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So unergiebig sich das Gespräch mit dem Baron de Couville erwies, so glatt ließ sich gleich darauf das Geschäft mit dem Häusermakler Pierre Muerrli abwickeln. Ins Hotel zurückgekehrt, rief Thomas ihn an und erklärte kurz, was er wollte, nämlich gegen Sicherheit durch ein DESU-Aktiendepot die Summe von 750 000 Franken.

»Mehr nicht?« fragte Pierre Muerrli in kehligem Schwyzerdütsch.

»Nein, das genügt mir«, sagte Thomas und dachte: Man soll nicht übertreiben.

Der Makler kam ins Hotel, ein rotgesichtiger, vierschrötiger Mensch. Ein Mensch mit Tempo!

Am nächsten Tag bereits wurde bei einem Notar dieser Vertrag aufgesetzt und besiegelt:


»Herr Wilfried Ott, Industrieller aus Düsseldorf, verpflichtet sich, eine Beteiligung von einer Dreiviertelmillion Franken mit acht Prozent zu verzinsen. Die Beteiligung soll spätestens am 9. Mai 1959, Mitternacht, zurückbezahlt werden.

Bis zu diesem Zeitpunkt verpflichtet sich Herr Pierre Muerrli, Häusermakler aus Zürich, das Aktiendepot, das ihm Herr Ott als Sicherheit übereignet hat, unberührt zu lassen.

Sollte jedoch die Beteiligung nicht bis zum vereinbarten Termin zurückbezahlt sein, so darf Herr Muerrli über die Wertpapiere frei verfügen.«


Den Vertrag in der Tasche, fuhren Thomas und Muerrli in die Zentralbank. Die Echtheit des Depotscheins wurde bestätigt.

In Pierre Muerrlis Maklerbüro fand sodann die Übergabe eines Barschecks über 717 850 Schweizer Franken statt, die Beteiligung abzüglich aller Spesen sowie der achtprozentigen Verzinsung für zwei Jahre.

717 850 Schweizer Franken hatte Thomas sich solcherart sozusagen im Handumdrehen verschafft! Zwei Jahre lang konnte und wollte er nun mit diesem Kapital arbeiten; im Mai 1959, fristgerecht und korrekt, zurückzahlen; die falschen Aktien aus dem Depot holen, zerreißen und im Badezimmer fortspülen. Alle würden dann verdient haben, keiner würde dann geschädigt sein, mehr: Keiner würde jemals merken, was da für ein Ding gedreht worden war. Tja, so einfach funktioniert so etwas, wenn so etwas funktioniert …


Als Thomas Lieven, alias Wilfried Ott, Stunden später die Halle seines Hotels betrat, sah er Hélène de Couville in einem Sessel sitzen.

»Hallo, welche Freude!«

Unendlich langsam blickte Hélène von ihrer Modezeitschrift auf. Unendlich gelangweilt äußerte sie: »Oh, guten Tag.«

Sie trug ein braunes Pepitakleid an diesem kühlen Tag und eine Jacke aus kanadischem Naturnerz. Es gab keinen Mann in der Hotelhalle, der sich nicht immer wieder nach ihr umgeschaut hätte. Thomas sagte: »Sie haben sich ein bißchen verspätet, aber ich bin sehr glücklich, daß Sie doch noch gekommen sind.«

»Herr Ott, nehmen Sie zur Kenntnis: Ich komme nicht zu Ihnen, sondern zu einer Freundin, die hier wohnt.«

Thomas sagte: »Wenn es heute nicht geht, dann vielleicht morgen vormittag zum Apéritif?«

»Morgen verreise ich an die Riviera.«

Thomas schlug die Hände zusammen: »Ist das ein Zufall! Wissen Sie, daß ich morgen auch an die Riviera fahre? Ich hole Sie ab. Sagen wir, um elf?«

»Ich werde selbstverständlich nicht mit Ihnen fahren. Da kommt meine Freundin.« Sie stand auf. »Leben Sie wohl – wenn Sie können.«

Am nächsten Vormittag, sieben Minuten nach elf, fuhr Hélène de Couville in einem kleinen Sportwagen aus dem Parktor des Château Montenac – und an Thomas vorbei.

Er verneigte sich, sie sah zur Seite. Er setzte sich in seinen Wagen und fuhr ihr nach.

Bis Grenoble geschah nichts Berichtenswertes.

Knapp hinter Grenoble blieb Hélènes Wagen stehen. Sie stieg aus. Er hielt neben ihr.

»Etwas mit dem Motor«, sagte sie.

Er untersuchte den Motor, konnte aber keinen Defekt finden.

