3. Kapitel



1



Es ist soweit, dachte Thomas Lieven: Ich habe den Verstand verloren! Ich glaube in dem Mann, dem ich soeben eine portugiesische Telefonzellentür gegen den Schädel gerammt habe, Mr. Lovejoy vom »Secret Service« wiederzuerkennen. So etwas ist natürlich nur als ganz und gar verrückt zu bezeichnen. Denn dieser Mann kann nicht Lovejoy sein. Wie käme Lovejoy aus London wohl hierher an die Peripherie von Lissabon? Was hätte er wohl hier zu suchen?

Thomas beschloß, ein äußerstes Experiment zu wagen. Er überlegte: Ich werde dieses Phantom, diese Ausgeburt meiner anormalen Phantasie mit »Lovejoy« anreden. Dann wird sich sogleich herausstellen, ob ich wirklich verrückt geworden bin.

Thomas Lieven hob die Brauen und sagte: »Wie geht es Ihnen, Mister Lovejoy?«

»Schlechter als Ihnen, Mister Lieven«, antwortete der Hagere darauf prompt. »Glauben Sie, das war ein Vergnügen, Ihnen durch ganz Lissabon nachzulaufen? Und jetzt auch noch die Tür!« Lovejoy wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken. Auf seiner Stirn wuchs langsam, aber unaufhörlich eine Beule.

Also nicht ich bin irrsinnig, die Welt, in der ich lebe, ist es! Und der Irrsinn geht weiter! Und jetzt bekommt er anscheinend auch noch Methode, dachte Thomas. Er holte tief Luft, lehnte sich an die Telefonzelle und sagte: »Wie kommen Sie nach Lissabon, Mister Lovejoy?«

Der Vertreter großbritannischer Interessen verzog das Gesicht und meinte: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich Ellington nennen würden. So heiße ich nämlich in Portugal.«

»Eine Hand wäscht die andere. Dann nennen Sie mich aber auch Leblanc. So heiße ich nämlich in Portugal. Im übrigen ist damit noch nicht meine Frage beantwortet.«

Der Mann, der sich gerade Ellington nannte, erkundigte sich aufgebracht: »Sie halten uns Leute vom Geheimdienst wohl immer noch für Idioten, was?«

Der Mann, der sich gerade Leblanc nannte, antwortete höflich: »Ich bitte herzlich, mir die Antwort auf diese Suggestivfrage zu erlassen.«

Der britische Agent trat dicht an ihn heran: »Glauben Sie, wir wissen nicht, daß Admiral Canaris persönlich hinter Ihnen her ist? Glauben Sie, wir hören in London die deutschen Funksendungen nicht ab?«

»Ich dachte, sie senden chiffriert?«

»Wir haben ihren Dechiffrier-Code.«

»Und die Deutschen haben euren«, sagte Thomas, plötzlich unendlich erheitert. »Warum setzt ihr euch eigentlich nicht zusammen und spielt ›Schwarzer Peter‹?«

Grimmig sagte der Engländer: »Ich weiß, Sie sind ein Zyniker, ohne Herz. Ich weiß, Ihnen ist nichts heilig. Ich habe Sie sofort durchschaut – schon damals auf dem Flughafen in London. Sie sind ein Subjekt ohne Ehrgefühl, ohne Moral, ohne Verstand, ohne Charakter …«

»Schmeichler!«

»Und darum habe ich sofort gesagt: Laßt mich mit dem Burschen verhandeln! Der versteht nur eine Sprache, die!« Lovejoy rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander.

»Moment mal, immer hübsch der Reihe nach! Sagen Sie mir jetzt endlich, wie Sie hierherkommen!«

Lovejoy sagte es.

Wenn man ihm glauben wollte – und das mußte man wohl –, dann hatte der britische Geheimdienst in der Tat alle Funksprüche abgehört, die mit der Fahndung des Majors Loos nach Thomas Lieven zusammenhingen. Die letzte Funkmeldung hatte die frohe Kunde gebracht, daß Loos dem Gesuchten nach Lissabon folgen würde.

»… nach Lissabon!« schloß Lovejoy seinen Bericht. »Ich flog sofort mit einer Kuriermaschine los. Ich kam zwei Stunden vor Ihnen an. Ich verfolgte Sie vom Flughafen bis hierher. Sie und den anderen Herrn, der jetzt da drüben auf der Terrasse des Restaurants sitzt. Ich nehme an, das ist Major Loos.«

»Welcher Scharfsinn! Sie kennen den Major noch nicht persönlich?«

»Nein.«

»Mein Gott, dann kommen Sie doch mit hinüber in das Restaurant. Ich mache Sie miteinander bekannt. Wir essen zusammen, Muscheln natürlich, in Cascais muß man Muscheln essen …«

»Hören Sie mit dem Quatsch auf! Wir wissen, daß Sie ein doppeltes Spiel treiben!«

»Aha.«

»Sie besitzen eine Tasche mit den Listen der wichtigsten französischen Agenten in Frankreich und Deutschland. Ich werde nicht zulassen, daß Sie diese Listen an den famosen Major Loos verschachern! Er wird Ihnen Geld bieten, gewiß, viel Geld …«

»Ihr Wort in Gottes Ohr!«

»… aber ich biete ebensoviel, ich biete mehr!« Lovejoy lachte verächtlich auf. »Denn ich weiß, Sie interessiert nur Geld! Für Sie gibt es nicht Ehr’ und Glauben, nicht Gewissen und nicht Reue, keinen Idealismus, keine Anständigkeit …«

»So«, sagte Thomas Lieven gemessen, »jetzt reicht es, jetzt halten Sie aber schnell die Schnauze. Wer hinderte mich denn, nach England zurückzukehren und weiterzuleben wie ein friedlicher Bürger? Wer hat denn mitgeholfen, meine Existenz zu zerstören? Sie und Ihr dreimal verfluchter Geheimdienst. Glauben Sie, daß ich Sie sehr sympathisch finde, Sir?« Und er dachte: Jetzt sollt ihr aber was erleben, ihr verflixten Kerle. Alle miteinander!

»Entschuldigen Sie die Unterbrechung«, sagte Thomas Lieven, als er drei Minuten später zu Major Loos zurückkehrte, den man für einen nahen Verwandten seines angelsächsischen Berufskollegen halten konnte.

»Haben einen Bekannten getroffen, was? Ich sah Sie drüben bei der Telefonzelle stehen.«

»Einen alten Bekannten, ach ja! Und einen Konkurrenten von Ihnen, Herr Lehmann.«

Auf der Terrasse des Restaurants brannten jetzt Dutzende von Windlichtern, und aus der Tiefe klang noch immer der kehlige, feierliche Gesang der Fischer. Sanfter Südwestwind blies von der Mündung des Tejo her, der in der Dämmerung die Farbe von rauchigem Perlmutter angenommen hatte.

Loos wiederholte nervös: »Konkurrenten?«

»Der Herr arbeitet für den ›Secret Service‹.«

Loos schlug auf den Tisch und rief unbeherrscht: »Sie verfluchter Hund!«

»Nicht doch«, sagte Thomas rügend, »nicht doch, Lehmann. Wenn Sie sich nicht manierlich benehmen können, werde ich Sie allein lassen!«

Der Major nahm sich sehr zusammen. »Sie sind Deutscher. Ich appelliere an Ihr Vaterlandsgefühl …«

»Lehmann, zum letztenmal: Sie sollen sich anständig benehmen!«

»Kommen Sie mit mir zurück in die Heimat. Sie haben mein Ehrenwort als Abwehroffizier: Es geschieht Ihnen nichts! Am Ehrenwort eines Abwehroffiziers soll man nicht drehen und deuteln …«

»Sondern es am besten von vornherein nicht glauben«, sagte Thomas sanft.

Der Major schluckte schwer. »Dann verkaufen Sie mir die schwarze Tasche. Ich biete dreitausend Dollar.«

»Der Herr aus London bietet jetzt schon das Doppelte.«

»Und wieviel wollen Sie?«

»Dämliche Frage. Soviel ich kriegen kann.«

»Sie sind ein Schuft ohne Charakter.«

»Ja, das hat Ihr Kollege auch eben konstatiert.«

Von einem Moment zum anderen wechselte der Gesichtsausdruck des Majors. Er murmelte bewundernd: »Mensch, daß wir Sie nicht haben können …«

»Wieviel, Lehmann, wieviel?«

»Ich darf … Ich muß erst in Berlin rückfragen, neue Weisungen erbitten …«

»Erbitten Sie, Lehmann. Erbitten Sie, und beeilen Sie sich. Mein Schiff läuft in ein paar Tagen aus.«

»Sagen Sie mir nur eines: Wie haben Sie die Tasche ins Land gebracht? Sie wurden doch von den portugiesischen Zollbeamten bis auf die Haut durchsucht?«

»Ich habe mich fremder Hilfe versichert.« Thomas Lieven dachte dankbar an sein scheues Rehlein. »Wissen Sie, Lehmann, für solche Tricks braucht man eine für Sie und Ihresgleichen unerschwingliche Kleinigkeit.«

»Nämlich was?«

»Nämlich Charme.«

»Sie hassen mich, ja?«

»Herr Lehmann, ich habe ein glückliches Leben geführt, ich war ein zufriedener Bürger. Sie und Ihre Kollegen aus England und Frankreich sind schuld daran, daß ich heute hier sitze. Soll ich Sie dafür lieben? Ich wollte mit euch nichts zu tun haben. Nun seht zu, wie ihr mit mir fertig werdet. Wo wohnen Sie?«

»In der Casa Senhora de Fatima.«

»Ich wohne im Hotel ›Palacio do Estoril-Parque‹. Der Herr aus London übrigens auch. Fragen Sie Ihren Chef, wieviel ihm die schwarze Tasche wert ist. Ihr Kollege fragte heute nacht seinen Chef … So, und jetzt will ich endlich essen!«



2



Die Nacht blieb warm.

In einem offenen Taxi fuhr Thomas Lieven nach Lissabon zurück. Er sah, wie die mondbeschienenen Schaumkronen des Meeres sich an der Küste brachen, sah Luxusvillen am Rand der breiten Autostraße, sah dunkle Pinienwälder, Palmen und auf sanften Hügeln romantische Lokale, aus denen Frauenlachen und verwehte Tanzmusik zu ihm drangen.

Vorbei an dem Modebadeort Estoril fuhr er, vorüber an dem lichterfunkelnden Spielkasino und den beiden großen Hotels.

Europa versank in Schutt und Asche, mehr und mehr – aber hier lebte man noch wie im Paradies.

In einem vergifteten Paradies, dachte Thomas Lieven, einem tödlichen Garten Eden, angefüllt mit den Reptilien vieler Nationen, die einander bespitzelten und bedrohten. Hier in Portugals Hauptstadt war ihr Treffpunkt. Hier machten sie sich wichtig und trieben ihr Unwesen zu Scharen, die Herren der sogenannten »Fünften Kolonnen«, diese Harlekine des Teufels …

Im Herzen von Lissabon, auf dem prunkvollen Praça Dom Pedro, mit seinem schwarz-weißen Mosaikpflaster, stieg Thomas Lieven aus. Die Straßengärten der großen Kaffeehäuser, die den riesigen Platz säumten, waren noch immer voll besetzt von Einheimischen und Fremden.

Mit gewaltigen Schlägen verkündeten die Kirchturmuhren ringsum die elfte Nachtstunde. Indessen die Glocken noch hallten, sah Thomas zu seiner Verblüffung, wie Portugiesen und Flüchtlinge aus Österreich, Deutschland, Polen, Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Holland und Dänemark zu Hunderten von ihren Stühlen aufsprangen und zum unteren Ende des Praça Dom Pedro stürzten. Thomas ließ sich mitreißen in dem Meer von Menschenleibern.

Am Ende des Platzes befand sich ein gewaltiges Zeitungsgebäude. Unter dem Dach gab es ein Leuchtschriftband, über welches die letzten Nachrichten liefen. Tausende von Augen starrten gebannt zu der Lichtschrift empor, die für Unzählige gleichbedeutend war mit einer Entscheidung über Leben oder Tod.

Thomas las:

… (DNB): Deutscher Reichsaußenminister von Ribbentrop und italienischer Außenminister Ciano klären im Wiener Schloß Belvedere durch deutsch-italienischen Schiedsspruch endgültig die Frage der neuen ungarisch-rumänischen Grenzziehung …

(United Press): Deutsche Luftwaffe setzt ihre massiven Angriffe auf die britische Insel fort – Schwere Schäden und Verluste an Menschenleben in Liverpool – London – Weybridge und Felixtown …

(International News Service): Massiver Angriff italienischer Bomber auf Malta – Konzentrierte Angriffe auf britische Militärdepots in Nordafrika …

Thomas Lieven drehte sich um und blickte in die Gesichter der Menge. Er sah nur wenig gleichgültige, aber unzählige gepeinigte, geängstigte, verfolgte und hoffnungslose Menschen.

Auf seinem Weg zum Hotel wurde Thomas Lieven viermal von schönen jungen Frauen angesprochen, einer Wienerin, einer Pragerin, einer Pariserin. Der jüngsten, einem halben Kind, das aussah wie die Madonna, gab er Geld und wünschte ihr alles Gute. Sie sagte ihm, daß sie aus Spanien geflüchtet sei, vor Franco.

Betäubend dufteten die Blumen im Garten des sechsstöckigen Parque-Hotels. Auch die Halle glich einem exotischen Blütenmeer. Als Thomas sie durchschritt, folgten ihm Dutzende von aufmerksamen, lauernden, mißtrauischen und alarmierten Blicken.

Auch hier hörte er fast alle Sprachen Europas.

Aber hier saßen keine gepeinigten, geängstigten, hoffnungslosen Menschen. Hier saßen sie zu Haufen, Agenten und Agentinnen, die in Luxus und Wohlstand ihr ebenso gemeines wie idiotisches Handwerk betrieben – im Namen der jeweiligen Vaterländer.

Als Thomas sein Appartement betrat, schlangen sich weiche Arme um seinen Nacken, und er roch Mabel Hastings’ Parfüm. Die junge Stewardeß trug eine weiße Perlenkette und hochhackige Schuhe; sonst nichts.

»Ach, Jean, endlich – endlich … Wie habe ich auf dich gewartet!« Sie küßte ihn zärtlich, er erkundigte sich sachlich: »Wo ist die schwarze Tasche?«

»Deponiert im Hoteltresor – wie du mir aufgetragen hast …«

»So ist es gut«, sagte Thomas Lieven. »Dann wollen wir jetzt nur noch von der Liebe reden.«

Am nächsten Morgen um 8 Uhr 30 flog eine müde, aber heitere Mabel Hastings nach Dakar. Am nächsten Morgen um 10 Uhr machte sich Thomas Lieven, heiter und durchaus nicht müde, nach einem umfangreichen Frühstück daran, vor seiner Abreise aus Europa noch gründliche Rache an seinen Peinigern vom deutschen, englischen und französischen Geheimdienst zu nehmen …

In der größten Buchhandlung der Stadt, in der Avenida da India, suchte am Morgen des 31. August 1940 ein elegant gekleideter Herr nach Plänen von deutschen und französischen Städten. Tatsächlich fand er auch solche Pläne, unter anderem in einem Baedeker aus dem Jahre 1935. Danach wanderte Thomas Lieven zum Hauptpostamt. Seinem Charme und seiner Überredungskunst erlag eine ältere Beamtin. Eine Stunde lang standen ihm Telefonbücher von fünf deutschen und vierzehn französischen Städten zur Verfügung. Die Hauptpost der Weltstadt Lissabon besaß eine komplette Bibliothek aller europäischen Telefonverzeichnisse.

Aus diesen Telefonbüchern schrieb Thomas insgesamt 120 Namen und Adressen heraus. Dann kehrte er in sein Hotel zurück, holte die schwarze Tasche aus dem Tresor und begab sich in sein angenehm kühles Appartement im ersten Stock, vor dessen Fenstern sich ein Park mit märchenhaften Pflanzen und Bäumen, Springbrunnen und bunten Papageien ausbreitete.

Um in einen möglichst ausgeglichenen Geisteszustand zu geraten, ließ er sich vom Etagenkellner rasch noch einen Tomatencocktail kredenzen, dann machte er sich an die Arbeit.

Er öffnete die schwarze Tasche. Sie enthielt sein gesamtes Bargeldvermögen. Sie enthielt sechs engbeschriebene Listen sowie neue Konstruktionspläne von schweren Panzern, Flammenwerfern und einem Jagdbomber.

