1. Kapitel



1



Nicht eine einzige Wolke zeigte sich am tiefblauen Sommerhimmel. Und es war heiß in Baden-Baden, sehr heiß an diesem 7. Juli 1945. Die Bewohner der Stadt schlichen bleich und mager einher, schlecht gekleidet und hoffnungslos.

Gegen die Mittagsstunde dieses Tages fuhr ein olivgrüner Stabswagen, im Fond ein Zwei-Sterne-General, über die Kreuzung auf dem Leopoldsplatz. Hier regelte ein französischer Militärpolizist den Verkehr – den französischen Verkehr, denn deutsche Autos gab es nicht. Aber dafür gab es französische in Menge! Baden-Baden war der Sitz der französischen Militärregierung. Deutsche Einwohnerzahl: 30 000. Französische Militärs und Verwaltungsbeamte mit ihren Familien: 32 000.

»Halten Sie mal«, sagte der General. Der Fahrer hielt neben dem Militärpolizisten, der so lässig salutierte, daß er von einem deutschen General sofort angeschnauzt worden wäre. Doch deutsche Generäle schnauzten zu dieser Zeit nicht mehr beziehungsweise noch nicht wieder.

Der Zwei-Sterne-Herr drehte das Wagenfenster herunter und sagte: »Ich bin fremd hier. Sie kennen sich aus. In welcher Messe gibt es das beste Essen?«

»Mon général, gehen Sie um Himmels willen in keine Messe! Gehen Sie zu Capitaine Clairmont vom Organ ›Recherche de Criminels de Guerre‹.« Der Militärpolizist erklärte den Weg.

»Dann also los«, sprach der hungrige General.

Weiter rollte der Wagen zum Hotel »Atlantic«, zum Kurhaus, am Spielcasino vorbei. Ach wie traurig sah es hier aus, wo einst die reichsten Männer der Welt, die elegantesten Damen, die teuersten Kokotten gewandelt waren! Ausgebrannt die Muschel des Kurorchesters, verwüstet die Rasenflächen. Im Freien türmten sich die kostbaren Möbel des Kurhauses und der Spielbank.

Der Stabswagen hielt vor einer großen Villa. Hier hatte sich bis zum Ende des sogenannten Tausendjährigen Reiches das Gestapo-Hauptquartier befunden. Nun befand sich hier der »Französische Kriegsverbrecher-Suchdienst«. Der General betrat die Villa und forschte nach Capitaine Clairmont.

Der Mann, der sich gerade René Clairmont nannte, erschien: schlank, mittelgroß, schmaler Schädel, schwarzes Haar und kluge Augen. Eine gutsitzende Uniform trug der etwa 35 Jahre alte Mann. Allerdings erweckte die Uniform einen sehr zivilen Eindruck.

Der Capitaine, der in Wahrheit Thomas Lieven hieß und vor langer, langer Zeit einmal erfolgreicher Privatbankier in London gewesen war, schüttelte dem Zwei-Sterne-General die Hand und sprach: »Es wird mir eine Ehre sein, Sie bei uns zu Gast zu haben, mon général.«

Also, Moment mal! Als wir zuletzt von dem unfreiwilligen Geheimagenten, Lebenskünstler und Kochgenie Thomas Lieven berichteten, da saß dieser Mann mit den vielen Namen nahe Paris im Gefängnis von Frèsnes, eingekerkert von den Franzosen.

Es wird, denken wir darum, hohe Zeit, dem geneigten Leser die Frage zu beantworten: Wie war es möglich, daß Thomas Lieven als französischer »Kriegsverbrecher-Sucher« am 7. Juli 1945 in Baden-Baden war – wenn ihn doch am 3. Oktober 1944 zwei Soldaten aus seiner Zelle im Gefängnis zu Frèsnes geholt hatten, mit der Aufforderung, sich fertigzumachen, fertig zum Erschießen …



2



Zum Erschießen? dachte Thomas Lieven entsetzt, dieweilen die Soldaten ihn gefesselt in den düsteren Gefängnishof hinabführten. Lieber Gott! Und ich glaubte, sie würden mich zu einigen Monaten verdonnern.

Die Soldaten stießen ihn in denselben fensterlosen, übelriechenden Bus, in den er dereinst schon von deutschen Soldaten gestoßen worden war.

Es stank noch immer nach Schweiß und Angst in dem Bus. Abgemagert, blaß und unrasiert, in einem zerdrückten Anzug, ohne Hosenträger, Krawatte und Schnürsenkel, so kauerte Thomas Lieven im Wagen. Eine Welle von Übelkeit hielt ihn umfangen.

Er wußte nicht, wo er war, als der Wagen in Paris hielt, wieder in einem düsteren Hof. Teilnahmslos ließ er es geschehen, daß ihn die Soldaten roh vorwärtsstießen, hin zu einem Zimmer in einem großen Gebäude.

Die Tür des Zimmers öffnete sich. Danach begann sich alles um Thomas zu drehen, und er rang nach Luft. Er hörte Stimmen und Worte, ohne sie zu verstehen. Er sah den Mann, der in der Uniform eines französischen Obersten hinter dem Schreibtisch saß, den großen Mann mit dem sonnverbrannten Gesicht, den grauen Schläfen und den guten Augen. Und indessen das Blut stürmisch in seinen Schläfen pochte, wußte Thomas: Er war gerettet. Das wußte er nun, da er diesen Freund Josephine Bakers erkannte, dem er selbst einmal in Lissabon das Leben gerettet hatte, diesen Oberst Débras vom »Deuxième Bureau«.

Mit keiner Miene, mit keinem Wort verriet Oberst Débras, daß er Thomas Lieven kannte. »Da rüber!« schnauzte er ihn an. »Hinsetzen! Maul halten!« Thomas setzte sich da rüber. Thomas hielt das Maul.

Umständlich öffneten die beiden Soldaten seine Fesseln, umständlich ließen sie sich die Übergabe des Gefangenen bestätigen. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sie endlich verschwanden. Dann war Thomas mit Débras allein.

Débras lächelte. »Josephine läßt Sie grüßen, Sie elender Hund.«

»Danke, sehr freundlich. Wo … wo ist Madame?«

»In Casablanca. Ich war Gouverneur dieser Stadt, wissen Sie.«

»Interessant.«

»Ich hatte in Paris zu tun. Ich erfuhr durch einen Zufall, daß Sie verhaftet worden sind.«

Thomas erholte sich langsam. »Ihr Kollege, Oberst Siméon, hat das veranlaßt. Ich sang gerade die Marseillaise. Bei einer nationalen Befreiungsfeier. Ich hätte im Hotel bleiben und den Mund halten sollen. Dann wäre ich jetzt längst in London. Nationalhymnen bringen aber auch nur Unglück!«

Débras sagte: »Ich weiß viel von Ihnen. Was Sie alles gegen uns getan haben. Aber auch, was Sie alles für uns getan haben. Als ich nun nach Paris kam, hörte ich von Ihrem Schicksal. Ich bin nicht mehr beim ›Deuxième Bureau‹. Ich bin beim Kriegsverbrecher-Suchdienst. So konnte ich nur an Sie heran, wenn ich Sie auf meine Kriegsverbrecherliste setzte und erklärte, Sie würden erschossen. Nur so bekam ich Sie aus Frèsnes heraus. Guter Trick, wie?«

Thomas wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ja«, sagte er. »Guter Trick. Vielleicht ein bißchen anstrengend für die Nerven.«

Débras zuckte die Schultern. »Unsere ganze Zeit ist das, Lieven. Sie machen sich hoffentlich keine Illusionen. Sie wissen hoffentlich bereits, was es bedeutet, daß ich Sie aus Frèsnes geholt habe.«

»Ich fürchte, ich weiß es«, sagte Thomas gottergeben. »Ich nehme an, es bedeutet, daß ich jetzt wieder für Sie arbeiten muß, Oberst Débras!«

»Das bedeutet es, ja.«

»Eine Frage noch: Wer hat Ihnen in Paris erzählt, daß ich verhaftet bin?«

»Der Bankier Ferroud.«

Guter, alter Ferroud, dachte Thomas. Danke. Danke.

Thomas fragte: »Was haben Sie mit mir vor, Oberst Débras?«

Der Freund Josephine Bakers musterte Thomas freundlich. »Sie sprechen doch Italienisch – oder?«

»Doch, ja.«

»1940, als die Deutschen unser Land überfielen, da machten sich im letzten Moment, als es schon garantiert ungefährlich war, auch noch die Italiener mausig und erklärten uns den Krieg. Einer der ärgsten Bluthunde, die damals den Süden Frankreichs terrorisierten, war der General Luigi Contanelli. Er hat sich rechtzeitig Zivil angezogen …«

»Wie die meisten Herren Generäle.«

»… und ist untergetaucht. Soviel wir wissen, irgendwo in der Nähe von Neapel.«

Achtundvierzig Stunden später war Thomas Lieven in Neapel.

Rund elf Tage später verhaftete er in dem Dorf Caivano nordöstlich von Neapel den General Contanelli, der sich hier – der Not gehorchend, nicht der eignen Tugend – gerade als Schafhirte versuchte.

Mit seinem illustren Gefangenen nach Paris zurückgekehrt, erklärte Thomas dem Oberst Débras zu gemütlicher Abendstunde in einer gemütlichen Bar: »Es war eigentlich alles ganz einfach. Der amerikanische CIC hat mir sehr geholfen. Reizende Jungen. Auch über die Italiener kann ich nicht klagen. Sie haben nichts übrig für Generäle. Es scheint aber, daß die Italiener leider auch für die Amerikaner nichts übrig haben. Gott sei’s geklagt.« Und dann erzählte Thomas von seinem italienischen Abenteuer.

Er war noch hinter seinem Schafhirten-General her und suchte wieder einmal das Hauptquartier des CIC (des Counter Intelligence Corps) auf, um sich neue Informationen zu holen, als er Zeuge einer seltsamen Szene wurde.

Wütend und hysterisch rannten die amerikanischen Geheimagenten umher, schrien durcheinander, gaben Befehle, um sie im selben Atemzug zu widerrufen, telefonierten wild und schrieben sozusagen am laufenden Band Verhaftungsbefehle aus.

Thomas erfuhr alsbald, was geschehen war. Vor drei Tagen hatte noch ein großer amerikanischer Frachter im Hafen gelegen, die »Victory«, mit Lebensmitteln für die amerikanischen Streitkräfte in Italien. Seit Sonntag war die »Victory« verschwunden, niemand wußte, wohin. Eine italienische Dienststelle schob der andern ebenso die Schuld zu wie eine amerikanische Dienststelle der andern.

Was war mit der »Victory« geschehen? Sie konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben! Thomas Lievens Neugier erwachte. Er ging in den Hafen, trieb sich in Spelunken und Kneipen herum und landete zuletzt bei »Luigi«.

Luigi sah aus wie der Schauspieler Orson Welles, betrieb ein kleines, schmutziges Freßlokal und war außerdem Hehler, Fälscher und Bandenchef.

Auf Anhieb empfand Luigi brüderliche Gefühle für den eleganten Zivilisten mit dem wissenden, ironischen Lächeln. Diese Sympathie steigerte sich noch, als Luigi erfuhr, daß Thomas Deutscher war.

Kaum zu glauben: Was der CIC nicht herausbekam, bekam Thomas in wenigen Stunden heraus. Er lernte bei Luigi sogar die Herren kennen, die das Ding mit der »Victory« gedreht hatten.

Dieses Ding sah so aus: Am vergangenen Sonntag hatte die Besatzung des Transportdampfers Landurlaub gehabt. Nur eine Wache blieb an Bord. Luigis Freunde inszenierten auf der Mole, direkt vor dem Fallreep, eine Schlägerei zwischen drei hübschen Mädchen, von denen eines gellend um Hilfe schrie. Ritterlich eilte die Schiffswache der bedrängten Schönen zu Hilfe. Dunkelhäutige Neapolitaner mischten sich ein; es kam zu einer wilden Schlägerei! Indessen ruderten von Backbord Luigis Freunde, als Matrosen verkleidet, an die »Victory« heran und kaperten sie. Blitzschnell lösten sie die Taue, lichteten den Anker, fuhren das Schiff aus dem Hafen hinaus und um eine Landzunge herum bis nach Pozzuoli.

Hier ankerten sie wieder. Die Fracht wurde in bereits wartende Lastwagen verladen. An Bord fanden sich Konserven, gefrorenes Geflügel, Früchte, Zucker, Reis, Mehl, alkoholische Getränke jeder Art, einige Zentner Zigaretten und einige tausend Büchsen Gänseleberpastete.

Die Seeräuber hatten sich nicht ohne Grund Pozzuoli als Anlegeort ausgesucht. Hier standen riesige Schiffs-Reparaturwerkstätten. Facharbeiter schufteten zu Überstundenlöhnen, um das gestohlene Schiff sogleich abzuwracken.

Auch Käufer für die Einzelteile warteten bereits an Ort und Stelle! Sie standen um das Schiff herum und sagten, was sie wollten. Nach Wunsch wurde den Herrschaften alles zurechtgesägt: Motoren, Kurbelwellen, Stahlwände, Aufbauten. Es war, als schnitten emsige Metzger Filetstück um Filetstück aus einem Ochsen heraus.

In Neapel gab es zu dieser Zeit keinen Gegenstand, für den man nicht Verwendung gehabt hätte. So blieb denn auch von der »Victory« nicht eine Niete übrig. Ja es steht zu fürchten, daß Luigis Freunde sogar noch mit den Ratten etwas anzufangen wußten, die sie an Bord fanden …



3



Mit dieser Geschichte unterhielt Thomas den Oberst Débras an einem gemütlichen Bar in Paris. Dann wurde Débras ernst. Er sagte: »Sie sind Deutscher, Lieven. Wir brauchen Sie jetzt in Deutschland. Niemand weiß besser als Sie zwischen großen, wirklichen Schweinen und dem kleinen, harmlosen Mitläufern zu unterscheiden. Sie könnten erreichen, daß jetzt nicht die Falschen bestraft werden. Wollen Sie das?«

»Ja«, sagte Thomas Lieven.