Hélène war bereits in ein nahe gelegenes Haus gegangen, um nach einem Mechaniker zu telefonieren. Der kam auch bald und erklärte, die Benzinpumpe wäre »völlig im Eimer«; der Wagen müsse abgeschleppt werden, die Reparatur dauere mindestens zwei Tage.

Thomas war davon überzeugt, daß der Mechaniker log, um eine teure Rechnung schreiben zu können, aber er war selig, auf einen Lügner gestoßen zu sein. Er lud Hélène ein, die Reise in seinem Wagen fortzusetzen.

»Sie sind sehr freundlich, Herr Ott«, antwortete sie nach langem Zögern.

Ihr Gepäck wurde umgeladen. Der Lügner bekam von Thomas heimlich ein aristokratisches Trinkgeld.

Die nächsten 100 Kilometer sprach Hélène ein einziges Wort. Als Thomas einmal nieste, sagte sie: »Wohlsein!«

Nach weiteren 100 Kilometern gab sie bekannt, daß sie in Monte Carlo mit ihrem Verlobten verabredet sei.

»Der Arme«, sagte Thomas. »Er wird wenig von Ihnen haben.«

In Monte Carlo brachte er Hélène wunschgemäß in das »Hôtel de Paris«. Hier lag eine Nachricht für sie. Ihr Verlobter war in Paris festgehalten, er konnte nicht kommen.

»Ich nehme sein Appartement«, erklärte Thomas.

»Sehr wohl, Monsieur«, sagte der Rezeptionschef und steckte die 5000-Franc-Note ein.

»Aber wenn mein Verlobter doch noch kommt …«

»Dann soll er sehen, wo er bleibt«, sagte Thomas, zog Hélène beiseite und flüsterte: »Das ist überhaupt kein Mann für Sie. Sehen Sie nicht, daß hier die Vorsehung am Werk ist?«

Da mußte die junge Dame plötzlich lachen.

Sie blieben zwei Tage in Monte Carlo, dann fuhren sie nach Cannes. Hier stiegen sie im »Hôtel Carlton« ab. Thomas machte sich ein paar schöne Tage. Er fuhr mit Hélène nach Nizza, St. Rafael, St. Maxim und St. Tropez. Er schwamm mit ihr im Meer. Er mietete ein Motorboot, fuhr Wasserski mit ihr. Er lag neben ihr am Strand.

Hélène lachte über dieselben Dinge wie er, dieselben Speisen schmeckten ihr, dieselben Bücher liebte sie, dieselben Bilder.

Als sie nach sieben herrlichen Tagen seine Geliebte wurde, stellte er fest, daß sie sich wirklich auf jedem Gebiet verstanden. Und dann geschah es: in der ersten Stunde des achten Tages …

Mit feuchtschimmernden Augen lag Hélène de Couville auf dem Bett ihres Schlafzimmers. Thomas saß neben ihr. Sie rauchten beide. Er streichelte ihr Haar. Verwehte Musik klang in den Raum. Nur eine kleine Lampe brannte.

Hélène seufzte und rekelte sich: »Ach, Will, ich bin so glücklich …« Sie nannte ihn Will. Wilfried erinnerte sie zu sehr an Richard Wagner, meinte sie.

»Auch ich, mein Herz, auch ich.«

»Wirklich?«

Da war er wieder, dieser seltsame, grübelnde Blick in ihren schrägen Augen, den Thomas sich nicht erklären konnte.

»Wirklich, chérie.«

Plötzlich warf sich Hélène herum, so daß er ihren wunderschönen, goldbraun getönten Rücken sah. Mit erschreckender Wildheit schluchzte sie in die Kissen: »Ich habe dich angelogen! Ich bin schlecht – ach, ich bin ja so schlecht!«

Er ließ sie eine Weile schluchzen, dann sagte er dezent: »Wenn es dein Verlobter ist …«

Sie warf sich wieder auf den Rücken und rief: »Quatsch, Verlobter! Ich habe doch überhaupt keinen Verlobten! Oh, Thomas, Thomas!«

Er fühlte, wie eine Hand aus Eis seinen Rücken entlangstrich. »Was hast du eben gesagt?«

»Ich habe überhaupt keinen Verlobten.«

»Nein, das meine ich nicht.« Er würgte ein bißchen. »Hast du eben Thomas gesagt?«

»Ja«, schluchzte sie, und jetzt kullerten dicke Tränen über ihre Wangen zum Hals hinab und auf die Brust. »Ja, natürlich habe ich Thomas gesagt. So heißt du doch, mein geliebter, armer Thomas Lieven … Ach, warum nur mußte ich dich treffen? In meinem ganzen Leben war ich nicht so verliebt …« Neuerliches Aufbäumen, neuer Tränenstrom. »Und gerade dir muß ich das antun, gerade dir!«

»Antun? Was antun?«

»Ich arbeite für den amerikanischen Geheimdienst«, jammerte Hélène verzweifelt.

