3. Kapitel



1



Das Zentralgefängnis von Frèsnes lag achtzehn Kilometer vor Paris. Hohe Mauern umgaben den schmutzigen mittelalterlichen Bau, der in drei Haupttrakte mit zahlreichen Nebenflügeln aufgegliedert war. Einsam und massig stand das Gefängnis in einer trostlosen Ebene mit verkrüppelten Bäumen, verfaulenden Wiesen und ungepflügten Äckern.

Im ersten Trakt saßen deutsche Gefangene, politische und Deserteure. Im zweiten Trakt saßen französische und deutsche Widerstandskämpfer. Im dritten Trakt saßen nur Franzosen.

Das Gefängnis von Frèsnes wurde von einem deutschen Hauptmann der Reserve geleitet. Das Personal war gemischt. Es gab französische Wärter und deutsche – durchweg ältere Unteroffiziere aus Bayern, Sachsen und Thüringen.

Im Flügel C von Trakt I gab es nur deutsche Wärter. Dieser Flügel C war für den SD Paris reserviert. Tag und Nacht brannte hier das elektrische Licht in den Einzelzellen. Niemals durften die Gefangenen zum Spaziergang in den Hof geführt werden. Die Gestapo hatte eine einfache Methode gefunden, ihre Gefangenen unerreichbar für jede noch so mächtige Behörde werden zu lassen: Die Insassen des Flügels C wurden in den Büchern einfach nicht geführt. Es waren tote Seelen, sie existierten praktisch schon nicht mehr …

Reglos saß in den Morgenstunden des 12. November ein junger Mann mit schmalem Gesicht und klugen schwarzen Augen auf seiner Pritsche in Zelle 67 des Flügels C. Thomas Lieven sah elend aus. Grau war seine Haut, eingefallen waren seine Wangen. Er trug einen alten Sträflingsanzug. Der Anzug war ihm viel zu groß. Thomas fror. Die Zellen waren unbeheizt.

Über sieben Wochen saß er nun in dieser scheußlichen, stinkenden Zelle. In der Nacht vom 17. zum 18. September hatten ihn seine Entführer bei Chalon-sur-Saône zwei Gestapo-Agenten übergeben. Diese hatten ihn nach Frèsnes gebracht. Und seither wartete er darauf, daß jemand kam, um ihn zu verhören. Er wartete umsonst. Das Warten fing an, ihn um seine Fassung zu bringen.

Thomas hatte versucht, Kontakt mit den deutschen Wachen aufzunehmen – umsonst. Er hatte mit Charme und Bestechung versucht, besseres Essen zu erhalten – umsonst. Es gab Wassersuppe mit Kohl, Tag für Tag. Er hatte versucht, einen Kassiber an Chantal durchzuschmuggeln. Umsonst.

Warum kamen sie nicht endlich und stellten ihn an die Mauer? Sie kamen jeden Morgen um vier und holten Männer aus den Zellen, und dann hörte man das Trampeln von Stiefeln und die Befehle und das ohnmächtige Schreien und Wimmern der Fortgeschleppten. Und die Schüsse, wenn die Gefangenen erschossen wurden. Und gar nichts, wenn sie erhängt wurden. Meistens hörte man gar nichts. Thomas fuhr plötzlich auf. Stiefel trampelten heran. Die Tür flog auf. Ein deutscher Feldwebel stand draußen – und neben ihm zwei Riesenkerle in Uniformen des SD.

»Hunebelle?«

»Jawohl.«

»Mitkommen zum Verhör!«

Nun ist es soweit, dachte Thomas, nun ist es also soweit …

Er wurde gefesselt in den Hof geführt. Hier stand ein riesiger Omnibus ohne Fenster. Ein SD-Mann stieß Thomas in einen düsteren, schmalen Gang, der durch den Bus führte und viele Türen hatte. Hinter den Türen gab es winzige Zellen, in denen man nur mit verkrampften Muskeln sitzen konnte.

In eine solche Zelle wurde Thomas geschoben. Die Tür flog zu und wurde versperrt. Den Geräuschen nach waren auch alle anderen Zellen besetzt. Es stank nach Schweiß und Angst.

Der Bus holperte los über eine Straße voller Schlaglöcher. Die Fahrt dauerte eine halbe Stunde. Dann hielt der Wagen. Thomas hörte Stimmen, Schritte, Flüche. Dann wurde seine Zelle aufgesperrt. »Rauskommen!«

Hinter einem SD-Mann her taumelte Thomas, schwindlig vor Schwäche, ins Freie. Er sah sofort, wo er sich befand: in der vornehmen Avenue Foch in Paris. Thomas wußte, daß der SD hier viele Häuser beschlagnahmt hatte.

Der SD-Mann führte Thomas durch die Halle des Hauses Nr. 84 in ein zum Büro umgewandeltes Bibliothekszimmer.

Zwei Männer saßen darin, beide in Uniform. Der eine war untersetzt, jovial und rotgesichtig, der andere sah blaß und ungesund aus. Der eine war der Sturmbannführer Walter Eicher, der andere war sein Adjutant Fritz Winter.

Stumm trat Thomas vor sie hin.

Der SD-Mann erstattete Meldung und verschwand.

In reichlich schlechtem Französisch bellte der Sturmbannführer los: »Na, Hunebelle, wie wär’s mit einem Kognak?«

Thomas war speiübel. Aber er sagte: »Danke nein, ich habe leider nicht die richtige Unterlage dafür im Magen.«

Sturmbannführer Eicher kam nicht ganz mit, was Thomas da auf französisch gesagt hatte. Sein Adjutant übersetzte es. Eicher lachte auf. Winter fuhr mit dünnen Lippen fort: »Ich glaube, wir können uns mit diesem Herrn auch deutsch unterhalten, nicht wahr?«

Thomas hatte beim Hereinkommen auf einem Tischchen einen Aktendeckel mit der Aufschrift HUNEBELLE erblickt. Es hatte keinen Sinn zu leugnen. »Ja, ich spreche auch Deutsch.«

»Na, wundervoll, wundervoll. Vielleicht sind Sie sogar ein Landsmann, wie?« Der Sturmbannführer drohte neckisch mit dem Finger. »Na? Sie kleiner Schelm! Nun sagen Sie es schon!«

Er blies Thomas eine Wolke Zigarrenrauch entgegen. Thomas schwieg.

Der Sturmbannführer wurde ernst: »Sehen Sie, Herr Hunebelle – oder wie Sie heißen mögen –, Sie glauben vielleicht, es macht uns Spaß, Sie einzusperren und zu verhören. Greuelmärchen hat man Ihnen über uns erzählt, nicht wahr? Wir tun unseren schweren Dienst nicht gerne, das kann ich Ihnen versichern. Deutsche Menschen, Herr Hunebelle, sind für so was nicht gebaut.« Eicher nickte voll Wehmut. »Aber der Dienst an der Nation verlangt es. Wir haben uns dem Führer verschworen. Nach dem Endsieg wird unser Volk die Führung aller anderen Völker der Erde zu übernehmen haben. So etwas will vorbereitet sein. Da braucht es jeden Mann.«

»Auch Sie«, warf Adjutant Winter ein.

»Bitte?«

»Sie haben uns doch beschissen, Hunebelle. In Marseille. Mit dem Gold, dem Schmuck und den Devisen.« Der Sturmbannführer lachte kehlig. »Nicht widersprechen, wir wissen es doch. Muß sagen, Sie haben es schick gemacht. Kluger Junge.«

»Und weil Sie so ein kluger Junge sind, werden Sie uns jetzt erzählen, wie Sie wirklich heißen und wo die ganzen Sachen von Lesseps und Bergier hingekommen sind«, sagte Winter leise.

»Und mit wem Sie zusammengearbeitet haben«, sagte Eicher, »das natürlich auch. Wir haben Marseille bereits besetzt. Können wir Ihre Kollegen gleich kassieren.« Thomas schwieg.

»Na?« sagte Eicher.

Thomas schüttelte den Kopf. Das alles hatte er sich so vorgestellt.

»Sie wollen nicht reden?«

»Nein.«

»Bei uns redet jeder!« Auf einmal war die leutselige Gutmütigkeit, auf einmal war das Grinsen von Eichers Gesicht weggewischt. Seine Stimme klang heiser: »Sie Scheißkerl, Sie kleiner! Habe mich schon viel zu lange unterhalten mit Ihnen!« Er stand auf, wippte in den Knien, warf die Zigarre in den Kamin und sagte zu Winter: »Los, macht ihn fertig.«

Winter führte Thomas in einen überheizten Keller hinab. Hier rief er nach zwei Männern in Zivil. Sie banden Thomas am Kessel der Zentralheizung fest. Dann machten sie ihn fertig.

So ging das drei Tage hintereinander. Omnibusfahrt von Frèsnes nach Paris. Verhör. Fertigmachen im Keller. Fahrt zurück in die ungeheizte Zelle.

Das erstemal begingen sie den Fehler, ihn zu schnell und zu brutal zu schlagen. Thomas wurde ohnmächtig.

Das zweitemal begingen sie diesen Fehler nicht mehr. Und auch nicht das drittemal. Nach dem drittenmal fehlten Thomas zwei Zähne, der Körper war an vielen Stellen wund geschlagen. Nach dem drittenmal wurde er für zwei Wochen ins Krankenhaus von Frèsnes gelegt.

Dann fing das Ganze von vorne an.

Als der Bus ohne Fenster ihn am 12. Dezember wieder einmal nach Paris brachte, da war Thomas Lieven am Ende. Er konnte es nicht mehr ertragen, gequält zu werden. Er dachte: Ich springe aus dem Fenster. Eicher verhört mich jetzt immer oben im dritten Stock. Ja, ich springe aus dem Fenster. Wenn ich Glück habe, bin ich tot. Ach, Chantal, ach, Bastian, ich hätte euch so gern wiedergesehen …

Thomas Lieven wurde gegen zehn Uhr am 12. Dezember 1942 in das Büro von Herrn Eicher geführt. Ein Mann, den Thomas noch nie gesehen hatte, stand neben dem Sturmbannführer: groß, hager, weißhaarig. Der Mann trug die Uniform eines Obersten der Deutschen Wehrmacht mit vielen Ordensspangen und unter dem Arm einen umfangreichen Aktendeckel, auf dem Thomas Lieven das Wort GEKADOS entziffern konnte.

Eicher machte einen verärgerten Eindruck.

»Das ist der Mann, Herr Oberst«, sagte er mürrisch und hustete.

»Ich werde ihn gleich mitnehmen«, sagte der Oberst mit den vielen Auszeichnungen.

»Da es eine ›Gekados‹ ist, kann ich Sie nicht daran hindern, Herr Oberst. Bitte quittieren Sie die Übernahme.«

Um Thomas Lieven begann sich alles zu drehen, der Raum, die Männer, alles. Er stand schwankend da in seinem elenden Gefangenenanzug. Er taumelte und würgte und rang nach Luft und dachte an die Worte, die er einmal in einem Buch des Philosophen Bertrand Russell gelesen hatte: »In unserem Jahrhundert geschieht nur noch das Unvorhergesehene …«



2



Die Hände gefesselt, saß Thomas Lieven neben dem weißhaarigen Oberst in einer Wehrmachtslimousine. Sie fuhren durch die Pariser City, die sich seit den Tagen des Friedens kaum verändert hatte. Frankreich schien die Okkupation zu ignorieren. Die Straßen waren erfüllt von hektischem Leben. Elegante Frauen, eilige Männer sah Thomas Lieven, und zwischen ihnen, seltsam unbeholfen und verloren, deutsche Landser.

