7. Kapitel Kummer

Die Hunde in Raum A versuchten ihr Bestes, um Fleck aufzuheitern.

Jeder von ihnen hatte schon Kummer erlebt. Francine träumte immer noch von dem Zirkus und dem aufregenden Leben, das sie dort geführt hatte. Honey rannte im Schlaf immer noch über mit Heidekraut bedeckte Hügel, um die Schafe zusammenzutreiben. Otto hatte nie aufgehört, sich nach dem Frieden des Klosters und der stillen Würde der Mönche dort zu sehnen. Und Li-Chee wartete schon ewig auf jemanden, der es vermochte, in seine tapfere Seele zu blicken.

Genau wie Fleck hatten sie alle gehofft, eines Tages einen Herrn zu finden, der es wert war, dass sie ihm dienten, aber sie hatten nur Menschen gefunden, die gekommen und wieder gegangen waren und sich nicht für sie interessiert hatten. Aber sie waren älter und klüger als der kleine Mischling und wussten, dass man sich zusammennehmen und das Beste daraus machen musste.

Fleck war einfach nur überwältigt von seinem Schmerz. Den Kopf zwischen den Pfoten, lag er in seinem Käfig. Sein Fell war stumpf, seine Augen waren trüb und seit seiner Rückkehr hatte er nichts gefressen.

Kayley arbeitete in ihrem Büro daneben, und wann immer sie konnte, kam sie heraus, um nach dem Tottenham-Terrier zu schauen. Sie hatte das blaue Handtuch gerettet, das Fleck zwischen den Zähnen hielt, als er zurückgebracht wurde. Eigentlich erlaubte Mr Carker so etwas nicht, aber glücklicherweise waren die Carkers unterwegs zu einer Hundeschau, wo sie ein paar besonders exotische Hunde kaufen wollten. Kayley tauchte das Tuch in Flecks Wassernapf und befeuchtete damit sein Maul.

»Du musst trinken«, sagte sie zu ihm. »Du bist noch jung. Das ist nicht das Ende der Welt.«

Aber für Fleck war es das Ende der Welt und das wusste Kayley auch genau. Flecks Welt hatte aufgehört zu existieren, als sich die Tür seines Käfigs hinter ihm schloss und Albina Fenton auf ihren hohen Absätzen eilig davonstöckelte.

»Bitte, Fleck, tu’s uns zuliebe«, sagte Kayley und strich über seinen müden Kopf.

Doch Fleck sah sie nur aus seinen ungleichen Augen an und gab ein verzweifeltes Winseln von sich.

Die tägliche Arbeit musste trotzdem gemacht werden. Kayley ging hinaus, um den Garten zu sprengen. Otto wurde von einem schmächtigen Männchen abgeholt, der mit dem Bernhardiner seine Freunde beeindrucken wollte. Li-Chee wurde fortgebracht, um auf dem Schoß irgendeiner alten Dame zu hocken, und Fleck rollte sich zu einem Unglückshäufchen zusammen und flüchtete sich in den Schlaf.

»Hat er sich erholt?«, fragte Pippa am Abend, kaum dass Kayley ihren Mantel ausgezogen hatte.

Kayley schüttelte den Kopf, sie war sehr müde.

»Aber das ist albern«, sagte Pippa. »Man kann doch nicht so leiden, wenn man nur drei Tage mit jemandem zusammen war. So was gibt’s einfach nicht.«

»Anscheinend gibt es das doch«, sagte Kayley und ließ sich in einen Sessel fallen.

Normalerweise war sie nicht so und Pippa, die ihre Schwester vergötterte, wurde ärgerlich.

»Ich bin sicher, der Junge hat ihn längst vergessen«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte Kayley. »Das hat er nicht. Andere Jungs vielleicht, aber er nicht.«

Ralph, einer der Zwillinge, sah von seinen Hausaufgaben auf und meinte, es sei wie bei Romeo und Julia. »Sie haben sich nur ganz kurz gesehen, auf einem Balkon oder so, und das hat gereicht.«

»Wie ist es ausgegangen?«, fragte Pippa.