Am liebsten würde ich diesen verfluchten Dreck gleich ins Klo werfen, dachte Thomas, aber sicherlich weiß Major Débras von den Plänen und würde sie vermissen. Die Herren Lovejoy und Loos jedoch wissen nichts von ihrer Existenz, die wollen nur die Listen. Und Listen sollen sie haben …

Er sah die sechs Schreibmaschinenbogen an. Sie nannten die Namen der Offiziere und zivilen Angehörigen des »Deuxième Bureau«, von französischen Agenten in Deutschland, von Vertrauenspersonen in Deutschland und Frankreich – 117 Namen insgesamt.

Hinter den Namen standen die Adressen. Und hinter den Adressen standen jeweils zwei Sätze. Mit dem ersten war der Agent anzusprechen. Mit dem zweiten hatte der Agent zu antworten. Erst dann konnte man sicher sein, es mit ihm persönlich und keinem anderen zu tun zu haben.

Thomas Lieven las zum Beispiel: Willibald Lohr, Düsseldorf, Sedanstraße 34; 1. »Haben Sie vielleicht einen kleinen grauen Zwergpudel mit rotem Halsband gesehen?« 2. »Nein, aber in Lichtenbroich draußen wird noch Honig verkauft.«

Adolf Kunze-Wilke, Berlin-Grunewald, Bismarckallee 145; 1. »Sind das Ihre Tauben auf dem kupferfarbenen Dach des Gartenhäuschens?« 2. »Lenken Sie nicht ab. Ihre Garderobe ist nicht in Ordnung.«

Und so weiter.

Thomas schüttelte den Kopf und seufzte. Dann spannte er einen Bogen in die neue Schreibmaschine und entfaltete einen Stadtplan von Frankfurt am Main. Aus dem Münchner Telefonbuch hatte er unter anderen den Namen Friedrich Kesselhuth gewählt.

Diesen Namen tippte er nun, dann beugte er sich über den Stadtplan von Frankfurt.

Nehmen wir mal die Erlenstraße, dachte er. Die Erlenstraße lag an der Mainzer Landstraße. Es war eine kurze Straße. Thomas sah nach dem Kartenmaßstab – 1:16 000.

Wie viele Häuser können in der Erlenstraße stehen? überlegte Thomas. Dreißig. Vierzig. Aber niemals sechzig. Trotzdem. Sicher ist sicher.

Er tippte: Friedrich Kesselhuth, Frankfurt am Main, Erlenstraße 77. Und dahinter: 1. »Hat die kleine Verkäuferin bei Fechenheim eigentlich blonde oder schwarze Haare?« 2. »Sie müssen den Harzer Roller rasch essen, er verpestet die Luft.«

So, der nächste!

Einen Herrn Paul Giggenheimer aus Hamburg-Altona transportierte Thomas nach Düsseldorf in das Haus 51 der äußerst kurzen Rubensstraße. 1. »Galsworthy wurde 66 Jahre alt.« 2. »Wir müssen unsere Kolonien wiederhaben.«

Das wäre Nummer zwei, dachte Thomas Lieven. Jetzt brauche ich noch einhundertfünfzehn. Und den ganzen Mist muß ich dreimal tippen. Für Lovejoy. Für Loos. Für Débras. Ganz hübsche Arbeit. Wird aber auch gut bezahlt!

Er tippte weiter. Nach einer halben Stunde überfiel ihn plötzlich lähmende Niedergeschlagenheit. Er ging zum Fenster und sah in den Park hinab.

Verflucht noch mal, dachte er, so geht das ja überhaupt nicht!

Ich habe mir vorgenommen, die echten Listen aus der Welt zu schaffen, weil sie nur neues Unheil anrichten können, egal, wer sie bekommt, die Deutschen, die Engländer oder die Franzosen. Ich will nicht, daß durch diese Listen noch mehr Menschen sterben.

Andererseits will ich mich an all den Idioten rächen, die mein Leben zerstört haben. Aber räche ich mich so wirklich an ihnen? Verhindere ich so wirklich, daß neues Unheil angerichtet wird?

Wenn die Franzosen und die Engländer mit meinen gefälschten Listen arbeiten wollen, werden sie feststellen, daß nichts stimmt. Das wäre gut so! Aber die Deutschen!

Nehmen wir an, es gibt einen Namensvetter des Münchners Friedrich Kesselhuth in Frankfurt, er hat nur einfach kein Telefon. Oder nehmen wir an, die Erlenstraße in Frankfurt ist inzwischen verlängert worden, es gibt dort jetzt wirklich ein Haus Nr. 77 – die Gestapo wird alle Männer namens Kesselhuth holen. Man wird sie quälen, einsperren, töten …

Und das ist erst ein Name und eine Adresse. Und 116 andere stehen auf den Listen!

Vielleicht merken die Herren der drei Geheimdienste, daß ich sie hereingelegt habe, und werfen die Listen fort. Vielleicht sind sie wenigstens so intelligent. Ach, nach allem, was ich bisher erlebt habe, darf ich mich darauf nicht verlassen!

Aber verflucht, am 3. September kommt Débras und will die Tasche haben. Was mache ich bloß?

Wie einfach ist es, Menschen zu verraten und zu töten. Und wie umständlich, wie mühevoll ist es doch, Menschen zu bewahren und zu beschützen vor Schmerz, Verfolgung und Tod …



3



Das Telefon klingelte.

Thomas Lieven schrak aus seinen Gedanken auf und nahm den Hörer ans Ohr. Er schloß die Augen, als er die bekannte Stimme vernahm: »Hier Lehmann. Ich habe mit dem bewußten Herrn telefoniert. Also – 6000 Dollar.«

»Nein«, sagte Thomas.

»Was, nein?« Panik klang auf in der Stimme des Majors aus Köln. »Haben Sie schon verkauft?«

»Nein.«

»Was dann?«

Bedrückt sah Thomas auf das Blatt, das in der Maschine steckte. »Ich stehe noch in Verhandlungen. Ich nehme Ihr Angebot zur Kenntnis. Rufen Sie morgen wieder an.« Er hängte ohne ein weiteres Wort ein.

Fritz Loos müßte ich einen von den Kerlen auf meinen Listen nennen, dachte er wütend. Dann packte er alle Papiere in die schwarze Mappe und trug sie hinunter zum Chefportier, der sie in den Hoteltresor einschloß. Thomas hatte vor, einen kleinen Spaziergang zu machen und nachzudenken. Es mußte eine Lösung für sein Problem geben, mußte, mußte …

In der Halle saß der Agent Lovejoy. Er trug immer noch eine mächtige Beule auf der Stirn.

Lovejoy sprang auf und kam mit gierigen Augen heran. »Die Tasche, wie? Habe sie deutlich gesehen. Also, was ist?«

»Ich stehe noch in Verhandlungen. Fragen Sie mich morgen.«

»Hören Sie, ich biete mehr als Ihr Nazi, ich biete auf alle Fälle mehr!«

»Ja, ja, schon gut«, sagte Thomas Lieven und ließ ihn stehen. Tief in Gedanken trat er auf die sonnige Straße hinaus. Tief in Gedanken wanderte er durch die Stadt. In der Avenida da Liberdade wurde er aufgehalten. Unter den Palmen zog ein Leichenzug dahin. Polizisten sperrten den Verkehr. Ein bekannter Portugiese mußte da gestorben sein, denn Hunderte von schwarzgekleideten Männern und Frauen folgten ihm ergriffen auf seinem letzten Weg. Viele weinten. Passanten zogen den Hut. Es wurde laut gebetet, und es roch nach Weihrauch.

Hört! Aus dem Murmeln der Trauernden erklang heiseres Gelächter. Ein eleganter junger Herr war es, der da so ungeheuer taktlos störte.

»Schmutziger Ausländer«, sagte eine alte Frau und spuckte vor ihm aus.

»Ja, Mütterchen, ja«, sagte Thomas Lieven. Und dann eilte er, den Regenschirm geschultert, zum nahen Hauptbahnhof, so schnell er konnte.

In der Halle gab es einen großen Stand mit Zeitungen und Illustrierten aus der ganzen Welt. Churchill und Hitler, Göring und Roosevelt hingen hier friedlich nebeneinander, umrahmt von Pin-up-Girls, Freikörperkultur-Knaben und kriegerischen Schlagzeilen in vielen Sprachen.

»Zeitungen, bitte«, sagte Thomas Lieven außer Atem zu dem runzeligen alten Verkäufer. »Alle französischen, alle deutschen.«

»Sind aber von vorgestern.«

»Macht nichts! Geben Sie mir, was Sie haben. Auch die von voriger Woche. Und von vorvoriger Woche.«

»Sind Sie betrunken?«

»Völlig nüchtern. Los, Papa!«

Der alte Mann zuckte die Schultern. Und dann verkaufte er seinen gesamten Bestand an alten Nummern des »Reichs«, des »Völkischen Beobachters«, der »Berliner Zeitung«, der »Deutschen Allgemeinen Zeitung«, der »Münchner Neuesten Nachrichten« und an alten Nummern von »Le Matin«, »L’Œuvre«, »Le Petit Parisien«, »Paris Soir« und neun französischen Provinzblättern. Mit diesem Packen alter Zeitungen kehrte Thomas Lieven ins Hotel zurück und schloß sich in seinem Appartement ein. Und dann studierte er die alten, verstaubten Gazetten, aber immer nur die letzten Seiten, also immer nur jene Spalten, in denen – Todesanzeigen standen. Viele Leute starben täglich in Paris und Köln, in Toulouse und Berlin, in Le Havre und München. Den Toten konnte die Gestapo nichts mehr tun.

Thomas Lieven begann zu tippen. Die Arbeit ging ihm flott von der Hand. Denn nun konnte er mit gutem Gewissen sogar die richtigen Adressen verwenden …

Am 2. September 1940 erwarb unser Freund in einem Lederwarengeschäft der Avenida Duarte Pacheco zwei schwarze Taschen. Am frühen Nachmittag erschien er mit einer dieser Taschen in den eleganten Räumen des Herrn Gomes dos Santos.

Herr dos Santos, einer der besten Schneider Lissabons, schüttelte ihm zum Empfang persönlich und treuherzig lachend die Hand. Gelächter verlieh ihm ein wohlhabendes Aussehen. Herr Santos hatte sehr viel Gold im Mund.

In einem Umkleidezimmer mit rosafarbenen Seidentapeten traf Thomas Lieven den Major Loos, der einen schicken neuen Anzug aus dunklem Flanell trug.

»Gott sei Dank«, sagte Loos erleichtert, als er Lievens ansichtig wurde.

Seit drei Tagen kostete dieser Mensch ihn ohne Ende seine Nerven. Immer wieder war er mit ihm zusammengetroffen in Bars, in Hotelhallen, am Badestrand. Immer wieder hatte dieser Mensch ihn hingehalten: »Ich kann mich noch nicht entscheiden. Ich muß noch einmal mit dem Engländer reden.«

Dasselbe Spiel hatte Thomas Lieven mit Lovejoy getrieben. Auch diesen hatte er immer wieder vertröstet und darauf hingewiesen, daß sein Konkurrent mehr bot, immer noch mehr. Auf diese Weise war bei beiden Herren zuletzt ein Angebot von je 10 000 Dollar zu erreichen gewesen. Thomas wollte es dabei bewenden lassen.

Den beiden Herren hatte er ernst erklärt: »Es muß bis zu Ihrer Abreise absolut geheim bleiben, daß ich Ihnen die Tasche verkauft habe, sonst sind Sie Ihres Lebens nicht sicher. Die Übergabe muß darum an einem unauffälligen Ort stattfinden.«

Loos hatte sich für einen Umkleideraum im Reich des Herrn dos Santos entschieden. Er erklärte Thomas: »Toller Kerl, der Schneider! Macht Ihnen in drei Tagen einen tadellosen Maßanzug aus bestem englischem Stoff.« Er klopfte an seinen Ärmel. »Greifen Sie mal an!«

»Tatsächlich, ausgezeichnet.«

»Wir lassen alle hier arbeiten.«

»Wer ist alle?«

»Sämtliche Agenten, die in Lissabon wohnen.«

»Und dann nennen Sie das einen unauffälligen Ort?«

Loos zeigte sich begeistert von der eigenen Schlauheit: »Gerade! Verstehen Sie nicht? Keiner der lieben Herren Kollegen würde sich träumen lassen, daß ich dienstlich hier bin!«

»Aha.«

»Außerdem habe ich José hundert Escudo gegeben.«

»Wer ist José?«

»Der Zuschneider. Wir sind hier ungestört.«

»Haben Sie das Geld?«

»Selbstverständlich. In diesem Kuvert. Und die Listen?«

»In dieser Tasche.«

Danach sah sich der Major sechs Listen mit einhundertsiebzehn Adressen an und Thomas Lieven ein Kuvert mit zweihundert 50-Dollar-Noten. Beiden schien zu gefallen, was sie sahen.

Der Major schüttelte Thomas die Hand. »Meine Maschine geht in einer Stunde. Viel Glück, alter Schurke. Ich habe Sie richtig liebgewonnen. Vielleicht sehen wir uns wieder.«

»Hoffentlich nicht.«

»Na dann – Heil Schicki!« Loos hob den rechten Arm.

»Wie bitte?«

»So sagen die Herren von unserer Mission hier. Der Kerl soll doch mal Schicklgruber geheißen haben. Sind lauter prima Kameraden hier unten, wirklich. Sollten Sie näher kennenlernen.«

»Ach nein doch, danke.«

»Überhaupt keine Nazis!«

»Natürlich nicht«, sagte Thomas Lieven. »Gute Reise, Herr Lehmann. Und grüßen Sie unbekannterweise den Herrn Admiral von mir.«



4



Im Hinblick auf die besondere politische Lage Portugals zeigen wir keine Wochenschau

gab eine Tafel im Foyer des Lissaboner Filmtheaters »Odeon« bekannt.

Aber den deutschen Film »Feuertaufe« zeigte das »Odeon«!

In einer Loge traf Thomas Lieven während der Vieruhrvorstellung mit dem englischen Agenten Lovejoy zusammen. Während sich auf der Leinwand deutsche Stukas über Warschau hermachten, wechselten noch einmal eine schwarze Tasche und 10 000 Dollar den Besitzer. Während Bomben explodierten, Häuser in die Luft flogen und zackige Marschmusik erklang, brüllte Lovejoy, um den Schlachtenlärm zu übertönen, in Thomas Lievens Ohr: »Ich habe eigens dieses Kino ausgesucht. Hier können wir uns ruhig unterhalten, es versteht uns kein Mensch. Intelligent, was?«

»Sehr intelligent!«

»Der Nazi wird zerspringen!«

»Wann fliegen Sie nach London?«

»Noch heute abend.«

»Na, dann gute Reise.«

»Wie, bitte?«

»Ich sagte: Gute Reise!« schrie ihm Thomas ins Ohr.

Die echten Listen hatte er natürlich längst in kleine Stücke gerissen und im Badezimmer seines Appartements fortgespült. In der schwarzen Originaltasche, die im Tresor des Parque-Hotels ruhte, wartete die dritte Ausfertigung der falschen Listen mit den Namen von einhundertsiebzehn teuren Verblichenen auf den Major Maurice Débras.

Débras war in Madrid. Am 3. September wollte er in Lissabon eintreffen. Er hatte mit Thomas besprochen: »Vom 3. September an warten wir allabendlich ab 22 Uhr im Speisesaal von Estoril aufeinander.«

Jetzt also noch den Major erledigen, dachte Thomas Lieven, während er am Abend des 3. September mit der Schnellbahn nach Estoril hinausfuhr, und dann untergetaucht in einer kleinen Pension bis zum 10. September!

Am 10. September lief sein Schiff, die »General Carmona«, aus. Es war besser, überlegte Thomas, wenn er bis dahin möglichst unsichtbar blieb. Denn es war anzunehmen, daß bis dahin zumindest die Herren in Berlin herausgefunden haben würden, was er ihnen angetan hatte.

Daß Débras etwas merkte, war ziemlich unwahrscheinlich. Der Major wollte sofort weiter nach Dakar. Thomas dachte: Irgendwann in naher Zukunft wird natürlich auch er sehr enttäuscht von mir sein. Der arme Kerl! Ich habe ihn so gern. Aber Hand aufs Herz, was hätte ich tun sollen? Sicherlich wäre er in meiner Lage auf dieselbe Idee gekommen. Josephine ist eine Frau. Sie wird mich verstehen …



5



»Mesdames, Messieurs, faites vos jeux!«

Der Croupier warf die kleine weiße Kugel mit einer eleganten Bewegung in den langsam kreisenden Kessel. In verwirrender Gegenbewegung lief sie los.