Der Oberst schwieg, bis sie den Villenvorort Saint-Cloud erreicht hatten, dann sagte er: »Ich höre, Sie kochen gerne, Herr Lieven.«

Mit seinem richtigen Namen angeredet, erstarrte Thomas. Überreizt und übermißtrauisch geworden durch die Torturen der letzten Wochen, arbeitete sein Gehirn.

Was bedeutet das? Was ist das für eine neue Falle? Er sah den Offizier neben sich von der Seite an. Gutes Gesicht. Klug und skeptisch. Buschige Brauen. Adlernase. Sensibler Mund. Na und? In meinem Vaterland spielen viele Mörder Bach!

Thomas Lieven sagte: »Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Doch, doch, Sie wissen es«, sagte der Offizier. »Ich bin Oberst Werthe von der militärischen Abwehr Paris. Ich kann Ihnen das Leben retten – oder nicht, es hängt allein von Ihnen ab.«

Und damit hielt der Wagen vor einer hohen Mauer, die ein großes Grundstück umgab.

Der Fahrer hupte dreimal. Ein schweres Tor öffnete sich, ohne daß ein Mensch sichtbar wurde. Der Wagen fuhr an und hielt wieder vor der kiesbestreuten Auffahrt zu einer Villa mit gelben Mauern, französischen Fenstern und grünen Fensterläden.

»Heben Sie Ihre Hände«, sagte der Oberst, der sich Werthe nannte.

»Warum?«

»Damit ich Ihnen die Handschellen abnehmen kann. Mit den Schellen können Sie doch wohl nicht kochen. Ich würde gerne Kalbsschnitzel Cordon bleu essen, wenn es Ihnen recht ist. Und Crêpes Suzette. Ich bringe Sie in die Küche. Nanette, das Mädchen, wird Ihnen helfen.«

»Cordon bleu«, sagte Thomas schwach. Um ihn begann sich wieder alles zu drehen, während Oberst Werthe die Stahlschellen aufschloß.

»Ja, bitte.«

Noch lebe ich, dachte Thomas, noch atme ich. Was wird sich daraus noch machen lassen? Er sagte, indessen seine Lebensgeister wieder ein wenig erwachten: »Na schön. Dann wollen wir dazu vielleicht gefüllte Auberginen machen.«

Eine halbe Stunde später erklärte Thomas dem Mädchen Nanette, wie man Auberginen zubereitet. Nanette war ein schwarzhaariges, ungemein appetitliches Mädchen, das über einem ungemein engen schwarzen Wollkleid eine weiße Schürze trug. Thomas saß neben Nanette am Küchentisch. Oberst Werthe hatte sich zurückgezogen. Immerhin: Das Küchenfenster war vergittert …

Immer wieder kam Nanette ganz nahe an Thomas heran. Einmal streifte ihr nackter Arm seine Wange, einmal berührte ihre pralle Hüfte seinen Arm. Nanette war eine gute Französin; sie ahnte, wen sie da vor sich hatte. Und Thomas sah trotz der Qual und Entbehrung, die er hinter sich hatte, noch immer aus wie das, was er war: ein richtiger Mann.

»Ach, Nanette«, seufzte er schließlich.

»Ja, Monsieur?«

»Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen. Sie sind so hübsch. Sie sind so jung, unter anderen Umständen säße ich nicht so da. Aber ich bin fertig. Ich bin kaputt …«

»Pauvre Monsieur«, flüsterte Nanette. Und dann gab sie ihm einen Kuß, ganz schnell, ganz flüchtig, und errötete dabei.

Das Essen fand in einem großen, dunkel getäfelten Raum statt, durch dessen Fenster man in den Park hinaussah. Der Oberst trug jetzt Zivil – einen ausgezeichnet geschnittenen Flanellanzug.

Nanette servierte. Immer wieder glitt ihr mitleidiger Blick über den Mann in der zerdrückten, schmutzigen Zuchthauskleidung, der sich doch betrug wie ein englischer Aristokrat. Er mußte mit der linken Hand essen, an der rechten waren zwei Finger verbunden …

Oberst Werthe wartete, bis Nanette die Auberginen serviert hatte, dann sagte er: »Delikat, wirklich delikat, Herr Lieven. Womit ist das überbacken, wenn ich fragen darf?«

»Mit geriebenem Käse, Herr Oberst. Was wollen Sie von mir?« Thomas aß wenig. Er fühlte, daß er nach den Hungerwochen, die er hinter sich hatte, seinen Magen nicht überfordern durfte.

Oberst Werthe aß mit Appetit. »Sie sind ein Mann von Prinzipien, höre ich. Sie wollen sich lieber totschlagen lassen, als dem SD etwas zu verraten oder gar für diese Sch …, diese Organisation zu arbeiten.«

»Ja.«

»Und für die Organisation Canaris?« Der Oberst nahm noch eine Aubergine.

Thomas fragte leise: »Wie haben Sie mich bei Eicher herausbekommen?«

»Ach, das war ganz einfach. Wir haben hier in der Abwehr einen guten Mann sitzen, Hauptmann Brenner. Der verfolgt Ihre Laufbahn schon lange. Sie haben sich allerhand geleistet, Herr Lieven.«

Thomas senkte den Kopf.

Menu • Paris, 12. Dezember 1942

Dabei schloß Thomas Lieven

den Pakt mit des Teufels Admiral.

Gefüllte Auberginen

Kalbsschnitzel Cordon bleu mit kleinen Erbsen

Crêpes Suzette

Gefüllte Auberginen: Man nehme große, feste Auberginen, bei uns auch Eierfrüchte genannt, schäle sie dünn und halbiere sie der Länge nach. Man höhle sie vorsichtig aus und drehe das Fruchtfleisch mit Rind- und Schweinefleisch, einer Zwiebel und einer eingeweichten Semmel ohne Rinde durch den Wolf. – Man verarbeite die Masse mit einem Ei, Salz, Pfeffer, Paprika und etwas Sardellenpaste zu einer pikanten Farce. Man fülle damit die Auberginen. – Man gieße etwas Fleischbrühe auf den Boden einer gut gebutterten Auflaufform, setzte die gefüllten Auberginen hinein, bestreue sie mit geriebenem Käse und Butterflöckchen und backe sie bei mittlerer Hitze eine halbe Stunde lang.

Cordon bleu: Man nehme zarte Kalbsschnitzel, klopfe sie gut und belege die Hälfte eines jeden mit einer Scheibe Schinken, darauf eine Scheibe Emmentaler Käse, so daß ein etwa fingerbreiter Rand frei bleibt. – Man bepinsle dann die Ränder des Schnitzels rundum mit Eiweiß und klappe die unbelegte Hälfte über die belegte, drücke die Ränder fest an. – Nun wälze man das Fleisch in Mehl, leicht gesalzenem und gepfeffertem Eigelb und Semmelbröseln und brate es dann in der Pfanne in reichlich Butter auf beiden Seiten schön goldbraun. – Man reiche dazu feine grüne Erbsen, die man leicht mit Salz und gehackter Petersilie bestreut.

Crêpes Suzette: Man backe eine größere Anzahl von Crêpes, das sind kleine, hauchdünne Eierkuchen, zu deren Teig man Wasser statt Milch verwendet hat. – Man lasse bei Tisch auf einem Spirituswärmer reichlich Butter heiß, aber keinesfalls braun werden, gebe den Saft und die ganz fein abgeschnittene und gehackte Schale einer Mandarine oder Orange hinzu. Man gebe je einen kleinen Guß Kirsch, Maraschino, Curaçao oder Cointreau und etwas Zucker hinein und lasse immer nur ein Crêpe in der Flüssigkeit heiß werden. Man rolle es dann schnell zusammen und reiche es auf einem vorgewärmten Teller weiter.

»Keine falsche Bescheidenheit, bitte! Als Brenner entdeckte, daß der SD Sie verhaftet und nach Frèsnes gebracht hatte, da konstruierten wir einen kleinen Spielfall …«

»Einen kleinen Spielfall?«

Werthe wies zu dem Aktendeckel mit der Aufschrift GEKADOS, der beim Fenster auf einem Tischchen lag. »Unsere Methode, dem SD Gefangene abzujagen. Wir kombinieren aus irgendwelchen alten Spionagefällen einen neuen, nicht existenten und tippen ein paar neue Zeugenaussagen dazu. Unterschriften und möglichst viele Stempel drauf. Das macht immer Eindruck. In den neuen Zeugenaussagen behaupten dann irgendwelche Leute beispielsweise, ein gewisser Pierre Hunebelle hätte mit einer Reihe von Sprengstoffanschlägen im Raum von Nantes zu tun.«

Nanette brachte das Cordon bleu.

Sie warf Thomas einen liebevollen Blick zu und schnitt ihm schweigend das Fleisch klein, bevor sie wieder verschwand. Oberst Werthe lächelte: »Sie haben eine Eroberung gemacht. Wo bin ich stehengeblieben? Ach ja. Der Spielfall. Nachdem wir unseren erfundenen Akt also fertig hatten, ging ich zu Eicher und fragte ihn, ob der SD vielleicht einen gewissen Pierre Hunebelle verhaftet hätte. Ich tat ganz doof. ›Ja‹, sagte er prompt, ›der sitzt in Frèsnes.‹ Da zeigte ich ihm meinen Akt, die Geheime Kommandosache. Damit und mit entsprechend großem Klimbim – Canaris, Himmler und so – machte ich Eicher zum Geheimnisträger und ließ ihn zuletzt den Akt lesen. Der Rest, die Übernahme des reichswichtigen Spions Hunebelle, war dann ganz leicht …«

»Aber warum, Herr Oberst? Was wollen Sie von mir?«

»Das beste Cordon bleu meines Lebens. Also schön, im Ernst, Herr Lieven: Wir brauchen Sie. Wir haben ein Problem, das nur ein Mann wie Sie lösen kann.«

»Ich hasse Geheimdienste«, sagte Thomas Lieven und dachte an Chantal und Bastian und alle seine Freunde, und das Herz tat ihm weh. »Ich hasse sie alle. Und ich verachte sie alle.«

Oberst Werthe sagte: »Jetzt ist es halb zwei. Um vier Uhr bin ich im Hotel ›Lutetia‹ mit Admiral Canaris verabredet. Er will Sie sprechen. Sie können mitkommen. Wenn Sie für uns arbeiten, haben wir uns mit der ›Gekados‹ die Handhabe geschaffen, Sie aus den Klauen des SD zu befreien. Wenn Sie nicht für uns arbeiten wollen, kann ich nichts mehr für Sie tun. Dann muß ich Sie wieder bei Eicher abliefern …«

Thomas starrte ihn an. Fünf Sekunden verstrichen.

»Also?« fragte der Oberst Werthe.



3



»Rolle vorwärts!« schrie Feldwebel Adolf Bieselang in die riesige Turnhalle. Ächzend machte Thomas Lieven einen Purzelbaum nach vorn.

»Rolle rückwärts!« schrie Feldwebel Adolf Bieselang. Ächzend machte Thomas Lieven einen Purzelbaum nach hinten. Elf andere Herren ächzten mit ihm: sechs Deutsche, ein Norweger, ein Italiener, ein Ukrainer und zwei Inder.

Die Inder behielten beim Purzelbaum die Turbane auf. So streng waren ihre Bräuche.

Feldwebel Bieselang trug eine deutsche Luftwaffenuniform. Er war 45 Jahre alt, hager, blaß und unentwegt am Zerplatzen vor Wut. Wenn man ihn sah, erschrak man sofort über seinen riesigen aufgerissenen Mund mit den zahlreichen Plomben im Gebiß. Feldwebel Bieselang riß seinen Mund fast ununterbrochen auf, tagsüber beim Brüllen, nachts beim Schnarchen.