»In Deutschland müssen Sie aber unbedingt eine Uniform tragen.«

»Nein!!!«

»Tut mir leid, das ist Vorschrift. Wir müssen Ihnen auch einen französischen Namen geben und einen militärischen Rang. Hauptmann, würde ich sagen.«

»Mein Gott, aber was für eine Uniform denn?«

»Ihre Sache, Lieven. Suchen Sie sich etwas aus!«

Also ging Thomas zu dem ersten Offiziersschneider der Stadt und suchte sich etwas aus: eine taubengraue Fliegerhose, eine beigefarbene Jacke mit großen Taschen, langer Mittelfalte im Rücken und engem Gürtel. Dazu einen Riemen über die Schulter, ein Schiffchen und drei Winkel am Ärmel.

Die von Thomas erfundene Uniform gefiel allgemein so gut, daß sie einen Monat später zur offiziellen Kleidung des »Kriegsverbrecher-Suchdienstes« erklärt wurde.

Mit den vorrückenden alliierten Truppen kehrte Thomas als Capitaine René Clairmont in seine Heimat zurück. Bei Kriegsende war er in Baden-Baden. Im ehemaligen Gestapo-Hauptquartier in der Kaiser-Wilhelm-Straße richtete er sein Büro ein.

So, und nun weiß der geneigte Leser, wie es möglich ist, daß unser Freund am 7. Juli 1945 in Baden-Baden für einen Zwei-Sterne-General kochte!

Siebzehn Männer arbeiteten im Hause Kaiser-Wilhelm-Straße 1. In der Villa gegenüber wohnten sie. Ihre Arbeit war schwer, ihre Arbeit war unerfreulich. Dazu kam, daß sie sich zum Teil untereinander aus politischen und anderen Gründen nicht gut vertrugen. So bekam Thomas Lieven beispielsweise sofort Streit mit dem Lieutenant Pierre Valentine, einem jungen, hübschen Kerl mit eiskalten Augen und dünnen Lippen, den man sich genausogut als SS-Mann hätte vorstellen können.

Valentine requirierte und verhaftete wild darauf los. Während sich die anständigen Offiziere des französischen »Kriegsverbrecher-Suchdienstes« genauso wie ihre anständigen amerikanischen und britischen Kollegen korrekt an die von der Militärregierung ausgegebenen »Wanted-Persons«-Listen hielten, gebrauchte Valentine seine Macht willkürlich und ohne Gewissen.

Von Thomas zur Rede gestellt, zuckte er nur hochmütig die Schultern. Er sagte: »Ich hasse alle Deutschen.«

Gegen eine solche dumme Verallgemeinerung protestierte Thomas Lieven. Valentine erwiderte lässig: »Ich rede nur von Zahlen. In unserem Abschnitt allein hatten wir im vergangenen Monat einen Eingang von über 6000 Denunziationen von Deutschen gegen Deutsche. So sind sie: Wenn sie kleine Völker überfallen – Herrenmenschen. Wenn sie gerade auf die Schnauze geknallt sind, spielen sie Beethoven und denunzieren einander. Und vor einem solchen Volk soll ich Achtung haben?« Lieutenant Valentine, so widerwärtig er war, hatte in diesem Punkt recht: Eine scheußliche Woge von Spitzelei, Gemeinheit und Niedertracht schwemmte nach Kriegsende über Deutschland hinweg.

Dann kam der 2. August 1945. An diesem Tage erlebte Thomas Lieven etwas, das ihn erschütterte. Ein hagerer, weißhaariger Mann, unterernährt und in alten, zerdrückten Kleidern, erschien in seinem Büro. Dieser Mann zog den Hut und sprach die folgenden Worte: »Guten Tag, mein Herr. Ich heiße Werner Hellbricht. Sie suchen mich. Ich war Kreisbauernführer.« Er nannte den Ort, in dem er lebte, einen Ort im Schwarzwald. »Ich habe mich bisher versteckt. Aber jetzt komme ich zu Ihnen.«

Thomas starrte den mageren, weißhaarigen Menschen an. »War- um tun Sie das?«

Da antwortete Hellbricht: »Weil ich eingesehen habe, daß in meinem Land furchtbare Verbrechen geschehen sind. Ich bin bereit, zu büßen, Straßen zu bauen, Steine zu klopfen, was Sie wollen. Ich bedauere aufrichtig, dieser verbrecherischen Regierung gedient zu haben. Ich habe an sie geglaubt. Das war falsch. Ich hätte weniger glauben und mehr denken sollen.«

Thomas stand auf. »Herr Hellbricht, es ist ein Uhr. Bevor wir weiterreden, eine Frage: Wollen Sie mit mir Mittag essen?«

»Essen? Mit Ihnen? Aber ich sagte Ihnen doch, ich war ein Nazi!«

»Trotzdem. Weil Sie es so ehrlich sagten.«

»Dann habe ich eine Bitte – fahren Sie mit mir auf meinen Hof. Ich habe Ihnen nämlich etwas zu zeigen. In der Waldschneise. Hinter meinem Hof«, sagte der ehemalige Kreisbauernführer.



4



Eine erbärmliche, dünne Suppe aus Sauerampfer, Kerbel, Löwenzahn und vielen Wiesenkräutern hatte Frau Hellbricht zum Essen vorbereitet. Sie sah so blaß und mager aus wie ihr Mann. Der Hof, den Thomas erblickte, war verkommen, die Fenster eingeschlagen, die Türschlösser zerschossen, die Ställe leer, die Zimmer ausgeplündert von den zwangsverpflichteten Fremdarbeitern.

»Man kann es ihnen nicht übelnehmen«, sagte Hellbricht mit einem schiefen Lächeln. »Wir haben sie zuerst ausgeplündert, damals, in ihren Ländern …«

Die Frau des ehemaligen Kreisbauernführers, die vor dem Herd in der kahlen Küche stand, sagte: »Nach der Suppe gibt es Kartoffelpüree und Backobst. Aus der Zuteilung. Es tut mir sehr leid, mehr haben wir nicht.« Thomas ging auf den Hof hinaus und öffnete den Kofferraum seines Wagens. Mit einem halben Pfund Butter, einer Büchse Sahne, einer Büchse Fleischextrakt und einer Büchse Corned beef kehrte er zurück.

Menu • Baden-Baden, 2. August 1945

Das kann man auch heute noch essen –

damals brachte es Thomas Lieven »Bonzen« ein.

Kräutersuppe

Verzaubertes Corned beef

Topfen-Speise

Kräutersuppe: Man nehme Kräuter wie Sauerampfer, Brennesselspitzen, Schnittlauch, Petersilie, Kerbel, Dill, Sellerieblätter, Lauch, putze und wiege sie fein. – Man dünste einen kleinen Teil davon in heller Buttermehlschwitze, gieße mit Wasser oder Fleischbrühe auf, lasse durchkochen, würze mit Pfeffer, Salz und einer Spur Muskat und gebe die übrigen Kräuter erst direkt vor dem Anrichten hinein. – Man kann die Suppe mit Eigelb und Sahne abziehen, auch pro Person ein Fallei hineingeben und geröstete Weißbrotwürfel darüberstreuen.

Verzaubertes Corned beef: Man nehme reichlich Zwiebelringe, dünste sie in Butter glasig, füge den zerzupften Inhalt einer Büchse Corned beef hinzu, lasse einige Minuten weiterschmoren, aber nicht braun braten. Man gebe dann ein nicht zu festes Kartoffelpüree dazu, vermische alles gründlich, schmecke mit Salz und Pfeffer gut ab und lasse das Ganze auf kleiner Flamme zusammen durchziehen und heiß werden.

Topfen-Speise: Man nehme Topfen (Quark), passiere ihn durch ein Sieb, verrühre ihn mit Streuzucker nach Geschmack, dann mit süßer Sahne, bis eine glatte, nicht zu flüssige Creme entsteht. – Man mische noch Rosinen und ein paar Tropfen Zitronensaft darunter und fülle sie in eine Schale, die man mit etwas Schlagsahne verziert und gut kalt stellt.

»Nun lassen Sie mich mal an den Küchentisch, Frau Hellbricht«, sprach er. Und er machte sich sogleich an demselben zu schaffen. Die magere Suppe stärkte er mit Fleischextrakt. Er öffnete die Corned-beef-Dose und zerzupfte das Fleisch darin. Dann entdeckte er eine Schüssel mit Magermilchquark. »Den passieren Sie bitte, Frau Hellbricht«, sagte er. »Mit vereinten Kräften werden wir in Kürze ein prima Mittagessen haben.«

»Ach Gott«, sagte Frau Hellbricht und begann zu weinen. »Corned beef! Ich habe schon geträumt davon – aber gesehen habe ich es noch nie!«

Hellbricht sagte: »Und da gibt es auch noch Leute, die höhnisch zusehen, wie andere hungern. Leute, die schuld sind an unserem Elend. Herr Kapitän, ich bin kein Denunziant, aber ich muß es melden: In der Waldschneise ist unter dem Moos ein riesiges Lebensmittellager verbuddelt.«

»Wer hat das Lager verbuddelt? Und wann?«

»1944 war das. Im Herbst. Da kam der Adjutant vom Reichsbauernführer Darré zu mir. Und der Gestapo-Chef von Karlsruhe, der Doktor Zimmermann. Sie sagten, sie hätten Vorräte zu vergraben für … für die Führerreserve … für die wichtigsten Leute …«

Frau Hellbricht, verblüht, verhärmt und traurig, sagte, den Magermilchquark passierend: »Deshalb haben wir Sie hergebeten. Die Lebensmittel müssen ausgegraben werden. So viele hungern … Wir haben wenigstens noch unser eigenes Dach über dem Kopf. Wir kommen schon durch. Aber die Ausgebombten, die Flüchtlinge, die Kinder …«

Von diesem Tag, dem 2. August 1945, an geschah zweierlei: Heimlich wurde ein riesiges Lebensmittellager ausgegraben – viele tausend Konservenbüchsen mit Fett, Fleisch, Marmelade, Kunsthonig, Kaffee, Tee, Fliegerschokolade, Traubenzucker, Mehl, Gemüse, Obst. Diese Schätze wurden Hilfsorganisationen zur Verteilung an Kranke, Greise und Kinder übergeben.

So schnell es ging, wurden die Waldschneise und das Moos wieder so hergerichtet, als ob man nie gegraben hätte. Und dann wurde das Waldstück hinter dem Hof des Kreisbauernführers Hellbricht von ausgesuchten Leuten des »Kriegsverbrecher-Suchdienstes« Tag und Nacht bewacht.

Am 11. August, in der Dämmerung – Thomas hatte gerade Dienst –, kam ein Mann die Schneise heraufgeschlichen. Nach allen Seiten sichernd. Bei jedem Geräusch zusammenfahrend. Einen leeren Rucksack umgeschnallt. Einen kleinen Spaten in der Hand. Thomas kannte diesen Mann mit dem bleichen, gnadenlosen Gesicht von Fahndungsfotos her.

Der Mann begann zu graben, immer schneller, immer gieriger. Bemerkte zu spät, daß plötzlich drei Männer hinter ihm standen. Fuhr herum. Kam mühsam auf die Beine, taumelte zurück, Panik im Gesicht.

»Gestapo-Chef Zimmermann«, sagte Thomas Lieven, der plötzlich eine Pistole in der Hand hatte. »Sie sind verhaftet.«

Ach, und sie kamen alle, die großen Bonzen, die von dem vergrabenen Lebensmittellager wußten, sie kamen alle! Thomas Lieven hatte den Wachen eingeschärft: »Jeder, der hier zu buddeln anfängt, ist ein Bonze. Sofort hochnehmen, den Kerl!«

Siebzehn große Nazis wurden auf diese schlichte Weise zwischen August und Oktober 1945 verhaftet.

Für den ehemaligen Kreisbauernführer Hellbricht setzte Thomas durch, daß er als Mitläufer eingestuft und mit einer Geldstrafe belegt wurde. Er durfte seinen Hof behalten.



5



Der erste Nachkriegsherbst kam. Die Menschen hungerten, die Menschen froren. In der französischen Zone wuchsen die Spannungen zwischen Besetzern und Besetzten – zum Teil auf Grund deutscher Ressentiments, zum Teil auf Grund französischer Ungesetzlichkeiten – immer mehr an. Dieses geschah leider auch:

Unter Leitung eines Pariser Fachmannes montierten französische Truppen im Schwarzwald die Maschinenautomaten der heimischen Uhrenindustrie ab und versuchten, Facharbeiter nach Belfort und der Haute-Savoie zu verschleppen, um eine französische Uhrenindustrie aufzuziehen.

Die Produktion der Maschinennadelfabriken in der französischen Zone wurde beschlagnahmt und von einigen wenigen Leuten in die Schweiz verschoben. Die deutschen Arbeiter wurden mit schlechten R-Mark schlecht, mit wenigen Lebensmitteln noch schlechter bezahlt. Gewissenlose ausländische Geschäftemacher holzten in rücksichtsloser Weise ganze Forste ab. Tag und Nacht kreischten am Titisee die Bandsägen. Noch jahrelang erinnerten riesige Kahlschläge hier an ein gemeinsames Raffkegeschäft.