Wie hypnotisiert verfolgte die Dame im roten Abendkleid ihren Lauf. Sie saß direkt neben dem Croupier. Ihre Hände zitterten über ein paar kleinen Türmen von Jetons. Sie war sehr bleich und sehr schön, vielleicht dreißig Jahre alt. Das schwarze Haar trug sie in der Mitte gescheitelt, es lag am Kopf an wie eine Kappe. Die Dame besaß einen aufreizend gewölbten Mund und leuchtende schwarze Augen. Sie sah beherrscht und aristokratisch aus. Und war völlig dem Roulett verfallen.

Thomas Lieven beobachtete sie seit einer Stunde. Er saß an der glitzernden Bar des riesigen Spielsaals und trank Whisky. Das Licht der Lüster fiel auf die kostbaren Bilder an den Wänden, auf weiß-goldene Riesenspiegel, dicke Teppiche, die Diener in Escarpins, die Herren im Smoking, die nackten Schultern der Frauen, das kreisende Rad, die laufende Kugel …

Klick!

»Zero!« rief der Croupier neben der Dame in Rot. Sie hatte verloren. Sie verlor seit einer Stunde. Thomas beobachtete sie dabei. Die Dame verlor nicht nur ein Vermögen, sie verlor langsam auch ihre Haltung. Mit unsicheren Fingern zündete sie eine Zigarette an. Ihre Lider flatterten. Sie öffnete die golddurchwirkte Abendtasche. Holte Scheine hervor. Warf sie dem Croupier hin. Der wechselte sie in Spielmarken. Die Dame in Rot setzte wieder.

Es wurde an vielen Tischen gespielt, auch Chemin-de-fer. Es gab viele schöne Frauen im Saal. Thomas Lieven sah nur eine: die Dame in Rot. Diese Mischung von Haltung und Erregtheit, guten Manieren und Spielleidenschaft regte ihn auf – hatte ihn schon immer aufgeregt.

»27, rouge, impair et passe!« rief der Croupier.

Wieder hatte die Dame in Rot verloren. Thomas sah, daß der Mixer den Kopf schüttelte.

Auch der Mixer sah der Dame zu. »So etwas von Pech«, sagte er mitleidig.

»Wer ist das?«

»Verrückte Spielerin. Was glauben Sie, was die schon verloren hat!«

»Wie heißt sie?«

»Estrella Rodrigues.«

»Verheiratet?«

»Verwitwet. Der Mann war Anwalt. Wir nennen sie Konsulin.«

»Warum?«

»Na, weil sie eine ist. Konsulin von irgend so einer Bananenrepublik.«

»Aha.«

»5, rouge, impair et manque!«

Wieder hatte die Konsulin verloren. Nur noch sieben einsame Jetons lagen vor ihr.

Thomas hörte sich plötzlich leise angesprochen: »Monsieur Leblanc?«

Er drehte sich langsam um. Ein kleiner, dicker Mann stand vor ihm. Der Kleine hatte ein rotes Gesicht, schwitzte und war sehr aufgeregt. Er sprach französisch: »Sie sind doch Monsieur Leblanc, nicht wahr?«

»Ja.«

»Folgen Sie mir auf die Toilette.«

»Warum?«

»Weil ich Ihnen etwas zu sagen habe.«

Verflucht, meine Listen … Einer von den Geheimdienstbullen hat Lunte gerochen. Aber welcher? Lovejoy oder Loos? Thomas schüttelte den Kopf: »Sagen Sie es hier.«

Der Kleine flüsterte Thomas ins Ohr: »Major Débras hat Schwierigkeiten in Madrid. Sein Paß wurde ihm abgenommen. Er kann das Land nicht verlassen. Er bittet Sie, ihm schleunigst einen falschen Paß zukommen zu lassen.«

»Was für einen Paß?«

»Sie hatten doch in Paris einen Haufen!«

»Die habe ich alle verschenkt!«

Der Kleine schien das nicht zu hören. Er raunte eilig: »Ich habe gerade ein Kuvert in Ihre Tasche gesteckt. In dem Kuvert befinden sich Fotos von Débras und meine Adresse in Lissabon. Dahin bringen Sie den Paß.«

»Erst mal einen haben!«

Der Kleine sah sich nervös um. »Ich muß hier weg … Tun Sie, was Sie können. Rufen Sie mich an.« Er eilte weg.

»Hören Sie doch –« rief Thomas. Der Kleine war verschwunden. Herrgott, man hat aber doch nur Ärger!

Was mache ich jetzt? So ein netter Kerl, dieser Débras! Ich muß ihn aus Gründen meiner Weltanschauung behumpsen, aber im Stich lassen – das kommt nicht in Frage! Wie helfe ich Débras aus Spanien heraus? Woher bekomme ich in der Geschwindigkeit einen falschen Paß für ihn?

Thomas Lievens Blick wanderte zu der Dame in Rot. Sie erhob sich gerade, verstört und bleich. Sie hatte anscheinend alles verloren. Plötzlich kam Thomas die Idee …

Zehn Minuten später saß er mit der Konsulin Estrella Rodrigues am schönsten Tisch des vornehmen Casino-Restaurants. Eine kleine Damenkapelle arbeitete sich durch Verdi. Drei Kellner vollführten ein ästhetisches Ballett um Thomas Lievens Tisch. Sie servierten eben das Hauptgericht: Leber auf portugiesische Art.

»Ausgezeichnet, die Paprikasauce«, lobte Thomas. »Wirklich, ganz ausgezeichnet. Finden Sie nicht, Madame?«

»Es schmeckt sehr gut.«

»Das verdanken wir dem Saft, Madame, dem Saft der Tomaten … Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Warum?«

»Sie haben mich eben so seltsam angesehen – so – so streng!«

Voller Würde erwiderte die Konsulin: »Monsieur, ich möchte nicht, daß Sie sich irgendeiner Art von Irrtümern hingeben. Es entspricht nicht meinem Wesen, mich von fremden Herren zum Essen einladen zu lassen.«

»Madame, es bedarf keines Wortes der Erklärung. Ein Gentleman weiß, wann er eine Dame vor sich hat. Vergessen wir nicht, daß ich es war, der Sie zu diesem kleinen abendlichen Imbiß nötigte, ja, der ihn Ihnen aufzwang!«

Die Konsulin seufzte und sah ihn plötzlich gar nicht mehr streng, sondern außerordentlich sentimental an. Wie lange der Herr Gemahl wohl schon tot ist, überlegte Thomas, indessen er sagte: »In Augenblicken großer Nervenspannung und Seelenpein sollte man immer etwas Kalorienreiches zu sich nehmen. Haben Sie – hm – sehr viel verloren?«

»Sehr, sehr viel!«

»Sie sollten nicht spielen, Madame. Noch ein paar Oliven? Eine Frau, die aussieht wie Sie, muß verlieren. Es ist nur gerecht.«

»Ach …« Der schöne Ausschnitt der Konsulin verriet ihre innere Unruhe. »Sie spielen gar nicht, Monsieur Leblanc?«

»Roulett nicht, nein.«

»Glücklicher!«

»Ich bin Bankier. Ein Spiel, dessen Verlauf ich nicht mit meiner Intelligenz beeinflussen kann, langweilt mich.«

Die schwarze Estrella sagte, plötzlich wieder erschreckend streng und wild: »Ich hasse das Roulett! Ich hasse es, und ich hasse mich, wenn ich spiele!«

Thomas Lieven begann sich aufzuregen. Diese Person, einmal sanft wie ein Lamm, dann übergangslos eine reißende Tigerin … Du lieber Gott, wird das ein Theater werden … Aber schööön!

»Ich hasse zweierlei auf dieser Welt, Monsieur!«

»Das wäre?«

»Das Roulett und die Deutschen«, zischte Estrella.

»Aha.«

»Sie sind Franzose, Monsieur. Ich weiß, daß Sie mich wenigstens in dem zweiten Punkt verstehen werden …«

»Durchaus, Madame, durchaus. Hm! Warum hassen Sie die Deutschen eigentlich?«

»Mein erster Mann war Deutscher.«

»Ich verstehe.«

Menu • 3. September 1940

Nach diesem Essen wurde die schöne Konsulin schwach.

Sardinentoast

Leber auf portugiesische Art

Melone in Champagner

Sardinentoast: Feinste große Ölsardinen ohne Haut und Gräten werden in dem Öl, in dem sie eingelegt waren, kurz auf beiden Seiten gebraten. Dann lege man sie auf frisch zubereiteten heißen Toast, umlege sie mit Zitronenscheiben und serviere. Am Tisch beträufle man sie mit Zitronensaft und bestreue sie außerdem mit etwas Pfeffer.

Bei dieser Speise als Vorgericht reiche man pro Person höchstens zwei belegte Toastscheiben, denn diese Sardinentoasts sollen den Appetit natürlich nur anregen, nicht jedoch erschlagen …

Leber auf portugiesische Art: Man wälze eine der Personenzahl entsprechende Anzahl Scheiben von Kalbs- oder Rindsleber in Mehl. Man beachte: Gesalzen wird Leber immer erst nach dem Braten. Man schneide zwei große Zwiebeln klein. Man befreie ein Pfund Paprikaschoten von Stiel, Kernen und dem weißen Pelz, schneide sie dann in schmale, kurze Streifchen.

Dann zerquetsche man ein Pfund enthäutete Tomaten und drücke den Saft heraus. Sodann dünste man die Zwiebeln in einer halben Tasse Öl hellgelb, gebe die Paprikastreifchen und danach die zerquetschten Tomaten hinzu.

Ist der Paprika weich, füge man den ausgepreßten Tomatensaft bei und lasse ihn noch fünf Minuten mitkochen. Danach streiche man die Masse durch ein Sieb, gieße etwas Sahne hinzu und erhitze das Ganze noch einmal. Mit Salz und scharfem Pfeffer würzen. Diese Sauce gieße man über die erst in letzter Minute gebratene Leber und garniere rundum mit dünnen Scheibchen von entkernten Oliven. Dazu reiche man trockenen Reis.

Melone in Champagner: Man köpfe eine schöne, reife Cantaloupmelone, benutze das geköpfte Stück als Deckel. Dann löse man das innere Fruchtfleisch heraus bis auf einen Rest von einem Zentimeter. Man entkerne dieses herausgelöste Fruchtfleisch, schneide es in mittelgroße Würfel und fülle es wieder in die Melone. Über diese Füllung gieße man einen herben Champagner – so viel, daß die Würfel gut bedeckt sind, aber nicht schwimmen.

Danach wird der »Deckel« aufgesetzt, die Melone kalt gestellt und eiskalt serviert. Man kann diesen Nachtisch auf viele Arten variieren, etwa, indem man likörgetränkte Kirschen oder andere Früchte hinzufügt. Der Feinschmecker bevorzugt die oben beschriebene Art, weil dabei das natürliche Aroma der Melone am besten zur Geltung kommt.

»Und Spielbankdirektor! Ich brauche nicht weiterzusprechen!«

Dieses Gespräch irrt ab, dachte Thomas Lieven und sagte darum: »Gewiß nicht. Etwas allerdings würde mir großen Spaß machen …«

»Nämlich?«

»Ihr Spiel einen Abend lang zu finanzieren.«

»Mein Herr!«

»Wenn Sie gewinnen, teilen wir.«

»Das geht nicht – das ist ausgeschlossen – ich kenne Sie doch überhaupt nicht …«, begann die Konsulin.

Kleiner Zeitsprung. Zehn Minuten später: »Also meinetwegen – aber nur unter der Bedingung, daß wir wirklich teilen, wenn ich gewinne!«

»Selbstverständlich.«

Estrellas Augen begannen zu leuchten, unruhig ging ihr Atem, die Wangen röteten sich: »Wo bleibt denn der Nachtisch, ach, ich bin so aufgeregt, ich fühle ganz deutlich: Jetzt werde ich gewinnen – was ich will, gewinnen …«

Eine Stunde später hatte die temperamentvolle Dame, welche die Deutschen und das Roulett haßte, zwanzigtausend Escudo verloren, also fast dreitausend Mark. Einer Maria Magdalena ähnlich kam sie erschüttert zu Thomas, der an der Bar saß: »O Gott, ich schäme mich so.«

»Aber warum denn bloß?«

»Wie soll ich Ihnen das Geld zurückgeben? Ich – ich bin im Moment ganz knapp …«

»Betrachten Sie es als Geschenk.«

»Unmöglich!« Jetzt sah sie wieder aus wie ein Engel der Rache, wie aus Marmor gemeißelt. »Wofür halten Sie mich! Es scheint, Sie haben sich in mir gründlich geirrt, mein Herr!«



6



Das Boudoir lag im Halbdunkel. Kleine Lämpchen mit roten Schirmen brannten. Auf einem Tischchen stand die Fotografie eines seriösen Herrn mit Zwicker und großer Nase. Der vor Jahresfrist verblichene Anwalt Pedro Rodrigues blickte, in Kleinformat und aus einem Silberrahmen, auf seine Witwe Estrella.

»Ach, Jean – Jean, ich bin so glücklich …«

»Und ich, Estrella, und ich. Zigarette?«

»Laß mich an deiner ziehen …«

Er ließ sie ziehen und sah gedankenvoll die schöne Frau an. Mitternacht war längst vorbei. In der großen Villa der Konsulin regte sich nichts mehr. Das Personal schlief.

Sie schmiegte sich an ihn und streichelte ihn.

»Estrella, Liebling …«

»Ja, mein Herz?«

»Hast du sehr viele Schulden?«

»Wahnsinnig viele … Auf dem Haus liegen Hypotheken …, ich habe schon Schmuck versetzt. Ich hoffe doch immer, daß ich noch alles zurückgewinnen kann …«

Thomas sah die Fotografie an: »Hat er dir viel hinterlassen?«

»Ein kleines Vermögen … Dieses elende, dieses teuflische Roulett, wie ich es hasse!«

»Und die Deutschen!«

»Und die Deutschen, ja!«

»Sag mal, chérie, von welchem Land bist du eigentlich Konsulin?«

»Von Costa Rica. Warum?«

»Hast du schon einmal einen costaricanischen Paß ausgestellt?«

»Nein, nie …«

»Aber doch sicherlich dein Mann?«

»Ja, der schon … Weißt du, seit Kriegsbeginn ist überhaupt niemand mehr hergekommen. Ich glaube, es gibt gar keine Costaricaner mehr in Portugal.«

»Liebling, hm, aber gewiß gibt es doch noch ein paar Paßformulare im Hause?«

»Ich weiß es nicht … Als Pedro starb, habe ich alle Formulare und Stempel in einen Koffer gepackt und auf den Boden getragen … Warum interessiert dich das?«

»Estrella, Schätzchen, weil ich gerne einen Paß ausstellen würde.«

»Einen Paß?«

Im Vertrauen auf ihre finanzielle Misere sagte er sanft: »Oder auch mehrere.«

»Jean!« Sie war entsetzt. »Soll das ein Scherz sein?«

»Mein Ernst.«

»Was bist du bloß für ein Mensch?«

»Der Kern ist gut.«

»Aber – was sollten wir denn mit den Pässen anfangen?«

»Wir könnten sie verkaufen, schönes Kind. Hier gäbe es viele Käufer. Und sie würden viel bezahlen. Und mit dem Geld könntest du … Ich brauche nicht weiterzusprechen …«

»Oh!« Estrella holte tief Atem. Sie sah hinreißend aus, wenn sie tief Atem holte. Estrella schwieg. Estrella dachte nach – lange nach. Dann sprang sie auf und lief ins Badezimmer. Als sie zurückkam, brachte sie einen Bademantel mit.

»Zieh das an!«

»Wo willst du hin, Schätzchen?«

»Auf den Boden natürlich!« rief sie und stolperte auf hochhackigen Seidenpantoffeln bereits vor ihm her zur Tür.

Der Boden war groß und vollgeräumt. Es roch nach Holzwolle und Naphthalin. Estrella hielt eine Taschenlampe, während Thomas keuchend einen alten Holzkoffer unter einem zusammengerollten Riesenteppich hervorwuchtete. Er stieß sich den Schädel an einem Balken an und fluchte. Estrella kniete neben ihm nieder. Mit vereinten Kräften stemmten sie den knarrenden Deckel hoch. Formulare, Bücher, Stempel und Pässe lagen darin. Pässe zu Dutzenden! Mit fliegenden Fingern griff Estrella nach ihnen, blätterte darin, in diesem, in jenem, in fünf, in acht, in vierzehn Pässen. Die Pässe waren ohne Ausnahme alt und fleckig. Fotos fremder Menschen klebten in ihnen, zahllose Stempel bedeckten die Seiten. Lauter abgelaufene Pässe.