Der Wirkungsbereich von Feldwebel Bieselang – seit zwei Jahren verwitwet, Vater einer mannbaren, außerordentlich hübschen Tochter – lag 95 Kilometer nordwestlich von der Reichshauptstadt Berlin, nahe dem Ort Wittstock an der Dosse.

Feldwebel Bieselang bildete Fallschirmspringer aus, und zwar – zu seiner Wut – nicht solche in Uniform, sondern solche in Zivil, höchst undurchsichtige Kerle mit höchst undurchsichtigen Aufgaben. Inländer, Ausländer. Ein widerliches Gesocks. Zivilisten eben.

»Und Rolleeeee vorwärts!«

Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, alias Pierre Hunebelle, alias Eugen Wälterli, purzelte nach vorne.

Man schrieb den 3. Februar 1943.

Es war kalt, und der Himmel über der Mark Brandenburg glich einem grauen Tuch. Ununterbrochen erfüllte das Dröhnen der niedrig fliegenden Schulmaschinen die Luft.

Wie, so wird der geneigte Leser mit Recht fragen, war Thomas Lieven, dereinst jüngster, elegantester und erfolgreichster Privatbankier Londons, hierher verschlagen worden? Welche Laune des Schicksals hatte ihn in eine Turnhalle des Ausbildungslagers Wittstock an der Dosse geschleudert?

Thomas Lieven, der Pazifist und Feinschmecker, der Frauenverehrer und Militärverächter, der Mann, der die Geheimdienste haßte, hatte sich entschlossen, wieder für einen Geheimdienst zu arbeiten. Mit Oberst Werthe fuhr er in das Pariser Hotel »Lutetia«. Dort traf er Admiral Canaris, den geheimnisvollen Mann der deutschen Abwehr.

Thomas Lieven wußte: Wenn er an die Gestapo zurückgegeben wurde, war er in einem Monat tot. Es hatten sich schon Blutspuren in seinem Urin gefunden. Und Thomas Lieven dachte: Das scheußlichste Leben ist immer noch besser als der allerehrenhafteste Tod.

Trotzdem – er verleugnete auch vor dem weißhaarigen Admiral seine Grundsätze nicht: »Herr Canaris, ich werde für Sie arbeiten, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Aber ich gebe zu bedenken: Ich töte niemanden, ich bedrohe niemanden, ich ängstige, drangsaliere und entführe niemanden. Wenn Sie mir solche Aufgaben übertragen wollen, dann gehe ich lieber zurück in die Avenue Foch.«

Mit schwermütigen Augen schüttelte der Admiral den Kopf. »Herr Lieven, die Mission, bei der ich Sie einsetzen möchte, soll dem Ziel dienen, Blutvergießen zu verhindern und Menschenleben zu retten – soweit das überhaupt in unserer Macht steht.« Canaris hob die Stimme. »Deutsche Leben und französische. Ist Ihnen das sympathisch?«

»Menschenleben zu retten ist mir immer sympathisch. Die Nationalität oder die Religion sind mir dabei egal.«

»Es geht um die Bekämpfung gefährlicher französischer Partisanenverbände. Einer unserer Leute meldet, daß eine neuaufgebaute starke Widerstandsgruppe sich bemüht, mit London in Verbindung zu kommen. Bekanntlich unterstützt das ›War Office‹ die französische Résistance und leitet viele dieser Gruppen. Die betreffende Gruppe braucht noch ein Funkgerät und einen Code-Schlüssel. Beides werden Sie den Leuten liefern, Herr Lieven.«

»Aha«, sagte Thomas.

»Sie sprechen fließend Englisch und Französisch. Sie haben jahrelang in England gelebt. Sie werden als britischer Offizier mit dem Fallschirm über dem Partisanengebiet abspringen und ein Funkgerät mitbringen. Ein besonderes Funkgerät.«

»Aha«, sagte Thomas zum zweitenmal.

»Ein britisches Flugzeug wird Sie in die Gegend bringen. Wir haben ein paar erbeutete RAF-Maschinen, die wir für solche Fälle einsetzen. Natürlich müssen wir Sie zuvor als Fallschirmspringer ausbilden lassen.«

»Aha«, sagte Thomas Lieven zum drittenmal.



4



»Und Rolleeeee vorwärts!« schrie Bieselang. Die zwölf Herren, die da vor ihm in schmutzigen Drillichanzügen auf dem schmutzigen Hallenboden herumkugelten, hatte der rasende Feldwebel erst seit vier Tagen in der Mache. Sie lebten abseits von den rund tausend regulären Soldaten, die in Wittstock an der Dosse als Fallschirmjäger ausgebildet wurden.

»Und Rolleeeee rückwärts!«

Schon heftig schwitzend und mit schmerzenden Knochen kugelte Thomas Lieven wieder nach hinten. Den beiden Indern neben ihm rutschten die Turbane über die Augen.

Ihr dämlichen Hunde, dachte Thomas. Ich muß – aber ihr? Ihr habt euch freiwillig gemeldet, ihr Armleuchter! Der Italiener war ein Abenteurer. Der Norweger, der Ukrainer und die Deutschen waren offensichtlich Idealisten, und die beiden Inder waren Vettern des Politikers Subhas Chandra Bose, der vor zwei Jahren aus seiner Heimat nach Deutschland geflohen war.

»So, Schluß mit Rollen! Sprung auf, marsch, maaaarsch! An die Hochrecks! Bißchen dalli, ihr faulen Säcke, wird’s bald?«

Außer Atem, mit Seitenstechen und Herzbeschwerden, rasten zwölf Mann in Drillichanzügen durcheinander und begannen zu den Reckstangen emporzuklettern, die sich unter der Hallendecke, fünf Meter über dem Boden, befanden.

»Schwingen! Werdet ihr wohl ordentlich schwingen, ihr vollgefressenen Drückeberger?«

Thomas Lieven schwang.

Er kannte das alles bereits, es war ein Teil der sogenannten Bodenübungen. Man mußte lernen, sich fallen zu lassen. Aus einem Flugzeug herauszuspringen war offensichtlich kein Kunststück. Mit heilen Knochen auf dem Boden zu landen war, schien es, das schwerste.

»Noch zehn Sekunden – noch fünf Sekunden – fallen lassen!« brüllte Feldwebel Bieselang.

Zwölf Mann ließen die Hochreckstangen los und ließen sich fallen. Die Knie weich, ganz weich, der Körper elastisch, so, wie eine Katze fällt – das war der Trick. Wenn man sich steif fallen ließ, brach man sich die Knochen.

Thomas Lieven brach sich fast die Knochen, als er auf dem Hallenboden aufknallte. Er fluchte leise und rieb seine Beine.

Sofort tobte Bieselang los: »Zu dämlich zum Runterfallen, Nummer sieben, was?« Sie hatten hier alle Nummern, es wurden keine Namen genannt. »Was glauben Sie, Sie lahmer Sack, was mit Ihnen passiert, wenn Sie erst bei ’ner ordentlichen Böe mit ’m Schirm runterkommen, Mensch? Habe ich es denn nur mit Idioten zu tun?«

»Schon gut«, knurrte Thomas, sich mühsam erhebend. »Ich lerne es schon noch. Ich habe das größte Interesse daran, es zu lernen.«

Feldwebel Bieselang schrie: »Auf die Barren, marsch, maarsch! Wollt ihr wohl machen, ihr elenden, faulen Zivilisten … He, Nummer zwei, los, eine Ehrenrunde um die Halle, aber auf den Knien!«

»Ich bringe ihn um«, flüsterte der norwegische Quisling, neben Thomas hochkletternd, »ich schwöre, ich bringe ihn noch einmal um, diesen elenden Leuteschinder!«

Indessen Thomas kletterte, schwang und stand, bohrten in ihm trübe Gedanken: Keine Nachricht aus Marseille. Kein Wort von Chantal. Kein Wort von Bastian. Das Herz tat Thomas weh, wenn er daran dachte. Was für eine Zeit. War Überleben wirklich das Äußerste und Beste, was man noch verlangen durfte?

Die Deutschen hatten Marseille besetzt. Was war mit Chantal geschehen? Lebte sie noch? War sie deportiert worden, verhaftet? Gefoltert vielleicht wie er?

Schlaflos lag Thomas Lieven, wenn er aus solchen Angstträumen emporfuhr, lag da in der widerlichen Kasernenstube, in der sechs Mann schnarchten und stöhnten. Chantal – ach, und wir wollten gerade in die Schweiz fliehen und in Frieden leben – in Frieden, lieber Gott …

Thomas hatte schon vor Wochen versucht, Briefe an Chantal auf den Weg zu bringen. Noch in Paris, im Hotel »Lutetia«, hatte Oberst Werthe versprochen, einen Brief für ihn zu besorgen. Einen anderen Brief hatte Thomas in der Sprachenschule einem Dolmetscher mitgegeben, der nach Marseille fuhr. Doch Thomas hatte in den letzten Wochen andauernd die Adresse gewechselt. Wie sollte ihn ein Brief Chantals überhaupt erreichen? Der rasende Feldwebel Bieselang drillte seine zwölf Mann unbarmherzig weiter. Nach den Bodenübungen kamen die Übungen auf den betonhart gefrorenen, reifüberkrusteten Äckern. Hier wurde den Schülern ein geöffneter Fallschirm umgeschnallt. Ein auf einem Sockel montierter Flugzeugmotor wurde eingeschaltet. Der Schirm blähte sich in den gewaltigen Luftwirbeln auf und riß den Prüfling unbarmherzig übers Gelände. Er mußte lernen, ihn zu umlaufen und sich auf ihn fallen zu lassen, damit die Luft aus ihm entwich.

Es gab Schrammen und Wunden, geprellte Knie und verstauchte Gelenke. Feldwebel Bieselang hetzte seine zwölf Mann von morgens sechs bis abends sechs. Dann ließ er sie durch eine nachgebaute Ju-52-Flugzeugkabinentür aus großer Höhe in Tücher springen, die vier Schüler festhielten.

»Knie durch, Sie Trottel! Knie durch!« brüllte er.

Wenn man die Knie nicht ganz durchdrückte, traf man unten mit dem Gesicht auf – oder man verriß sich alle Muskeln. Feldwebel Bieselang lehrte seine Schüler alles, was sie wissen mußten – er lehrte nur zu grausam.

Am Abend vor dem ersten richtigen Fallschirmabsprung ließ er sie alle ihr Testament verfassen und in einem Umschlag versiegeln. Auch ihre Sachen mußten sie vor dem Schlafengehen packen: »Damit wir sie euren Angehörigen schicken können, wenn ihr morgen auf die Plauze fallt und abnibbelt!«

Bieselang redete sich ein, daß dies eine psychologische Falle war: Mal sehen, wer von den Kerlen sich ins Bockshorn jagen ließ! Sie ließen sich alle ins Bockshorn jagen – bis auf einen. Bieselang tobte: »Wo ist Ihr Testament, Nummer sieben?«

Sanft wie ein Lamm erwiderte Thomas: »Ich brauche keines. Ein Mann, der Ihre Ausbildung genossen hat, Herr Feldwebel, wird jeden Absprung unbeschädigt überstehen!«

Am nächsten Tag überschritt Feldwebel Bieselang dann endgültig seine Befugnisse. Mit den zwölf Mann der Gruppe stieg er gegen neun Uhr morgens in einer uralten, klapprigen Ju-52 auf. In zweihundert Meter Höhe flog die Maschine über das Absprunggelände. An Reißleinen aufgefädelt, standen die zwölf im Rumpf der Maschine hintereinander. Das Boschhorn des Piloten ertönte. »Fertigmachen zum Absprung!« brüllte Bieselang, der im Windschatten der offenen Luke stand. Sie trugen jetzt alle Stahlhelme, die beiden Inder trugen sie unter den Turbanen. Sie hielten alle schwere Maschinenpistolen in den Händen.

