, wir müssen hier weg. Ich habe böse Nachrichten bekommen. Marseille ist vor den Deutschen nicht mehr sicher.«

»Wir gehen in die Schweiz«, meinte sie. »Geld haben wir dort genug. Wir machen uns ein feines Leben.«

»Ja, Süße«, sagte er und küßte sie.

Dann flüsterte sie, mit Tränen in den Augen: »Ach, chéri … Ich bin so glücklich wie noch nie. Es muß ja nicht ewig dauern – nichts dauert ewig, aber eine Weile noch, eine kleine Weile …«

Später bekam Chantal Hunger – auf Weintrauben.

»Die Geschäfte haben geschlossen«, überlegte Thomas. »Aber am Bahnhof bekomme ich vielleicht noch Trauben …«

Er stand auf und zog sich an. Sie protestierte: »Bei diesem Wetter – du bist ja verrückt …«

»Nein, nein, du bekommst deine Weintrauben. Weil du Weintrauben liebst, und weil ich dich liebe.«

Plötzlich hatte sie wieder Tränen in den Augen. Sie schlug mit einer kleinen Faust auf ihr Knie und fluchte: »Mist, verdammter, es ist ja zu blöd! Ich muß weinen, weil ich dich so liebe …«

»Ich komme gleich zurück«, sagte Thomas und eilte davon. Er irrte sich.

Denn zwanzig Minuten nachdem er das Haus in der Rue Chevalier à la Rose verlassen hatte, um Trauben zu kaufen, befand sich Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, alias Pierre Hunebelle, alias Eugen Wälterli, in den Händen der Gestapo.



19



Komisch, wie sehr ich mich an Chantal gewöhnt habe, dachte Thomas. Ich kann mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen. Ihre Verrücktheiten, die Raubtierallüren, dieses Einen-Mann-auffressen-Wollen, das alles entzückt mich aufs höchste. Ebenso ihr Mut, ihr Instinkt. Und sie lügt nicht. Oder fast nicht …

Über den menschenleeren Place Jules Guesde, dessen Asphaltdecke im Regen glänzte, schritt Thomas Lieven in die schmale Rue Bernard du Bois. Hier lag das kleine, altmodische »Handtuch«-Kino, das er oft mit Chantal besuchte.

Ein schwarzer Peugeot parkte vor dem Kino; er fiel Thomas nicht auf. Er ging weiter. Seine beiden Schatten folgten ihm. Als sie an dem schwarzen Peugeot vorüberkamen, klopfte der eine Schatten kurz gegen die Wagenfenster. Daraufhin flammten die Scheinwerfer des Peugeots auf – ganz kurz nur, dann erloschen sie wieder. Vom anderen Ende der schmalen, schlecht erleuchteten Straße setzten sich zwei andere Schatten in Bewegung.

Thomas bemerkte sie nicht. Er sah nicht die Männer, die ihm entgegenkamen, und nicht die Männer, die ihn verfolgten. Er war in Gedanken … Ich muß mal in Ruhe mit Chantal reden. Ich weiß aus guten Quellen: Noch in diesem Jahr werden amerikanische Truppen in Nordafrika landen. Die französische Untergrundbewegung setzt den Nazis mehr und mehr zu. Sie operiert vom Süden des Landes aus. Die Deutschen werden zweifellos auch den unbesetzten Teil Frankreichs okkupieren. Also werden Chantal und ich in die Schweiz gehen, baldmöglichst. In der Schweiz gibt es keine Nazis, keinen Krieg. Wir werden in Frieden leben …

Die beiden Schatten vor ihm kamen näher. Die beiden Schatten hinter ihm kamen näher. Der Motor des schwarzen Peugeots sprang an. Ohne Licht rollte der Wagen im Schrittempo los. Und immer noch bemerkte Thomas Lieven nichts.