»Schlecht«, sagte Ralph. »Zum Schluss waren alle tot.«

»Idiot!«, rief Pippa. Sie sah, dass Kayley am Ende ihrer Kräfte war. Sie goss ihrer Schwester eine Tasse Tee ein, aber die starrte nur weiter finster vor sich hin.

»Na ja, wenn der Junge ihn nicht vergessen hat, dann nur, weil er ein Schwächling ist. Reiche Leute sind immer schwach. Ich hätte nicht zugelassen, dass mir einer meinen Hund einfach so wegnimmt. Nie im Leben.«

»Was hätte er denn tun sollen«, sagte Kayley. »Er ist doch nur ein Kind.«

»Er könnte Fleck stehlen«, sagte Pippa. »Das würde ich an seiner Stelle tun. Es wäre auch gar kein richtiger Diebstahl. Er würde sich ja nur zurückholen, was ihm gehört.«

Aber Kayley, die an den schmächtigen, wohlerzogenen Henry neben seinem herrischen Vater denken musste, hielt das für sehr unwahrscheinlich.

»Wir müssen am Sonntag früh zur Arbeit«, sagte sie zu Pippa. »Die Carkers werden immer noch weg sein. Ich bin wirklich froh darüber, dass du mir hilfst.«

Aber Pippa beschloss, nicht nur zu helfen, sie wollte auch Nachforschungen anstellen.

»Ich werde Dr. Rutherford bitten, zu kommen und nach Henry zu sehen«, sagte Albina zu ihrem Mann. Er war gerade aus Peking zurückgekommen, wo er ein großes Geschäft erfolgreich abgeschlossen hatte.

»Ist er denn krank?«, fragte Donald erstaunt.

Albina wurde ärgerlich. »Ich hab dir doch gesagt, dass er nichts isst und schon völlig abgemagert ist, außerdem spricht er kaum noch mit mir. Am Montag beginnt wieder die Schule. Wir können ihn da unmöglich hinschicken, er sieht ja aus wie einer aus dem Waisenhaus.«

»Aha, nun ja, es wird Henry sicher nicht schaden, einmal richtig durchgecheckt zu werden«, sagte Donald. »Es geht ein ekelhafter Grippevirus um. Im Flugzeug hab ich neben einem Typen gesessen, der die ganze Zeit geniest hat. Hoffentlich hab ich mir nichts eingefangen.«

Wenn normale Menschen einen Arzt brauchen, dann gehen sie zu ihm in die Praxis und warten, bis sie an der Reihe sind, aber Albina war viel zu reich, um normal zu sein, sie hatte einen privaten Arzt, der zu seinen Patienten nach Hause kam.

Dr. Rutherford war ein älterer Herr mit weißen Haaren und einem freundlichen Gesicht. Nachdem er Henry untersucht hatte, bat er Mrs Fenton, ihn mit Henry allein zu lassen.

»Ich kann nichts finden«, sagte der Arzt. »Doch wenn du weiter nichts isst, wirst du natürlich immer schwächer.«

Henry zuckte mit den Achseln. »Ist egal. Ich hab nichts, wofür ich stark sein müsste.«

Dr. Rutherford wartete. »Gar nichts?«

»Nein, nicht mehr.«

Aber du hast etwas gehabt, für das du stark sein wolltest?«

»Ja«, sagte Henry.

Aber mehr wollte er dem Arzt nicht sagen, nichts von Fleck oder darüber, wie seine Eltern ihn betrogen hatten.

»Nun gut, ich lasse dir ein Stärkungsmittel hier«, sagte Dr. Rutherford lächelnd. »Das tun Ärzte meistens, wenn sie nicht weiterwissen. Ich glaube, das Problem steckt in dir drin, aber wenn du nicht darüber reden magst, will ich dich nicht zwingen.«

Dr. Rutherford ging die Treppe hinunter, wo Albina unten schon auf ihn wartete.