Nummer eins war der Italiener. Er trat vor. Bieselang schlug ihm auf die Schulter, der Mann breitete weit die Arme aus und sprang in Richtung auf die linke Tragfläche zu ins Leere hinaus. Die Leine, die an einer Stahlschiene eingehakt war, spannte sich und riß dem Springenden den Schutzüberzug vom Fallschirm. In der Luft wurde der Italiener sofort nach unten und hinten weggerissen.

Nummer zwei sprang. Nummer drei. Thomas dachte: Wie trocken meine Lippen sind. Ob ich in der Luft ohnmächtig werde? Ob ich zu Tode falle? Komisch, ich habe plötzlich so fürchterlichen Appetit auf Gänseleber. Ach, warum konnte ich nicht bei Chantal bleiben. Wir waren so glücklich miteinander …

Dann war Nummer sechs an der Reihe – der Ukrainer. Der Ukrainer wich plötzlich vor Bieselang zurück, stieß gegen Thomas und kreischte in jäher Panik: »Nein – nein – nein …«

Angstkoller. Typischer Angstkoller. Nicht unverständlich, registrierte Thomas Lievens Gehirn. Niemand durfte gezwungen werden zu springen – so lautete die Ausbildungsvorschrift. Wenn jemand bei zwei Flügen den Absprung verweigerte, schied er endgültig aus.

Allein, Feldwebel Adolf Bieselang kümmerte sich einen Dreck um Vorschriften. Er brüllte: »Du Scheißhund, du feige Sau, wirst du wohl …«, packte den Zitternden, riß ihn zu sich – und trat ihn wuchtig in den Hintern. Aufkreischend flog der Ukrainer hinaus.

Ehe Thomas sich noch von der Empörung über diese Szene erholt hatte, fühlte er sich schon selbst vorgerissen. Der Stiefel des Feldwebels traf auch ihn, und er stürzte, stürzte, stürzte hinein ins Leere.



5



Thomas überstand den ersten Fallschirmabsprung seines Lebens heil. Auch alle anderen landeten unbeschadet. Nur der Ukrainer brach sich das Bein. Mit der Fraktur und einem Nervenschock wurde er ins Lazarett gebracht. An diesem Nachmittag – sie übten in einer Hangarhalle das Schirmpacken – ging ein Raunen und Flüstern durch die Gruppe.

Für einen Gemeinschaftsmord plädierte leidenschaftlich der Norweger. Bieselang schlief in einem Extrazimmer, abseits der Gemeinschaftsstuben. Er schlief tief …

Die Deutschen waren dafür, sich beim Horstkommandanten zu beschweren und den Dienst zu verweigern.

Der Italiener und die Inder waren dafür, Bieselang nicht ganz, aber doch halb totzuschlagen. Alle Mann hoch, dann konnte kein einzelner bestraft werden.

Es erwies sich, daß das Lagerleben, das er so haßte, sprachlich bereits auf Thomas Lieven abgefärbt hatte. »Euch hat man ja das Gehirn verwässert«, sagte er in einer Zigarettenpause zu den Verschwörern. »Wißt ihr, was passiert? Bieselang wird befördert, und wir kommen in den Bunker – alle Mann hoch.«

Der Norweger knirschte mit den Zähnen vor Wut: »Aber der Hund – der verfluchte Hund … Was sollen wir denn machen mit ihm?«

»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, antwortete Thomas sanft. »Wir werden ihn zu einem Essen einladen.«

Von diesem Essen am 26. Februar 1943 spricht man im Hause des Gastwirts Friedrich Ohnesorge in Wittstock noch heute. Elfriede Bieselang, des Feldwebels bildhübsches Töchterlein, arbeitete als Kellnerin bei Ohnesorge.

In einem Krämerladen hatte Thomas verschiedene Kleinigkeiten entdeckt, die er unbedingt benötigte: getrocknete Pilze, Korinthen, Rosinen, ein Stück Orangeat und ein Stück Zitronat.

Während die blonde Elfriede ihm half, das Rindsfilet zuzubereiten, schimpfte sie auf ihren väterlichen Urheber: »Ist die Mühe gar nicht wert, der alte Miesnick! So ’n widerlicher blöder Krieger! Dauernd quatscht er einem seine Heldentaten vor. Die andern sind immer Feiglinge. Und er selber natürlich immer ein Held!«

»Elfriede«, forschte Thomas und wässerte dabei behutsam die Orangeat- und Zitronatstückchen, »sagen Sie mir, mein schönes Kind, hat Ihre selige Mama wohl den Kriegserzählungen Ihres Herrn Papa Gehör geschenkt?«

Die blonde Elfriede mußte lachen.

»Mama? Die ist aus dem Zimmer gelaufen, wenn er bloß angefangen hat. Die hat immer gesagt: In Griechenland hast du schießen können, zu Hause nicht!«

»Jaja«, meinte Thomas ernst, »und so kam eines zum andern.«

»Wie meinen Sie, Herr Lieven?«

»Der Mensch, schöne, junge, blonde Elfriede, ist das Produkt seiner Umgebung – wenn ich eine solche marxistische Maxime in unserer herrlichen nationalsozialistischen Zeit von mir geben darf.«

»Ich hab’ keine Ahnung, wovon Sie quatschen«, sagte Elfriede und trat sehr nahe an Thomas heran, »aber Sie sind so nett, so höflich, so gebildet …«

Darauf ging Thomas nicht ein, sondern sagte: »Und deshalb ist Ihr Papa böse geworden, wie er es heute ist.«

Menu • Wittstock, 26. Februar 1943

Thomas Lieven kocht einen

tollwütigen Feldwebel weich.

Kraftbrühe

Filet Colbert

Plumpudding mit Chaudeau

Kraftbrühe aus Rindfleisch, Knochen und Suppengemüsen herzustellen, dürfte wohl jeder Hausfrau geläufig sein.

Filet Colbert: Man nehme drei Pfund Rinderfilet, Salz, Pfeffer, 30 Gramm Butter, 30 Gramm Zwiebeln, 30 Gramm Champignons oder eingeweichte Trockenpilze, fünf Gramm Petersilie, einen Wirsingkohlkopf, ein Pfund frischen Speck und 150 Gramm Fett zum Braten. – Man schneide das abgehäutete Filet an der oberen Längsseite so ein, daß eine ein Zentimenter dicke Fleischplatte sich ähnlich wie ein Kofferdeckel zurückschlagen läßt. – Man hacke Zwiebeln, Petersilie und Champignons fein, röste sie in heißer Butter an und fülle sie unter den aufgehobenen Fleischdeckel ein. – Man löse von dem großen Kohlkopf die Blätter ab, schneide die starken Rippen flach und koche die Blätter eine Minute in siedendem Salzwasser. – Man wickle das Filet nun zunächst in die Kohlblätter, dann in dünne Speckscheiben, umbinde es mit Faden und brate es im Ofen. – Man entfette vor dem Anrichten den Bratensaft und verkoche ihn schnell mit etwas Butter und Fleischbrühe zur Sauce.

Plumpudding: Man verrühre vier Eidotter mit einem halben Pfund Mehl, drei achtel Liter Milch, 80 Gramm Zucker, einem halben Pfund Rosinen, einem halben Pfund Korinthen, einem halben Pfund feingehacktem Nierenfett, 30 Gramm Orangenschale und 30 Gramm Zitronat – beides kleingeschnitten –, einem viertel geriebener Muskatnuß, einem halben Glas Rum und etwas Salz. Man verarbeite alles tüchtig miteinander, rühre den Eischnee darunter und lasse es in der gut gebutterten Puddingform vier Stunden kochen. – Man begieße den Pudding beim Anrichten mit Rum, zünde ihn an und bringe ihn flammend auf den Tisch.

Chaudeau: Man verquirle ein viertel Liter Weißwein, zwei Eier, 50 Gramm Zucker, die geriebene Schale einer viertel und den Saft einer halben Zitrone und 5 Gramm Kartoffelmehl gut miteinander. – Man schlage die Sauce im Wasserbad schaumig und serviere sie sofort.

»Weshalb?«

»Niemand hat ihm zugehört. Niemand hat ihn bewundert. Niemand hat ihn geliebt …«

Elfriede stand nun so nahe neben ihm, und ihre Lippen waren so erwartungsvoll geöffnet, daß er sie einfach küssen mußte. Es wurde ein langer Kuß.

»Du wärst ein Mann für mich«, flüsterte sie in seinen Armen, indessen neben ihnen in der Röhre das Rinderfilet Colbert brutzelte, »wir zwei …, wenn wir uns zusammenschmeißen würden … Ach, aber du bist ja viel zu fein für mich … Das mit meinem Alten, das hat mir noch keiner so erklärt wie du …«

»Sei ein bißchen netter zu ihm«, bat Thomas, »willst du, ja? Hör ihm ein bißchen mehr zu. Viele Herren drüben im Lager werden dir dankbar sein.«

Elfriede lachte und küßte ihn wieder. Aber trotz der Süße dieses Kusses einer Siebzehnjährigen dachte Thomas an Chantal, dachte: Ich denke an sie, wenn ich eine andere küsse. Mein Gott, ich liebe sie, ich liebe Chantal …

Das Essen, zu dem alle Geladenen reichlich skeptisch erschienen, wurde ein Riesenerfolg.

Thomas richtete eine kurze Ansprache an den Ehrengast Adolf Bieselang, die er mit den Worten schloß: »… und so danken wir Ihnen, verehrter Herr Feldwebel, dafür, daß Sie uns mit unerbittlicher Härte, mit Selbstaufopferung und nimmermüder Obsorge, ja, wenn es sein mußte, auch mit Fußtritten halfen, den inneren Schweinehund zu besiegen.«

Danach erhob sich Bieselang, Tränen in den Augen, und hielt eine Ansprache, die mit den Worten begann: »Meine sehr verehrten Herren, ich hätte nie gedacht, daß mir im Leben noch ein so schöner Moment beschieden sein würde …«

Ein Damm war gebrochen. Man ließ Feldwebel Bieselang reden, endlich, endlich, nach bösen, langen Jahren ließ man ihn reden! Und er sprach bei der Fleischbrühe über Norwegen, und beim Rinderfilet über Griechenland, und beim Plumpudding über Kreta.

Am nächsten Tag trat ein von Grund auf veränderter Adolf Bieselang vor die Gruppe hin und sprach: »Meine Herren, ich danke Ihnen für den schönen Abend. Wenn ich Sie nun bitten dürfte, mir zur Maschine zu folgen. Wir müssen leider das Springen noch ein wenig üben.«



6



Als Thomas am Abend des 27. Februar auf seine Unterkunft zuging, kam er an einem hohen Stacheldraht vorüber, der die Agentenabteilung von der Luftwaffenabteilung trennte. Jenseits des Zaunes stand ein Fallschirmjäger und pfiff ihn heran. »He!«

»Was ist los?«

»Die Beschreibung, die dieser Bastian mir gegeben hat, paßt auf dich.« Plötzlich war Thomas hellwach: »Bastian?«

»Heißt du Pierre Hunebelle?«

»Ja, das bin ich … Weißt du – weißt du vielleicht etwas von einer gewissen Chantal Tessier?«

»Tessier? – Nee – ich kenne nur diesen Bastian Fabre … Hat mir drei Goldmünzen dafür gegeben, daß ich den Brief besorge … Ich muß weg hier, Mensch, mein Spieß geht da drüben …«

Dann hatte Thomas Lieven das Kuvert in der Hand. Dann saß er auf einem Wegstein des Ackers. Es dämmerte. Es war kalt. Aber Thomas spürte die Kälte nicht. Er riß den Umschlag auf, zog den Brief hervor und begann zu lesen, indessen sein Herz klopfte wie ein riesiger Hammer …

Marseille, den 5. 2. 1943

Mein lieber alter Pierre!