Armer Thomas! Er war intelligent, gerecht und liebenswürdig, charmant und hilfsbereit. Aber er war nicht Old Shatterhand, nicht Napoleon, eine männliche Mata Hari war er nicht und auch kein Superman. Er war keiner von den Helden, über die man in den Büchern liest – die niemals ängstlichen, die ewig siegenden, die heldischen Heldenhelden. Er war nur ein ewig gejagter, ewig verfolgter, niemals in Frieden gelassener Mensch, der stets versuchen mußte, das Beste aus einer schlimmen Sache zu machen – wie wir alle.

Und darum bemerkte er nicht die Gefahr, in der er sich befand. Er dachte nichts Böses, als vor ihm plötzlich zwei Männer standen. Sie trugen Regenmäntel. Es waren Franzosen.

Der eine sagte: »Guten Abend, Monsieur. Können Sie uns wohl sagen, wie spät es ist?«

»Gerne«, antwortete Thomas. Mit der einen Hand hielt er seinen Schirm. Mit der anderen Hand holte er die geliebte Repetieruhr aus der Westentasche. Er ließ den Deckel aufspringen. In diesem Augenblick erreichten ihn auch die beiden Schatten, die hinter ihm hergewandert waren.

»Es ist jetzt genau acht Uhr und …«, begann Thomas. Danach bekam er einen fürchterlichen Schlag ins Genick.

Der Schirm flog weg. Die Repetieruhr – zum Glück hing sie an einer Kette – fiel Thomas aus der Hand. Ächzend brach er in die Knie. Er öffnete den Mund, um zu schreien. Da schoß eine Hand vor. Sie hielt einen riesigen Wattebausch. Die Watte traf Thomas im Gesicht. Brechreiz brandete in ihm hoch, als er den widerlichen süßen Geruch verspürte. Er kannte das alles schon, er hatte das alles schon einmal ähnlich in Lissabon erlebt. Damals war es noch gutgegangen. Diesmal, so sagte ihm ein blitzartiges Gefühl, indessen schon seine Sinne schwanden, würde es nicht gutgehen …

Dann hatte er das Bewußtsein verloren, und es bereitete seinen Entführern nur noch technische Schwierigkeiten, ihn im Fond des Peugeots zu verstauen. Ein reines Möbelpackerproblem.



20



»Bastian – he, Bastian, wach endlich auf, du fauler Sack!« schrie Olive, der dicke Wirt des Schwarzhändlerlokals »Chez Papa«, hinter dem der riesenhafte Bastian Fabre wohnte.

Chantals treuester Kumpan erwachte stöhnend und rollte auf den Rücken. Dann ächzte er, sich den Schädel haltend: »Bist du wahnsinnig! Was fällt dir ein, mich aufzuwecken?« Bastian hatte wenige Stunden zuvor mit dem hinkenden François ein Wetttrinken veranstaltet. Viel zu früh geweckt, stöhnte er jetzt: »Ich bin noch besoffen. Mir ist hundeelend …«

Olive rüttelte ihn erneut.

»Chantal will dich sprechen, am Telefon, dringend! Dein Freund Pierre ist verschwunden!«

Von einer Sekunde zur anderen war Bastian stocknüchtern. Er sprang aus dem Bett. In einer roten Pyjamajacke – Bastian trug stets nur Oberteile – rannte er in das Nebenzimmer, fuhr in Schlafrock und Pantoffeln. Dann stolperte er nach vorne in Olives Lokal, das zu dieser späten Stunde bereits geschlossen war und im Dunkeln lag. Die Stühle standen an den Tischen. In der Telefonzelle baumelte der Hörer. Bastian riß ihn ans Ohr: »Chantal!«

Das Herz tat ihm weh, als er ihre Stimme hörte, diese Stimme voller Verzweiflung, voller Angst. Noch nie hatte er sie in solcher Panik erlebt: »Bastian – Gott sei Dank – ich – ich kann nicht mehr … Ich renne seit Stunden durch die Stadt … Ich bin kaputt – erledigt … O Gott, Bastian, Pierre ist weg!«

Bastian wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zu Olive, der neben ihn getreten war, sagte er: »Gib mit einen Kognak, und brau einen Türkischen …« Und in den Hörer: »Erzähle langsam, Chantal. Der Reihe nach. Du mußt dich beruhigen …«

Chantal erzählte, was sich ereignet hatte. Jetzt war es zwei Uhr früh. Gegen acht Uhr hatte Pierre sie verlassen, um Weintrauben zu kaufen.