»Und? Haben Sie etwas gefunden?«

Dr. Rutherford zog sich den Mantel an. »Körperlich fehlt ihm nichts. Trotzdem stimmt etwas nicht mit ihm. Der Junge ist zutiefst unglücklich. Vielleicht wissen Sie ja, warum.«

Albina wurde rot. »Nein, das weiß ich nicht. Henry hat wirklich alles, was ein Kind sich nur wünschen kann.« Als der Arzt sie prüfend anschaute, fügte sie kleinlaut hinzu: »Es gab ein wenig Ärger wegen eines Hundes, den wir für ihn ausgeliehen hatten. Er dachte, es wäre für immer, und seit wir den Hund zurückgebracht haben, ist Henry unausstehlich.«

»Das erklärt natürlich einiges«, sagte Dr. Rutherford. Und plötzlich musste er an den weißen Bullterrier denken, den er als Junge gehabt hatte. Er war an den Baumstämmen hochgelaufen, hatte sich mit seinen Zähnen an einem Ast festgebissen und hing daran wie ein Stück Wäsche auf der Leine. Als der Hund schließlich an Altersschwäche gestorben war, hatte er sich auf dem Dachboden verkrochen und eine Woche lang geweint.

»Vielleicht können Sie den Schaden ja wiedergutmachen«, sagte Dr. Rutherford zu Albina. »Gehen Sie noch einmal mit sich ins Gericht.«

Doch als der Arzt gegangen war, ging Albina nicht mit sich ins Gericht, sondern in die Küche, wo sie ihr Mittagessen zur Abwechslung einmal selbst zubereiten musste. Olga hatte doch die Frechheit besessen, genau an dem Tag, als Albina Fleck weggebracht hatte, zu kündigen.

»Sie Schlimmes gemacht«, hatte sie zu Albina gesagt. »Sehr Schlimmes. Ich gehen.«

Und sie war gegangen, und das, obwohl sie keine andere Arbeit in Aussicht gehabt hatte und Albina ihr sogar mehr Geld angeboten hatte, wenn sie blieb.

Glücklicherweise erschienen an diesem Nachmittag ihre drei Freundinnen zum Tee und waren gehörig schockiert über die Unfähigkeit des Doktors, ganz zu schweigen von der Impertinenz des Dienstmädchens.

»Ich hab mir etwas überlegt«, sagte Geraldine. »Hast du nie darüber nachgedacht, Henry in ein Internat zu schicken? Ich weiß, dass er dir fehlen würde, aber ein Ortswechsel hat noch keinem geschadet.«

»Und ich finde, er benimmt sich inzwischen sehr verzogen. Ich meine, er schmollt jetzt schon seit fast einer Woche«, sagte Glenda. »Ich hab versucht, ihm klarzumachen, dass der Hund ihn inzwischen längst vergessen hat, aber er hat mir noch nicht einmal zugehört.«

»Natürlich wird es für dich nicht leicht ohne dein Kind«, meinte Gloria. »Aber du musst bedenken, dass es ja nur zu seinem Besten ist.«

Albina dachte darüber nach, was ihre Freundinnen ihr gesagt hatten. »Ihr habt recht, er braucht Gesellschaft. Ich werde mit Donald darüber reden.«

Donald sagte, es wäre sehr teuer.

»Internate kosten ein Vermögen. Aber ich glaube, es wäre gut, um seinen Charakter zu formen. Dieses Theater, das er da wegen dieses dämlichen Hundes gemacht hat, lässt mich für seine Zukunft das Schlimmste befürchten. Wenn ich jedes Mal bei einem Geschäft meinen Gefühlen freien Lauf lassen würde, wo wäre ich dann heute wohl?«

»Natürlich werde ich ihn vermissen«, sagte Albina. »Sehr sogar. Aber er ist so schrecklich launisch zurzeit. Außerdem werden wir sowieso bald umziehen. Ich hab ein Haus gesehen mit einem Swimmingpool im Keller und einem Billardzimmer. Nicht dass wir Billard spielen würden, aber man weiß ja nie. Das wird mich auf jeden Fall sehr in Anspruch nehmen.«

Donald interessierte sich nicht für Albinas Umzugspläne. Er war schon daran gewöhnt, alle paar Jahre umzuziehen, genauso wie er daran gewöhnt war, sein Auto zu wechseln. Außerdem expandierte seine Firma gerade in Asien. Er würde noch mehr unterwegs sein als sonst und war froh, wenn Henry dann gut untergebracht war.

Jeder Vater, der auf sich hält, will für seine Kinder das Beste.

Загрузка...