Abgelaufen … Abgelaufen … Ungültig …

Tief enttäuscht richtete Estrella sich auf: »Kein einziger neuer Paß, lauter alte … Mit denen können wir nichts anfangen …«

»Im Gegenteil«, sagte Thomas Lieven leise und gab ihr einen Kuß: »Alte, ungültige Pässe sind die besten!«

»Das verstehe ich nicht …«

»Das wirst du gleich verstehen«, versprach Thomas Lieven, alias Jean Leblanc, vergnügt. Er fühlte nicht den Eishauch seines Schicksals, das hinter ihn trat und sich hoch aufrichtete wie der Flaschengeist aus dem orientalischen Märchen, bereit, von neuem zuzuschlagen und ihn hineinzuschleudern in einen Strudel neuer Abenteuer und Gefahren.



7



Gemessenen Schrittes, einen Homburg auf dem Haupt, eine große Ledertasche in der Hand, bewegte sich gegen die Mittagsstunde des 4. September 1940 ein eleganter junger Herr von höchst vorteilhafter Erscheinung durch das Labyrinth der Alfama, der Altstadt von Lissabon.

In den winzigen krummen Gassen mit ihren verwitterten Rokokopalästen und buntgekachelten Bürgerhäusern spielten barfüßige Kinder, debattierten dunkelhäutige Männer, eilten Frauen zum Markt, Körbe voll Obst oder Fische auf dem Kopf. Schneeweiße Wäsche hing an unzähligen Leinen. Schwarze Eisengitter glänzten vor hohen maurischen Fenstern. Bizarr verkrüppelte Bäume wuchsen auf geborstenen Steintreppen. Und immer wieder öffneten sich die Mauern und gaben den Blick frei auf den nahen Fluß.

Der elegante junge Herr betrat einen Metzgerladen. Hier erwarb er ein ansehnliches Stück Kalbsfilet. Im Laden nebenan kaufte er eine Flasche Madeira, einige Flaschen Rotwein, Olivenöl, Mehl, Eier, Zucker und allerlei Gewürze. Auf dem in tausend Farben glühenden Marktplatz endlich erstand er ein Pfund Zwiebeln und zwei schöne Salatköpfe.

Vor der Marktfrau zog er den Hut und verneigte sich zum Abschied mit einem gewinnenden Lächeln.

Nun strebte er der engen dunklen Rua do Poco des Negros entgegen, wo er den Hof eines halbverfallenen Hauses betrat.

Die sanitären Einrichtungen dieses Gemäuers boten sich ihm sogleich in Form vieler verwitterter Holzverschläge dar, die auf schmalen Balkonen standen. Ein Netz dazugehöriger Röhren zog sich an den Mauern dahin. Wie das Astwerk eines Ariernachweises, dachte Thomas Lieven.

Ein blinder Greis saß in einer sonnigen Ecke des Hofes, zupfte auf einer Gitarre und sang dazu mit dünner, hoher Stimme:

»Was mein Schicksal mir erkor,

läßt mich nie.

Einzig kenn’ ich nur die Trauer,

denn für mich ist sie geboren,

ich für sie …«

Thomas Lieven legte Geld in den verbeulten Hut des alten Sängers, dann sprach er ihn portugiesisch an: »Diga-me, por favor, wo wohnt Reynaldo, der Maler?«

»Sie müssen den zweiten Eingang nehmen; Reynaldo wohnt ganz oben, unter dem Dach.«

»Muito obrigado«, sagte Thomas Lieven, und wieder lüftete er höflich den Homburg, obwohl der Blinde das doch gar nicht sehen konnte.

Im Treppenhaus des zweiten Eingangs war es dunkel. Je höher Thomas stieg, um so heller wurde es. Er hörte viele Stimmen. Es roch nach Olivenöl und Armut. Im obersten Stock gab es nur noch zwei Türen. Die eine führte zum Boden hinauf, an der anderen stand, mit großen roten Buchstaben hingeschmiert:

REYNALDO PEREIRA

Thomas klopfte. Es blieb still. Er klopfte lauter. Nichts rührte sich. Er drückte die Klinke herab. Die Tür öffnete sich knarrend. Durch einen dunklen Vorraum trat Thomas Lieven in ein großes Maleratelier. Hier war es sehr hell. Ein riesenhaftes Fenster ließ grelles Sonnenlicht über Dutzende von ziemlich wüsten Bildern fallen, auf einen Tisch, der überladen war mit Farben, Tuben, Pinseln und Flaschen, auf volle Aschenbecher und auf einen Mann von etwa fünfzig Jahren, der vollkommen angezogen auf einer Couch schlief.

Der Mann hatte dichtes schwarzes Haar. Dunkle Stoppeln bedeckten seine bleichen, eingefallenen Wangen. Er schnarchte laut und rhythmisch. Vor der Couch lag eine leere Kognakflasche.

»Pereira!« rief Thomas Lieven. Der Bärtige reagierte nicht. »Pereira, he!« Der Bärtige schnarchte laut auf und warf sich zur Seite. »Na ja«, brummte Thomas Lieven, »dann wollen wir uns mal ums Mittagessen kümmern …«

Eine Stunde später erwachte der Maler Reynaldo Pereira. Drei Gründe gab es für sein Erwachen: Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht. In der Küche klapperte und rumorte es. Ein intensiver Geruch nach Zwiebelsuppe hatte sich verbreitet.

Mit belegter Stimme rief er: »Juanita?« Noch benommen erhob er sich, zog die Hosen hoch, stopfte das Hemd hinein und stolperte zur Küche. »Juanita, mein Herz, mein Leben, bist du zurückgekommen?«

Menu • 4. September 1940

Dieses Gericht bringt einen Paßfälscher in Höchstform.

Überbackene Zwiebelsuppe

Kalbsmedaillons in Madeirasauce

Brennende Eierkuchen

Überbackene Zwiebelsuppe: Man schneide reichlich Zwiebeln in dünne Ringe und lasse sie in Butter oder Öl hellbraun braten. Dann gieße man heißes Wasser – etwas mehr, als man Suppe wünscht – darüber und lasse es fünfzehn Minuten kochen, salze nach Geschmack. Man kann auch Fleischbrühe verwenden. Inzwischen schneide man dünne Weißbrotscheiben, die man auf die vom Feuer genommene Suppe legt und dick mit geriebenem Käse bestreut. Der Topf wird dann in den heißen Backofen gestellt, bis der Käse eine leicht bräunliche Schicht gebildet hat. Hübscher ist es, wenn man für jede Person ein eigenes feuerfestes Schüsselchen benützen kann.

Kalbsmedaillons in Madeirasauce: Man schneide schöne, dicke Scheiben vom Kalbsfilet, klopfe sie leicht und brate sie kurz auf beiden Seiten, so daß sie innen noch etwas rosafarben sind. Salzen darf man sie erst nach dem Braten.

Vorher hat man eine halbe Zwiebel, fünf Mandeln und eine Handvoll Pilze feinblättrig geschnitten und mit Öl oder Butter leicht angebraten. Darauf gieße man ein großes Glas Madeira und lasse alles fünfzehn Minuten ganz schwach kochen, würze mit Salz und Pfeffer. Diese Sauce gebe man über die eben gebratenen Kalbsmedaillons und reiche Pommes frites und grünen Salat dazu.

Brennende Eierkuchen: Man backe ganz gewöhnliche, nicht zu dünne Eierkuchen, deren Größe dem Eßteller, auf dem sie serviert werden, entspricht, und bestreue sie dick mit Zucker. Bei Tisch gieße man einen ordentlichen Schuß guten Rums darüber und zünde ihn an. Dann rolle man den brennenden Eierkuchen und beträufle ihn mit Zitronensaft.

Er öffnete die Küchentür. Ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, stand, eine alte Schürze umgebunden, am Herd und kochte.

»Bom dia«, sagte der Fremde und lächelte gewinnend. »Endlich ausgeschlafen?«

Der Maler begann plötzlich am ganzen Körper zu zittern, tastete zu einem Sessel und fiel schwer darauf. Er stöhnte. »Verfluchter Schnaps … Es ist soweit, es geht los …«

Thomas Lieven füllte ein Glas mit Rotwein, reichte es dem Erschütterten und legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter.

»Keine Aufregung, Reynaldo, es ist noch nicht das Delirium tremens – ich bin aus Fleisch und Blut. Jean Leblanc mein Name. Hier, trinken Sie ein Schlückchen, tun Sie was für Ihren armen Blutspiegel. Und dann wollen wir ordentlich essen.«

Der Maler trank, wischte sich die Lippen und ächzte: »Was machen Sie in meiner Küche?«

»Zwiebelsuppe überbacken, Kalbsmedaillons in Madeirasauce …«

»Sind Sie wahnsinnig geworden?«

»… und zum Nachtisch habe ich an Eierkuchen gedacht. Ich weiß doch, daß Sie Hunger haben. Und Sie brauchen eine ruhige Hand.«

»Wozu?«

»Um nach dem Essen einen Paß für mich zu fälschen«, sagte Thomas mild.

Reynaldo erhob sich und griff nach einer schweren Bratpfanne.

»Raus, Spitzel, oder ich schlage dir den Schädel ein!«

»Nicht doch, nicht doch, hier ist ein Brief für Sie.« Thomas wischte die Hände an der Schürze ab, griff in die Brusttasche seiner Jacke und holte ein Kuvert heraus, das er Reynaldo reichte. Der riß es auf, zog einen Bogen hervor und starrte ihn an. Nach einer Weile sah er auf. »Woher kennen Sie Luis Tamiro?«

»Unsere Lebenswege haben sich gestern abend im Spielsaal von Estoril gekreuzt. Der kleine, dicke Luis brachte mir die Nachricht, daß ein alter Freund von mir in Madrid in Bedrängnis geraten sei. Man hat ihm seinen Paß weggenommen. Darum braucht er einen neuen. Und zwar schnell. Luis Tamiro meint, Sie wären der richtige Mann. Ein wirklicher Künstler. Erste Klasse. Jahrelange Erfahrung.«

Reynaldo schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, kommt nicht mehr in Frage. Das habe ich auch Juanita gesagt. Juanita ist meine Frau, wissen Sie …«

»… und hat Sie verlassen, weil es Ihnen dreckig geht. Luis hat mir alles erzählt. Weinen Sie ihr nicht nach. Eine Frau, die einen Mann im Stich läßt, wenn es ihm dreckig geht, ist nichts wert. Passen Sie auf, wie die zurückkommt, wenn Sie wieder Geld haben.«

»Geld, von wem?«

»Unter anderem von mir.«

Reynaldo strich seinen Bart und schüttelte den Kopf. Er sprach wie ein Lehrer zu einem idiotischen Kind. »Hören Sie zu: Wir haben Krieg. Einen Paß nachmachen können Sie nur, wenn Sie das Wasserzeichenpapier dazu haben. Das müssen Sie aber jeweils in dem Land klauen, für das der Paß bestimmt ist …«

»Das weiß ich alles selber.«

»Dann werden Sie auch wissen, daß im Krieg so ein Papier nicht mehr reinkommt. Also kann man Pässe nicht mehr nachmachen. Also kann man sie nur noch fälschen. Und wie geschieht das?«

Die Madeirasauce kostend, antwortete Thomas: »Meist doch wohl so, daß man Menschen betrunken macht oder niederschlägt und ihnen dann ihren Paß fortnimmt, um ihn zu verändern.«

»Sehr richtig! Und sehen Sie, das mache ich nicht. Das ist bei mir nicht drin. Wenn ich nicht mehr ehrlich fälschen kann, dann überhaupt nicht. Ich bin Pazifist!«

»Genau wie ich. Sehen Sie mal zum Fensterbrett, da liegt ein Präsent für Sie.«

Reynaldo erhob sich und schwankte schwerfällig zum Fenster.

»Was ist das?«

»Das sind vier abgelaufene, vollgestempelte Pässe von Costa Rica. Drei gehören Ihnen, wenn Sie den vierten für mich verändern.«

Der Fälscher nahm einen der Pässe zur Hand, holte tief Atem und sah Thomas mit scheuer Bewunderung an. »Wo haben Sie diese Pässe her?«

»Gefunden. Heute nacht.«

»Sie haben heute nacht vier costaricanische Pässe gefunden?«

»Nein.«

»Aha.«

»Ich habe heute nacht nicht vier costaricanische Pässe gefunden, sondern siebenundvierzig«, sagte Thomas Lieven und holte dabei die überbackene Zwiebelsuppe aus dem Herd. »Das Essen ist fertig, Reynaldo.«

Und er dachte: Was für ein Glück, daß meine hübsche junge Konsulin so viele hübsche alte Pässe aufbewahrt hat!

Und er dachte: Jetzt bin ich also bei Herrn Pereira in der Rua do Poco des Negros gelandet. Jetzt werde ich also lernen, wie man fachgerecht Pässe fälscht. Ich – kürzlich noch der jüngste Privatbankier Londons. Ach du liebe Zeit, und ich kann und kann und kann das alles nicht im Club erzählen!



8



Aufgeschlagen lagen die vier Pässe auf dem großen Arbeitstisch beim Fenster. Sie zeigten Fotos von vier unterschiedlichen costaricanischen Staatsbürgern: einem dicken Alten, einem jüngeren Schlanken, einem mit Brille, einem mit Schnurrbart.

Neben den vier Pässen lagen die vier Fotos des Majors Débras vom französischen Geheimdienst, der in Madrid ungeduldig auf Hilfe wartete. Der kleine Luis Tamiro hatte die Fotos Thomas Lieven im Spielsaal von Estoril übergeben.

Das Mittagessen war vorüber. In seinem weißen Arbeitsmantel wirkte Reynaldo Pereira nun wie ein berühmter Chirurg, ein Sauerbruch der Paßfälschung, der sich konzentriert und nüchtern auf einen schwerwiegenden Eingriff vorbereitete.

Er sprach leise: »Sie kennen den Mann in Madrid persönlich. Sie wissen, wie er aussieht. Betrachten Sie die Fotos in den vier Pässen. Lesen Sie die Personenbeschreibung. Sagen Sie mir, welche am ehesten auf Ihren Freund paßt. Denn ich will natürlich den Paß nehmen, in dem ich am wenigsten verändern muß.«

»Das wäre dann wohl dieser hier.« Thomas wies auf den zweiten von links. Der zweite Paß von links lautete auf den Namen Rafaelo Puntareras.

Der Paß war am 8. Februar 1934 ausgestellt worden und hatte am 7. Februar 1939 seine Gültigkeit verloren. Er enthielt viele Visen und Grenzpolizeistempel; nur wenige Seiten waren noch frei. Darum hatte Kaufmann Puntareras den abgelaufenen Paß wohl auch nicht mehr verlängert, sondern sich bei dem inzwischen verschiedenen Konsul Pedro Rodrigues gleich einen neuen ausstellen lassen.

Thomas sagte: »Die Personenbeschreibung paßt auf meinen Freund, nur hat er braune Haare und blaue Augen.«

»Dann müssen wir die Haarfarbe und die Augenfarbe ändern, die Fotos austauschen, auf dem Foto Ihres Freundes den Stempel ergänzen, den Ablauftag und den Ausstellungstag des Passes korrigieren und in den Stempeln und Visa alle Daten richtigstellen, die dann zu früh liegen.«

»Der Name Puntareras?«

»Will sich Ihr Freund längere Zeit in Lissabon aufhalten?«

»Nein, er fliegt sofort weiter nach Dakar.«

»Dann kann der Name bleiben.«

»Aber er braucht doch ein Durchreisevisum für Lissabon und ein Einreisevisum für Dakar.«

»Na und? Ich habe einen ganzen Schrank voll Stempel. Größte Sammlung Europas wahrscheinlich. Nein, nein, das ist ein kleiner Fisch!«

»Was wäre denn ein großer gewesen?«

»Ein Paß, in dem man alles ändern muß und das Foto auch noch einen Prägestempel trägt. Also, dazu hätte ich glatt zwei Tage benötigt.«

»Und für Herrn Puntareras?«

»Sie müssen meine schlechte Verfassung berücksichtigen, meine Unausgeglichenheit, mein Unglück in der Ehe – verdammt noch mal, aber in höchstens sieben Stunden kriege ich das Ding trotzdem hin!«

Entspannt und leise summend begann Reynaldo Pereira das Werk. Er nahm einen konischen Metalldorn, der in einem Holzgriff steckte, eine Art Schusterahle, und führte ihn von der Fotoseite her durch die erste Öse des Paßbildes so weit ein, daß er festsaß. Dann begann er vorsichtig, die Rückseite der Öse mit einem feinen Federmesser aufzubördeln.