Chantal weinte. Ihre Stimme bebte und zitterte: »Ich war am Bahnhof. In allen Kneipen. Unten am Hafen. Ich war – ich war in diesen Häusern … Ich hab’ gedacht, vielleicht hat er einen von euch getroffen – und ist versackt, wie es einem Mann eben manchmal geht …«

»Wo bist du jetzt?«

»Im ›Brûleur de Loup‹.«

»Bleib dort. Ich wecke Pferdefuß und die anderen. Alle. In einer halben Stunde sind wir bei dir.«

Ihre Stimme kam so dünn und schwach zu ihm, als käme sie vom Mond: »Bastian – wenn – wenn ihm was passiert ist, dann will ich nicht mehr leben …«

Fünfzehn erfahrene Ganoven durchkämmten in dieser Nacht die Stadt Marseille. Es gab keine Bar, die sie nicht aufsuchten, kein Hotel, keine Kneipe, kein Bordell. Sie suchten und suchten – und sie fanden keine Spur von Pierre Hunebelle, ihrem Freund und Kameraden. Grau dämmerte der neue Tag herauf. Um acht Uhr brach die Bande die Suche nach dem Verschollenen zunächst ab.

Bastian brachte Chantal nach Hause. Sie ließ sich willenlos führen. In ihrer Wohnung erlitt sie dann von einem Augenblick zum andern einen grauenhaften hysterischen Anfall. Selbst ein so kräftiger Mann wie Bastian sah keine andere Möglichkeit, sie zu bändigen, als sie zunächst mit einem schweren Fausthieb bewußtlos zu schlagen. Dann rannte er ans Telefon und rief Dr. Boule an.

Der kleine Zahnarzt und Experte für die Herstellung von falschen Goldbarren kam gleich. Als er eintraf, war Chantal wieder bei Bewußtsein. Sie lag auf ihrem Bett, ihre Zähne klapperten, und die Füße schlugen gegeneinander. Dr. Boule sah sofort, was mit ihr los war. Er spritzte ein Betäubungsmittel. Als er die Nadel aus ihrer Haut zog, flüsterte sie unter Tränen: »Er war – er war der einzige Mensch in meinem Leben, der gut zu mir war, Doktor …«

Thomas Lieven blieb verschwunden. Keine Spur von ihm wurde entdeckt, obwohl die Bande ihre Nachforschungen intensivierte. Ein völliger gesundheitlicher Zusammenbruch zwang Chantal wochenlang ins Bett.

Am 28. Oktober änderte sich die Lage. Im »Cintra«, einem der beiden berühmten Cafés am »Alten Hafen«, betrank sich ein jüngerer Mann schon um die Mittagszeit, offenbar aus Kummer. Als er zu betrunken war, um auf sich achtzugeben, begann er damit zu prahlen, daß er »ganz hübsch über diesen Pierre Hunebelle auspacken« könnte.

Ein zufällig anwesendes Mitglied von Chantals Bande alarmierte Bastian. Der holte den hinkenden François. Gemeinsam eilten sie ins »Cintra«, setzten sich zu dem Betrunkenen, schmissen Runden und heuchelten Sympathie.

Der Mann wurde zutraulich. Er gab an, Emile Mallot zu heißen und aus Grenoble zu stammen. Er lallte: »Beschissen hat er uns, der Hund, der dreckige – hick –, 20 000 hat er uns versprochen …«

»Wofür?« fragte Bastian und schob einen neuen Schnaps vor Mallot hin.

»Dafür, daß wir diesen Hunebelle in den Peugeot schubsen … Zehn haben wir nur gekriegt …«

»Wer hat euch denn so beschissen, Kumpel?« fragte Bastian und legte gemütvoll einen Arm um den Betrunkenen.