Hinter der noch halbwegs intakten Fassade von Baden-Baden verfielen Anstand und Moral. Es kam zu Prügeleien, Racheakten und Messerstechereien. Soldaten plünderten, stahlen und schossen wild in der Gegend herum. Mit Maschinenpistolen töteten sie schöne Schwäne; ein sinnloses Gemetzel.

Thomas wußte genau, daß der blonde, schlanke Lieutenant Valentine zu jener Clique gehörte, die sich auf dunkle, niederträchtige Weise bereicherte. Er konnte es ihm nur monatelang nicht nachweisen. Am 3. November 1945 konnte er es dann …

Einen Tag zuvor war Thomas zu Ohren gekommen, daß der junge Lieutenant wieder einmal eine seiner geheimen Hausdurchsuchungen plante. Als Valentine am Nachmittag des 3. November Baden-Baden mit zwei Soldaten in einem Jeep verließ, folgte Thomas ihm in einem anderen Jeep. Er war sehr vorsichtig und hielt genügend Abstand.

Sie fuhren bis Karlsruhe. Hier bogen sie ab auf die Straße nach Ettlingen. An Ettlingen vorüber ging es bis nach Spielberg. Hier, über dem Dorf, erhob sich ein dunkles Gemäuer, das in einem großen Park, umgeben von einer hohen Mauer, stand. Dort hinauf fuhr der Lieutenant mit seinem Jeep. Vorsichtig hielt Thomas auf halber Höhe an, lenkte seinen Wagen in ein Gebüsch und hastete zu Fuß einen Abkürzungsweg hinauf.

In einigen Fenstern der großen, schloßartigen Villa brannte Licht. Thomas sah Schatten, er hörte undeutlich aufgeregte Stimmen. Er schlich um das Haus herum und blickte an der Fassade empor. Er sah große, im unteren Teil verhängte Scheiben. Thomas konnte nur eine Menge Pflanzen und die weiße Zimmerdecke darüber erkennen. Plötzlich wurde es still. Dann sah er die Silhouette des Lieutenants Valentine. Der tat etwas Seltsames: Er trat vor die Reihe der Blumentöpfe, die am Fenster standen, hob einen von ihnen nach dem andern hoch und riß die Pflanzen aus den Töpfen heraus. Ein Topf. Noch einer. Im ganzen sieben Töpfe. Warum? Wozu? Thomas konnte es sich nicht erklären.

Er wartete geduldig. Eine Viertelstunde später verließ Valentine mit seinen Männern das Haus wieder und fuhr fort.

Thomas läutete an der schweren Eingangstür. Ein verstörter Diener öffnete.

»Wer wohnt hier?« fragte Thomas.

»Der Herr Graf von Waldau.«

»Mein Name ist Capitaine Clairmont. Melden Sie mich an.«

Graf von Waldau – Graf von Waldau. Thomas erinnerte sich an den Mann. Wichtige Position im Auswärtigen Amt, Parteigenosse. Ziemlich schwer belastet. Er hatte ihn schon zweimal in Baden-Baden verhört.

Nun erschien er: hager, hochmütig und sehr wütend. »Sie auch noch, Capitaine Clairmont! Was wollen Sie hier stehlen? Etwas Tafelsilber? Ein Gemälde? Ihre Kollegen haben das Wichtigste schon mitgenommen!«

»Graf«, sagte Thomas ruhig, »ich bin gekommen, um zu erfahren, was sich hier gerade abgespielt hat.«

»Das wissen Sie doch genau!« schrie Waldau. »Diebe und Schweine seid ihr alle!«

»Halten Sie das Maul«, sagte Thomas recht leise, aber unüberhörbar. Der Graf starrte ihn an, begann zu zittern und fiel in einen Sessel. Dann erzählte er …

Wenn man den Worten Waldaus glauben wollte, dann hatte er in sieben Blumentöpfen seinen wertvollsten Schmuck vergraben gehabt, unter den Wurzeln der Pflanzen. »Den ganzen Familienschmuck! – Eine Verwandte hat mir den Rat gegeben – diese Bestie. – Es war natürlich alles abgekartet, das begreife ich jetzt …« Der Graf sah Thomas mit flackernden Augen an. »Verzeihen Sie mein Benehmen. Ich glaube, Sie sind unschuldig an diesem gemeinen Raub …«

»Erzählen Sie weiter.«

»Sie wissen, ich bin belastet. Ich hatte Angst vor Plünderungen. Wir leben einsam hier. Vor einem Monat kam meine – diese Verwandte von mir vorbei. Sie ist Engländerin. Ich vermute, sie arbeitet beim Secret Service, im Hauptquartier Hannover. Sie wies auf die Blumentöpfe als Versteck. Als die drei Männer vorhin erschienen, gingen sie wortlos in den Wintergarten und nahmen wortlos die Pflanzen aus den Töpfen …«

Bei dem Wort »Secret Service« fühlte Thomas, wie ihm zuerst sehr warm und danach sehr kalt wurde. Er sagte: »Nennen Sie mir den Namen der Dame, Graf.«

Der Graf nannte ihn.



6



Zwei Tage später erschien ein gewisser Capitaine Clairmont vom »Kriegsverbrecher-Suchdienst« Baden-Baden im Hauptquartier des Britischen Geheimdienstes in Hannover. Hier suchte er eine schlanke, blonde Schönheit auf, die in der schmucken Uniform eines weiblichen Leutnants in einem Büro im zweiten Stock des mächtigen beschlagnahmten Gebäudes Dienst tat.

Die Dame hielt eine Lupe in der Hand und besah mit glitzernden Augen einen kostbaren Armreif. Es klopfte. Blitzschnell verschwanden der Reif und die Lupe. »Herein!« rief die Dame.

Der Mann, der sich eben Capitaine Clairmont nannte, trat ein. Die Dame hinter dem Schreibtisch kreischte auf und fuhr empor. Sie war jetzt leichenblaß. Beide Hände hielt sie an die Wangen. Sie flüsterte entgeistert: »Nicht möglich … Tommy … Du –?«

Mit zusammengepreßten Lippen sah Thomas Lieven die schöne, skrupellose Prinzessin Vera von C. an, die er vor langer Zeit in Paris als Geliebte des Nazischiebers Lakuleit kennengelernt hatte; seine Prinzessin Vera, seine süße Geliebte, dieser verkommene Balg, diese völlig unberechenbare und völlig amoralische Person, die schon einmal, in Paris, bereit gewesen war, für Geld alles, einfach alles zu tun.

»Tommy – die Freude! – Du hast alles gut überstanden – du bist bei den Franzosen«, stammelte sie und fiel ihm um den Hals.

Hart machte er sich von ihr frei. »Du Luder, du elendes«, sagte Thomas Lieven, »seit wann arbeitest du mit diesem Schwein Valentine zusammen?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Schätzchen«, erwiderte die Prinzessin lächelnd.

»Sag das noch einmal, und ich klebe dir eine«, warnte Thomas Lieven. Vera sagte es noch einmal.

Er klebte ihr eine. Danach brach in einem Büro des Britischen Geheimdienstes zu Hannover eine wüste, lautlose Katzbalgerei aus.

Fünf Minuten später saß Vera, restauriert, auf einem Sesel. Thomas, gleichfalls restauriert, marschierte vor ihr auf und ab und versuchte sich an dieser seltsamen Angehörigen des deutschen Uradels in Pädagogik: »Du bist ein asozialer Balg. Geldgierig und gemein.«

Sie dehnte sich wie eine Katze: »Ach, Unsinn, Tommy. Komm zu deiner kleinen Vera. Würge mich noch einmal ein bißchen so wie vorhin.«

»Du kriegst gleich wieder eine«, sagte er. »Was du getan hast, ist wohl das Gemeinste, das Niedrigste … Ist der Graf Waldau mit dir verwandt, ja oder nein?«

»Ach der! Der alte Nazi-Knülch!« Sie begann zu lachen.

»Mund halten! Vor zwei Tagen hat dein feiner Freund Valentine Haussuchung bei dem Grafen gehalten. Besser gesagt: Blumentopfsuchung. Denn das einzige, was ihn in dem ganzen Riesenhaus interessierte, waren die Blumentöpfe. Hör sofort auf zu lachen! So eine Sauerei! Von wem war die Idee? Von dir? Von ihm?«

»Erlaube mal! Von mir natürlich. Pierre ist viel zu dämlich für so einen feinen Trick.«

Er blieb vor ihr stehen und stemmte die Arme in die Seiten: »Feiner Trick! Du bist nicht besser als eine ekelhafte Nazisse!«

»Jetzt mach aber mal einen Punkt! Was heißt denn hier Moral? Ausgerechnet bei diesem Nazischwein Waldau! Den ganzen Schmuck hat der doch erst im Dritten Reich ergaunert!«

»Das mag sein«, sagte Thomas. »Wenn Waldau den Schmuck ergaunert hat, dann gehört er seinen alten Besitzern, sofern die sich noch finden lassen – oder dem Staat, aber euch beiden gehört er auf keinen Fall!«

»Ach Gott, bist du süß … so wild … so idealistisch … Weißt du was, Tommy, wir gehen zu mir. Ich habe hier eine schicke Wohnung. Hat auch mal ein alter Nazi drin gewohnt!«

»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich noch einmal im Leben eine Wohnung von dir betrete«, sagte Thomas.



7



Es war wirklich eine sehr gemütliche Wohnung. An der Tapete gab es in drei Zimmern helle Stellen. Da hatten bis vor kurzem noch Bilder gehangen. Thomas grinste, als er die hellen Stellen sah.

Es wurde ein sehr seltsamer Abend, denn Thomas und die Prinzessin verfolgten beide das gleiche Ziel: Einer wollte den andern aufs Kreuz legen – symbolisch gemeint natürlich.

Zu diesem Behufe holte Vera zunächst eine Flasche Whisky hervor. Dann tranken sie beide ein Schlückchen. Und noch eines. Und noch eines. Vera dachte: Mal wird er ja einen sitzen haben. Thomas dachte: Mal wird sie ja einen sitzen haben.

Dann hatten sie beide einen sitzen!

Jetzt machen wir einen kleinen Zeitsprung, den Kindern zuliebe.

Also – drei Stunden später …

Drei Stunden später war die blonde Prinzessin ganz unglaublich anschmiegsam und zärtlich. Und Thomas war ein bißchen sentimental. Der beschwipste Thomas beging einen fürchterlichen Fehler. Er erzählte von seinen Zukunftsplänen und im Zusammenhang damit von seinem Zürcher Bankkonto auf den Namen Eugen Wälterli.

»Eugen Wälterli heißt du auch?« kicherte Vera. »Ach, süß … Ist – ist viel Geld auf dem Konto?«

Diese Frage hätte ihn nüchtern machen müssen. Sie machte es nicht. Beschwipst regte er sich auf: »Sag mal, das ist ja krankhaft bei dir. Kannst du nur immer an Geld denken?«

Sie biß sich auf die Unterlippe, sie nickte gramvoll. »Schwere Neurose. Kindheitstrauma. Weißt du, daß ich sogar schon Schecks gefälscht habe? Die Unterschrift, die ich nicht nachmachen kann, gibt’s nicht!«

»Gratuliere«, sagte er, der arglose Narr.

»Außerdem – ich bin eine echte Kleptomanin! In meiner Kindheit war das ganz arg. Die Buntstifte meiner Freundinnen waren meine Buntstifte. Die Geldbörsen meiner Freundinnen waren meine Geldbörsen. Später hat sich das auch noch verlagert. Die Männer meiner Freundinnen – muß ich weitersprechen?«

»Mitnichten«, versicherte ihr Thomas. Dann tranken sie noch etwas. Dann schliefen sie endlich ein.

Am anderen Morgen rumorte Thomas schon in der Küche, als Vera mit Kopfschmerzen erwachte. Er brachte ihr das Frühstück ans Bett. »So«, sagte er, »in Ruhe Kaffee trinken. Dann baden. Dann ziehst du dich an, und wir fahren los.«

»Los? Wohin?«

»Nach Baden-Baden natürlich.«

Sie wurde weiß. »Was soll ich da?«

»Du wirst mit deinem Freund Valentine reden. Du wirst dafür sorgen, daß er den Schmuck von Waldau herausrückt. Und wenn ihr beide euch danach noch das Geringste zuschulden kommen laßt, dann geht ihr beide hoch!«

»Hör mal, du Lumpenkerl, und heute nacht hast du vergessen, was?«

Thomas hob die Augenbrauen: »Nacht ist Nacht, und Dienst ist Dienst.«

Das Kaffeetablett kippte um. Geschirr zerbrach. Sie stürzte sich auf ihn mit Gebrüll, mit Zähnen und Krallen. »Du Hund – ich bringe dich um!«

An diesem Abend, er war traurig und kalt, fuhr ein schmutziger Jeep in die Stadt Baden-Baden ein. Thomas Lieven saß am Steuer. Vera Prinzessin von C. saß neben ihm.

Jetzt beging er noch einen Fehler! Er ging mit Vera in sein Büro in der Wilhelmstraße 1. Dann rief er den Lieutenant Valentine herbei. Valentine zuckte zusammen, als er Vera erblickte. Thomas redete beiden ins Gewissen.

»Ich verstehe kein Wort«, sagte der Lieutenant kalt. »Ich werde mich über Sie beschweren, mon Capitaine, ich …«

»Halt die Schnauze, Pierre«, sagte die Prinzessin sachlich. »Er weiß alles.«

»Was weiß er?« ächzte Valentine.

Vera sah Thomas an. »Kann ich fünf Minuten allein mit ihm sprechen?«

»Meinetwegen«, sagte Thomas. Das war er, der Fehler!

Er verließ sein Büro und setzte sich in die Halle. Die Tür seines Büros ließ er nicht aus den Augen. Ich bin ja nicht dämlich, dachte er.