Der Meister sprach: »Immer zuerst das Foto entfernen, damit nicht durch eine Ungeschicklichkeit beim Arbeiten der Gummistempel beschädigt wird.« Er erleichterte sich durch zartes Aufstoßen. »Wirklich phantastisch, Ihre Zwiebelsuppe!«

Thomas saß reglos beim Fenster. Er gab keine Antwort, um den Meister nicht seiner Konzentration zu berauben.

Zwei Ösen hielten Rafaelo Puntareras’ Foto fest. Nach einer dreiviertel Stunde hatte der Meister sie beide aufgebördelt. Vorsichtig drehte er die Metallröhren mit der Ahle heraus.

Jetzt steckte er eine elektrische Heizplatte an, legte einen alten Buchdeckel darauf und den Paß auf diesen.

Der Meister sprach: »Zehn Minuten durchwärmen. Wir nennen das: den Paß zum Leben erwecken. Das Papier wird weicher, elastischer, ist aufnahmefähiger für Flüssigkeiten, läßt sich in jeder Beziehung leichter bearbeiten.«

Nach einer Zigarettenpause nahm sich Pereira den Paß wieder vor. Mit einer Pinzette faßte er eine Ecke von Herrn Puntareras’ Konterfei, über der sich kein Stempel befand, und hob sie äußerst vorsichtig einen Millimeter hoch. Danach befeuchtete er einen feinen Pinsel mit dem stark riechenden Inhalt eines Fläschchens.

Der Meister sprach: »Als Pinsel verwende man nur feinste Dachs- oder Rotmarderhaarfabrikate, Größe Null.«

Er tupfte die Flüssigkeit zwischen Foto und Paßseite, das Bild dabei mit der Pinzette abspreizend. Das Klebemittel wurde gelöst. Nach fünf Minuten hob der Meister das Foto ab und trug es zu einem weit entfernten Bücherbord. »Damit ich es nicht versehentlich beschädige.«

Er kam zum Tisch zurück, schloß die Augen, lockerte die Finger, sammelte sich offensichtlich.

Der Meister sprach: »Um ein erstes Verhältnis zu meinem Paß zu bekommen, beginne ich mit einer ganz leichten Veränderung: Ich entferne einen Punkt.«

Er legte das Dokument unter eine große, feststehende Lupe. Einen neuen feinen Pinsel befeuchtete er mit einer wasserhellen Flüssigkeit.

Im gleichen Moment, in dem er einen Tintenpunkt im Schriftbild der Personenbeschreibung benetzte, drückte er auf den Startknopf einer Stoppuhr.

Er wartete, bis der Tintenpunkt beinahe ganz verblaßt war, dann saugte er die restliche Flüssigkeit blitzschnell mit der scharfgeschnittenen Kante eines Löschpapiers auf.

»Drei Sekunden. Nun haben wir einen Anhaltswert. Mit der Vergleichszeit für einen Punkt können wir uns an einen Haarstrich wagen.«

Er entfernte alle Haarstriche auf der einen Seite, indem er sie wie viele Punkte abtupfte. Dann machte er sich an die dickeren Grundstriche, die er entfernte, indem er sie von beiden Seiten zur Mitte hin mit der geheimnisvollen Flüssigkeit bestrich. »In der Branche nennen wir das: zum Kern hin arbeiten.«

Nachdem er zwei Stunden lang »zum Kern hin« und nach der Punktmethode gebleicht hatte, waren alle unbrauchbaren Angaben verschwunden, auch die zu früh liegenden Daten in den Visen und Grenzpolizeistempeln und die Daten der Ausstellung und des Ablauftages.

Nun entspannte der Meister eine halbe Stunde lang. Er tanzte ein bißchen, um wieder locker zu werden.

Thomas kochte Kaffee. Bevor Pereira ihn trank, zerschlug er ein Ei und goß das Eiweiß auf einen flachen Teller: »Damit die Luft eine große Angriffsfläche hat. Wir sagen: Es muß gestanden haben!«

Nach zehn Minuten füllte er sodann die Rillen und Täler, welche die Bleichmittel trotz aller Vorsicht in das Papier gefressen hatten, sorgfältig mit dem zähflüssigen, schnell trocknenden Eiweiß aus, damit wieder vollkommen ebene Flächen entstanden. Über diese stäubte er glanzloses Malerfixativ.

Nun holte er das herausgelöste Foto des Kaufmanns Puntareras wieder herbei, schlug es in hauchdünnes Seidenpapier ein und verklebte dieses auf der Fotorückseite, damit es nicht verrutschen konnte. Mit einem Achatstift zog er auf dem Seidenpapier die Konturen des Stempelteiles nach, der sich auf dem Foto befand.

Danach beschnitt er eines der vier Fotos des Majors Débras so, daß es um eine Winzigkeit größer war als das Bild Puntareras’, und legte ein Stückchen Kohlepapier darüber, dessen Farbe genau der Stempelfarbe entsprach. Von dem alten Foto löste er das Seidenpapier ab, legte dieses über das Kohlepapier auf Débras’ Foto und verklebte es wieder. Noch einmal zog er die gewonnenen Konturen mit dem Achatstift nach.

Vorsichtig löste er danach die Hüllen. Débras’ Bild trug nun den Stempel.

Schnell fixierte der Meister sein verwischbares Werk.

Mit einer scharfen Zange lochte er nun Débras’ Foto an vorher genau festgelegten Stellen und befestigte es mit Gummiarabikum und zwei Schuhösen im Paß. Mit einer anderen Zange bördelte er die Ösen zu.

Danach beschriftete er mit Tusche alle Stellen neu, die er gelöscht hatte. Der Meister sprach: »Man verändert, wo es geht, die alten Zahlen natürlich in neue, ähnliche, also eine 3 in eine 8, eine 1 in eine 4 …«

Nach sechseinhalb Stunden angestrengter Arbeit stempelte Pereira ein portugiesisches Durchreisevisum und ein Einreisevisum für Dakar in den Paß und füllte sie aus.

»Fertig!«

Thomas applaudierte begeistert. Der Meister verneigte sich mit Würde: »Stets gerne zu ähnlichen Diensten bereit.«

Thomas schüttelte ihm die Hand. »Ich werde nicht hiersein, um von Ihrer einmaligen Begabung weiterhin zu profitieren. Doch seien Sie guten Mutes, Reynaldo, ich schicke Ihnen eine hübsche Kundin. Ich bin sicher, Sie werden sich wundervoll miteinander verstehen …«



9



Unter dem Dach des großen Zeitungsgebäudes auf dem Praça Dom Pedro IV. liefen die letzten Nachrichten über ein Leuchtschriftband. Blicke aus tausend Augenpaaren waren voll Spannung, voller Angst auf die flimmernden Buchstaben gerichtet. Portugiesen und Emigranten drängten sich auf dem schönen Platz mit seinem schwarz-weißen Mosaikpflaster, saßen in den Straßengärten der Cafés, die den Platz säumten, starrten zu dem Leuchtschriftband empor, lasen …

(United Press): Madrid – Gerüchte über deutsch-spanische Geheimverhandlungen behaupten sich hartnäckig – Deutsche Wehrmacht fordert angeblich freien Durchmarsch, um Gibraltar angreifen und Mittelmeer schließen zu können – Franco entschlossen, neutral zu bleiben – Britischer Botschafter warnt Spanien mit aller Entschiedenheit – Antibritische Demonstration in Barcelona und Sevilla …

Zwei Männer saßen an einem Kaffeehaustisch am Straßenrand, Gläser mit Pernod vor sich. Der kleine, dicke Luis Tamiro blätterte in dem an diesem Nachmittag gefälschten Paß. Er brummte bewundernd: »Prima Arbeit, also wirklich!«

»Wann fliegt Ihre Maschine?«

»In zwei Stunden.«

»Grüßen Sie Débras von mir. Er soll machen, daß er herkommt. In fünf Tagen läuft mein Schiff aus.«

»Hoffentlich schafft er es bis dahin!«

»Was heißt das?« fragte Thomas Lieven.

Luis Tamiro zog sorgenvoll an seiner kleinen Brasilzigarre: »Die Spanier sind nach außen hin neutral. Aber sie lassen deutsche Agenten ganz hübsch arbeiten. Drei deutsche ›Touristen‹ bewachen den Major in Madrid auf Schritt und Tritt, Tag und Nacht. Jeder immer acht Stunden lang. Er weiß es. Die Kerle sind nicht abzuschütteln. Löffler, Weise und Hart heißen sie. Wohnen im ›Palace-Hotel‹ wie er.«

»Was ist der Witz der Sache?«

»Seit man dem Major seinen Paß weggenommen hat, darf er Madrid nicht verlassen. Die drei Deutschen wissen, wer er ist, sie können es nur noch nicht beweisen. Sie wollen rauskriegen, was er in Madrid macht. Außerdem: Sobald er die Stadt verläßt, ist das ein Grund für die spanische Polizei, ihn sofort einzusperren. Wenn er einmal in einem Gefängnis landet, kann man ihn ohne großes Aufsehen nach Deutschland entführen.«

»Er muß die drei also abschütteln?«

»Ja, aber wie? Die warten doch nur wie die Schießhunde auf den Moment, in dem er zu flüchten versucht, um ihn hochgehen zu lassen!«

Thomas Lieven betrachtete den Kleinen neugierig: »Sagen Sie mal, Tamiro, was haben Sie eigentlich für einen Beruf?«

Der kleine Dicke seufzte, dann verzog er den Mund. »Mädchen für alles, was verboten ist. Menschenschmuggel. Waffenschmuggel. Schleichhandel. Alles für Geld. Ich war mal Juwelier in Madrid.«

»Na und?«

»Der Bürgerkrieg hat mich erledigt. Geschäft zerbombt. Ware geklaut. Dann habe ich auch noch politischen Ärger bekommen. Nein, nein, ich habe übergenug. Bei mir hat jetzt alles seinen festen Preis! Mir soll man den Buckel runterrutschen mit Idealismus.«

Leise fragte Thomas Lieven: »Kennen Sie in Madrid wohl noch ein paar Herren, die so denken wie Sie?«

»Einen ganzen Haufen!«

»Und Sie sagen, es hat alles seinen festen Preis?«

»Klar!«

Lächelnd sah Thomas zu dem flimmernden Leuchtschriftband auf. Sanft murmelte er: »Hören Sie mal, Luis, was würde – unter Freunden – wohl eine kleine, spontane Volkserhebung kosten?«

»Woran denken Sie?«

Thomas Lieven sagte ihm, woran er dachte.



10



»Aaaaaahhhhh!!!«

Mit einem Schrei fuhr die schwarzhaarige, vollschlanke Konsulin Estrella Rodrigues aus dem Schlaf empor, als Thomas Lieven zu später Stunde ihr Zimmer betrat. Bebend entzündete sie die kleinen Lämpchen mit den roten Schirmen hinter dem Bett. Eine Hand preßte sie ans Herz.

»O Gott, Jean, hast du mich erschreckt!«

»Verzeih, Liebling, es wurde spät – ich habe noch den Mann mit dem Paß auf den Weg gebracht …« Er sank auf den Bettrand; sie warf sich in seine Arme. »Küß mich …« Sie preßte sich an ihn. »Daß du da bist! Daß du endlich da bist! Ich habe auf dich gewartet – stundenlang – ich habe gedacht, ich muß sterben – ich habe gedacht, ich muß vergehen …«

»Vor Sehnsucht nach mir?« fragte er geschmeichelt.

»Das auch.«

»Bitte?«

»Ich habe den ganzen Abend gehofft, du kommst und schenkst mir noch ein wenig Geld, damit ich nach Estoril fahren kann!«

»Hr-rm!«

»Ich habe draußen angerufen! An allen Tischen kamen die Elf und ihre Nachbarn! Kannst du dir das vorstellen? Das sind doch meine Zahlen! Ein Vermögen hätte ich heute gewonnen!«

»Estrella, ich werde dich morgen mit einem ganz ausgezeichneten Fälscher zusammenbringen. Ihm kannst du deine Pässe in Kommission geben. Er ist bereit, mit dir halbe-halbe zu machen.«

»O Jean, wie wundervoll.« Thomas ging ins Badezimmer. Sie rief ihm zärtlich nach: »Weißt du, was ich vorhin geträumt habe?«

Aus dem Badezimmer forschte er: »Was?«

»Ich habe geträumt, du wärst ein Deutscher – und mein Geliebter! Ein Deutscher! Wo ich doch die Deutschen so hasse! Ich habe gedacht, ich vergehe; ich habe gedacht, ich sterbe … Jean, kannst du mich verstehen?«

»Jedes Wort.«

»Warum sagst du dann nichts?«

Sie hörte ihn husten. »Ich habe vor Schreck ein halbes Glas Mundwasser geschluckt!«

Das amüsierte sie: »Ach, bist du goldig! Komm! Komm schnell zu deiner zärtlichen Estrella …«

Später erwachte die hinreißend gebaute Deutschenhasserin davon, daß Thomas Lieven im Schlaf schallend lachte. Sie schüttelte ihn nervös wach.

»Jean, Jean, was ist los?«

»Wie? Oh, ich hatte so einen komischen Traum.«

»Wovon?«

»Von einer kleinen, spontanen Volkserhebung«, sagte er. Und lachte noch einmal.



11



Madrid, 5. September 1940.

Vertraulicher Bericht des Kommissars Filippo Aliados von der Geheimen Staatspolizei an seinen Vorgesetzten:

ÄUSSERST DRINGEND!

Heute um 14 Uhr 03 erhielt ich einen Anruf vom Diensthabenden des 14. Polizeirayons. Es wurde mir mitgeteilt, daß sich vor dem Gebäude der britischen Botschaft in der Calle Fernando el Santo 16 etwa fünfzig Personen versammelt hätten, die gegen England demonstrierten.

Ich begab mich mit fünf Mann sofort zur Botschaft und stellte fest, daß es sich bei den Demonstranten um Angehörige der ärmeren Bevölkerungsschichten handelte. In Chören stießen diese Personen Schmährufe gegen England aus. Es wurden 4 (vier) Fensterscheiben eingeworfen und 3 (drei) Blumenkästen zur ebenen Erde abgerissen. Im Auftrage Seiner Exzellenz des Herrn Britischen Botschafters war der Herr Handelsattaché auf die Straße geeilt, um die Demonstranten zur Rede zu stellen.

Bei meinem Eintreffen teilte mir der Herr Britische Handelsattaché außerordentlich erregt mit: »Die Männer geben zu, daß sie von deutschen Agenten für diesen Aufruhr bezahlt wurden.«

Während der größte Teil der Demonstranten vor einer blitzschnell eingreifenden Abteilung der Polizei die Flucht ergriff, gelang es uns, drei Personen festzunehmen mit Namen: Luis Tamiro, Juan Mereira und Manuel Passos.

Die Festgenommenen wiederholten vor mir die Behauptung, sie wären von deutschen Agenten bezahlt worden. Sie nannten die Namen dieser Agenten: 1. Helmut Löffler 2. Thomas Weise 3. Jakob Hart. Alle drei wohnhaft im ›Palace-Hotel‹.

Der Herr Britische Handelsattaché bestand auf einer sofortigen Untersuchung und kündigte einen diplomatischen Protest seiner Regierung an.

Von meiner Dienststelle immer wieder angewiesen, auf strikteste Neutralität unseres Landes zu achten, begab ich mich darum sofort ins ›Palace-Hotel‹ und nahm die oben genannten drei deutschen Touristen fest, die bei der Festnahme Widerstand leisteten und zuletzt gefesselt abgeführt werden mußten.

Die drei Deutschen bestritten beim Verhör empört, die Demonstranten finanziert zu haben. Eine Gegenüberstellung mit den drei Demonstranten verlief ergebnislos, woraufhin ich die Demonstranten entließ. Eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung läuft.

Unser Geheimdienst kennt die drei Deutschen. Es handelt sich bei ihnen tatsächlich um Agenten der Deutschen Abwehr, und ihnen ist eine Aktion wie die behauptete natürlich zuzutrauen.