Ich weiß gar nicht, wie ich diesen Brief anfangen soll. Vielleicht beguckst Du die Veilchen schon von unten, wenn ich diese Worte schreibe.

In den letzten Wochen habe ich so rumgemosert und einen Kumpel getroffen, der auf beiden Schultern trägt – arbeitet für die Résistance und für die Deutschen. Der hat aus Paris gewußt, was Dir alles passiert ist. Die verfluchten SD-Säue, wenn ich einen von denen erwische, erwürge ich ihn mit eigenen Händen. Jetzt, so hat der Kumpel gesagt, bist Du bei einem anderen Verein. Wie hast Du’s bloß geschafft? Und irgendwo bei Berlin wirst Du jetzt zum Fallschirmspringer ausgebildet. Mensch, ich piss’ in die Hosen! Mein Pierre ein deutscher Fallschirmspringer! Es wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Heulen wäre.

In Montpellier habe ich einen deutschen Soldaten kennengelernt, der ist richtig. Gespickt habe ich ihn außerdem. Der fährt nach Berlin. Dem gebe ich heute diesen Brief mit.

Chantal hat zwei Briefe von Dir gekriegt – aber wir haben niemanden für Antworten an der Hand gehabt.

Lieber Pierre, Du weißt, wie gern ich Dich habe – darum fällt es mir besonders schwer aufzuschreiben, was hier passiert ist. Am 24. Januar erklärte die deutsche Kommandantur: Das alte Hafenviertel muß geräumt werden!

An diesem Tag haben sie in unserem Dreh an die 6000 Leute verhaftet – viele kennst Du , und sie haben über 1000 Bars und Bordelle geschlossen. So was von Ringkämpfen mit Damen hast Du noch nicht gesehen!

Die Deutschen gaben uns nur vier Stunden Zeit, unsere Quartiere zu räumen, dann kamen schon ihre Sprengtrupps. Chantal, der alte François (Pferdefuß, weißt Du noch?) und ich waren zusammen bis zuletzt. Chantal war wie besoffen, wie eine, die Koks geschnupft hat! Nur ein Gedanke war in ihrem Hirn: ›Die Glatze‹ umlegen! Dantes Villeforte, Du erinnerst Dich? Diese dreimal verfluchte Sau hat Dich nämlich an die Gestapo verraten.

Also, an diesem Abend haben wir auf ihn gewartet, in einer Hauseinfahrt in der Rue Mazenod, gegenüber dem Haus, in dem er wohnte. Wir haben gewußt: Er verbirgt sich im Keller. Chantal hat gesagt: »Jetzt, wo die Deutschen die Häuser sprengen, muß er rauskommen.« Und so haben wir gewartet – stundenlang.

Junge, war das ein Abend! Rauch und Staub und Qualm in der Luft, und immer neue Häuser flogen hoch, Männer brüllten, Frauen kreischten, Kinder weinten …



7



Rauch, Staub und Qualm erfüllten die Luft. Explosionen dröhnten, Männer brüllten, Frauen kreischten, Kinder weinten …

Es war schon dunkel. Nur der rote, unheimliche Widerschein brennender Häuser erhellte das »Alte Viertel«. Reglos stand Chantal im Dunkel eines Torbogens. Sie trug lange, enge Hosen und eine Lederjacke, um das Haar ein rotes Tuch. Unter der Lederjacke verborgen hielt sie eine Maschinenpistole. Nichts regte sich in dem weißen Katzengesicht.

Wieder flog ein Haus in die Luft. Es regnete Steinsplitter. Gekreisch klang auf, deutsche Flüche, Schreien und Stiefelgetrampel. »Herrgott im Himmel, Chantal, wir müssen hier weg!« drängte Bastian. »Jeden Augenblick können die Deutschen hier sein! Wenn sie uns sehen – mit Waffen …«

Chantal schüttelte stumm den Kopf. »Haut ihr ab, ich bleibe hier.« Chantals Stimme klang heiser. Sie hustete. » ›Die Glatze‹ ist da drüben im Keller, das weiß ich. Er muß rauskommen, der Hund. Und ich lege ihn um. Ich habe geschworen, daß ich ihn umlege. Und wenn es das letzte ist, was ich tue!«

Gellendes Weibergekreisch schlug an ihre Ohren. Sie sahen die Straße hinauf. Da trieben Soldaten ein Rudel Mädchen vor sich her. Die Mädchen waren zum Teil nur mit Morgenröcken oder Frisiermänteln bekleidet. Sie schlugen um sich, sie bissen, traten und kratzten, sie wehrten sich mit Händen und Füßen gegen den Abtransport.

»Das sind die von Madame Yvonne«, sagte der »Pferdefuß«. Das Rudel Mädchen wurde an ihnen vorbeigetrieben. Undruckbare Flüche und Beschimpfungen hallten durch die Luft.

Plötzlich schrie Bastian auf: »Da!«

In der Hauseinfahrt gegenüber erschien Dantes Villeforte – mit drei anderen Männern. »Die Glatze« trug eine kurze Pelzjacke. Die Männer seiner Leibwache trugen dicke Pullover. Aus ihren Hosentaschen lugten die Kolben von Pistolen.

Bastian riß seinen Revolver hoch, aber Chantal schlug den Lauf herunter. Sie schrie: »Nicht! Du triffst die Mädchen!« Noch immer balgten die Frauen sich vor der Hauseinfahrt mit den deutschen Soldaten herum.

Danach ging alles sehr schnell.

Dantes Villeforte eilte geduckt auf einen der Soldaten, einen Unteroffizier, zu, immer darauf achtend, daß er durch einen Deutschen oder durch ein Mädchen vor Chantal gedeckt war.

Dem SD-Mann zeigte er einen Ausweis, der von einem gewissen Sturmbannführer Eicher, SD Paris, unterzeichnet war. Dann redete »die Glatze« schnell auf den Unteroffizier ein und deutete zum Tor, wo Chantal, Bastian und François standen.

In diesem Augenblick riß Chantal ihre Maschinenpistole hervor, legte an – doch zögerte wiederum, weil noch immer Mädchen im Schußfeld standen.

Dieses Zögern kostete Chantal das Leben. Mit einem hämischen Grinsen hob Villeforte, hinter einem Mädchen geduckt, seine Pistole und schoß das Magazin leer.

Ohne einen Laut sank Chantal in sich zusammen und schlug auf der schmutzigen Erde auf. Blut, ein Strom von Blut färbte die Lederjacke rot. Sie rührte sich nicht mehr. Ihre schönen Augen waren gebrochen.

»Los!« schrie François. »Durch den Hof! Über die Mauer!«

Bastian wußte: Es ging jetzt um Sekunden. Er fuhr herum und feuerte auf Villeforte, sah, wie der Gangster zusammenzuckte und sich an den linken Arm griff, hörte ihn quietschen wie ein angestochenes Ferkel.

Dann rannten Bastian und François um ihr Leben. Sie kannten jeden Stein im »Alten Viertel«, jeden Durchgang. Hinter der Mauer gab es ein Kanalgitter. Wenn man hier in die Abwässerschächte hinunterstieg, kam man außerhalb des »Alten Viertels« wieder heraus …



8

… wir haben den alten Kanal erreicht und uns in Sicherheit gebracht, schrieb Bastian Fabre.

Thomas Lieven ließ den Brief sinken, sah in die Dämmerung und den violetten Dunst, der mit der Abendstunde aufkam, und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann las er weiter:

Ich bin in Montpellier untergetaucht. Wenn Du jemals hierherkommst, dann frage nach mir bei Mademoiselle Duval, 12 Boulevard Napoléon, das ist jetzt meine Mieze.

Pierre, mein Gott, Pierre, unsere gute Chantal ist tot. Ich weiß doch, wie nah Ihr Euch gestanden habt. Sie hat mir gesagt, vielleicht hättet Ihr geheiratet. Du weißt, daß ich Dein Freund bin und darum so verzweifelt wie Du. Das Leben ist eine einzige merde. Werden wir uns je wiedersehn? Wann? Wo? Leb wohl, mein Alter. Mir ist zum Kotzen. Ich kann nicht weiterschreiben.

Bastian

Es wurde dunkel. Thomas Lieven saß auf dem Wegstein. Es war kalt. Aber Thomas spürte die Kälte nicht. Über sein Gesicht liefen Tränen. Tot. Chantal war tot. Plötzlich verbarg er den Kopf in den Händen und stöhnte laut auf. O Gott, er hatte Sehnsucht, er hatte so furchtbare Sehnsucht nach ihr, ihrer Wildheit, ihrem Lachen, ihrer Liebe. Drüben in der Kaserne schrien sie nach ihm, sie suchten ihn. Er hörte sie nicht. Er saß in der Kälte und dachte an seine verlorene Liebe und weinte.



9



Am 4. April 1943, kurz nach Mitternacht, überflog ein britisches Flugzeug des Typs »Blenheim« in einer Höhe von 250 Metern ein einsames Waldgebiet zwischen Limoges und Clermont-Ferrand. Es beschrieb einen gewaltigen Bogen und überflog das Waldgebiet zum zweitenmal. Darauf flammten in der Tiefe zwei Feuer auf, dann drei rote Lichtpunkte und endlich ein weißes Taschenlampensignal.

In der Kanzel des Flugzeuges mit den blau-weiß-roten RAF-Kreisen saßen zwei deutsche Luftwaffenpiloten und ein deutscher Luftwaffenfunker. Hinter ihnen stand ein Mann in erdbraunem Overall, made in England, einen Fallschirm englischen Fabrikats umgeschnallt.

Der Mann besaß hervorragend gefälschte britische Personalpapiere auf den Namen Robert Almond Everett, ebenso einen Militärpaß, dem zufolge er den Rang eines Captains hatte. Er trug einen Walroßschnauzbart und lange, dichte Koteletten. Zudem hatte er bei sich: englische Zigaretten, englische Konserven und englische Medikamente.

Der Flugzeugführer sah sich nach ihm um und nickte. Thomas Lieven zog seine altmodische goldene Repetieruhr aus der Kombination und ließ den Deckel aufspringen. 0.28 Uhr.

Mit Hilfe des Funkers warf er ein umfangreiches Paket an einem Lastenfallschirm aus der offenen Sprungluke. Dann trat er selbst in die Luke. Der Funker gab ihm die Hand.

Und dann, während er sich duckte, wie er es gelernt hatte, tat Thomas einen Schwur: Wenn ich davonkomme, wenn ich Dantes Villeforte noch einmal begegne auf dieser Welt, dann will ich dich rächen, Chantal, dann will ich dich rächen. Er sagte sinnlos vor sich hin: »Ich hab’ dich so lieb, Chantal.«

Dann warf er die Arme auseinander und sprang, auf die linke Tragfläche zu, hinaus in die dunkle Nacht …

In den ersten zehn Sekunden seines Sturzes dachte er folgendes: Junge, Junge, Junge! Also, wenn ich das jemals in meinem Londoner Club erzähle, bringen sie mich sofort in die Klapsmühle! Es ist nicht zu fassen. Beinahe vier Jahre lebe ich nun schon in dieser Welt des Wahnsinns. Den englischen, deutschen und französischen Geheimdienst habe ich übers Ohr gehauen – ich, ausgerechnet ich, ein Mann, der immer nur den Wunsch hatte, in Frieden zu leben, gut zu essen und schöne Frauen zu verehren! In Lissabon habe ich Pässe fälschen gelernt. In Marseille habe ich eine Universität für Ganoven gegründet. Der Not gehorchend, nicht der eigenen Tugend. Junge, Junge, Junge.