Eine Zigarettenlänge später wurde ihm glühend heiß, und er wußte plötzlich, daß er doch dämlich gewesen war. Sein Büro lag im ersten Stock. Und das Fenster war nicht vergittert! Er raste zurück. Das Zimmer war leer. Das Fenster stand offen …

Zehn Minuten später ratterten im ganzen Lande Fernschreiber und Telegraphen los:

20 uhr 14 stop 6 nov 45 stop von: franz. kriegsverbrechersuchdienst b-b stop an alle militärpolizeiverbände stop an alle cic und cid-einheiten stop suchen sie und verhaften sie unverzüglich …

Bereits um 4 Uhr 15 am 7. November verhaftete eine französische Militärpatrouille Pierre Valentine im Wartesaal des Bahnhofs von Nancy, als er gerade eine Karte nach Basel löste.

Die Fahndung nach der Prinzessin Vera von C. verlief ergebnislos. Sie blieb verschwunden.

Der verhaftete Lieutenant wurde nach Paris ins Militärgefängnis überführt. Von General Pierre König, dem Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte in Deutschland, persönlich wurde Thomas Lieven ersucht, alles erreichbare Material gegen Valentine zusammenzutragen. Diese schmutzige Arbeit nahm unseren Freund bis Anfang Dezember in Anspruch. Vier weitere Franzosen wurden verhaftet.

Um es vorwegzunehmen: Lieutenant Valentine und seine Freunde wurden in Paris vor Gericht gestellt. Am 15. März 1946 wurden sie degradiert und zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt.



8



Am 3. Dezember wurde Thomas Lieven ins Hauptquartier General Königs gerufen.

Dieser sagte zu ihm: »Ich danke Ihnen aufrichtig dafür, daß Sie geholfen haben, diesen üblen Subjekten das Handwerk zu legen. Wir sind keine Armee von Räubern und Banditen. Wir wollen Ordnung und Gerechtigkeit in unserer Zone.«

Wurde Thomas Lieven am 3. Dezember von General König empfangen, belobigt und bedankt, so erhielt er am 7. Dezember den folgenden Brief:

DAS KRIEGSMINISTERIUM

DER FRANZÖSISCHEN REPUBLIK

Paris, 5. Dez. 1945

Capitaine René Clairmont

Armee-Serien-Nummer S 324 213

Kriegsverbrecher-Suchdienst

Baden-Baden

Vorgang: CS Hr. Zt. 324/1945

Anläßlich der Voruntersuchung zu dem Militärgerichtsverfahren gegen Lieutenant Pierre Valentine und Mitangeklagten haben wir vom ›Deuxième Bureau‹ Ihre Personalakte angefordert.

Aus dieser Akte, zu der ein führender Beamter des ›Deuxième Bureau‹ uns noch Erläuterungen gab, geht hervor, daß Sie während des Krieges Agent der Deutschen Abwehr Paris gewesen sind. Sie werden verstehen, daß ein Mann Ihrer Vergangenheit im Rahmen unseres Kriegsverbrecher-Suchdienstes absolut untragbar ist. Oberst Maurice Débras, der Sie seinerzeit in diese Organisation übernahm, gehört seit vier Monaten dem Dienst nicht mehr an.

Sie werden hiermit aufgefordert, bis zum 15. Dezember 1945, 12 Uhr mittags, Ihre Büroräume in Baden-Baden zu räumen und Ihrem Vorgesetzten sämtliche Schriftstücke, Akten, Stempel und Unterlagen sowie Ihre Militärpapiere und Ausweise zu übergeben. Sie sind ab sofort vom Dienst suspendiert. Weitere Weisungen erfolgen umgehend.

Darunter stand eine unleserliche Unterschrift. Und darunter, getippt: Brigadegeneral.

Thomas Lieven saß an seinem Schreibtisch, summte leise vor sich hin, las den Brief noch einmal, summte weiter und dachte: Na also, jetzt ist es wieder mal soweit. Mit lähmender Monotonie wiederholt sich alles in meinem Leben. Ich drehe ein krummes Ding – und jedermann liebt mich. Es regnet Auszeichnungen, Geld und Küsse. Ich bin der Liebling der respektiven Vaterländer. Ich begehe eine anständige Handlung – und wumm, sitze ich wieder im Dreck.

»Ein führender Beamter des ›Deuxième Bureau‹« hat den Herren im Kriegsministerium Erläuterungen zu meiner Personalakte gegeben? Ein führender Beamter! Oberst Jules Siméon lebt also immer noch. Und er haßt mich also immer noch …

Thomas stand auf. Abwesend begann er, sein Büro aufzuräumen. Als er die Schreibtischschublade aufsperrte, klemmte der Schlüssel ein wenig. Nicht sehr. Es fiel ihm nicht auf. Noch fiel es ihm nicht auf. Benommen sammelte er seine Papiere ein, suchte seinen persönlichen Besitz zusammen.

Er holte die falschen Pässe aus der Lade, deren Schlüssel ein wenig im Schloß geklemmt hatte. Er zählte sie nach. Alle noch da. Nein, nicht mehr alle. Er zählte noch einmal. Verflucht, einer fehlte!

Schweiß trat auf Thomas Lievens Stirn, als er entdeckte, welcher fehlte: der schöne Schweizer Paß auf den Namen Eugen Wälterli. Und noch etwas vermißte Thomas, etwas, das auch in der Schublade gelegen hatte: das Scheckbuch auf das Konto der »Schweizerischen Nationalbank« und die Bankvollmacht.

Ächzend sank Thomas Lieven in seinen Sessel zurück. Fetzen von Gesprächen und Erinnerungen wirbelten in seinem Gehirn: »Eugen Wälterli heißt du auch? Ist viel Geld auf dem Konto? Die Unterschrift, die ich nicht nachmachen kann, gibt’s nicht …« Thomas riß den Telefonhörer hoch. Verlangte ein Blitzgespräch nach Zürich: »Schweizerische Nationalbank«. Wartete endlos. Gespräch nur möglich über Militärleitung. Na und? Jetzt war schon alles egal! Endlich hatte er die Verbindung.

Er verlangte den Beamten, der sein Konto betreute. Ahnte bereits alles, als er die gemütliche Schweizer Stimme hörte: »Ja, Herr Wälterli, mir wüssed B’scheid. Ihre Frau Gemahlin hät alles g’reglet …«

Sie hat sich einen Schweizer Paß besorgt. Nach dem Vorbild meines Schweizer Passes. Das Luder, das elende.

»Wann … wann war meine Frau da?«

»Ja, so vor vierzäh Täg … Madame hät g’meint, Sie würdet nach Züri zrugg cho und b’schtimme, was mit dem Konto g’scheh söll …«

»Konto … geschehen … soll …«

»Es stönd na 20 Franke druf.«

O Gott, o Gott, o Gott! »Sonst … sonst hat sie alles abgehoben?«

»G’wüß doch, frili! Madame hät ja Ihre Paß derbi g’ha – Ihres Scheckbuech – ei Bankvollmacht – au für de Tresor … Herr Wälterli! Herr Wälterli! Um Himmels wille, ischt was nicht in Ordnung? Schtimmt öppis nüd? Also, unsere Schuld ischt es nicht – Madame hat alle Vollmachten und Dokumente präsentiert – alle mit Ihrer Unterschrift …«

Thomas Lieven legte den Hörer in die Gabel. Lange Zeit saß er reglos. Bis auf zwanzig Franken war alles weg, was er besessen hatte.

Eine Stunde später übergab der Mann, der sich noch Capitaine Clairmont nannte, sein Büro und alle seine Unterlagen dem Dienststellenleiter. Vom Mittag des 7. Dezember an war dieser Capitaine Clairmont verschwunden. Spurlos verschwunden.



9



Am 22. Februar 1946 erschienen beim Portier des Pariser Luxushotels »Crillon« am Place de la Concorde zwei Herren und fragten nach einem gewissen Monsieur Hausér.

Dem strahlenden Lächeln des Portiers nach zu schließen, war dieser Monsieur Hausér ein Lieblingsgast des Hauses.

Der Portier rief ihn an: »Zwei Herren wollen Sie sprechen, Monsieur Hausér. Ein Monsieur Fabre und Monsieur le Baron Kutusow.«

»Ich bitte die Herren, sich heraufzubemühen.«

Ein Page geleitete die Herren in den zweiten Stock empor. Bastian Fabre stand das feuerrote Bürstenhaar ärger denn je vom Schädel ab. Sein Begleiter mit dem Namen eines berühmten russischen Generals war etwa 45 Jahre alt, breitschultrig und recht bürgerlich gekleidet.

Im Salon des Appartements 213 eilte Monseur Hausér den beiden Besuchern in einem erstklassig geschnittenen Anzug entgegen.

Bastian wartete, bis der Page verschwunden war, dann fiel er seinem alten Freund um den Hals. »Junge, was bin ich froh, dich wiederzusehen!«

»Und ich erst, Bastian, und ich erst!« sagte Thomas Lieven. Er machte sich los und schüttelte dem Russen die Hand: »Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Baron Kutusow. Ich werde mir allerdings erlauben, Sie von Stund an nicht mehr Baron, sondern vielmehr Genosse Kommissar zu nennen. Kommissar Kutusow.«

»Aber warum?« fragte der Russe, nervös blinzelnd.

»Ein Momentchen Geduld! Alles der Reihe nach! Ich habe euch so viel zu erzählen, meine Brüderchen! Ich habe das Essen aufs Zimmer bestellt. Man wird in zehn Minuten servieren. Unter anderem Borschtsch, Genosse Kommissar! Bitte, nehmt Platz …« Thomas Lieven bewegte sich mit einer Ruhe und Sicherheit, die atemberaubend war, wenn man bedachte, daß die französischen Militärbehörden ihn seit Wochen suchten und daß er sich also hier in Paris sozusagen in der Höhle des Löwen befand. Er tröstete sich jedoch selbst mit der Überlegung: Wo sucht ein Löwe sein Opfer weniger als in der eigenen Höhle?

Als er am 7. Dezember Baden-Baden fluchtartig verließ, hatte ein Spezialist, der einst Pässe für die Abwehr Paris fälschte, für ihn einen feinen französischen Paß auf den Namen Maurice Hausér hergestellt. Dann war ein Brief an Bastian Fabre nach Marseille abgegangen, in dem stand, daß er, Thomas, vollkommen pleite sei.

Postwendend war Bastians Antwort gekommen.

»Siehste, Pierre, wie gut es war, daß wir Dir damals ein bißchen was von der Sore von Lesseps klauten? Kannste nun haben. Habe hier einen Kumpel aufgetan, Sohn von einem russischen Baron. Kutusow heißt er. Der Alte war Taxichauffeur in Paris. Ist abgenibbelt. Jetzt fährt der Junge einen Pontiac …«

Darauf hatte Bastian von Thomas dieses Telegramm erhalten: erwarte dich und baron mit auto 22. februar hôtel crillon.

Daselbst versicherte Thomas nun und erkundigte sich bei seinen Gästen: »Wo steht der Wagen?«

»Vor dem Hotel.«

»Das ist gut. Mann soll ihn sehen. Nur mußt du, lieber Bastian, in der nächsten Zeit den Chauffeur spielen. Und der Genosse Kommissar Kutusow muß im Fond sitzen. Hast du die Goldstücke mitgebracht?«

»Liegen im Koffer.«

Drei Kellner erschienen und bereiteten das Essen vor. Dann saßen Thomas, Bastian und Kutusow bei Tisch und rührten frische Sahne in die gute Borschtsch-Suppe.

Der russische Taxi-Aristokrat staunte: »Wie zu Hause! Sahne auf dem Tisch!«

»Wenn ich Sie bitten dürfte, ein wenig volkstümlicher zu essen, Genosse Kommissar. Ellbogen aufgestützt zum Beispiel. Vielleicht reinigen Sie in der nächsten Zeit auch Ihre Fingernägel nicht so ganz makellos.«

»Aber warum? Warum das alles?«

»Meine Herren, ich habe Ihnen ein großes Geschäft vorzuschlagen. Ein Geschäft, bei dem Sie, Baron, einen Kommissar, Bastian einen Chauffeur und ich einen Spirituosengroßhändler spielen müssen.«

»Einen Spiri… was?« staunte Bastian.

»Schluck runter, bevor du sprichst. Einen Schnapsgroßhändler. Ich bin von der französischen Armee auf das bitterste gekränkt und enttäuscht worden, meine Herren. Ich habe die Absicht, der französischen Armee ein gewaltiges Ding zu drehen.«

»Mit Schnaps?«

»Ja, mit Schnaps.«

»Aber es gibt doch jetzt keinen Schnaps, verehrter Monsieur! Alles rationiert!« rief Kutusow.

Menu • Paris, 22. Februar 1946

Auf »russisch« machte Thomas Lieven sein erstes

Millionen-Nachkriegsgeschäft.

Russischer Borschtsch

Filet de Bœuf Stroganoff

Zitronen-Soufflé

Russischer Borschtsch: Man nehme je ein Pfund schieres Rind- und Schweinefleisch und ein halbes Pfund durchwachsenen Räucherspeck, koche davon eine kräftige Brühe. Man nehme das fertig gekochte Fleisch heraus und schneide es in mundgerechte Stücke. – Man schmore in Schweineschmalz zwei Pfund in Streifen geschnittenen Weißkohl mit Pfeffer und Salz, Gewürzkörnern und einem Lorbeerblatt und in einem anderen Topf streifig geschnittene rote Rüben mit Suppengemüse, Pfeffer, Salz, Lorbeerblatt und Pfefferschote. Zu den roten Rüben gebe man einen Schuß Essig, damit sie ihre Farbe behalten. – Man gebe die weichgeschmorten Gemüse ohne Lorbeerblätter mit den Fleischstücken in die Brühe, lasse zusammen durchkochen und reibe vor dem Anrichten eine rote Rübe daran. – Bei Tisch pro Gast einen großen Löffel dicker saurer Sahne in die Suppe.