Die drei Deutschen werden noch bei mir festgehalten. Ich bitte um schnellste Entscheidung darüber, was mit ihnen geschehen soll, denn der Herr Britische Handelsattaché erkundigt sich stündlich telefonisch nach meinen Maßnahmen.

gez.: Filippo Aliados, Kommissar



12



Eine deutsche Faust schlug krachend auf einen deutschen Eichenholzschreibtisch. Der Schreibtisch stand im Zimmer eines Hauses am Tirpitzufer in Berlin. Die Faust gehörte dem Admiral Canaris. Er stand hinter dem Schreibtisch. Vor dem Schreibtisch stand der gallenleidende Major Fritz Loos aus Köln.

Das Gesicht des Majors war sehr bleich. Das Gesicht des Admirals war sehr rot. Der Major war sehr still. Der Admiral war sehr laut:

»Jetzt reicht es mir aber, Herr Major! Drei unserer Leute aus Spanien ausgewiesen! Protest der britischen Regierung! Die Feindpresse hat ihr Fressen. Und Ihr feiner Herr Lieven lacht sich in Lissabon einen Ast!«

»Herr Admiral, ich verstehe wirklich nicht, was dieser Kerl schon wieder damit zu tun hat!«

Canaris sagte bitter: »Während unsere Leute in Madrid stundenlang festgehalten wurden, verließ Major Débras das Land. Ohne Zweifel mit einem falschen Paß. Wohlbehalten traf er in Lissabon ein. Und wissen Sie, wen er im Speisesaal von Estoril öffentlich umarmte und auf die Wange küßte? Ihren Freund Lieven! Und wissen Sie, mit wem er danach ein gewaltiges Dinner verzehrte? Mit Ihrem Freund Lieven!«

»Nein … O Gott, nein … Das kann nicht sein!«

»Es ist so. Unsere Leute haben die rührende Wiedersehensszene beobachtet. Was konnten sie tun? Nichts!«

Major Loos verspürte ein furchtbares Ziehen und Brennen im Leib. Natürlich meine Galle, dachte er verzweifelt. Dieser Hund, dieser elende Hund von einem Thomas Lieven! Warum habe ich ihn damals in Köln bloß aus dem Gestapo-Gefängnis geholt?

»Herr Major, wissen Sie, wie man Sie bereits nennt? Den ›Pannen-Loos‹!«

»Herr Admiral, pardon, das finde ich sehr ungerecht.«

»Ungerecht? Wenn Sie dem Kerl 10 000 Dollar für Listen mit den Namen der wichtigsten französischen Geheimagenten bezahlen – und wir feststellen dürfen, daß es sich um lauter Tote handelt? Sie hatten den Auftrag, den Mann mitzubringen!«

»Portugal ist ein neutrales Land, Herr Admiral …«

»Das ist egal! Mir reicht es jetzt! Ich will diesen Herrn Lieven hier sehen! In diesem Zimmer! Und lebendig! Verstanden?«

»Jawohl, Herr Admiral.«



13



6. September 1940, 18 Uhr 47.

Die Funküberwachung des »Secret Service« meldet an ihren Chef M 15 London:

Seit 15 Uhr 15 äußerst lebhafter Funkverkehr zwischen Abwehr Berlin und deutscher Gesandtschaft Lissabon. Verkehr wird nicht chiffriert, sondern offensichtlich in irreführendem Klartext geführt. Berliner Funksprüche sind gerichtet an deutschen Handelsattaché Lissabon, der aufgefordert wird, dafür zu sorgen, daß »Kaufmann Jonas« schnellstens heimkehrt. Ohne Zweifel großes Entführungsmanöver in Vorbereitung. »Kaufmann Jonas« muß eine Persönlichkeit sein, die für Abwehr Berlin von allergrößter Wichtigkeit ist …



14



6. September 1940, 22 Uhr 30.

In der Casa Senhora de Fatima, dem komfortablen Haus des Nachrichtenchefs der Deutschen Gesandtschaft in Lissabon, findet eine Besprechung statt. Der Nachrichtenchef hat seine bezaubernde Freundin, die langbeinige, kastanienbraune Tänzerin Dolores, fortgeschickt. Bei Champagner sitzen zusammen: der Hausherr, der Marineattaché und der Luftwaffenattaché der Deutschen Gesandtschaft. Die beiden letzteren haben ihre Freundinnen ebenfalls für den Abend beurlaubt. Der Chef des Nachrichtendienstes spricht: »Meine Herren, die Zeit drängt. Berlin will Lieven – und zwar schnell. Bitte um Vorschläge.«

Der Luftwaffenattaché spricht: »Ich schlage vor, den Mann zu betäuben und nach Madrid zu fliegen. Von dort mit Kuriermaschine nach Berlin.«

»Ich bin dagegen«, sagt der Marineattaché. »Wir haben eben eine Panne in Madrid gehabt. Wir wissen, daß es auf dem Flughafen dort von englischen und amerikanischen Agenten nur so wimmelt. Wir wissen, daß dort jeder Passagier fotografiert wird. Wir können es uns nicht leisten, in Madrid schon wieder diplomatische Schwierigkeiten zu haben.«

»Ganz meine Meinung«, sagt der Nachrichtenchef.

Der Marineattaché spricht: »Ich schlage darum Entführung im U-Boot vor, meine Herren! Ich empfehle, sofort Funkverbindung mit Blockadebruch-Werner in Madrid aufzunehmen. Blockadebruch-Werner arbeitet mit dem Befehlshaber der U-Boote zusammen und kann die Standorte aller Einheiten ohne weiteres feststellen. Er kann jederzeit und schnellstens ein Boot für ein bestimmtes Planquadrat außerhalb der portugiesischen Hoheitsgewässer anfordern.«

»Wie bekommen wir Kaufmann Jonas zu dem U-Boot hinaus?«

»Wir mieten einen Fischkutter.«

»Und wie bekommen wir ihn in den Fischkutter?«

»Da habe ich einen Vorschlag zu machen.« Der Marineattaché sagt, was er für einen Vorschlag zu machen hat.



15



Ein alter Mann ging durch das Flughafenrestaurant und versuchte, Trachtenpuppen zu verkaufen, große Puppen, kleine Puppen. Er hatte kein Glück. Es war schon beinahe Mitternacht an diesem 8. September 1940, und nur noch rund zwei Dutzend müder Passagiere warteten auf den Abflug ihrer Maschine.

Der alte Mann trat an einen Tisch beim Fenster. Hier saßen zwei Herren, die Whisky tranken.

»Trachtenpuppen – Zigeuner, Spanier, Portugiesen …«

»Nein, danke«, sagte Thomas Lieven.

»Noch echte Friedensware!«

»Trotzdem nein, danke«, sagte Major Débras, der sich gerade Rafaelo Puntareras nannte.

Der alte Mann zog weiter. Draußen, auf der von Scheinwerfern angestrahlten Rollbahn, wurde die Maschine aufgetankt, die Débras von Lissabon nach Dakar bringen sollte.

Der Major sah Thomas Lieven sentimental an: »Ich werde nie vergessen, was Sie getan haben!«

»Sprechen Sie nicht davon!« sagte Thomas, und er dachte: Wenn du erst darauf kommst, daß ich die Agentenlisten deines Geheimdienstes gefälscht habe, dann wirst du es bestimmt nicht vergessen!

»Sie haben die Listen für mich gerettet – und Sie haben mich aus Madrid herausgeholt!«

Das ist richtig, dachte Thomas. Und deshalb wirst du mir vielleicht einmal doch meinen Betrug verzeihen. Er fragte: »Wo sind die Listen?«

Der Major blinzelte. »Ich bin Ihrem Beispiel gefolgt und habe mich mit unserer Stewardeß angefreundet. Sie hat die Listen in ihrem Gepäck.«

»Achtung, bitte«, sagte eine Lautsprecherstimme. »Pan American World Airways bitten alle Passagiere ihres Fluges 324 nach Dakar, sich zur Paß- und Zollkontrolle zu begeben. Meine Damen und Herren, wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug.«

Débras trank sein Glas leer und erhob sich. »Es wird ernst, mein Freund. Nochmals Dank! Und auf Wiedersehen.«

»Bitte, richten Sie Madame Josephine Baker meine besten Grüße und Wünsche aus«, sagte Thomas Lieven. »Und leben Sie wohl, Herr Major. Denn wiedersehen werden wir uns nie.«

»Wer weiß?«

Thomas schüttelte den Kopf. »Übermorgen läuft mein Schiff nach Südamerika aus. Ich komme nie mehr zurück nach Europa«, sagte er und ließ es geschehen, daß der Major ihn noch einmal umarmte und auf die Wange küßte.

Etwas später sah er ihn über das Rollfeld auf die Maschine zugehen. Thomas winkte, und auch Débras winkte, bis er in der Kabine verschwand.

Thomas bestellte noch einen Whisky. Als die Maschine zum Start rollte, kam er sich plötzlich sehr einsam vor. Nach einiger Zeit bezahlte er, erhob sich und ging.

Auf dem Platz vor dem Flughafengebäude war es dunkel. Nur wenige Lampen brannten. Ein großer Wagen holte Thomas langsam ein und hielt. Der Chauffeur blickte aus dem Fenster. »Taxi, Senhor?«

Es war weit und breit kein Mensch zu sehen.

»Ja«, sagte Thomas abwesend. Der Chauffeur stieg aus, öffnete den Schlag und verneigte sich.

In diesem Moment merkte Thomas Lieven, daß etwas faul, sehr faul mit diesem Taxi war. Er fuhr herum, aber es war schon zu spät.

Der Chauffeur trat ihm wuchtig in die Kniekehlen. Thomas stürzte in den Fond. Hier packten sogleich vier kräftige Hände zu und rissen ihn auf den Wagenboden. Der Schlag flog zu. Der Chauffeur ließ sich hinter das Steuer fallen und raste los.

Ein großer, nasser Lappen mit einer widerlich süßen Flüssigkeit wurde auf Thomas Lievens Gesicht gepreßt. Chloroform, dachte er. Würgend rang er nach Atem.

Überdeutlich hörte er eine Stimme mit Hamburger Akzent sagen: »Na, prima, prima. Und jetzt nix wie runter zum Hafen.«

Dann begann das Blut in Thomas Lievens Schläfen zu dröhnen; in seinen Ohren hallten Glocken, und er stürzte in eine Ohnmacht, tiefer, tiefer, wie hinab in einen dunklen Brunnen aus Samt.



16



Langsam kam unser Freund wieder zu sich. Sein Schädel dröhnte. Ihm war übel, ihm war kalt. Er dachte: Toten ist nicht übel, Tote haben kein Kopfweh, Tote frieren nicht. Kombiniere: Ich bin also noch am Leben. Vorsichtig öffnete Thomas das rechte Auge. Er lag im Bug eines unappetitlich riechenden Fischkutters, dessen Motor nervös tuckerte.

Am Steuer stand ein kleiner, verknitterter Portugiese mit Lederjacke und Schildmütze, eine erloschene Stummelpfeife zwischen den Zähnen. Hinter dem Schiffer tanzten die Lichter der Küste auf und nieder. Die See war rauh. Der Kutter schlingerte aufs offene Meer hinaus. Seufzend öffnete Thomas Lieven das linke Auge.

Auf der Bank neben ihm saßen zwei bullige Kerle. Beide trugen schwarze Ledermäntel und grimmige Mienen. Beide hielten schwere Revolver in den großen, häßlichen Händen.

Thomas Lieven richtete sich halb auf und sprach, mit Mühe zwar, aber fließend: »Einen schönen guten Abend, die Herren. Ich hatte vorhin am Flughafen keine Gelegenheit, Sie zu begrüßen. Daran sind Sie nicht ohne Schuld! Sie hätten mich nicht so schnell niederschlagen und chloroformieren dürfen.«

Der erste Kerl sprach mit Hamburger Akzent: »Ich warne Sie, Thomas Lieven. Beim geringsten Fluchtversuch knallt’s!«

Der zweite Kerl sprach mit sächsischem Akzent: »Ihr Spiel ist aus, Herr Lieven. Jetzt geht es in die Heimat.«

Interessiert erkundigte sich Thomas: »Stammen Sie aus Dresden?«

»Aus Leipzig. Warum?«

»Pure Neugier. Nichts gegen diesen Kutter, meine Herren, aber in die Heimat ist es auf dem Seeweg noch ein hübsches Ende. Werden wir es schaffen?«

»Immer noch ein großes Maul«, sagte der Hamburger. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Lieven. Mit dem Kutter bringen wir Sie nur aus der Dreimeilenzone raus.«

»Ins Planquadrat 135 Z«, sagte der Leipziger.

Thomas bemerkte, daß der Kutter ohne Positionslichter fuhr. Die See wurde immer unruhiger. Desgleichen Thomas. Aber er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Und was, meine Herren, geschieht im Planquadrat 135 Z?«

»Dort taucht in einer Viertelstunde ein U-Boot auf. Geht alles wie am Schnürchen, Sie werden sehen. Ruck, zuck!«

»Deutsche Organisation«, meinte Thomas höflich.

Der kleine Steuermann sagte auf portugiesisch: »Wir haben die Hoheitsgewässer verlassen. Wo ist mein Geld?«

Der Leipziger stand auf, trat schwankend neben den Steuermann und gab ihm ein Kuvert. Der Schiffer klemmte das Steuer fest und zählte die Banknoten. Danach ging alles sehr schnell.

Thomas war der erste, der den großen Schatten auftauchen sah, denn er war der einzige, der zum Heck hinblickte. Plötzlich war der schwarze Schemen da, drohend schoß er aus der Nacht heran, direkt auf den schlingernden Kutter zu. Thomas wollte aufschreien, aber im letzten Augenblick biß er sich auf die Zunge. Nicht, dachte er. Nicht schreien. Still jetzt, still …

Scheinwerfer flammten auf. Eine Schiffssirene heulte, einmal, zweimal, dreimal. Dann war der Schatten plötzlich eine Rennjacht, nah, ganz nah, lebensgefährlich nah. Der portugiesische Steuermann schrie wild auf und riß das Rad herum. Zu spät. Mit einem ekelhaften Knirschen rammte die Jacht das kleine Boot backbord im spitzen Winkel. Dem Herrn aus Hamburg flog der Revolver aus der Hand. Der Herr aus Leipzig stürzte.

Und dann war oben unten und unten oben, der Kutter kenterte, indessen sich der Bug der Jacht knirschend in seine Seite grub. Eine unsichtbare Riesenfaust riß Thomas empor und schleuderte ihn hinein in das schwarze, eiskalte Wasser. Er hörte tobendes Stimmendurcheinander, Schreie, Flüche, Kommandorufe, und immer noch heulte die Sirene der Jacht.

Thomas schluckte Salzwasser, ging unter, kam wieder hoch, rang nach Luft und sah vom Deck der Jacht einen Rettungsring an einer Leine auf sich zufliegen. Klatschend traf der weiße Ring das Wasser. Thomas packte ihn. Im nächsten Moment bereits straffte sich die Leine, und er wurde zur Jacht hingezogen.

Blinzelnd starrte er die Buchstaben auf dem Ring an, der den Namen des Schiffes trug. Thomas las: BABY RUTH.

Herrgott, dachte er, wenn ich das im Club erzähle, werden sie sagen, ich lüge …



17



»Whisky oder Rum?«

»Whisky, bitte.«

»Mit Eis und Soda?«

»Nur mit Eis, bitte. Und gießen Sie das Glas ruhig halb voll, ich bekomme so leicht Schnupfen«, sagte Thomas Lieven. Eine Viertelstunde war vergangen, eine außerordentlich ereignisreiche Viertelstunde.

Vor fünfzehn Minuten noch Gefangener der Deutschen Abwehr, danach Schiffbrüchiger im Atlantik, saß Thomas nun in wärmende Decken gehüllt auf dem traumweichen Bett einer traumschönen Luxuskabine. Ein Herr, den er niemals zuvor gesehen hatte, stand vor einer Wandbar und bereitete ihm einen Drink.

Thomas dachte leicht benommen: Wie es halt so geht im Leben …

Der Herr brachte ihm den Whisky. Er hatte sich selbst auch einen ordentlichen eingegossen. Nun hob er lächelnd sein Glas: »Cheerio!«

»Cheerio!« sagte Thomas und trank einen mächtigen Schluck. Jetzt bekomme ich endlich den widerlichen Chloroformgeschmack aus der Kehle, dachte er. Von draußen drang wüstes Gebrüll in die Kabine.