Der Mann kniff plötzlich die Augen zu. »Was geht denn das dich an?«

Bastian und François wechselten Blicke. Bastian sagte: »War ja nur eine Frage, Emile. Nichts für ungut. Komm, wir trinken noch was …«

Sie füllten den Mann aus Grenoble richtig voll. Als er unter den Tisch sackte, hoben sie ihn auf, legten ihre Arme um seine Schultern und schleppten ihn weg – zu Chantal.

Sie lag noch im Bett, hatte Fieber und sah elend aus. Bastian und François ließen den Betrunkenen im Wohnzimmer auf eine Couch fallen und gingen ins Schlafzimmer zu Chantal. Sie erzählten ihr, was sie erlebt hatten.

Bastian sagte: »Wenn er zu sich kommt, überlaß ihn nur mir. Der Knabe redet in zehn Minuten.«

Chantal schüttelte den Kopf. Was sie sagte, hatte Thomas einmal zu ihr gesagt: »Verdreschen ist nicht immer die letzte Weisheit. Die letzte Weisheit ist immer Bargeld.«

»Was?«

»Der Mann ist doch so wütend, weil er zuwenig bekommen hat. Also werden wir ihn gut bezahlen. Los, hol Doktor Boule. Er soll dem Kerl eine Spritze geben. Damit er nüchtern wird.«



21



Der Zahnarzt kam. Eine Stunde später war Emile Mallot aus Grenoble wieder bei Sinnen. Er saß auf einem Sessel vor Chantals Bett. François und Bastian standen neben ihm. Chantal lag im Bett und fächelte sich mit riesigen Franc-Bündeln Kühlung zu.

Mit belegter Stimme sprach Mallot aus Grenoble: »Sie – sie haben ihn nach Norden gebracht. In der Nacht noch. Nach Chalon-sur-Saône, an die Demarkationslinie. Da hat ihn dann die Gestapo … Nicht!« brüllte er gellend auf, denn Bastian hatte ihn hochgerissen und ins Gesicht geschlagen.

»Bastian!« schrie Chantal. Totenbleich war ihr Gesicht, nur die fiebrigen Augen lebten: »Laß ihn in Ruhe … Ich muß wissen, wer hinter dieser Sauerei steckt …« Sie schrie Mallot an: »Wer?«

Mallot wimmerte: »Die – ›Die Glatze‹!«

»Dantes Villeforte?«

»Ja, er hat uns den Auftrag gegeben … Dieser Hunebelle war ihm zu gefährlich … Er wollte ihn los sein …« Mallot holte Luft. »Ihr habt ›Die Glatze‹ in der letzten Zeit übers Ohr gehauen, wie? Na also. Das ist seine Rache …«

Tränen liefen über Chantals Gesicht. Sie schluckte zweimal, bevor sie sprechen konnte. Dann klang ihre Stimme wieder kalt, gefährlich und befehlsgewohnt: »Nimm die Penunzen, Mallot. Hau ab! Aber sag der ›Glatze‹, das war das Ende. Kein Erbarmen mehr jetzt. Für das, was er getan hat, lege ich ihn um. Er soll sich verstecken, wo er will. Ich werde ihn finden, das schwöre ich. Und ich lege ihn um.«

Chantal war es ernst mit diesem Schwur. Doch zunächst überstürzten sich die Ereignisse, die Chantal und ihre Organisation vor andere Probleme stellten.

Am 8. November 1942 gab das Kriegsdepartement der Vereinigten Staaten bekannt:

Amerikanische und britische Armee-, Marine- und Luftstreitkräfte haben in den Stunden der Dunkelheit Landungsoperationen an zahlreichen Stellen der Küste von Französisch-Nordafrika begonnen. Generalleutnant Eisenhower ist der Oberkommandierende der alliierten Streitkräfte.

Und am 11. November gab das Oberkommando der Wehrmacht bekannt:

Deutsche Truppen haben heute früh zum Schutze des französischen Territoriums gegen die bevorstehenden amerikanisch-britischen Landungsunternehmen in Südfrankreich die Demarkationslinie zum unbesetzten Frankreich überschritten. Die Bewegungen der deutschen Truppen verlaufen planmäßig …

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