Unter sich sah Thomas auf einer kleinen Lichtung zwei Feuer lodern und die roten Punkte von drei Taschenlampen.

Während der zweiten zehn Sekunden seines Sturzes dachte er folgendes: In dem Dreieck zwischen den roten Punkten muß ich landen. Da ist die Lichtung frei von Bäumen. Wenn ich nicht in dem Dreieck lande, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß ich einen Eichenast in den … Mein Gott, und ich werde in diesem Monat erst vierunddreißig! Bißchen mit den Armen rudern. Na prima. Wieder über dem Dreieck. Ordentliche französische Partisanen sind das, die da unten die roten Taschenlampen halten. Sie glauben, ich werde von Colonel Buckmaster aus London zu ihnen geschickt. Wenn sie eine Ahnung hätten, daß ich von Admiral Canaris aus Berlin zu ihnen geschickt werde …

In den letzten zehn Sekunden seines Sturzes dachte er folgendes: So ein Walroßschnurrbart ist aber wohl das Widerlichste, was es gibt! Also wahrhaftig! Dauernd kommen einem die Haare in den Mund. Und dazu noch lange Koteletten. Die Brüder von der Abwehr haben mich gezwungen, mir beides wachsen zu lassen. Walroßbart und Koteletten. Typisch Geheimdienst! Damit ich englisch aussehe. Als ob ein echter englischer Captain, wenn er die Absicht hätte, in geheimer Mission über dem von den Deutschen besetzten Frankreich abzuspringen, sich nicht schleunigst Koteletten und Walroßbart abschneiden würde, um weniger englisch auszusehen. Trottel alle miteinander. Sollen sie mir doch …

Schmerzhaft knallte Thomas Lieven, alias Captain Everett, auf der Erde auf. Er fiel aufs Gesicht, bekam eine ordentliche Portion Schnurrbarthaare in den Mund und besann sich im allerletzten Augenblick darauf, daß er englisch fluchen mußte, nicht deutsch.

Dann richtete er sich langsam auf. Beleuchtet von den beiden flackernden Holzfeuern standen vier Menschen vor ihm, drei Männer und eine Frau. Sie trugen alle Windjacken.

Eine hübsche junge Frau war das. Blondes Haar, streng nach hinten genommen. Hohe Backenknochen, schräge Augen. Schöner Mund. Von den drei Männern war einer klein und fett, einer groß und hager und einer behaart wie ein Steinzeitmensch.

Der kleine Fette sprach Thomas englisch an: »Wie viele Kaninchen spielen im Garten meiner Schwiegermutter?«

Darauf erwiderte Thomas mit brillantem Oxford-Akzent: »Zwei weiße, elf schwarze, ein geschecktes. Sie sollen bald zu Fernandel kommen. Der Friseur wartet schon auf sie.«

»Lieben Sie Tschaikowsky?« fragte ihn die strenge Schönheit französisch. Ihre Augen funkelten, ihre Zähne glänzten im Widerschein des nahen Feuers, und sie hielt eine schwere Pistole schußbereit in der Hand.

Gehorsam antwortete er in englisch akzentuiertem Französisch mit dem Satz, den Oberst Werthe in Paris ihm auf den Weg mitgegeben hatte: »Ich bevorzuge Chopin.« Das schien die Blonde zu beruhigen, denn sie steckte das Mordwerkzeug ein.

Der kleine Fette fragte: »Können wir Ihre Papiere sehen?«

Thomas zeigte den vieren seine falschen Papiere. Der große, hagere Partisan sagte mit befehlsgewohnter Stimme: »Das genügt. Willkommen, Captain Everett.«

Sie schüttelten ihm alle markig die Hand.

So einfach geht die Sache also, dachte Thomas. Wenn ich mir an der Londoner Börse einen einzigen Tag lang solche Kinderspiele erlaubt hätte, wäre ich abends pleite gewesen. Aber wie!



10



Allzu schwierig war die Sache in der Tat nicht gewesen. Die Deutsche Abwehr hatte erfahren, daß sich in dem wildromantischen Waldgebiet über dem Tal der Creuze eine neue, starke Résistance-Gruppe der Franzosen gebildet hatte, das »Maquis Crozant«, so genannt nach dem kleinen Ort Crozant südlich von Gargilesse. Das »Maquis Crozant« fieberte darauf, mit London in Verbindung zu treten und nach englischen Weisungen gegen die Deutschen zu kämpfen. Die Gruppe war deshalb so gefährlich, weil sie in einem praktisch unkontrollierbaren Gebiet voller wichtiger Eisenbahnlinien, Straßen und Elektrizitätswerke operierte. Schluchten und felsige Hügel verhinderten jede größere Gegenaktion der Deutschen, etwa mit Panzern.

Die neue Gruppe hatte Verbindung zu »Maquis Limoges«. Dieser Verband besaß ein Funkgerät und stand in Kontakt mit London. Der Funker war allerdings ein Doppelagent, der auch für die Deutschen arbeitete. So erfuhr die Abwehr Paris vom Wunsche des »Maquis Crozant« nach einem eigenen Funkgerät.

Der verräterische Funker, der zwar nicht London, wohl aber die Deutschen verständigt hatte, nahm nun Funksprüche auf, die angeblich aus London, in Wahrheit aber von der Deutschen Abwehr Paris kamen. Darin wurde das »Maquis Limoges« gebeten, dem »Maquis Crozant« mitzuteilen, daß ein Captain namens Robert Almond Everett am 4. April 1943, kurz nach Mitternacht, über einer Lichtung in den Wäldern von Crozant abspringen würde … »Wo ist der Fallschirm mit dem Funkgerät?« fragte Thomas Lieven, alias Captain Everett, nun. Er war besorgt um dieses Gerät. Deutsche Funktechniker hatten lange daran gearbeitet.

»Schon geborgen«, sagte die strenge Schönheit, die niemals die Augen von Thomas nahm. »Darf ich Ihnen meine Freunde vorstellen.« Sie sprach schnell und sicher. Sie beherrschte die Männer, so wie Chantal die Ganoven ihrer Bande beherrscht hatte. Anstelle von Leidenschaft und Temperament operierte die Blonde mit intellektueller Kälte.

Der kleine Fette erwies sich als Robert Cassier, Bürgermeister von Crozant. Der hagere, schweigsame Mann mit dem klugen Gesicht erwies sich als ehemaliger Leutnant Bellecourt. Den dritten Mann stellte die seltsame Blonde als Emile Rouff vor, Töpfer aus Gargilesse.

Thomas dachte: Dieser blonde, kesse kleine Partisanenblaustrumpf sieht mich so böse an. Warum eigentlich? Oder soll das nicht böse sein, sondern sinnlich? Ein unheimliches Frauenzimmer! Der Töpfer, der einen Vollbart und wallendes Haupthaar trug, gab bekannt: »Ich habe vor neun Monaten geschworen, daß ich mein Haar erst schneiden lassen werde, wenn die Hitlerbrut vernichtet ist.«

»Wir dürfen nicht zu optimistisch sein, Monsieur Rouff. So vor ein, zwei Jahren werden Sie wohl nicht zum Friseur kommen.«

Thomas wandte sich an das junge Mädchen: »Und wer sind Sie, Mademoiselle?«

»Yvonne Dechamps, Assistentin von Professor Débouché.«

»Débouché?« Thomas blickte auf. »Der berühmte Physiker?«

»Man kennt ihn auch in England, nicht wahr«, sagte die blonde Yvonne stolz.

Und man kennt ihn auch in Deutschland, dachte Thomas. Aber das darf ich nicht sagen. Er forschte: »Ich dachte, der Professor unterrichtet an der Universität Strasbourg?«

Auf einmal stand der hagere Bellecourt vor ihm, seine Stimme klang flach und tonlos: »Die Universität Strasbourg wurde nach Clermont-Ferrand verlagert – weiß man das nicht in London, mon capitaine?«

Verflucht, dachte Thomas, das kommt davon. Ich schwätze zuviel. Er sagte kalt: »Sicherlich weiß man das. Ich wußte es nicht. Bildungslücke. Sorry.«

Danach entstand eine Pause, eine kalte, leblose Pause. Thomas dachte: Jetzt hilft nur Frechheit. Er sah den Leutnant hochmütig an und sagte kurz: »Wir haben wenig Zeit. Wohin gehen wir?« Der Leutnant erwiderte seinen Blick ruhig. Er sagte langsam: »Wir gehen zu Professor Débouché. Er erwartet uns. In der Moulin de Gargilesse.«

»In den Orten hockt zu viel Vichy-Miliz«, sagte Yvonne. Sie wechselte einen kurzen Blick mit dem Leutnant, der Thomas überhaupt nicht gefiel. Der Bürgermeister und der Töpfer sind harmlos, dachte er. Der Leutnant und Yvonne sind gefährlich. Er fragte: »Wer ist der Funker Ihrer Gruppe?« Schmallippig erwiderte die Blonde: »Ich.«

Natürlich. Das auch noch.



11



Professor Débouché sah aus wie Albert Einstein: ein kleiner, untersetzter Mann mit einem gewaltigen Gelehrtenschädel. Weiße Löwenmähne. Gütige, traurige Augen. Riesiger Hinterkopf. Er blickte Thomas Lieven schweigend lange an. Thomas zwang sich, diesen ruhigen, durchdringenden Blick zu ertragen. Ihm wurde heiß und kalt dabei. Fünf Menschen standen schweigend um ihn herum.

Plötzlich legte der Professor beide Hände auf Thomas Lievens Schulter und sagte: »Seien Sie willkommen!« Sie standen im Wohnraum der Mühle von Gargilesse.

Zu den andern sagte der Professor: »Der capitaine ist in Ordnung, meine Freunde. Ich erkenne einen guten Menschen, wenn ich ihn sehe.«

Von einer Sekunde zur andern wechselte das Betragen der vier. Eben waren sie noch förmlich und schweigsam gewesen. Nun redeten sie alle durcheinander, schlugen Thomas auf die Schulter und lachten und waren seine Freunde.

Yvonne trat vor Thomas. Ihre Augen leuchteten hell, sie waren meergrün und sehr schön. Sie legte die Arme um Thomas und küßte ihn. Ihm wurde heiß, denn Yvonne küßte mit der Leidenschaft einer Patriotin, die einen nationalen Dank abstattet. Danach sagte sie strahlend: »Professor Débouché hat sich noch nie in der Beurteilung eines Menschen geirrt. Wir vertrauen ihm. Er ist der liebe Gott für uns.« Der alte Mann hob abwehrend die Hände. Yvonne stand noch immer dicht vor Thomas. Sie sagte, und ihre Stimme klang aufreizend rauh: »Sie haben Ihr Leben eingesetzt für unsere Sache. Wir haben Ihnen mißtraut. Das muß Sie gekränkt haben. Verzeihen Sie uns. Bitte!«

Thomas sah den weißhaarigen, gütigen Gelehrten an, den Urzeitmenschen Rouff, den wortkargen Leutnant, den fetten, komischen Bürgermeister, sie alle, die sie ihr Land liebten, und er dachte: Verzeiht mir, ihr alle. Ich schäme mich so. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Ich wollte und will versuchen, euer Leben zu retten – und meines.