»Wer ist das?«

»Unser Steuermann und Ihrer. Eine Expertenkonversation über die Schuldfrage«, erwiderte der fremde Herr, der einen tadellosen blauen Einreiher und eine intellektuelle Hornbrille trug. »Natürlich war Ihr Steuermann schuld. Man fährt nicht ohne Positionslichter. Noch etwas Eis?«

»Danke nein. Wo sind die beiden – meine Begleiter?«

»Unter Deck. Ich nehme an, daß Sie die beiden gerne dort wissen.« Es hilft ja nichts, dachte Thomas. Was soll’s, es wird das beste sein, wenn ich den Stier gleich bei den Hörnern packe. Er sagte darum: »Ich danke Ihnen, Sie haben mich vor dem Tod bewahrt. Und ich denke dabei nicht an den Tod durch Ertrinken.«

»Prost, Kaufmann Jonas!«

»Bitte, wie?«

»Für uns sind Sie Kaufmann Jonas. Wir wissen noch nicht, wie Sie wirklich heißen.« Gott sei Dank, dachte Thomas. »Sie werden es mir sicherlich auch nicht sagen wollen …«

»Sicherlich nicht!« – Was für ein Glück, daß ich alle meine Papiere im Safe der schönen Konsulin Estrella deponiert habe. Ich wurde doch die ganze Zeit das Gefühl nicht los, daß mir einmal so etwas zustoßen würde.

»Ich verstehe das vollkommen. Es ist mir klar, daß Sie erst an höchster Stelle sprechen können. Ein Mann wie Sie! Eine V.I.P.!«

»Bitte, eine was?«

»Eine Very Important Person!«

»Ich bin eine sehr wichtige Person?«

»Na, hören Sie mal, Kaufmann Jonas, wenn die Deutsche Abwehr versucht, Sie mit einem U-Boot aus Portugal herauszuholen! Sie können nicht ahnen, was sich Ihretwegen in den letzten achtundvierzig Stunden getan hat! Diese Vorbereitungen! Monströs! Abwehr Berlin! Abwehr Lissabon! U-Boot im Planquadrat 135 Z! So einen verrückten Funkverkehr hatten die Deutschen seit Monaten nicht mehr. Kaufmann Jonas … Kaufmann Jonas … Kaufmann Jonas muß unter allen Umständen nach Berlin gebracht werden … Und da fragen Sie mich, ob Sie eine V.I.P. sind – köstlich! Was ist, Kaufmann Jonas?«

»Könnte ich – könnte ich wohl noch einen Whisky bekommen, bitte?«

Thomas Lieven bekam noch einen – einen großen. Der Herr mit der Hornbrille bereitete sich selber auch noch einen und überlegte dabei laut: »Für die 5000 Dollar kann BABY RUTH ruhig eine Pulle Whisky springen lassen!«

»Welches Baby, bitte? Was für 5000 Dollar?«

Der Bebrillte lachte: »Kaufmann Jonas, es ist Ihnen doch klar, daß Sie in mir einen Mann vom ›Secret Service‹ vor sich haben?«

»Das ist mir klar, ja.«

»Nennen Sie mich Roger. So heiße ich natürlich nicht. Aber ein falscher Name ist so gut wie der andere – habe ich recht?«

Lieber Gott im Himmel, es geht schon wieder los! dachte Thomas Lieven. Aufpassen, ich muß jetzt aufpassen. Den Deutschen bin ich entkommen. Jetzt muß ich nur noch die Engländer loswerden. Ich muß Zeit gewinnen. Überlegen. Vorsichtig sein.

Er sagte: »Sie haben vollkommen recht, Mr. Roger. Ich wiederhole meine Frage: Was für 5000 Dollar? Welches ›BABY RUTH‹?«

»Kaufmann Jonas, als wir – und unter ›wir‹ verstehe ich uns Boys von der britischen Abwehr in Lissabon – den hysterischen Funkverkehr der Deutschen konstatierten, da verständigten wir sofort M 15 in London …«

»Wer ist M 15?«

»Der Chef unserer Gegenspionage.«

»Aha«, sagte Thomas. Er trank einen Schluck und dachte: ein europäischer Kindergarten. Ein mörderischer europäischer Kindergarten. Ach, lieber Gott, werde ich froh sein, wenn ich diesen lächerlich lebensgefährlichen Kontinent hinter mir gelassen habe.

»Und M 15 funkte: Feuer frei!«

»Ich verstehe.«

»Wir reagierten blitzschnell …«

»Na klar.«

»… diesen Kaufmann Jonas sollten die Nazis nicht bekommen! Hahaha! Nehmen Sie noch einen Whisky auf Baby Ruths Wohl!«

»Wollen Sie mir nicht endlich sagen, wer Baby Ruth ist?«

»Mrs. Ruth Woodhouse, 65 Jahre alt. Dreivierteltaub. Hat zwei Schlaganfälle und fünf Ehegatten überlebt.«

»Kompliment.«

»Kein Begriff für Sie: Woodhouse-Stahl? Woodhouse-Panzer? Woodhouse-Maschinengewehre? Eine der ältesten amerikanischen Rüstungsdynastien! Nie gehört?«

»Ich fürchte, nein.«

»Arge Bildungslücke, muß ich schon sagen.«

»Sie haben sie geschlossen. Danke.«

»Gern geschehen. Also, dieser Dame gehört die Jacht. Sie hält sich zur Zeit in Lissabon auf. Als wir die Sache mit dem U-Boot herausbekommen hatten, redeten wir mit ihr. Sie stellte uns sofort ihr Schiff zur Verfügung, für 5000 Dollar.« Der Mann, der sich Roger nannte, ging wieder zur Bar. »Es lief alles wie am Schnürchen, Kaufmann Jonas! Ruck, zuck!«

Das habe ich heute abend schon einmal gehört, dachte Thomas Lieven und sagte höflich: »Britische Organisation.«

Roger brach in die Alkoholbestände der amerikanischen Rüstungsmillionärin ein wie ein reißender Wolf in eine Schafherde. Dabei amüsierte er sich: »Wir verfolgten jeden Ihrer Schritte, Kaufmann Jonas. Sie wurden dauernd überwacht! Ich lag hier auf der Lauer, im Planquadrat 135 Z. Ich erhielt den Funkspruch, daß die Deutschen Sie beim Flughafen überfallen und entführt hatten. Ich erhielt den Funkspruch, daß der Fischkutter klarmachte. Hahaha!«

»Und was geschieht jetzt?«

»Ruck, zuck! Wie am Schnürchen geht das alles. Wir werden natürlich gegen den portugiesischen Steuermann Anzeige erstatten. Wegen grober Fahrlässigkeit. Er ist zweifellos an dem Unfall schuld! Wir haben bereits eine entsprechende Meldung gefunkt. Es wird bald ein Patrouillenboot hier aufkreuzen, das den Steuermann und Ihre beiden deutschen Freunde übernimmt.«

»Was geschieht mit ihnen?«

»Nichts. Sie haben schon erklärt, daß sie nur eine kleine Rundfahrt machen wollten.«

»Und was geschieht mit mir?«

»Ich habe Auftrag, Sie, gegebenenfalls unter Einsatz meines Lebens, sicher in die Villa des britischen Nachrichtenchefs in Portugal zu bringen. Oder wollen Sie lieber mit Ihren deutschen Freunden gehen?«

»Keinesfalls, Mr. Roger, keinesfalls«, sagte Thomas Lieven und lächelte verzerrt, indessen er überlegte: Ist das noch Meerwasser auf meiner Stirn – oder schon wieder Angstschweiß?



18



Die Deutschen hatten Thomas Lieven mit einer uralten Limousine aus Lissabon entführt, die Briten brachten ihn in einem neuen Rolls-Royce nach Lissabon zurück.

Noblesse oblige.

Er saß im Fond, in einen blauseidenen Morgenrock mit aufgestickten goldenen Drachen gehüllt, dazu passende Pantoffeln an den Füßen. Mehr an Garderobe hatte sich an Bord der BABY RUTH nicht auftreiben lassen. Thomas Lievens nasser Anzug und seine Wäsche lagen vorne beim Chauffeur.

Neben Thomas saß Roger, eine Maschinenpistole auf den Knien. Er sprach durch die Zähne: »Keine Furcht, Kaufmann Jonas, es geschieht Ihnen nichts. Die Wagenwände sind gepanzert, die Fenster aus kugelsicherem Glas. Man kann nicht hereinschießen.«

»Und wie, bitte, würden Sie dann unter Umständen hinausschießen?« fragte Thomas. Darauf blieb der britische Agent eine Antwort schuldig.

An dem schlafenden Luxusbadeort Estoril vorbei jagten sie ostwärts, in einen gloriosen Sonnenaufgang hinein. Perlmutterfarben leuchteten Himmel und Meer. Viele Schiffe lagen im Hafen. Heute ist der 9. September, dachte Thomas Lieven. Morgen läuft die »General Carmona« nach Südamerika aus. Werde ich sie erreichen, lieber Gott?

In einem Palmengarten stand die komfortable Villa des britischen Nachrichtenchefs. Sie war im maurischen Stil eingerichtet und gehörte einem Geldverleiher namens Alvarez, der noch zwei weitere, ähnliche Villen besaß. Die eine hatte er an den Nachrichtenchef der deutschen Gesandtschaft vermietet, die andere an den Nachrichtenchef der amerikanischen …

CASA DO SUL stand in goldenen Lettern über dem Eingang zur Villa der Briten. Ein Butler in gestreifter Hose und grüner Samtweste hielt die schwere schmiedeeiserne Tür auf. Die weißen, buschigen Augenbrauen hatte er hochgezogen. Er verneigte sich stumm vor Thomas. Danach versperrte er die Tür und schritt vor den beiden Besuchern durch eine mächtige Halle, am Kamin, einer Freitreppe und den Ahnenporträts des Herrn Alvarez vorbei, der Bibliothek zu.

In dieser wartete vor einer bunten Bücherwand ein älterer Gentleman, der so wundervoll englisch aussah wie nur jene Herren, denen man auf den Seiten britischer Schneidermagazine begegnet. Seine gepflegte Eleganz, der untadelig sitzende dunkelgraue Flanellanzug, der gepflegte Kolonialoffiziersschnurrbart und die militärisch straffe Haltung dieses Gentlemans erregten Thomas Lievens ehrliche Bewunderung.

»Mission ausgeführt, Sir«, sprach Roger zu ihm.

»Gut gemacht, Jack«, sprach der Herr in Dunkelgrau, Thomas die Hand schüttelnd. »Guten Morgen, Kaufmann Jonas. Willkommen auf großbritannischem Boden. Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Einen Whisky auf den Schrecken?«

»Ich trinke niemals vor dem Frühstück, Sir.«

»Ich verstehe. Mann von Prinzipien. Gefällt mir. Gefällt mir sehr.« Der Herr in Dunkelgrau wandte sich an Roger. »Gehen Sie hinauf zu Charley. Er soll Funkverbindung mit M 15 aufnehmen. Code Cicero. Meldung: Die Sonne geht im Westen auf.«

»Jawohl, Sir.« Roger verschwand. Der Herr in Dunkelgrau sagte zu Thomas: »Nennen Sie mich Shakespeare, Kaufmann Jonas.«

»Gerne, Mr. Shakespeare.« – Warum nicht? In Frankreich habe ich einmal einen Kollegen von dir Jupiter nennen müssen, dachte Thomas. Wenn euch so etwas Spaß macht …

»Sie sind Franzose, Kaufmann Jonas, nicht wahr?«

»Eh – ja.«

»Dachte ich mir sofort! Habe einen Blick dafür. Untrügliche Menschenkenntnis! Vive la France, Monsieur!«

»Danke, Mr. Shakespeare.«

»Monsieur Jonas, wie heißen Sie wirklich?«

Wenn ich dir das sage, erreiche ich mein Schiff nie, dachte Thomas und erwiderte darum: »Es tut mir leid, aber meine Lage ist zu ernst. Ich muß meine wahre Identität verschweigen.«

»Monsieur, ich verbürge mich mit meiner Ehre dafür, daß wir Sie jederzeit sicher nach London bringen, wenn Sie sich bereit erklären, für mein Land zu arbeiten. Wir haben Sie aus den Klauen der Nazis gerettet, vergessen Sie das nicht!«

Das ist ein Leben, dachte Thomas.

Er sagte: »Ich bin erschöpft, Mr. Shakespeare. Ich – ich kann nicht mehr. Bevor ich mich für irgend etwas entscheide, muß ich schlafen.«

»Vollkommen klar, Monsieur. Ein Fremdenzimmer steht für Sie bereit. Betrachten Sie sich als mein Gast.«

Eine halbe Stunde später lag Thomas Lieven in einem bequemen, weichen Bett in einem stillen, gemütlichen Zimmer. Die Sonne war aufgegangen, im Park sangen viele Vögel. Goldene Lichtbahnen fielen durch das vergitterte Fenster. Die Tür war von außen versperrt. Englische Gastfreundschaft, dachte Thomas Lieven, in der ganzen Welt gerühmt. Es geht wirklich nichts über sie …



19



»Achtung, die Zeit: Beim Gongschlag ist es acht Uhr! Guten Morgen, meine Damen und Herren. Von Radio Lissabon hören Sie die zweiten Frühnachrichten. London: Auch in der vergangenen Nacht setzten starke Bomberverbände der deutschen Luftwaffe ihre konzentrierten Angriffe auf die britische Hauptstadt fort …«

Heftig atmend, die Hände aneinanderreibend, eilte die vollschlanke, schwarzhaarige Konsulin Estrella Rodrigues in ihrem Schlafzimmer auf und ab. Sie sah erschöpft aus. Ihre aufreizend gewölbte Oberlippe zitterte.

Estrella war einem Nervenzusammenbruch nahe. Nicht eine Minute hatte sie in der vergangenen Nacht geschlafen, furchtbare Stunden lagen hinter ihr. Jean, ihr geliebter Jean, war nicht nach Hause gekommen. Sie wußte, daß er seinen geheimnisvollen Freund, diesen französischen Major, zum Flughafen gebracht hatte. Sie hatte mit dem Flughafen telefoniert. Aber dort wußte man nichts von einem Monsieur Jean Leblanc.

Vor ihrem geistigen Auge sah Estrella ihren Geliebten entführt, gefangen, gefoltert, in den Händen der Deutschen, tot! Estrellas Brust hob und senkte sich im Aufruhr ihrer Gefühle. Sie glaubte zu sterben, zu vergehen …

Plötzlich kam ihr zu Bewußtsein, daß noch immer das Radio lief. Sie blieb stehen; sie nahm zur Kenntnis, was die Sprecherstimme sagte:

»… rammte in den Morgenstunden des heutigen Tages die amerikanische Jacht BABY RUTH vor der Dreimeilenzone einen portugiesischen Fischkutter, welcher kenterte. Die Besatzung der Jacht nahm mehrere Schiffbrüchige an Bord. Zur gleichen Zeit orteten Einheiten unseres Küstenschutzes in der Nähe der Unfallstelle ein U-Boot, das sofort tauchte und die Flucht ergriff.

Captain Edward Marks, Kommandant der BABY RUTH, erstattete gegen den Steuermann des Fischkutters Anzeige wegen grober Gefährdung. Die drei Passagiere des Kutters, zwei Deutsche und ein Franzose …«

Estrella schrie auf!

»… verweigerten jede Auskunft. Es liegt der Verdacht nahe, daß es sich bei dem Vorfall um ein vereiteltes Entführungsmanöver handelt, in welches mindestens zwei ausländische Geheimdienste verstrickt sind. Eine Untersuchung wurde eingeleitet. Die BABY RUTH darf bis auf weiteres nicht auslaufen. Sie gehört der amerikanischen Millionärin Ruth Woodhouse, die seit einiger Zeit im Hotel ›Aviz‹ residiert. Sie hörten Nachrichten. Die Wetteraussichten für heute und morgen …«

Die Konsulin erwachte aus ihrer Erstarrung. Sie knipste das Radio aus. In höchster Eile zog sie sich an. Jean … Ihre Ahnung hatte sie nicht getrogen, es war etwas passiert, etwas Arges, etwas Grauenvolles … Wie hieß diese Millionärin?

Woodhouse. Ruth Woodhouse. Hotel »Aviz«.



20



Die weißen, buschigen Augenbrauen hochgezogen, betrat der Butler die Bibliothek der luxuriösen »Casa do Sul«. Sonor klang seine Stimme, als er dem Chef des britischen Nachrichtendienstes in Portugal meldete: »Senhora Rodrigues ist jetzt eingetroffen, Sir.«

Federnd erhob sich der Mann, der sich Shakespeare nannte. Federnd schritt er der schönen Konsulin entgegen, die nun ein hautenges weißes Leinenkleid, handbemalt mit Blumen und Vögeln in leuchtenden Farben, ein wenig zu viel Make-up und den Ausdruck eines gehetzten, vollschlanken Edelwildes trug.