Filet de Bœuf Stroganoff: man nehme gut abgehangenes Rinderfilet, schneide es erst in Scheiben und diese dann in schmale Streifchen. – Man schmore viel kleingehackte Zwiebeln in Butter weich, aber keinesfalls braun, gebe das Fleisch hinein und lasse es auf jeder Seite eine Minute anbraten. – Man schmecke mit Pfeffer und Salz gut ab und rühre dicke saure Sahne unter das Gericht, das man noch einmal aufkochen läßt.

Zitronen-Soufflé: Man nehme drei Eigelb und rühre sie mit drei Eßlöffeln Zucker schaumig. – Man gebe den Saft und die abgeriebene Schale einer halben Zitrone, einen halben Kaffeelöffel Kartoffelmehl oder Maizena und zuletzt den sehr steifen Schnee der drei Eiweiß hinzu. – Man fülle die Masse in eine gebutterte Auflaufform und lasse sie bei mäßiger Hitze im Bratofen backen, bis sie hochgegangen und die Oberfläche ganz leicht gebräunt ist. – Man gebe das Soufflé sofort in der Form zu Tisch, reiche Biskuits dazu.

»Haben Sie eine Ahnung, wieviel Schnaps es auf einmal geben wird, wenn Bastian einen ordentlichen Chauffeur und Sie einen ordentlichen Kommissar spielen«, sagte Thomas. »Los, jeder noch einen Teller. Nach dem Essen gehen wir einkaufen.«

»Was?«

»Was dazugehört. Schwarze Ledermäntel. Pelzmützen. Schwere Schuhe.« Thomas senkte die Stimme. »Hier im Hotel wohnt seit Kriegsende eine sowjetische Delegation. Fünf Mann. Ihre Aufgabe ist es, sich um alle Sowjetbürger in Frankreich zu kümmern. Wißt ihr, wieviel das sind?«

»Keine Ahnung.«

»Über fünftausend. Und mit ihnen allen ist dasselbe los …« Indessen seine beiden Gäste, Borschtsch, die beste Suppe der Welt, löffelnd, ihm andächtig lauschten, erzählte ihnen Thomas, was mit allen Sowjetbürgern in Frankreich los war …



10



Zwei Tage später hielt ein schwarzer Pontiac vor dem »Ministère du Ravitaillement«, in welchem sich die französische Alkoholverwaltung befand. Ein Chauffeur in schwarzem Ledermantel, eine Pelzmütze auf dem roten Igelhaar, riß den Schlag auf. Ein Herr in Ledermantel und Pelzmütze stieg aus, betrat das große, graue Gebäude, fuhr mit dem Lift in den dritten Stock empor und ging daselbst in das Büro eines Mannes mit Namen Hippolyte Lassandre, der ihm mit ausgebreiteten Armen entgegenkam.

»Mein lieber, sehr verehrter Monsieur Kutusow, ich war es, mit dem Sie gestern telefonierten. Legen Sie ab. Nehmen Sie Platz.«

Monsieur Kutusow, der unter dem schwarzen Ledermantel einen ziemlich zerdrückten, blauen Konfektionsanzug und an den Füßen schweres Schuhwerk trug, zeigte sich sehr aufgebracht. »In der Haltung Ihres Ministeriums sehe ich einen feindseligen Akt, den ich nach Moskau melden werde …«

»Ich bitte Sie, flehe Sie an, lieber Monsieur Kutusow – lieber Kommissar Kutusow, tun Sie das nicht. Ich bekomme den schlimmsten Ärger mit dem Zentral-Komitee!«

»Was für einem Komitee?«

»Der Kommunistischen Partei Frankreichs, Genosse Kommissar. Ich bin Parteimitglied! Ich versichere Ihnen, es war wirklich nichts als ein Versehen.«

»Daß man fünftausend Sowjetbürger seit Monaten bei der Alkoholzuteilung übergangen hat?« Der falsche Kommissar lachte höhnisch. »Ein Versehen, was? Komisch – die britischen und amerikanischen Staatsbürger in Ihrem Land erhielten Alkohol. Aber die braven Bürger meines Landes, das vor allen andern Ländern die Faschisten geschlagen hat …«

»Sprechen Sie nicht weiter, Genosse Kommissar, ich bitte Sie! Sie haben ja recht. Es ist unverzeihlich! Aber es soll gutgemacht werden, schnellstens!«

Kommissar Kutusow erklärte: »Ich fordere im Namen der Sowjetunion selbstverständlich auch die Nachlieferung der Zuteilung für alle vergangenen Monate.«

»Selbstverständlich, Genosse Kommissar, selbstverständlich …«

Daß die in Frankreich lebenden Sowjetbürger keine Alkoholzuteilung erhielten, hatten Thomas Lieven von Zizi erfahren. Zizi war eine schlanke Rotblonde, die in Paris in einem florierenden Haus arbeitete. Thomas kannte sie noch aus dem Krieg. Zizi liebte Thomas. Im Krieg hatte er ihren Freund vor der Verschleppung nach Deutschland gerettet. Es ging ihr prima, erzählte ihm Zizi. Vor allem, seit diese Russen in der Stadt seien. Die wären sozusagen Stammgäste in ihrem Etablissement.

»Was für Russen?« wollte Thomas wissen.

»Na, diese Kommission, die im ›Crillon‹ wohnt. Fünf Kerle. Kräftig wie Bären, sage ich dir. Das sind Männer!«

Zizi berichtete, daß die fünf Sowjetbürger ganz entzückt von den Dekadenzerscheinungen des kapitalistischen Westens waren. Allerdings vernachlässigten sie darob ihren Dienst auf das ärgste. Sie sollten sich um rund 5000 Landsleute in Frankreich kümmern, sie zur Heimkehr animieren. Das taten sie aber nur selten. Am liebsten waren sie bei Zizi. Und anderswo …

»Stell dir das vor, nicht mal um die Schnapszuteilung kümmern sie sich«, sagte Zizi zu Thomas.

»Um was für eine Schnapszuteilung?« fragte er und erfuhr, um was für eine.

Zizi hatte weitererzählt. Aber Thomas hatte nicht mehr zugehört. Ein Plan war in seinem Gehirn entstanden, ein kleiner, guter Plan. Nun, nachdem Bastian und Kutusow in Paris eingetroffen waren, setzte er ihn in die Tat um …

Mit gefälschten Ausweisen hinlänglich als Sowjetbeamter legitimiert, nahm Kommissar Kutusow die nachgelieferte Alkoholzuteilung entgegen. Nicht weniger als 3000 Hektoliter rollten auf Lastautos zu einer unheimlichen, zum teil eingestürzten Brauerei in der Nähe des Flughafens Orly.

Die hatte Thomas entdeckt, während er auf Bastian wartete. Sie gehörte einem Kollaborateur, der geflohen war. Im Februar 1946 – das muß man bei dieser Geschichte immer wieder bekennen – ging es in den meisten europäischen Ländern noch sehr drunter und drüber. Auch in Frankreich!

Nun nahmen acht Herren in jener Fabrik die Arbeit auf. Die Produktion lief Tag und Nacht. Die Herren stellten unter Leitung von Monsieur Hausér den bekannten und mit Recht beliebten Anis-Schnaps »Pastis« her, und zwar nach folgendem Familienrezept, das Thomas einer schwarzen Dame in Zizis Haus verdankte:

Man nehme auf einen Liter chemisch reinen neunzigprozentigen Alkohol

8 Gramm Fenchelsamen

12 Gramm Melissenblätter

5 Gramm Sternchenanis

2 Gramm Koriander

5 Gramm Salbei

8 Gramm grünen Anissamen.

Man lasse all dies acht Tage lang im Dunkeln ziehen. Kurz vor dem Filtrieren füge man noch zehn Tropfen Anisessenz hinzu. Zuletzt verdünne man auf einen vierundvierzigprozentigen Alkoholgehalt …

Den Alkohol bezahlte Kutusow mit dem Erlös der Goldstücke, die Bastian mitgebracht hatte. Die gefüllten Flaschen beklebten Bastians Freunde mit Etiketten, die Thomas in einer kleinen Druckerei herstellen ließ.

Indessen die Großproduktion anlief, suchte Monsieur Hausér einen französischen Militärbeamten, einen Stabsintendanten, in dem Pariser Stadtteil Latour-Maubourg auf. Dieser Stadtteil war zur Gänze von Militär besetzt, eine kleine Stadt in der Stadt.

Monsieur Hausér schlug dem Stabsintendanten Villard ein Schnapsgeschäft unter der Hand vor. »Ich habe Rohstoffe, ich kann ›Pastis‹ produzieren. Ich weiß, daß es in Ihrem Offizierskasino kaum noch Schnaps gibt. Meine Ware ist preiswert.«

»Preiswert?«

Nun, für jene wilde, alkoholarme Zeit gewiß! Heute würde man Thomas Lievens alias Monsieur Hausérs Forderung ein wenig übertrieben empfinden. Er verlangte, umgerechnet zum Kaufwert unserer heutigen Währung, für eine Flasche »Pastis« immerhin 60 Mark!

Der Stabsintendant griff zu, als wäre es das Geschäft seines Lebens. Und das war es auf der anderen Seite ja auch wiederum, wenn man bedenkt, daß damals eine Flasche »Pastis« auf dem schwarzen Markt umgerechnet an die 100 Mark kostete.

Das Geschäft blühte!

Vor allem wickelte es sich in Windeseile ab! Nicht nur sein Offizierskasino versorgte der Stabsintendant mit »Hausér-Pastis«, nein, er brachte die frohe Kunde auch seinen Freunden, und so fuhren schon bald Armeelastwagen mit »Hausér-Pastis« zu allen Offizierskasinos des Landes.

In der Tat kann man sagen: Thomas Lieven versorgte die französische Armee. Und die französische Armee bezahlte prompt. Und alles ging gut bis zum 7. Mai 1946. Da gab es eine kleine Panne …

Am 7. Mai 1946, gegen 19 Uhr, erschien der stämmige Chef der sowjetischen Delegation, Herr Andrejew S. Schenkow, im Appartement des falschen Kommissars Kutusow im »Hôtel Crillon« und forderte ihn, sehr rot im Gesicht, auf, eine Erklärung abzugeben. Herr Schenkow hatte nämlich wenige Tage zuvor beschlossen, seine Pflichten denn doch ein wenig ernster zu nehmen. So wollte er auch seine 5000 Landsleute mit Alkohol versorgen. Aber vom Rationierungs-Ministerium mußte er erfahren, daß der Alkohol längst von einem Kommissar Kutusow, wohnhaft »Hôtel Crillon«, abgeholt worden sei.

»Ich verlange eine Erklärung!« schrie Schenkow nun in russisch akzentuiertem Französisch. »Wer sind Sie, Herr? Ich kenne Sie nicht! Habe Sie nie gesehen! Ich lasse Sie verhaften. Ich …«

»Maul halten!« brüllte Kutusow ihn an, aber in lupenrein russischen Urlauten. Und dann sprach er eine halbe Stunde lang mit dem Genossen Schenkow auf russisch in genau jener Art und über genau jene Dinge, die Thomas Lieven ihm eingeschärft hatte. Denn Thomas hatte eine solche kleine Panne natürlich von Anfang an einkalkuliert.

Eine halbe Stunde später kehrte Genosse Andrejew S. Schenkow bleich, verstört und mit schweißfeuchter Stirn in sein Zimmer zurück. Hier warteten auf ihn seine Freunde Tuschkin, Bolkonski, Balaschew und Alpalytsch.

»Genossen«, stöhnte Schenkow und fiel in einen Sessel, »wir sind verloren.«

»Verloren?«

»Praktisch schon in Sibirien. Es ist grauenhaft. Es ist entsetzlich. Wißt ihr, wer Kutusow ist? Er ist der Kommissar, den sie uns nachgeschickt haben, um uns zu überwachen. Er hat alle Vollmachten. Und er weiß alles über uns.«

»Alles?« schrie Bolkonski entsetzt auf.

Schenkow sprach dumpf: »Alles. Wie wir hier arbeiten. Was wir hier getrieben haben.« Entsetzen malte sich auf den Zügen seiner vier Freunde. »Es gibt nur noch eines, Genossen, wir müssen versuchen, ihn zum Freund zu gewinnen. Und arbeiten wie Tiere, Tag und Nacht. Keine Zizi mehr! Keine Nylons und amerikanischen Konserven und Zigaretten mehr! Dann wird Kutusow vielleicht noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen …«

Solcherart war, dank Lievens vorausblickendem Ingenium, der kleine Zwischenfall beigelegt, und das große »Pastis-Geschäft« konnte in aller Ruhe abgewickelt werden.

Am 29. Mai brachte ein sehr glücklicher, weil relativ wohlhabender Exgenosse Kommissar und Taxi-Aristokrat Kutusow seine beiden Freunde in seinem alten Pontiac nach Straßburg. Hier kannte Thomas aus den seligen Zeiten seines »Kriegsverbrecher-Suchdienstes« ein paar freundliche französische Grenzer und ein paar freundliche deutsche. Mit ihrer Hilfe sollte es unschwer gelingen, die beiden Koffer der Herren Lieven und Fabre unkontrolliert aus einem Land in das andere zu bugsieren. Die Schrankkoffer enthielten den Lohn der »Pastis«-Mühe.