Original britische Armeekonserven hatte Thomas mitgebracht, original englische Zigaretten und Pfeifentabak, schottischen Whisky mit dem aufgeklebten Etikett »For Members Of His Majesty’s Royal Air Force Only«. Alle diese schönen Dinge stammten aus Beutebeständen der Deutschen Wehrmacht.

Die Partisanen öffneten eine Flasche und feierten ihn als Helden, und er dachte noch immer: Herrgott, ich schäme mich so.

Um britischer zu wirken, rauchte er Pfeife, er, der Nichtraucher war. Der Tabaksqualm kratzte ihn im Hals. Der Whisky schmeckte ölig. Ihm war elend, weil sie ihn nun alle wie einen Freund ansahen, wie einen Kameraden. Voller Verehrung. Voller Bewunderung. Und vor allem, weil Yvonne ihn so ansah, die kühle, intellektuelle Yvonne, deren Augen nun feucht glänzten, deren Lippen nun halb geöffnet waren …

»Was wir dringend brauchen«, sagte der langhaarige Töpfer, »das ist Dynamit und Munition für unsere Waffen!«

»Ihr habt Waffen?« fragte Thomas beiläufig.

Leutnant Bellecourt gab bekannt, daß die Mitglieder des »Maquis Crozant« – etwa 65 Leute – zwei französische und ein deutsches Waffenlager geplündert hatten. »Wir besitzen«, sagte er nicht ohne Stolz, »dreihundertfünfzig französische Lebel-Karabiner, Kaliber siebenkommafünf, achtundsechzig britische Maschinenpistolen, Marke ›Sten‹, dreißig deutsche Fünfzig-Millimeter-Granatwerfer, fünfzig Maschinengewehre Modell FN und vierundzwanzig der französischen Armee.«

Gesegnete Mahlzeit, dachte Thomas.

»Und nicht zu vergessen: neunzehn Dreifuß-Maschinengewehre, Marke ›Hotchkiss‹.«

»Aber keine Munition dafür«, sagte der Bürgermeister von Crozant.

Das klingt schon wieder besser, dachte Thomas.

Der alte Professor sagte: »Wir werden alles nach London melden. Bitte, erklären Sie uns nun den Code und den Sender, mon capitaine.«

Thomas begann zu erklären. Yvonne begriff das Code-System sofort. Es beruhte auf mehrfachen Buchstabenverschiebungen und dem Einsetzen von Buchstabengruppen für Einzelbuchstaben. Thomas Lieven wurde immer trauriger. Er dachte: Das habe ich alles ausgeheckt. Jetzt funktioniert es. Ich habe gehofft, daß es funktioniert. Und nun …

Er schaltete das Gerät ein. Er sagte: »Es ist jetzt fünf Minuten vor zwei. Punkt zwei erwartet London unseren ersten Funkspruch. Auf der Frequenz siebzehnhundertdreiundsiebzig Kilohertz.« Auf diese Frequenz hatten deutsche Techniker den Sender eingestellt. Thomas sagte: »Sie melden sich immer als ›Nachtigall siebzehn‹. Sie rufen Zimmer zweihunderteinunddreißig im War Office London. Dort sitzt Colonel Buckmaster von der Special Operation Branch.« Er stand auf. »Bitte, Mademoiselle Yvonne.«

Sie hatten eine erste Botschaft gemeinsam verschlüsselt. Nun sahen sie alle auf ihre Uhren. Die Sekundenzeiger umliefen die letzte Minute vor zwei Uhr früh. Noch fünfzehn Sekunden. Noch zehn. Noch fünf. Noch eine …

Jetzt!

Yvonne begann zu morsen. Dicht gedrängt umstanden sie die Männer: der dicke, komische Bürgermeister, der hagere Leutnant, der alte Professor, der Töpfer mit dem langen Haar.

Thomas stand etwas abseits.

So geht das also, dachte er. Und ist nicht mehr aufzuhalten. Gott schütze euch alle. Gott schütze auch mich …



12



»Na, alsdann«, sagte der Gefreite Schlumberger aus Wien, »da san s’ ja.« Er hatte Kopfhörer auf und saß vor einem Funkgerät. Am Nebentisch saß der Gefreite Raddatz und betrachtete mit dem Interesse des Kenners ein französisches Aktmagazin.

Schlumberger winkte ihn herbei. »Hör auf mit de Weiba. Kumm her!«

Seufzend wandte der Gefreite Raddatz aus Berlin-Neukölln den Blick von einer schwarzhäutigen Schönheit und setzte sich neben seinen Kollegen. Während er Kopfhörer aufsetzte, knurrte er: »Noch ’n paar so Scheißtricks, und wa ham den Endsieg in der Tasche!«

Sie nahmen beide den Text auf, der durch Nacht und Nebel, über Hunderte von Kilometern, zu ihnen kam in langen und kurzen Signalen, ausgesandt von einer Frauenhand in einer alten Mühle am Ufer der Creuze …

Der Text stimmte genau mit jenem überein, den Schlumberger vor sich liegen hatte, seit dieser neue sonderbare Sonderführer namens Thomas Lieven, dem sie beide zugeteilt waren, acht Stunden zuvor Paris verlassen hatte.

»gr 18 34 512 etkgo nspon crags«, begann der Text. Und »gr 18 34 512 etkgo nspon crags« morste Yvonne nun auf Frequenz 1773.

»Geht wie g’schmiert«, brummte der Wiener.

»Sag mal, und daß die Jungs in London mithören, is det nich drin?« erkundigte sich der Gefreite aus Neukölln.

»Bei dera Frequenz, auf die was mir dös Ding eingstellt ham, kaum«, sagte Schlumberger.

Sie saßen in einem Mansardenzimmer des Hotels »Lutetia«, dem Quartier der militärischen Abwehr in Paris. Schlumberger schrieb die Zeichen mit. Raddatz erkundigte sich gähnend: »Karli, haste schon mal mit ’ner Negerin jetechtelt?«

»Geh, halt doch endlich die Goschn.«

Raddatz sagte trübe: »Wenn wir Deutschen mehr für Weiba übrig hätten, würden wa wenija Krieje machn.«

Schlumberger schrieb mit, was er an Morsezeichen hörte.

»Alles Kacke«, sagte Raddatz. »Det kapiert doch ’n Doofa, det wa den Kriej nich mehr gewinnen können. Warum machen se nich Schluß, die Scheißjeneräle?«

Die Signale in Schlumbergers Hörer verstummten. Er lehnte sich zurück, dann morste er weisungsgemäß: »Wir kommen wieder.«

Raddatz knurrte: »Ich fraje: Warum machen se nich Schluß, die Hunde?«

»Dös geht doch net. Der Hitler stellt s’ doch alle an die Wand, Schorsch!«

»Der Hitla, Mensch! Wenn ich det schon höre! Hitla – det sind wa alle. Weil wa ihn jewählt ham. Und Heil jeschrien. Zu doof, zu doof sind wa jewesen! Mehr denken, wenijer jlooben!«

In dieser wenig wehrfreudigen Weise unterhielten sie sich noch eine Weile, dann begann Schlumberger chiffriert die Meldung zu morsen, die »Sonderführer Lieven« ihm hinterlassen hatte. Dechiffriert lautete sie:

»von zimmer 231 kriegsministerium london an nachtigall 17 – wir haben sie klar empfangen – wir begrüßen sie als neues mitglied unserer special operation branch – melden sie sich von nun an täglich zur bekannten zeit – sie erhalten dann weisungen – captain everett wird heute am 4. april 1943 …«



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»… zum einbruch der dämmerung, etwa gegen 18 uhr auf der bekannten lichtung von uns in lysander-maschine abgeholt werden – es lebe frankreich, es lebe die freiheit – buckmaster – ende«, dechiffrierten fünf Männer und eine junge Frau den Morsetext, den sie in einer Mühle am Ufer der Creuze soeben erhalten hatten. Danach sprangen sie auf, umarmten einander und tanzten vor Freude.

Gegen drei Uhr morgens gingen sie alle zur Ruhe.

Yvonne hatte Thomas gebeten, ihr noch die Gebrauchsanweisung des Senders auf ihr Zimmer zu bringen. Mit der echt englischen Broschüre in der Hand klopfte er an ihre Tür. Er war müde. Er war traurig. Er mußte ununterbrochen an Chantal denken …

»Einen Moment!« rief Yvonnes Stimme von jenseits der Tür. Er dachte: Sie wird sich gerade ausgezogen haben und schnell etwas überwerfen. Er wartete. Dann hörte er ihre Stimme: »Jetzt können Sie kommen, mon capitaine!«

Er öffnete die Tür.

Er hatte sich geirrt. Wenn Yvonne bei seinem Klopfen noch etwas übergeworfen gehabt hatte, dann hatte sie es in der Zwischenzeit abgelegt. Denn sie stand so vor ihm, in dem kleinen, mit Bauernmöbeln eingerichteten, überheizten Zimmer, wie Gott sie geschaffen hatte.

Nein, dachte Thomas, nein, nicht auch das noch! Zuerst hat sie mir mißtraut. Jetzt vertraut sie mir und will mir das beweisen … O nein, ich kann einfach nicht. Chantal, geliebte tote Chantal … Er legte die Broschüre auf eine Bauernkommode, wurde rot wie ein Schuljunge und sagte hastig: »Ich bitte tausendmal um Vergebung.« Dann verließ er ihr Zimmer.

Yvonne stand reglos. Ihre Lippen zuckten. Aber sie weinte nicht. Sie ballte die Fäuste. Von einem Augenblick zum andern schlugen ihre Gefühle um. Dieser dreckige Hund. Dieser kaltschnäuzige Engländer. Das soll er mir büßen.

Zwischen dem Öffnen und Schließen einer Tür war eine Frau, bereit zur Liebe, zur tödlichen Feindin geworden.

Am Morgen war Yvonne verschwunden – keiner der Männer wußte, wohin. In ihrem Zimmer fanden sie einen Zettel: »Bin schon nach Clermont-Ferrand vorausgefahren. Yvonne.«

Der dicke Bürgermeister ärgerte sich: »So etwas! Wer kocht jetzt? Wir wollten Ihnen doch noch ein Abschiedsessen geben, mon capitaine.«

Menu • Moulin de Gargilesse, 4. April 1943

Selbst Partisanen werden zahm,

wenn Thomas Lieven kocht …

Roastbeef mit Gemüsen und Dripping cake

Englischer Apfelpudding

Roastbeef: Man lege ein gut »abgehangenes« Ochsenrippenstück ohne Knochen in die Bratpfanne, gieße reichlich kochendheiße Butter, der etwas Nierenfett beigemischt werden kann, darüber und brate schnell von allen Seiten an, salze und pfeffere dann. – Man schiebe die Pfanne in den gut vorgeheizten Bratofen und brate das Fleisch 45 Minuten unter sehr häufigem Begießen, bei anfangs scharfer, dann mäßiger Oberhitze, möglichst ohne Wasserzugaben. Man kann das Fleisch mehrmals wenden, aber in der letzten Bratzeit soll die Fettschicht nach oben liegen. Nach dem Herausnehmen aus der Pfanne nicht sofort aufschneiden, sonst läuft der ganze Saft heraus, und das Fleisch wird grau. Man lasse den Braten einige Minuten ruhen. – Man kann das Roastbeef auch sehr gut auf dem Grill braten, benützt dann das herausgetropfte Fett für den Dripping cake.

Dripping cake: Man verquirle fünf bis sechs Eier gründlich mit einem viertel Pfund Mehl, gut einem halben Liter Milch und etwas Salz und gieße es in das heiße Fett in der Bratpfanne, aus der das Roastbeef herausgenommen wurde. – Man lasse es knapp zehn Minuten bei guter Hitze im Bratofen backen, bis die Masse unten braun und obenauf leicht fest geworden ist. – Man schneide den Dripping cake in Stücke und garniere die Masse um das tranchierte Roastbeef. – Man kann das Gericht auch ohne Roastbeef auf ausgelassenen Speckwürfeln zubereiten und als »Yorkshire-Pudding« servieren.