Shakespeare küßte ihr die Hand. Der Butler zog sich zurück.

Der Chef des britischen Nachrichtendienstes bot Estrella Platz an. Außer Atem, heftig wogend, plumpste sie in einen kostbaren Sessel. Die Erregung verschlug ihr die Rede – ein seltenes Phänomen. Mitfühlend sagte der Mann, dem es gefiel, sich des Namens von Englands größtem Poeten zu bedienen: »Ich habe vor einer halben Stunde mit Mrs. Woodhouse telefoniert. Ich weiß, daß Sie sie aufgesucht haben, Senhora …«

Immer noch sprachlos, nickte Estrella.

»… Mrs. Woodhouse ist eine – hm – sehr gute Freundin von uns. Sie sagte mir, daß Sie in Sorge um einen – hm – sehr guten Freund leben?«

Estrella ahnte nicht, was sie mit ihren nächsten Worten anrichtete: »In Sorge um Jean, mein Gott, um meinen armen, unglücklichen Jean …«

»Jean?«

»Jean Leblanc – ein Franzose. Er ist seit gestern verschwunden … Ich bin schon halb wahnsinnig vor Angst. Können Sie mir helfen … Wissen Sie etwas von ihm? Sagen Sie mir die Wahrheit, ich flehe Sie an!«

Shakespeare wiegte vielsagend den Kopf.

»Sie verbergen mir etwas!« sprudelte die Konsulin hervor. »Ich fühle es. Ich weiß es! Seien Sie barmherzig, Senhor, sprechen Sie! Ist mein armer Jean in die Hände der elenden Hunnen gefallen? Ist er tot?«

Shakespeare hob eine Hand, die schmal und edel war und weiß wie Milch. »Nicht doch, verehrteste Senhora, nicht doch. Ich glaube, ich habe gute Nachrichten für Sie …«

»Wirklich, heilige Madonna von Bilbao, wirklich?«

»Wie es sich trifft, hm, hm, kam vor ein paar Stunden ein Herr zu uns, der sehr wohl jener sein könnte, den Sie suchen …«

»O Gott, o Gott, o Gott!«

»Der Butler weckt ihn eben. Er wird jeden Augenblick« – es klopfte –, »da ist er schon. Herein!«

Die Tür ging auf. Der hochmütige Diener erschien. An ihm vorbei schritt Thomas Lieven in die Bibliothek, in Pantoffeln, mit nackten Beinen, in den orientalischen Morgenrock aus den Beständen der BABY RUTH gehüllt.

»Jean!«

Estrellas Schrei zerriß die Luft. Sie stürzte stolpernd über einen Teppich auf ihren Geliebten zu, warf sich an seine Brust, klammerte sich an den Erstarrten, herzte und küßte ihn atemlos und bekannte stammelnd: »O Jean, Jean – mein Einziger, mein Süßer … Daß du nur lebst, daß du nur da bist, das macht mich zur glücklichsten Frau der Welt!«

Shakespeare verneigte sich mit einem verständnisinnigen Lächeln. »Ich lasse Sie mit der Senhora allein«, erklärte er dezent. »Bis nachher, Monsieur Leblanc.«

Thomas Lieven schloß die Augen. Indessen ihn die Küsse Estrellas wie Hagelkörner trafen, dachte er verzweifelt: Aus! Schluß! Jetzt bin ich geliefert. Leb wohl, Freiheit! Leb wohl, »General Carmona«. Leb wohl, schönes Südamerika …



21



Funker Charley saß in einer Mansardenstube der »Casa do Sul«, vor deren Fenster Palmenwedel im Morgenwind wogten. Funker Charley manikürte seine Nägel, als Shakespeare hereingestürzt kam.

»Los. An M 15. Ganz dringend: Echter Name von Kaufmann Jonas ist Jean Leblanc stop erbitten Weisung.«

Charley chiffrierte die Botschaft, schaltete den Sender ein und begann zu morsen.

Inzwischen hatte Shakespeare sich vor einem großen Lautsprecher niedergelassen und eine von sieben Tasten herabgedrückt, über der zu lesen stand:

MIKROPHON BIBLIOTHEK

Es knisterte und knackte. Dann hörte Shakespeare den folgenden Dialog zwischen Thomas und der schönen Estrella mit an:

»… aber wieso habe ich dich in Gefahr gebracht, Liebling? Wieso?«

»Du hättest nie herkommen dürfen!«

»Ich war doch halb wahnsinnig vor Angst und Sorge – ich habe gedacht, ich sterbe …«

»Du hättest niemals meinen Namen nennen dürfen!«

(Mit schmalen Lippen lächelte Shakespeare.)

»Warum nicht? Warum nicht?«

»Weil meinen Namen niemand wissen darf!«

»Aber du bist doch Franzose! Ein Freund der Engländer – ein Verbündeter …«

»Trotzdem. Sei jetzt still …« Schritte erklangen. »… es wird hier irgendwo doch ganz bestimmt so ein Dings geben … Ah, da ist es ja schon, unter dem Tisch.«

Ein schrilles Pfeifen kam aus dem Lautsprecher, ein schreckliches Krachen, dann war die Verbindung tot.

Bewundernd sagte Shakespeare: »Gerissener Hund. Hat das Mikro entdeckt und abgerissen!« Wenige Minuten später sah er, daß der Funker mit fliegenden Fingern eine Botschaft aufnahm. »Schon Antwort von M 15?«

Charley nickte. Er dechiffrierte die Antwort aus London. Dabei wechselte sein gesundes Jungengesicht die Farbe. Erblassend sagte er: »Allmächtiger!«

»Was ist?« Shakespeare riß ihm den Zettel aus der Hand. Er las:

von m 15 an shakespeare lissabon – angeblicher jean leblanc heißt in wirklichkeit thomas lieven und ist deutscher abwehragent – hat uns gerade mit gefälschten listen des französischen geheimdienstes hereingelegt – halten sie diesen mann unter allen umständen fest – spezialagent fliegt sogleich mit kuriermaschine zu ihnen – seinen weisungen ist folge zu leisten – ende – ende –

Mit einem kräftigen Fluch schleuderte Shakespeare den Zettel zu Boden und stürzte aus der Mansarde. Er rannte die Treppe zur Bibliothek hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

In der Halle bot sich ihm ein erschreckendes Bild. Die schwere Eingangstür stand ebenso offen wie die Bibliothekstür. Zwischen beiden lag eine reglose Gestalt mit dem Gesicht nach unten auf einem prächtigen Orientteppich – der vornehme Butler.

Shakespeare rannte in die Bibliothek. Sie war leer. Ein Duft von Parfüm hing noch in der Luft. Shakespeare rannte in den Park hinaus. Auf der Straße startete gerade aufheulend ein rotes Taxi. Shakespeare rannte in die Halle zurück. Der vornehme Butler war eben zu sich gekommen. Er saß auf dem Teppich, stöhnte und massierte seinen Hals.

»Wie war das möglich?«

»Der Mann ist ein Meister im Jiu-Jitsu, Sir. Ich sah ihn, als er mit der Dame aus der Bibliothek kam. Ich trat ihm entgegen, um ihn aufzuhalten. Danach ging alles blitzschnell. Ich flog zu Boden – mir schwanden die Sinne, Sir …«



22



Das Telefon schrillte – schrillte – schrillte.

Immer noch in Pantoffeln und Morgenrock, kam Thomas Lieven in Estrellas Schlafzimmer geschliddert. Der Chauffeur des roten Taxis und zahlreiche Passanten hatten sich in der letzten Viertelstunde über seine seltsame Bekleidung ebenso gewundert wie Estrellas Stubenmädchen, aber das war dem lebenslang mit größter Eleganz gekleideten Thomas egal. Ihm war jetzt alles egal! Er wußte: Nun ging es um seinen Hals!

Er riß den Hörer hoch: »Hallo?«

Dann lächelte er erleichtert, denn er kannte die Stimme, die sich meldete. Sie gehörte einem Freund, dem einzigen Freund, den er jetzt noch hatte.

»Leblanc, hier ist Lindner …«

»Gott sei Dank, Lindner, ich wollte Sie auch gerade anrufen. Wo sind Sie?«

»Im Hotel. Hören Sie, Leblanc, ich versuche seit Stunden, Sie zu erreichen.«

»Jaja, schon gut. Ich hatte ein unangenehmes Erlebnis – mehrere unangenehme Erlebnisse … Lindner, Sie müssen mir helfen … Ich muß mich verstecken, bis unser Schiff geht …«

»Leblanc!«

»… man darf mich nicht mehr sehen, ich …«

»Leblanc! Lassen Sie mich endlich reden!«

»Bitte.«

»Unser Schiff geht nicht.«

Thomas sank auf das Bett der Konsulin, die hinter ihn getreten war und angstvoll ihre kleine Faust an den aufregenden Mund preßte. Thomas ächzte: »Was sagen Sie?«

»Unser Schiff geht nicht!«

Schweiß trat auf Thomas Lievens Stirn. »Was ist passiert?«

Die Stimme des Wiener Bankiers klang hysterisch: »Ich hatte schon seit Tagen ein böses Gefühl. Unsere Reederei betrug sich so eigenartig – ich habe es Ihnen verschwiegen, um Sie nicht zu beunruhigen. Heute morgen habe ich es erfahren …«

»Was erfahren?«

»Unser Schiff ist von den Deutschen gekapert worden!«

Thomas schloß die Augen.

»Was ist – was ist …?« rief die arme Konsulin bebend.

Thomas stöhnte in die Muschel: »Und – und ein anderes Schiff?«

»Unmöglich! Auf Monate hinaus alles ausgebucht! Wir dürfen uns nichts vormachen, Leblanc – wir sitzen in Lissabon fest – hallo – Leblanc, haben Sie mich verstanden?«

»Jedes Wort«, sagte Thomas Lieven. »Sie hören von mir, Lindner. Leben Sie wohl – wenn Sie das unter den Umständen noch können.« Er legte auf und stützte den Kopf in die Hände. Plötzlich roch er wieder das Chloroform. Plötzlich war ihm wieder übel. Er fühlte sich schwindlig und zu Tode erschöpft.

Was jetzt?

Nun saß er in der Falle. Nun konnte er nicht mehr damit rechnen, ihnen zu entkommen, den Deutschen, den Engländern, den Franzosen – allen, die er hereingelegt hatte.

»Jean! Jean!« Die Stimme der schönen Konsulin drang an sein Ohr. Er blickte auf. Sie war neben ihm in die Knie gesunken, zitternd und schluchzend. »Sprich doch! Sag doch ein Wort! Erzähle deiner armen Estrella, was geschehen ist!«

Er sah sie schweigend an. Dann erhellte sich sein Gesicht, und seine Stimme klang sanft: »Schick das Mädchen fort, Liebling.«

»Das Mädchen …«

Menu • 9. September 1940

Thomas Lieven kocht ungarisch.

Dabei kommt ihm die rettende Idee.

Champignons auf Toast

Ungarisches Lecso

Frische Birnen mit Käse

Champignons auf Toast: Man nehme feste kleine Champignons, wasche sie, entferne etwaige Unreinheiten und schneide sie blättrig. Dann dünste man sie in Butter weich, salze und pfeffere sie leicht und häufe sie auf dünne Weißbrotschnitten, die man auf beiden Seiten in Butter gelb angebraten hat. Man beträufle sie mit Zitronensaft und streue etwas feingehackte Petersilie darüber und gebe sie auf gut vorgewärmten Tellern zu Tisch.

Sehr fein ist es, mit den Pilzen etwas feingehackte Schalotte, dann süße oder saure Sahne mitzudünsten, die fertigen Schnitten mit geriebenem Käse zu bestreuen und im Ofen kurz zu überbacken.

Anmerkung: Thomas Lieven hat sich für die erste Art der Zubereitung entschieden, weil er vor dem etwas massiven Hauptgericht nur einen leichten Appetithappen reichen will.

Ungarisches Lecso: Man schneide ein halbes Pfund Zwiebeln in Ringe, je hundert Gramm durchwachsenen Speck und derbe Knoblauchwurst in kleine Würfel und ein Pfund Hammelfleisch in etwas größere Stücke. Man entkerne zwei Pfund grüne Paprikaschoten, schneide sie in fingerlange und -breite Streifen und häute ein Pfund Tomaten ab.

Man schmore Zwiebeln, Speck und Wurst zusammen an, gebe dann das Fleisch dazu, das auf allen Seiten angebraten wird. Dann füge man die Paprikastreifen dazu und etwas später die Tomaten. Das Gericht soll bei geschlossenem Deckel auf kleiner Flamme langsam dünsten, bis alles ganz weich ist. Eine halbe Stunde bevor man es zu Tisch geben will, füge man einen halben Tassenkopf voll Reis hinzu, der nur dazu dienen soll, den Saft leicht zu binden. Verwendet man mehr Reis, so gibt es einen pappigen Brei. Man würze mit Salz und rotem Paprika. Zum Lecso reiche man geschnittenes Weißbrot.

Frische Birnen mit Käse: Man nehme reife, feste und doch saftige Birnen und reiche dazu einen nicht zu strengen vollfetten Käse. Am besten Gervais oder Bel Paese. Man schäle sich bei Tisch eine Birne, schneide sie auf mundgerechte Schnitze und verzehre jeden Schnitz zusammen mit einem Stückchen Käse. Diese Zusammenstellung von frischem Obst mit Käse ist ein besonders angenehmer und bekömmlicher Abschluß nach einem schweren und scharfen Essen.

»Ich will mit dir allein sein.«

»Aber das Mittagessen …«

»Ich koche selber«, sagte Thomas Lieven und stand auf wie ein Boxer, der, angeschlagen zwar, aber noch lange nicht k. o., zur nächsten Runde antritt. »Ich muß mir jetzt alles ganz genau überlegen. Und beim Kochen kommen mir die besten Gedanken.«

Er kochte ungarisches Lecso. Versunken schnitt er ein halbes Pfund Zwiebeln zu Ringen, sanft und still entkernte er zwei Pfund grüne Paprikaschoten.

Die Konsulin beobachtete ihn dabei. Sie war so nervös, daß sie andauernd an ihrem Armband drehte, einem äußerst kostbaren Schmuckstück aus schwerem Gold, das besetzt war mit lupenreinen Brillanten. Estrella rief kopfschüttelnd: »Deine Ruhe – deine Gelassenheit! Daß du jetzt kochen kannst …«

Er lächelte verhalten. Sein Blick fiel auf das breite Armband, dessen Steine im Licht funkelten und glühten, weiß, blau, grün, gelb und rot. Er schnitt die Paprikaschoten zu fingerlangen Streifen.

»Warum sprichst du nicht, Jean?«

»Weil ich nachdenke, mein Herz.«

»Jean, willst du dich mir nicht anvertrauen? Willst du mir nicht die Wahrheit sagen? Warum fühlst du dich von allen Seiten bedroht? Warum hast du auch vor den Engländern Angst?«

Er begann, Tomaten zu häuten. »Die Wahrheit, mein Herz, ist so fürchterlich, daß ich sie nicht einmal dir anvertrauen kann.«

»Oh!« Ganz schnell drehte sie jetzt ihr Armband; es leuchtete und glühte wie Feuer. »Aber ich will dir doch helfen, ich will dich doch beschützen – vertraue mir, Jean. Ich tue alles für dich.«

»Alles? Wirklich alles?«

Er ließ die Tomate sinken, die er in der Hand hielt. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck inniger Zärtlichkeit und stiller Zuversicht an. »Nun gut«, sprach Thomas Lieven freundlich, »dann wollen wir uns nach dem Mittagessen noch ein Stündchen ausruhen, und dann zeigst du mich an.«

Wen wundert es, daß diese Worte eine umwerfende Wirkung erzielten? Estrella, die Schöne, verstummte. Mit großen Augen und weit aufgerissenem Mund starrte sie Thomas Lieven an.

»Was hast du gesagt?« keuchte sie, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Was soll ich tun? Dich anzeigen? Wo? Bei wem?«

»Bei der Polizei, mein Schatz.«

»Aber warum denn, um Himmels willen?«

»Weil ich dich bestohlen habe, Liebling«, antwortete Thomas Lieven. »Wo ist denn bloß die Knoblauchwurst?«

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