Im Fond des Pontiacs schwärmte Thomas: »Jetzt geht’s nach England, Bastian! Ins Land der Freiheit! Ach, mein Club – meine schöne Wohnung – meine kleine Bank – du wirst England lieben, mein Alter …«

»Hör mal, aber die Engländer haben dich doch 1939 ausgewiesen!«

»Ja«, sagte Thomas, »darum müssen wir eben auch noch auf einen Sprung nach München. Da sitzt ein Jugendfreund von mir, der wird mir helfen, wieder nach England reinzukommen.«

»Was is’n das für’n Jugendfreund?«

»Ein Berliner. Jetzt amerikanischer Major. Redakteur einer Zeitung. Kurt Westenhoff heißt er«, sagte Thomas, selig lächelnd. »Ach, Bastian, ich bin ja so froh – alle Unordnung hat jetzt ein Ende. Ein neues Leben beginnt – eine neue Zeit.«



11



Unter vielen Besuchern wartete auch Thomas Lieven im Vorzimmer des amerikanischen Majors Kurt Westenhoff. In München. In der Schellingstraße. Im Riesengebäude des ehemaligen Eher-Verlages.

Im sogenannten Tausendjährigen Reich war hier der »Völkische Beobachter« von den Nazis gedruckt worden. Jetzt wurde hier eine andere Zeitung von den Amerikanern gedruckt.

Es war sehr heiß in München an diesem 30. Mai 1946. Manchen der mageren, blassen Herren in Westenhoffs Vorzimmer stand der Schweiß auf der Stirn. Nachdenklich sah Thomas Lieven sich um. Er dachte: Da sitzt ihr. In alten Anzügen, die euch zu groß geworden sind. Mit zu weiten Hemdkrägen. Hager, unterernährt und blaß. Wenn ich euch so betrachte, ihr Bittsteller und Hochgeschwemmten der ersten Nachkriegszeit, die ihr hierherkommt um Hilfe, um einen Posten, um Persilscheine … Ihr seht nicht so aus, als ob ihr eure Köpfe hingehalten hättet draußen an der Front oder im echten Widerstand gegen die Nazis. Ihr wart wohl still während der tausend Jahre. Ohren zu, Augen zu, Mund zu. Aber jetzt wollt ihr endlich an die Macht! Bald werdet ihr euch vor den Futterkrippen der Nation drängen und euren Teil herausholen aus dem großen Wurstkessel. Bald werdet ihr oben sein, in der Regierung, in der Wirtschaft, im ganzen Land. Denn die Amerikaner werden euch helfen …

Aber, dachte Thomas Lieven, seid ihr die Richtigen für den richtigen Weg? Werdet ihr die einzigartige Gelegenheit nutzen, Deutschland und die Deutschen nun ein wenig aus der Weltgeschichte zu empfehlen – für eine Weile wenigstens?

Zwei Weltkriege haben wir begonnen und verloren im Lauf von zweiunddreißig Jahren. Eine forsche Leistung! Wie, wenn wir uns nun zurückzögen, neutral würden – uns poussieren ließen von den Amis und den Russen – Handel trieben mit West und Ost? – Wir haben so viel geschossen! – Wenn wir nun – bitte nicht gleich böse werden, ist ja nur ein Vorschlag! – überhaupt nie mehr schießen wollten? Du lieber Gott im Himmel, wäre das schön!

Eine bildhübsche Sekretärin erschien. »Herr Lieven, Major Westenhoff erwartet Sie«, sagte die junge Dame, die später einmal Mrs. Westenhoff heißen sollte. An ihr vorbei ging Thomas in das Büro des Redakteurs, der ihm mit ausgestreckter Hand entgegenkam.

»Tag, Thomas«, sagte Kurt Westenhoff. Er war klein und rundlich. Er besaß spärliches blondes Haar, eine schöne Stirne und kluge blaue Augen, die immer freundlich und immer melancholisch wirkten.

Der Vater dieses Mannes, Dr. Hans Westenhoff, hatte als Chefredakteur des Ullstein-Verlages in Berlin gearbeitet, für die »BZ am Mittag« und für das »Tempo«. Dann hatte die Familie emigrieren müssen. Nun war der Krieg zu Ende. Nun war Kurt Westenhoff zurückgekommen in dieses Land, das ihn fortgejagt hatte.

»Tag, Kurt«, sagte Thomas. 1933 hatte er diesen Mann zum letztenmal gesehen, in Berlin. Dreizehn Jahre waren vergangen. Trotzdem hatte Westenhoff sich sofort an ihn erinnert.

Thomas sagte heiser: »Ich … ich danke dir.«

»Quatsch, Mensch! Ich kenne dich seit unserer Schulzeit. Ich habe deinen Vater gekannt. Ich brauche keine Fragen zu stellen bei dir. Nur eine: Wie kann ich dir helfen?«

Thomas sagte: »Du weißt, ich war vor dem Krieg Bankier in London. ›Marlock and Lieven‹. Dominion Agency, in der Lombard Street.«

»Dominion Agency, richtig! Ich erinnere mich.«

»Ich habe wüste Jahre hinter mir. Euer CIC wird ein Riesendossier über mich haben. Aber ich sage die reine Wahrheit: In den ganzen Schlamassel bin ich nur durch meinen Kompagnon Marlock geraten. Er hat dafür gesorgt, daß ich aus England ausgewiesen wurde. Er hat sich die Bank unter den Nagel gerissen. Seit 1939 habe ich nur einen Wunsch, nur einen Gedanken: dieses Schwein zu stellen!«

»Ich verstehe«, sagte Westenhoff. »Du willst rüber nach England.«

»Um mit Marlock abzurechnen, ja. Kannst du mir dabei helfen?«

»Sure, boy, sure!« sagte der amerikanische Berliner. Und er irrte sich!

Zwei Wochen später, am 14. Juni, forderte Westenhoff Thomas auf, ihn am Abend in seiner Villa zu besuchen.

»Tut mir leid, Thomas«, sagte sein Freund zu ihm, als sie beide auf der Terrasse hinter dem Haus saßen und in den dämmerigen Garten hinausblickten. »Wirklich wahnsinnig leid. Trink lieber noch einen großen Whisky pur, bevor ich es dir erzähle.«

Diesen Rat befolgte Thomas.

»Dein Robert E. Marlock ist verschwunden. Ich habe meine Freunde beim CIC alarmiert. Die haben sich mit den Engländern in Verbindung gesetzt. Sieht traurig aus, Thomas, sehr traurig. Deine kleine Bank gibt es auch nicht mehr. Noch einen Drink?«

»Am besten stellst du gleich die Flasche vor mich hin. Ich komme mir langsam vor wie Hiob.« Thomas lächelte verzerrt. »Hiob mit Johnnie Walker. Seit wann gibt’s meine kleine Bank nicht mehr?«

»Seit 1942.« Westenhoff zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Genau: seit dem 14. August 1942. Da stellte Marlock die Zahlungen ein. Wechsel platzten. Kunden wollten ihre Konten abheben. Marlock verschwand an diesem Tag vom Erdboden, bis heute. Soweit meine Freunde vom CIC. Die möchten dich übrigens gerne kennenlernen.«

»Aber ich sie nicht.«

Thomas seufzte. Er sah in den blühenden Garten hinaus, dessen Bäume und Sträucher im Dämmerlicht des herabsinkenden Abends mehr und mehr ihre Konturen verloren und zu rauchigen Schatten verschwammen. Er drehte sein Glas hin und her. Endlich sagte er: »Also werde ich hierbleiben. Ich habe genug Geld in Frankreich verdient. Ich werde arbeiten. Aber nie mehr, hörst du, Kurt, nie mehr für einen Geheimdienst. Nie mehr in meinem Leben!«

Und damit sollte er sich irren – ebenso wie Kurt Westenhoff sich irrte, wenn er annahm, daß Thomas Lieven seinem verbrecherischen Kompagnon Robert E. Marlock nie mehr begegnen würde …



12



An einem schönen Tag im Juli 1946 schritt ein Herr in Sporthemd und Sporthosen über den englischen Rasen einer komfortablen Villa in Grünwald, am Stadtrand von München. Der Herr sah blaß und resigniert aus. An seiner Seite schritt, in derselben leichten Kleidung, ein muskulöser, zufrieden scheinender Riese, dem das rote Bürstenhaar wild vom Kopf abstand.

»Hübsches Häuschen haben wir uns gekauft, Bastian, mein Alter, was?« meinte Thomas Lieven.

»Und alles mit dem Geld der französischen Armee bezahlt«, grunzte der ehemalige Ganove aus Marseille, der sich seit einigen Wochen als Lievens Kammerdiener versuchte.

Sie gingen auf die Villa zu. Thomas sagte: »Heute nacht habe ich mal ausgerechnet, wieviel wir bei unserm Umsatz dem französischen Finanzamt schulden.«

»Wieviel denn?«

»Etwa dreißig Millionen Franc«, sagte Thomas schlicht.

Bastian erheiterte sich unmäßig. »Vive la grande armée!«

In der Villa läutete das Telefon. Westenhoff war am Apparat:

»Möchtest du heute abend zu Eva Braun kommen?«

»Was?«

»In ihre Villa, meine ich. Ecke Maria-Theresia-/Prinzregentenstraße.«

»Da sitzt doch jetzt der CIC drin.«

»Richtig, Junge, richtig.«

»Ich habe dir gesagt, ich arbeite nie wieder als Geheimagent. Auch nicht für euch!«

»Du sollst für uns nicht als Geheimagent arbeiten, sondern als Koch.«

»Deine Freunde werden doch einen eigenen Koch haben!«

»Haben sie auch. Einen ganz erstklassigen sogar. War einst ein ganz großer Restaurateur. Und ein Blutordensträger dazu …«

»Gratuliere. Einen feinen Geschmack haben deine Freunde.«

»Der Koch hatte einen noch besseren. Als er verhaftet wurde, verriet er ohne Zögern alle seine Bonzenfreunde. Dafür steckte der CIC ihn nicht sofort ins Lager. Er lebt unter Hausarrest und kocht. Aber heute kann er nicht kochen, heute hat er Durchfall. Komm doch und hilf diesen Abend aus, Thomas. Mir zuliebe. Sie haben einen Rehbock. Ein Special Agent hat ihn erlegt. Mit der Armbrust.«

»Kurt, du sollst am Tag nicht soviel trinken!«

»Es ist die reine Wahrheit, er hat ihn mit dem Flitzbogen erlegt. Ich kenne den Mann. Er geht nur mit dem Flitzbogen auf die Jagd. Er sagt, die Tiere müssen viel weniger leiden. Es wäre humaner so.«

Vollgefressen, wie wir heute sind, erinnern wir uns kaum noch, wie es damals war:

Nur 800 Kalorien täglich konnten im Juni 1946 im Ruhrgebiet an »Normalverbraucher« ausgegeben werden. In Bayern waren es 950 Kalorien. Schwerarbeiter erhielten 1700, Schwerstarbeiter 2100, Bergarbeiter 2400 Kalorien.

Nur 7 (!) Gramm Fett enthielt noch im September 1947 die »Grundration«. Vorkriegsverbrauch: 110 Gramm.

Nur 14 Gramm Fleisch enthielt die »Grundration« im September 1947. Vorkriegsverbrauch: 123 Gramm.

Die Deutsche Ärzteschaft gab im Sommer 1947 in einer »Resolution zur Ernährungslage« die Mindestfettmenge pro Kopf und Tag mit 40 bis 60 Gramm an.

Ein Trost: Der Blutordensträger, der sich durch diese schlimme Zeit als Koch beim amerikanischen CIC hinlänglich gegen die Gefahr des Verhungerns absicherte, überstand auch die erwähnte Diarrhöe gut. Er überstand überhaupt alles gut. Heute ist er Besitzer eines bekannten Restaurants in einer großen Stadt im Süden Deutschlands …



13



Eine hübsche Villa hatte Hitler seiner Geliebten geschenkt, fand Bastian Fabre, als er mit Thomas Lieven in der Küche des Gebäudes gelandet war: »Das hätt’ ich dem Vegetarier gar nicht zugetraut, was meinst du, Kumpel?«

»Und was hatte sie davon? Jetzt ist sie tot«, sagte Thomas. »Ich denke, wir machen vor dem Reh einen Parmesanpudding und nach dem Reh etwas Süßes; das lieben die Amis.«

Teurer und geistreicher Leser, schöne und elegante Leserin! Schwer, bitter schwer fällt es uns, zu berichten, was wir nun zu berichten haben: Niemals noch – und Sie selbst sind die besten Zeugen dafür – hat unser Freund sich in der Vergangenheit betrunken.

An diesem 16. Juli 1946 jedoch betrank er sich in der Villa der (un)seligen Hitlergeliebten wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und nur mit dem entsprechend ungeheuerlichen Promille-Gehalt läßt sich erklären, was Thomas Lieven in seinem katastrophalen Zustand widerfuhr.

Vielleicht hätte Bastian auf seinen Herrn besser aufpassen müssen. Er interessierte sich an jenem Abend jedoch allzusehr für das rothaarige Serviermädchen. Mit dieser etwas strapazierten Schönheit, die vierzehn Monate zuvor noch als Nachrichtenhelferin Freude in die einsamen Nächte deutscher Soldaten gebracht hatte, trieb er sich in der Küche und anderswo herum. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf …

Kurt Westenhoff kam mit seiner schönen Sekretärin. Drei CIC-Agenten hatten deutsche Freundinnen eingeladen. Und dazu saßen noch zwei sehr, sehr attraktive Damen vom sogenannten »Art Collecting Point« am Tisch, die eine in einer französischen Uniform, die andere in einem ein wenig abgetragenen weißen Kleid, auf das bizarre Blumen gemalt waren.

Die Dame in der französischen Uniform wurde Mademoiselle Daniella genannt. Thomas kannte sie schon – der Stimme nach. Daniella pflegte in der »Pariser Stunde« von »Radio München« die neuesten französischen Chansons vorzutragen – mit vibrierender Schlafzimmerstimme. Die charmante Person war unbestrittener Mittelpunkt der Party.