Apfelpudding: Man nehme ein Pfund feines Mehl, 250 Gramm festes, eine Nacht gewässertes und ganz fein gehacktes Nierenfett, einen gehäuften Teelöffel pulverisierten Ingwer, etwas Salz, mische alles sehr gründlich durcheinander. Man mache dann mit kaltem Wasser einen Teig daraus, der nicht an den Händen kleben darf. – Man rolle ihn rund aus, lege eine Serviette in eine tiefe Schüssel, stäube etwas Mehl darüber und lege das ausgerollte Blatt hinein. Man fülle es mit in Viertel geschnittenen, geschälten Äpfeln von einer sauren Sorte, drücke den Teig oben fest zusammen und binde das Tuch zu. Man koche den Pudding mit zwei Eßlöffeln Salz zwei Stunden ununterbrochen in stark kochendem Wasser. – Man serviere ihn ohne Sauce mit Streuzucker. – Man kann den Pudding wesentlich verfeinern, indem man die zerschnittenen Äpfel mit Butter, je 100 Gramm Rosinen und Korinthen, 50 Gramm feingeschnittenem Zitronat und Orangeat sowie etwas Zucker und Rum einige Minuten dünstet, bevor man sie in den Teig füllt.

»Wenn die Herren mich an den Herd lassen würden …«

»Sie können kochen? Donnerwetter!«

»Ein wenig«, sagte Thomas bescheiden. Sodann kochte er – was blieb ihm übrig – englisch, äußerst englisch. Er wußte, daß er bei Franzosen damit einiges riskierte.

Sein Roastbeef schmeckte jedoch allen ausgezeichnet. Nur die Gemüse, die es dazu gab, erregten die Kritik des Bürgermeisters: »Sagen Sie mal, Sie kochen das alles nur in Salzwasser?«

»Ja, wir Engländer lieben es so«, antwortete Thomas, ein paar Schnurrbarthaare aus dem Mund ziehend.

Er führte eine Doppelkonversation, denn gleichzeitig erzählte ihm Professor Débouché, daß es in Clermont-Ferrand mit der Herstellung gefälschter Dokumente hapere: »Neuerdings verlangen die Kontrollen immer Personalausweise und Lebensmittelstammkarten. Wie, meinen Sie, capitaine, könnten wir uns besser sichern?«

»Woraus besteht denn die Beilage um das Roastbeef?« fragte gleichzeitig der verfressene Bürgermeister.

»Einer nach dem andern«, antwortete Thomas Lieven. »Der Teig besteht aus Eiern, Milch und Mehl, die man versprudelt. Ohne Roastbeef nennen wir das Gericht ›Yorkshire-Pudding‹, mit Roastbeef ›Dripping Cake‹.«

Dann wandte Thomas sich Professor Débouché zu. In den nächsten Sekunden wurde er zum Begründer einer Superfalschdokumentenzentrale. Er sagte: »Sie müssen Ihre Papiere lückenlos fälschen, Professor. Sie haben doch in allen Ämtern Ihre Leute, nicht wahr? Es muß alles zusammenpassen: Personalausweis, Wehrpaß, Soldbuch, der Zettel von der Volkszählung, die Lebensmittelkarte und die Steuerkarte. Alles auf einen falschen Namen. Und dieser falsche Name muß in allen betreffenden Ämtern eingetragen sein …«

Selbige Anregung Thomas Lievens wurde übernommen und ausgewertet in einer Weise, daß den Deutschen bald darauf die Haar zu Berge standen! Eine Lawine sogenannter »echter falscher Papiere« überschwemmte Frankreich. Viele Menschen wurden durch sie gerettet.



14



Zwischen Dämmerung und Nacht am 4. April 1943 landete eine »Lysander«-Maschine der Royal Air Force auf der kleinen Lichtung, über welcher Thomas Lieven achtzehn Stunden zuvor abgesprungen war. Ein Pilot in britischer Uniform saß in der Maschine. Der Pilot stammte aus Leipzig. Er war von der Deutschen Abwehr ausgesucht worden, weil er Englisch sprach, leider mit sächsischem Akzent.

Er sprach darum wenig und salutierte hauptsächlich, und zwar, was Thomas Lieven das Blut erstarren ließ, falsch. Zackig legte der Pilot die rechte Hand mit der Innenseite zur Wange an die Schläfe und nicht, wie Briten das taten, mit der Innenseite nach vorn.

Niemand von Thomas Lievens neugewonnenen französischen Freunden schien das bemerkt zu haben. Es gab Umarmungen und Küsse, männliche Händedrücke und gute Wünsche.

»Bonne chance!« schrien die Männer, als Thomas in die Maschine kletterte und dabei dem Luftwaffenpiloten zuzischte: »Sie Idiot, Sie dämlicher!«

Dann blickte er auf. Drüben am Waldrand stand unbeweglich Yvonne. Die Hände hatte sie in die Taschen ihrer Jacke vergraben. Er winkte ihr zu. Sie reagierte nicht. Er winkte noch einmal. Sie blieb ohne Leben.

Da wußte er, während er sich auf den Sitz fallen ließ: Diese Frau war mit ihm noch nicht fertig. Noch lange nicht!

Das Unternehmen »Nachtigall 17« lief vollkommen reibungslos an – wie Thomas es erhofft hatte.

Jeden Abend meldete sich das »Maquis Crozant« um 21 Uhr bei den Gefreiten Schlumberger und Raddatz im Hotel »Lutetia«, wartete, bis die Meldungen dechiffriert waren, und erhielt dann von »Colonel Buckmaster, Zimmer 231, Kriegsministerium London« die entsprechenden Antworten. Bei diesen Gelegenheiten waren noch zwei andere Männer anwesend: Oberst Werthe, der Thomas aus Gestapo-Haft befreite, und jener Hauptmann Brenner, der das Leben unseres Freundes schon seit langem mit so großem Interesse verfolgte.

In Hauptmann Brenner lernte Thomas den typischen Berufssoldaten kennen: nüchtern, stur, pedantisch, nicht unanständig, kein Nazi – aber eben ein »Kommißkopp«, ein Befehlsempfänger, der wie eine Maschine arbeitete, ohne Gefühle, ohne kritischen Gedanken und fast ohne Herz.

Brenner, ein kleiner Mann mit präzisem Scheitel, goldgefaßten Brillen und energischen Bewegungen, verstand denn auch von Anfang an nicht das »ganze Theater mit dieser Nachtigall siebzehn«, wie er sich ausdrückte.

Zu Anfang schickte Thomas den Leuten von »Maquis Crozant« hinhaltende Weisungen. »Nachtigall 17« indessen verlangte es nach Taten. Die Widerständler wollten losschlagen. Sie verlangten Munition für ihre Waffen!

Daraufhin brachte die deutsche Besatzung einer englischen Beutemaschine in einer warmen Mainacht über dem Waldgebiet zwischen Limoges und Clermont-Ferrand vier Fallschirme mit Munitionskisten zum Abwurf. Die Munition hatte nur einen Fehler: Sie paßte in Typ und Kaliber nicht zu den Waffen des »Maquis Crozant« …

Endloses Funkspruchwechseln war die Folge. Wieder vergingen Tage. »London« bedauerte den Irrtum. Es würde gutgemacht, sobald die richtige Munition für die Waffen, die zum Teil aus deutschem und französischem Besitz stammten, vorhanden sei.

»London« trug dem »Maquis Crozant« auf, Lebensmittelvorräte anzulegen. Es war bekannt, daß die Bevölkerung jener unzugänglichen Gegenden hungerte. Hungernde Menschen aber konnten gefährliche Amokläufer werden …

Wieder starteten Beutemaschinen mit deutschen Piloten. Diesmal warfen sie Fallschirme mit britischen Beutekonserven, britischen Beutemedikamenten, Whisky, Zigaretten und Kaffee ab. Hauptmann Brenner begriff diese Welt nicht mehr: »Wir saufen gefälschten Pernod – und diese Herren Partisanen echten Whisky! Ich rauche Gauloises – und diese Partisanen vielleicht Henry Clay! Wir päppeln die Kerle noch auf, damit sie dick und fett werden! Das ist doch Wahnsinn, meine Herren, das ist doch Wahnsinn!«

»Das ist kein Wahnsinn«, belehrte ihn Oberst Werthe. »Lieven hat recht. Es ist die einzige Möglichkeit, die Leute daran zu hindern, uns gefährlich zu werden. Wenn sie erst mal Eisenbahnlinien und E-Werke in die Luft gesprengt haben, hauen sie ab nach allen Himmelsrichtungen, und wir erwischen keinen einzigen von ihnen.«

Im Juni 1943 wurde »Nachtigall 17« so unruhig, daß Thomas seine Taktik änderte: Britische Beuteflugzeuge mit deutschen Besatzungen warfen nun über dem Partisanengebiet Munition ab, die wirklich zu den Waffen paßte.

Doch kurze Zeit darauf erhielt das »Maquis Crozant« diese Weisung:

maquis marseille zu großen sabotageakten und überfällen eingesetzt – es ist unbedingt notwendig, daß ihr eure waffen und eure munition vorübergehend den kameraden zur verfügung stellt.

Mächtiges Funkgezeter.

Aber »London« blieb hart. Dem »Maquis Crozant« wurde mit präzisen Orts- und Zeitangaben mitgeteilt, wo die Waffen zu übergeben seien.

In einer gewittrigen Nacht wechselten sie in den Wäldern neben der Landstraße, die von Belac nach Mortemart führt, dann denn auch die Besitzer. Die neuen Eigentümer, die sich sehr französisch gebärdet hatten, fuhren mit mehreren Lastwagen davon. Als sie wieder unter sich waren, unterhielten sie sich so, wie sie es gewohnt waren: im deutschen Landserjargon.

Anfang Juli erfuhr Oberst Werthe über den verräterischen Funker des »Maquis Limoges«, daß das »›Maquis Crozant‹ die Schnauze voll von London« hatte. Eine gewisse Yvonne Dechamps hetzte die Männer auf. War das überhaupt London, mit dem sie in Funkverkehr standen? Auch jener Captain Everett, unkte diese Yvonne, sei ihr nicht geheuer gewesen! Schon gar nicht der RAF-Pilot, der ihn abgeholt hatte. Der hatte nämlich wie ein »boche« salutiert.

»Verflucht«, sagte Thomas Lieven, als er das erfuhr. »Ich wußte ja, daß dies mal kommen würde. Herr Oberst, jetzt gibt es nur noch eines.«

»Nämlich?«

»Wir müssen Nachtigall 17 den Auftrag und die Möglichkeit zu einem echten und ernsten Sabotageakt bieten. Wir müssen eine Brücke, eine Eisenbahnlinie oder eine Elektrizitätszentrale opfern – um damit vielleicht viele Elektrizitätszentralen, Brücken und Eisenbahnlinien zu retten.«

Hauptmann Brenner, der diesem Gespräch beiwohnte, schloß die Augen und stöhnte: »Übergeschnappt! Sonderführer Lieven ist übergeschnappt!«

Auch Oberst Werthe war verstört: »Es hat alles Grenzen, Lieven. Also wirklich! Was verlangen Sie von mir?«

»Ich verlange von Ihnen eine Brücke, Herr Oberst!« schrie Thomas plötzlich los. »Verflucht noch mal, es wird doch wohl in Frankreich noch eine Brücke geben, auf die wir verzichten können!«

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