Thomas merkte nicht, daß die Glut seiner Zigarette immer näher auf seine Fingerspitzen zukroch. Er schwieg lange.

Endlich seufzte er tief auf: »O Gott, fängt das denn schon wieder an?«

Tragisch stieß Hélène hervor: »Ich wollte es dir nicht sagen … Ich dürfte es dir nicht sagen … Die jagen mich davon – aber ich mußte dir die Wahrheit gestehen nach diesem Abend … Ich wäre sonst erstickt …«

»Mal langsam und von vorn«, sagte Thomas, der allmählich seine Fassung wiedergewann. »Du bist also eine amerikanische Agentin.«

»Ja.«

»Und dein Onkel?«

»Ist mein Vorgesetzter, Colonel Herrick.«

»Und das Château Montenac?«

»Gemietet. Unsere Leute in Deutschland meldeten, du würdest einen großen Coup planen. Dann kamst du nach Zürich. Als dein Inserat erschien, bekamen wir Vollmacht, dir eine Beteiligung bis zu hunderttausend Franken anzubieten …«

»Warum denn das?«

»Da war doch irgendein Trick bei deiner Annonce. Wir kannten ihn nicht. Aber wir hätten ihn herausbekommen. Und dann hätten wir dich in der Hand gehabt. Das FBI will dich doch unter allen Umständen anheuern. Sie sind ganz verrückt nach dir!«

Sie weinte jetzt wieder. Thomas trocknete ihr die Tränen.

»Dann hast du 750 000 verlangt. Da haben wir ein Blitzgespräch mit Washington angemeldet! Was glaubst du, was die uns erzählt haben! 750 000! Ein Irrsinn! haben die gesagt. Das wollten sie nicht riskieren! Und da setzten sie dann mich an …«

»Dich an«, wiederholte er idiotisch.

»… und so unternahm ich diese Reise. Es war alles nur Theater. Der Mechaniker in Grenoble …«

»O Gott, der auch. Und ich Trottel habe ihm noch ein Trinkgeld gegeben!«

»… der Verlobte, alles. Tommy. Und nun – und nun habe ich mich in dich verliebt, und ich weiß, wenn du nicht für uns arbeitest, dann lassen sie dich hochgehen!«

Thomas stand auf.

»Bleib bei mir!«

»Ich komme wieder, Liebling«, sagte er abwesend. »Ich muß mir nur einiges überlegen – in aller Ruhe, wenn du gestattest. Denn das alles, weißt du, ist mir schon einmal passiert …«

Er verließ die Schluchzende und ging durch den Salon in sein Schlafzimmer hinüber. Hier setzte er sich ans Fenster, sah lange in die Nacht hinaus.

Dann griff er nach dem Telefonhörer, wartete, bis sich die Zentrale meldete, und sagte: »Geben Sie mir den Küchenchef … Das ist egal, wecken Sie ihn …«

Nach fünf Minuten klingelte sein Telefon. Thomas nahm ab: »Gaston? Hier spricht Ott. Ich habe gerade einen argen Schicksalsschlag erlitten. Ich brauche etwas Leichtes, Anregendes. Machen Sie mir einen Tomatencocktail und ein paar Sardinencroquetten … Danke.«

Er legte den Hörer auf.

Es gibt also kein Entrinnen, dachte er. 1957 haben sie mich am Wickel, wie sie mich 1939 am Wickel hatten!

Durch die offene Balkontür sah Thomas Lieven hinaus auf die verlassene Corniche d’Or und empor zu den unnahbaren, unbeteiligten Sternen, die über dem Mittelmeer glänzten. Aus der samtigen Dunkelheit schienen sie plötzlich aufzutauchen, die Männer und Frauen seiner Vergangenheit, näher zu kommen, herabzusteigen: faszinierende Schönheiten, eiskalte Agentinnen, mächtige Konzernfürsten, gerissene Kaufleute, skrupellose Mörder, Bandenführer, Schlachtenlenker.

Da kam sein ganzes bisheriges Leben auf ihn zu, dieses wilde, abenteuerliche Leben, das sich nun vollends im Kreis gedreht hatte, seit jenem warmen Tag im Mai 1939, an dem alles begann …

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