Ihre deutsche Begleiterin stand völlig in ihrem Schatten. Christine Troll hieß das Mädchen mit dem langen, schwarzen Haar, den langbewimperten schwarzen Augen und dem großen Mund. Sie war Sekretärin im »Art Collecting Point«.

Von dieser Institution berichtete die Französin die amüsantesten Episoden. Die Damen und Herren der amerikanischen »Kunstwerke-Sammelstelle« amtierten auf dem Königsplatz, im kleineren der beiden sogenannten »Führerbauten«. Ihre Aufgabe war es, all jene Kunstwerke aufzustöbern und sicherzustellen, die unter dem Naziregime in den besetzten Gebieten, aber auch in Deutschland den Besitzer gewechselt hatten durch Beschlagnahme, Verlagerung oder Raub.

»Sichergestellt«, so berichtete Mademoiselle Daniella, hatten die Nazis in Paris die berühmtesten Sammlungen von Rothschild, Goldschmidt und Schloß. Aber wo waren all diese Schätze hingekommen?

Allein an Gemälden hatten die Nazis 14 000 Werke »verlagert« – aber wohin? Im Kloster Dietramszell, im Kloster Ettal, in den Salinen von Alt-Aussee förderten die Kunst-Detektive Meisterwerke zutage … wenig, wenig, verglichen mit dem, was verschwunden war.

Nach dem Einmarsch hatten amerikanische Truppen den Führerbau 1 den Deutschen übergeben. »Nehmt das Zeug, es hat ja doch nur Hitler gehört« – so hatten ein paar flinke Münchner die Sieger verstanden. Sie »übernahmen« in der Tat, was sie fanden …

Manche dieser Gemälde, so erzählte Mademoiselle Daniella, wurden später wiedergefunden, als der »Collecting Point« in der Umgebung des Königsplatzes – mit Unterstützung der Military Police – eine Razzia in über tausend Privatwohnungen vornahm. Dabei fand man herrlichste, unschätzbare Meisterwerke wieder, als Matratzen-Unterlagen oder Fensterverschalungen.

Natürlich hatten auch die Amerikaner geplündert. Mademoiselle Daniella berichtete vom Erlebnis eines Kunsthändlers in der Maximilianstraße. Bei dem war am Tage nach der Eroberung Münchens ein Sherman-Panzer vorgefahren. Die Panzerleute holten den Kunsthändler auf die Straße und zeigten ihm ein Bild, das sie vorne an den Tank gebunden hatten. Dem Experten erstarrte das Blut in den Adern. Was da auf den schmutzigen, öligen Panzerplatten hing, war nichts anderes als ein berühmtes, in allen Kunstbänden vorzufindendes Rembrandt-Gemälde, das Porträt des Rabbiners von Amsterdam, und zwar das Original.

Der Kunsthändler und die Soldaten wurden nicht einig. So fuhren die Sieger mit ihrem Schatz kettenrasselnd davon. Wohin? Das wußte niemand. Der Rembrandt ist nie wieder aufgetaucht …

Solcherlei Erzählungen ließen Gastgeber und Gäste fröhlich werden. Man trank Gin und Juice. Thomas ging in die Küche, um nach Bastian, dem Serviermädchen und dem Rehrücken zu sehen. Er fand alle drei wohlauf. Die Exnachrichtenhelferin saß auf Bastians Knien. Äußerlich war sie sehr rot. Innerlich war sie wohl immer noch braun. Thomas stach in den Rehrücken und fand, daß es sich bei diesem umgekehrt verhielt. Er gab dem balzenden Bastian die entsprechenden Anweisungen und kehrte in den Salon zurück.

Hier erzählte Mademoiselle Daniella noch immer. Thomas setzte sich neben die bescheidene, schöne Christine Troll und hörte zu. Er fühlte, wie er einen Schwips bekam. Auch die Augen der hübschen, dunklen Christine glänzten verdächtig. Er sagte zu ihr: »Es gibt gleich Essen!«

»Gott sei Dank, ich bin schon tipsy«, bekannte sie mit tiefer, heiserer Stimme. (Wo ich tiefe, heisere Stimmen so liebe, dachte Thomas. Wie alt ist die Kleine wohl? Höchstens fünfundzwanzig. Hm. Süßes Mädchen …)

Auch beim Essen unterhielt Mademoiselle Daniella ihre Tischgenossen weiter mit ihren Stories.

Thomas war verstimmt. Gerade mit dem Parmesan-Pudding habe ich mir so viel Mühe gegeben, dachte er. Und kein Mensch achtet darauf, kein Mensch lobt ihn.

Das hatte er gerade gedacht, da sagte Christine, die neben ihm saß, leise: »Hinreißend, dieser Pudding. So etwas Gutes habe ich noch nie gegessen!«

Thomas blühte auf. Ach, was für ein Mädchen!

Menu • München, 16. Juli 1946

Beim Kochen für die Amis entflammt Thomas Lievens Herz …

Parmesanpudding

Rehrücken Baden-Baden

Russische Creme

Parmesanpudding: Man nehme 120 Gramm Butter, rühre sie schaumig, menge sechs Eigelb, 80 Gramm geriebenen Parmesankäse, einen viertel Liter saure Sahne, etwas Salz, 140 Gramm Mehl und zuletzt den steifen Eiweißschnee der sechs Eier darunter. – Man fülle die Masse in eine gebutterte und bemehlte Puddingform, lasse sie fünfundvierzig Minuten im Wasserbad kochen. – Man stürze den Pudding auf eine große runde Platte, umgebe ihn mit 150 Gramm feingehacktem Schinken und mit buttergeschwenkten grünen Böhnchen, die man mit gehackter Petersilie bestreut.

Rehrücken Baden-Baden: Man nehme einen abgehäuteten und gespickten Rehrücken, pfeffere und salze ihn, übergieße ihn mit kochendheißer Butter und schiebe ihn in den vorgeheizten Backofen. – Man brate ihn unter fleißigem Begießen fünfundvierzig bis sechzig Minuten, das Fleisch muß aber noch saftig und am Knochen leicht rosa sein. – Man nehme etwas Bratensaft, mache darin Ananasstücke, eingemachte Kirschen und frische Weinbeeren heiß, umlege damit den Rehrücken. – Man koche den restlichen Saft und den Bratenfond mit saurer Sahne zu einer Sauce auf, die man gesondert serviert.

Russische Creme: Man nehme pro Person ein Eigelb, einen Eßlöffel Zucker, rühre sie schaumig, füge Arrak oder Rum – auf drei Eier einen Eßlöffel voll – hinzu und gebe sehr steif geschlagene Schlagsahne darunter. – Man verziere die Creme mit kleinen Makronen, die mit Arrak oder Rum getränkt wurden.

Als der Rehrücken kam, berichtete Mademoiselle Daniella ge rade von dem berühmt-historischen Buch »Schedels Weltchronik«, gedruckt im Jahr 1493. »… einer unserer Leute fuhr vor zwei Wochen durch Troibach bei Kraiburg am Inn. Bei einem Bauern ging er auf die – wie sagt man? – auf das ›Häusl‹ …« Gelächter. »Wie er sich – pardon, ich bin entsetzlich, ich weiß –, wie er sich bedienen will, kommen ihm die Schrift und das Papier so komisch vor …« Neues Gelächter. »Meine Damen, meine Herren, was soll ich Ihnen sagen – es waren die zerschnittenen Seiten der berühmten Weltchronik aus dem Mittelalter, dem ersten gedruckten weltlichen Buch überhaupt, auf einem rostigen Nagel in einem Häusl in Troibach bei Kraiburg am Inn …« Schallendes Gelächter.

Traurig dachte Thomas: Und keiner sagt etwas zu meinem Rehrücken. Da sagte Christine leise: »Phantastisch, auch der Rehrücken. Sie sind ein Genie. Ist das ein besonderes Rezept?«

»Mein eigenes. Ich habe es Rehrücken Baden-Baden getauft. In Erinnerung an … hm … dort verlebt schöne Stunden.«

»Das müssen Sie mir alles ganz genau erzählen, bitte.«

Thomas rückte näher heran. »Aber mit Vergnügen!«

Der Abend war gerettet!

Nach dem Essen sang Mademoiselle Daniella Chansons. Man trank weiter. Einzelne Pärchen verschwanden. Neue Besucher kamen. Ein Grammophon spielte ohne Unterlaß. Thomas trank reihum mit sämtlichen Herren. Ich habe jetzt etwas im Magen, beruhigte er sich, es kann nichts passieren.

Dann lernte er den CIC-Agenten »Mister Smith« kennen, jenen tierliebenden Herrn, der tatsächlich mit der Armbrust auf die Jagd ging. Dabei stellte sich heraus, daß Thomas nicht nur eingeladen worden war, weil er so gut kochte.

»Hören Sie mal zu, Mr. Lieven. Ich weiß, Sie waren kein Nazi … aber Sie haben so viele Nazis gekannt … Sie könnten uns helfen …«

»Nein, danke.«

»Lieven, das ist Ihr Land! Ich werde nicht ewig hier sein. Sie vielleicht schon. Wenn wir jetzt nicht achtgeben, sperren wir die Falschen ein und lassen die Falschen frei … und alles kommt wieder, alles kommt wieder!«

»Trotzdem«, sagte Thomas. »Ich will nichts mit Geheimdiensten zu tun haben. Nie mehr!«

Mr. Smith sah ihn von der Seite an und lächelte …

Schummriger wurde die Beleuchtung, sentimentaler die Musik. Thomas tanzte mit Christine. Thomas flirtete mit Christine.

Christine erzählte von sich: »Eigentlich habe ich Chemie studiert. Meine Eltern hatten eine kleine Fabrik hier in München, kosmetische Präparate …«

»Was heißt hatten?«

»Sie sind tot. Und die Fabrik ist ausgeplündert worden. Ich war nicht da in diesen Tagen. Wenn ich bloß jemanden finden könnte, der mir etwas Geld gibt.« Sie sprach so ernst! Thomas fand sie ungeheuer sympathisch. »Ach, etwas Kapital bloß. Man könnte verdienen, was man will. Millionen Frauen schreien nach kosmetischen Präparaten. Sie haben nichts, um sich schön zu machen …«

Das leuchtete Thomas ein. Ein wenig schwerzungig sagte er: »Wir müssen uns unbedingt unterhalten, Fräulein Christine.« Neuer Anlauf: »Komme Sie morgen besuchen. Ich … ich … könnte mir vorstellen, daß mich Ihre Fabrik interessiert …«

»Oh!« Ihre Augen leuchteten auf.

Mademoiselle Daniella sang wieder. Thomas trank und tanzte mit Christine, tanzte und trank. Dann sang er selber. Und dann war es soweit: Er war blau, ganz ungeheuerlich blau. Liebenswürdig. Freundlich. Charmant. Aber eben blau. Es fiel nur keinem Menschen auf. Denn alle waren blau, alle im Hause der toten Eva. Nur der Blutordensträger nicht. Der lag mit Leibschmerzen in seiner Mansarde und knirschte mit den Zähnen.



14



Als Thomas erwachte, fand er sich in seinem Bett. Er hörte Bastians Stimme: »Das Frühstück, Pierre. Wach auf. Es ist halb zwölf!«

Thomas öffnete die Augen und stöhnte. In seinem Schädel tobten Preßlufthämmer. Er sah Bastian an, der mit einem Tablett vor ihm stand. Er richtete sich auf. Und dann erstarrte er. Neben ihm lag ein Mädchen und schlief, tief und friedlich. Die süße, dunkle Christine Troll …

Thomas schloß die Augen. Thomas öffnete die Augen wieder. Es war kein Spukbild, das ihn narrte. Christine lag noch immer da. Jetzt murmelte sie etwas und lächelte. Räkelte sich. Allmächtiger! Schnell deckte Thomas sie wieder zu.

Entsetzt sah er Bastian an, der keine Miene verzog. »Was ist passiert? Wie kommt die Dame hierher?«

»Mensch, frag mich doch nicht! Wie soll ich das wissen!«

»War ich … waren diese Dame und ich … schon … hm … zu Hause, als du kamst?«

»Jawohl. Du hast geschnarcht wie eine ganze Kompanie.«

»Um Gottes willen.«

»Total besoffen, was?«

»Und wie! Junge, Junge, also mir fehlen glatt acht oder neun Stunden. Ich habe nicht die geringste Erinnerung.«

»Na hör mal, das ist aber jammerschade!«

»Halt den Mund! Stell das Tablett weg. Ich will machen, daß ich hier rauskomme, bevor sie aufwacht. Vielleicht war sie auch betrunken. Und dann kann ich ihr die Peinlichkeit ersparen.«

Er konnte es nicht. Denn in diesem Moment schlug Christine Troll ihre schönen schwarzen Augen auf und blickte um sich. Lange um sich. Dann blickte sie an sich hinab. Wurde dunkelrot. Und sagte: »Ach, ist das unangenehm. Nein, also wirklich! Das ist ja ganz entsetzlich! Mein Herr, wer sind Sie, wenn ich bitten darf?«

Thomas verneigte sich im Sitzen. »Mein Name ist Lieven. Thomas Lieven.«

»Ach Gott, ach Gott. Und wer … wer ist dieser Herr?«

»Mein Diener Bastian.«

»Guten Morgen, Mademoiselle«, sagte Bastian und verneigte sich höflich.

Da begann die junge Dame zu weinen …

Nach dem Frühstück gingen Thomas und Christine im Isartal spazieren. Langsam ließen ihre Kopfschmerzen nach.

»Und Sie haben keine Erinnerung?« fragte er.

»Nicht die allergeringste.«

»Ich auch nicht.«

»Herr Lieven!«

»Unter den gegebenen Umständen kannst du vermutlich ruhig Thomas zu mir sagen!«

»Nein, ich möchte beim Sie bleiben! Unter den Umständen, Herr Lieven, gibt es nur eine einzige Möglichkeit für uns: Wir gehen auseinander und sehen uns nie wieder.«

»Entschuldigen Sie, warum?«

»Herr Lieven, ich bin ein anständiges Mädchen. So etwas ist mir noch nie passiert.«

»Mir auch nicht. Vorschlag zur Güte: Wir reden nicht mehr davon. Und ziehen Ihre Kosmetikfabrik neu auf.«

»Daran erinnern Sie sich?«

»Genau. Und ich halte mein Wort. Was Sie an Kapital brauchen, steht Ihnen zur Verfügung.«

»Herr Lieven, also das kann ich unter gar keinen Umständen annehmen.«



15



Am 15. August 1946 wurde in der Kosmetikfabrik Troll die Produktion wiederaufgenommen. Mit einigen wenigen Arbeitern zunächst. Unter schwierigsten Bedingungen. Im September ging es schon besser. Durch seine Beziehungen zu den Amerikanern gelang es dem Geschäftspartner von Christine Troll, größere Mengen von Chemikalien zu beschaffen, die für die Produktion unentbehrlich waren. Im Oktober 1946 erzeugte die Fabrik bereits Seife, Hautcreme, ein Toilettenwasser und, als Verkaufsschlager, eine »Beauty Milk«, die reißend Absatz fand. Neue Arbeiter wurden angestellt.

Christine Troll sagte zu ihrem Partner immer noch eisern »Herr Lieven«.

Thomas Lieven sagte zu seiner Partnerin immer noch eisern »Fräulein Troll«.

Zu Bastian sagte er: »Nie wieder ein krummes Ding, verstehst du? Mit Ehrlichkeit und Fleiß werden wir es schaffen. Anständig, alter Junge, kapiert? Anständig!«

Bastian grinste …

Um diese Zeit, an einem tristen Oktoberabend, erschien eine kleine, verschreckte Frau in Thomas Lievens Villa. Sie entschuldigte sich immer wieder dafür, daß sie sich nicht angemeldet hatte, ohne zu sagen, was sie wollte und wie sie hieß: »… aber ich war so aufgeregt, Herr Lieven, ich war so furchtbar aufgeregt, als ich Ihren Namen las …«

»Wo haben Sie meinen Namen gelesen?«

»Im Register vom Grundbuchamt – da arbeitet meine Schwester. Ich und die Kinder leben ja noch immer in Freilassing. Dahin haben sie uns ’45 verlagert. Es ist ein Elend – kein Platz – die Bauern sind widerlich zu uns, und jetzt auch noch dieses Wetter …«

»Liebe Dame«, sagte Thomas geduldig, »darf ich nun vielleicht endlich Ihren Namen erfahren?«

»Emma Brenner.«

Thomas zuckte zusammen. »Brenner! Sie sind die Frau von Major Brenner?«

Die kleine Frau begann zu weinen.

»Ja, Herr Lieven! Die Frau von Major Brenner … Er hat so oft geschrieben über Sie, aus Paris. Er war so begeistert von Ihnen … Herr Lieven, Sie kannten meinen Mann! War er ein schlechter Mensch? Hat er Unrecht begangen?«

»Wenn Sie so fragen, Frau Brenner, dann kann das nur eines bedeuten: Ihr Mann wurde verhaftet, stimmt’s?«

Schluchzend nickte die kleine Frau. »Zusammen mit Oberst Werthe. Den kennen Sie doch auch …«

»O Gott«, sagte Thomas. »Werthe auch?«

»Seit Kriegsende sitzen sie im Lager Moosburg – und werden da sitzenbleiben, bis sie verhungern oder erfrieren …«

»Frau Brenner, beruhigen Sie sich. Erzählen Sie mir.«

Das tat die kleine Frau, von Schluchzen unterbrochen. Die Lage für Werthe und Brenner schien tatsächlich hoffnungslos. Thomas kannte beide gut. Er wußte, es waren anständige Leute, die sich jahrelang mit der Gestapo herumgeschlagen hatten. Aber 1944 wurde Admiral Canaris abgesetzt, und die militärische Abwehr wurde Heinrich Himmler unterstellt. Werthe und Brenner waren plötzlich Himmler-Leute!

Und das blieben sie, bis die Amerikaner kamen und sie verhafteten. Die Amerikaner machten keinen Unterschied. Himmler-Leute waren für sie SD-Leute. Und SD-Leute waren »Securitiy Threats«, »Bedrohungen der Sicherheit«, die unter den »Automatic Arrest« fielen.

Im Internierungslager Moosburg gab es Dossiers über jeden Gefangenen. Diese Dossiers, eingestuft nach verschiedenen Kategorien, wanderten von Zeit zu Zeit durch die Büros der Entlassungsstelle. Immer neue Kategorien wurden enthaftet. Eine Kategorie durfte darauf warten bis in alle Ewigkeit: die »Security Threats«.

»Können Sie mir nicht helfen?« schluchzte Frau Brenner. »Mein armer Mann … der arme Herr Oberst …«

»Ich will sehen, was ich tun kann«, sagte Thomas nachdenklich.

»Mr. Smith«, sagte er am nächsten Tag zu dem tierliebenden CIC-Agenten, der so darauf erpicht war, ihn als Mitarbeiter zu gewinnen, »ich habe es mir überlegt. Sie sehen genau wie ich, was los ist in meinem Land. Diese braune Pest ist nicht ausgerottet. Sie ist noch höchst lebendig. Wir müssen alle wachsam sein, um zu verhindern, daß sie jemals wiederkommt …«

Mr. Smith holte erfreut Luft. »Heißt das, daß Sie nun doch für uns arbeiten wollen?«

»Heißt es, ja. Auf diesem einen bestimmten Sektor der Faschistenbekämpfung. Sonst nicht. Da schon. Wenn Sie wollen, fahre ich in die Camps.«

»Okay, Lieven«, sagte Mr. Smith, »that’s a deal!«

Die nächsten sechs Wochen verbrachte Thomas Lieven auf Reisen. Er besuchte die Internierungslager Regensburg, Nürnberg-Langwasser, Ludwigsburg und schließlich Moosburg.

In den ersten drei Lagern studierte er tagelang Hunderte von Dossiers, eng beschriebene Schreibmaschinenseiten, die Fotos der Verhafteten sowie den Stempel des vernehmenden Agenten trugen.

Thomas sah sich diese Bogen ganz genau an. Die Stempel waren primitiv, leicht nachzumachen. Ebenso primitiv waren die Fotos befestigt. Es wurden Schreibmaschinen aller Marken benutzt.

In den ersten drei Lagern entdeckte Thomas Lieven 34 Angehörige der Gestapo, die er in Frankreich kennen- und hassen gelernt hatte, unter ihnen den Chef des SD Marseille, den Hauptsturmführer Heinrich Rahl, und ein paar seiner Gehilfen. Hauptsturmführer Rahl war im Lager »Kulturwart« geworden und genoß alle möglichen Erleichterungen.

Überhaupt kam Thomas bald darauf, daß die größten Schufte von einst sich bereits wieder, selbst in den Lagern, ihre Pöstchen zugeschoben hatten: in der Küche, im Krankenrevier, in der Schreibstube. Viele von ihnen waren zu »Vertrauensleuten« und »Lagersprechern« avanciert. Sie terrorisierten die andern. Sie waren schon wieder obenauf.

»Einen feinen Instinkt habt ihr«, sagte Thomas zu den Amerikanern. »Ihr fallt also auch auf blonde Haare, blaue Augen und Strammstehen herein! Von jetzt an wollen wir mal vor allem die Herren mit den Pöstchen unter die Lupe nehmen …«

Das geschah.

Als Thomas am 3. Januar 1947 nach Moosburg kam, besaß er bereits das volle Vertrauen der beiden CIC-Agenten, die ihn begleiteten. Sie führten ihn in das schwer bewachte Archiv des Lagers und ließen ihn vor Kästen mit 11 000 Vernehmungsprotokollen allein. 11 000 Mann saßen damals in Moosburg!

Thomas fand auch unter ihnen drei SD-Leute, an die er böse, ganz böse Erinnerungen hatte. Er fand natürlich auch die Protokolle über den Major Brenner und den Oberst Werthe.

Am Abend des 6. Januar verließ Thomas Lieven das Camp mit den Dossiers von Werthe und Brenner unter seinem Hemd. Er wohnte in einem kleinen Bauerngasthof. Hier arbeitete er lange in dieser Nacht.

So wie er es bei dem genialen Reynaldo Pereira in Lissabon gelernt hatte, fälschte er die Dossiers von Brenner und Werthe. Zuerst stellte er einen neuen Gummistempel her. Mit Schusterahle und Federmesser bördelte er sodann vorsichtig die Ösen auf, welche die Fotos hielten, und entfernte die Bilder von der Unterlage, indem er den Klebstoff auflöste und vorsichtig wegpinselte. Dann tippte er auf einer mitgebrachten Maschine neue Dossiers. Als der Morgen graute, prangten die Fotos seiner Freunde auf den neuen Dossiers. Wie anders sahen diese jetzt aber aus! Werthe und Brenner waren nicht länger böse SD-Leute, sondern harmlose, unbelastete Offiziere der deutschen Militärverwaltung in Frankreich. Es bestand kein Grund, sie weiter in Haft zu halten, wenn ihre Kategorie freigelassen wurde.

Am Morgen des 7. Januar brachten die beiden CIC-Agenten Thomas wieder ins Camp. Diesmal trug er die neuen Dossiers unter dem Hemd. Die alten hatte er im Kachelofen seines Gastzimmers verbrannt. Ohne Schwierigkeit gelang es ihm im Laufe des Tages, die gefälschten Bogen wieder an den richtigen Platz in den richtigen Kasten zu bringen. Seine Arbeit war damit beendet.

Noch vor Ende Januar 1947 wurden Brenner und Werthe entlassen. Seltsames Spiel des Schicksals: Zu dem Zeitpunkt, da Brenner und Werthe »raus«kamen, saß Thomas Lieven schon wieder einmal »drin« …

Und das kam so:

Nachdem sie das Lager Moosburg absolviert hatten, fuhren die CIC-Agenten mit Thomas noch zu den Lagern in Dachau, Darmstadt und Hohenasperg. Hier saß die Nazi-Diplomatie. Noch einmal gelang es Thomas, ein paar alte SD-Verbrecher zu entdecken. Die CIC-Agenten sprachen ihm ihre Anerkennung aus. Am 23. Januar kehrten sie nach München zurück. Spätabends kamen sie an. Thomas war müde. Sie brachten ihn nach Grünwald hinaus, zu seiner Villa. Als er das Gartentor aufsperrte, fuhren sie winkend fort.

Dunkel, ohne ein erleuchtetes Fenster, lag das Haus da. Bastian treibt sich wieder herum, dachte Thomas. Kein Mensch daheim. Das war ein Irrtum, den er bemerkte, als er die Halle der Villa betrat. Etwas glitt in der Dunkelheit an ihm vorbei. Plötzlich flammte Licht auf.

Ein amerikanischer Militärpolizist stand vor ihm, einer hinter ihm. Sie hielten beide schwere Pistolen in den Händen. Ein Zivilist kam aus der Bibliothek, auch er hielt eine Pistole in der Hand.

»Die Pfoten hoch, Lieven!« sagte er.

»Wer sind Sie?«

»CID«, sagte der Zivilist. Der CID, das »Criminal Investigation Department«, war die Kriminalpolizei der Armee; der CIC, das »Counter Intelligence Corps«, interessierte sich nur für politische Verbrechen und Spionage.

Der Zivilist sagte: »Sie sind verhaftet! Wir warten hier seit fünf Tagen auf Sie!«

»Wissen Sie, ich war gerade ein paar Wochen für Ihr Konkurrenzunternehmen unterwegs.«

»Schnauze! Mitkommen!«

»Moment mal«, sagte Thomas. »Ich warne Sie! Ich habe viele Freunde beim CIC! Ich habe diesen Leuten gerade einen großen Dienst erwiesen. Ich verlange sofort eine Erklärung. Warum verhaften Sie mich?«

»Kennen Sie einen gewissen Bastian Fabre?«

»Ja.«

»Und eine gewisse Christine Troll?«

»Ach, ja!« O Gott, dieses Vorgefühl, dieses ungute Vorgefühl …

»Na also. Die sitzen schon.«

»Aber warum? Verflucht, warum?«

»Herr Lieven, Sie werden beschuldigt, im Auftrag einer Werwolf-Organisation einen Mordanschlag gegen den General Lynton ausgeführt zu haben – gemeinsam mit Ihren beiden Freunden.«

»Lynton? Der amerikanische General Lynton?« Thomas bekam einen Lachanfall. »Und wie wollte ich ihn ermorden, bitte?«

»Sie wollten ihn in die Luft sprengen!«

»Aaah – aah!«

»Das Lachen wird Ihnen vergehen, Lieven. Ihnen allen. Sie stellen Kosmetika her, wie?«

»Ja.«

»Sie produzieren sogenannte ›Beauty Milk‹, nicht?«

»Ja, und?«

»Eine Packung dieses Mord-Präparates explodierte vor fünf Tagen mit ungeheurer Wucht im Schlafzimmer von General Lynton. Nur durch eine glückliche Fügung war zur Zeit der Explosion niemand in der Nähe. Es ist völlig klar: Sie haben in der Packung Sprengstoff eingeschmuggelt. Na also, jetzt halten Sie die Schnauze, wie? Legt dem Mann Handschellen an, boys …«

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