11. Kapitel Wo ist Henry?

Albina saß neben dem Telefon. Sie war weiß wie die Wand und stieß immer wieder kleine Klagelaute aus. Neben ihr saß Gloria, um ans Telefon zu gehen, für den Fall, dass Albina zur Toilette musste. Geraldine bediente inzwischen in der Küche die Kaffeemaschine.

Die Fentons warteten auf eine Nachricht des Kidnappers, der Henry entführt hatte. Jeden Augenblick konnte das Telefon klingeln und jemand würde ein aberwitzig hohes Lösegeld fordern, sie würden zahlen und Henry käme frei. Donald hatte bereits Tausende von Pfund bar von der Bank holen lassen. Die Banknoten befanden sich in einer Tasche neben der Eingangstür, bewacht von Glenda, sodass man jederzeit damit losfahren und das Geld an den Ort bringen konnte, den der Kidnapper ihnen nennen würde.

Wenn sie nur bereit waren, genug zu zahlen, musste Henry zu ihnen zurückkommen, das sagten sie sich immer wieder vor. Wenn nur genügend Geld da war, würde alles wieder in Ordnung kommen. Selbst in ihrem Kummer und ihrer Sorge um Henry ließen die Fentons nicht von ihrem Glauben ab, dass Geld die Lösung für alle Probleme war.

Vor drei Stunden hatte Albina Joels Eltern angerufen und darum gebeten, dass sie Henry nach Hause schickten, und zu hören bekommen, dass Henry gar nicht bei ihnen gewesen war.

Albinas Entsetzensschrei hatte Donald herbeigerufen und eine halbe Stunde später war bereits die Polizei eingetroffen.

Die Polizisten hatten das ganze Haus durchsucht, in Henrys Zimmer herumgewühlt, Fotos gemacht und Sachen aus dem Badezimmer mitgenommen, um die DNA festzustellen.

Und sie hatten Fragen gestellt, unangenehme Fragen.

»Ist etwas vorgefallen, worüber sich Ihr Sohn aufgeregt hat?«, wollten die Polizisten wissen. »Irgendetwas, das ihn veranlasst haben könnte, wegzulaufen?«

Trotz ihres Kummers waren die Fentons sehr ärgerlich geworden.

»Natürlich nicht«, hatte Albina erwidert. »Henry hat bei uns alles, das ein Junge sich nur wünschen kann.«

»Sie sagten, dass er auf ein Internat kommen sollte. Vielleicht hatte er ja Angst davor?«

»Nein, auf keinen Fall.« Da waren sich Henrys Eltern sicher. »Er hat erst gestern gesagt, wie sehr er sich darauf freut. Und sehen Sie selbst …« Albina zeigte auf den Stapel Spielsachen in Henrys Zimmer. »Er hat wirklich alles. Warum sollte er weglaufen?«

»Ich sag Ihnen doch, der Junge ist entführt worden!«, rief Donald. »Jeder weiß, dass wir wohlhabend sind. Sie müssen in diese Richtung ermitteln. Wir sind bereit, jede Summe zu zahlen. Nach oben gibt es keine Grenze.«

Doch die Polizei bestand darauf, ihre Routineuntersuchung durchzuführen und alle Leute zu befragen, mit denen Henry zu tun gehabt hatte: Joels Eltern, Henrys Schulkameraden, Nachbarn.

»Gibt es Hausangestellte hier?«, fragte der Kommissar.

»Wir hatten ein Mädchen, eine Ausländerin. Aber die weiß bestimmt nichts. Es sei denn, sie steckt mit den Kidnappern unter einer Decke. Sie war ziemlich unverschämt.«

Ein Polizist notierte sich in aller Ruhe Olgas Adresse. Donald geriet außer sich vor Wut.

»So tun Sie doch was! Sie müssen doch wissen, wie man einen Entführer aufspürt. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Gang. Womöglich schneiden sie Henry noch das Ohr ab.«

Donald drehte sich weg, all die scheußlichen Dinge, die im Fernsehen gezeigt wurden, standen vor seinen Augen.

»Für jeden Hinweis biete ich eine Belohnung von hunderttausend Pfund«, fuhr er fort. »Machen Sie das überall bekannt.«

»Warten Sie damit bitte, Sir. Wir wollen doch nicht, dass hier alle möglichen Leute mit irgendwelchen Ammenmärchen auftauchen. Nicht bevor wir unsere Untersuchung abgeschlossen haben.«

Endlich gingen die Polizisten und ließen Donald wütend und verzweifelt zurück.

»Das ist doch alles sinnlos. Die finden Henry nie. Ich werde einen Privatdetektiv engagieren. Mackenzie hatte einen, als seine Frau ihre Juwelen verlor. Er meinte, der Mann sei sehr professionell gewesen. Kostet zwar ein Vermögen, aber das ist gut so. Ich will den besten und den bekommt man nicht für lau.«

Donald fing sofort an, Privatdetektive ausfindig zu machen, und die arme Albina saß weiter schluchzend am Telefon und wartete auf eine Nachricht der Entführer, während Gloria, Glenda und Geraldine Kaffee kochten und ihr frische Taschentücher brachten. Doch die Stunden verrannen und niemand meldete sich.

Das Erste, das Kayley hörte, als sie die Straße hinunter zu Rent-a-Dog lief, war das Schreien von Queen Tilly.

»Oh Gott, was ist passiert?«, rief Kayley und rannte los.

Sie war immer noch krank und hätte nicht zur Arbeit gehen dürfen. Ihre Mutter hatte versucht, sie zurückzuhalten, ohne Erfolg. Schließlich gab es niemanden sonst, der sich um die Hunde gekümmert hätte.

Der Nebeneingang, der in ihre Kammer führte, war nicht verschlossen, die Alarmanlage ausgeschaltet.

Kayleys Herz schlug schneller. Was machte Queen Tilly in ihrem Käfig, wo sie doch mit den anderen im Freigehege auf der Rückseite des Gebäudes schlafen sollte? Und warum waren die anderen Käfige offen?

Bei Kayleys Anblick jaulte Queen Tilly noch lauter. Ihre Wärmflasche war nun seit Stunden kalt und ihr Rücken juckte. Queen Tilly kratzte sich nie selbst, sie wartete, bis jemand kam und es tat.

Aber heute sagte Kayley, die sonst immer freundlich war, nur: »Sei endlich still, um Himmels willen!« Und lief hinaus ins Freigehege. Was war mit den anderen Hunden aus Raum A passiert? Wo waren Otto und Francine? Li-Chee und Honey? Und wo war Fleck?

Sie brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass die fünf Hunde nicht mehr da waren. Sie durchsuchte jede Ecke und jeden Winkel des ganzen Hauses, piff und rief, aber keine Spur von ihnen.

Eine Stunde später saßen Mr und Mrs Carker in ihrem Büro und schauten sowohl die herbeigerufenen Polizisten wie auch Kayley finster an.

»Das ist eine Tragödie. Ein Verbrechen«, sagte Mr Carker. »Fünf meiner wertvollsten Hunde wurden gestohlen! Wofür zahle ich überhaupt Steuern, wenn die Polizei so etwas nicht verhindert? Können Sie mir das sagen?«

Kayley saß da und zerknüllte ihr Taschentuch. Sie hatte die ganze Zeit geweint und schien am Ende ihrer Kräfte. Der jüngere der Polizisten warf ihr einen Blick zu und schüttelte besorgt den Kopf.

Kayley hatte alle Fragen so wahrheitsgemäß beantwortet, wie sie nur konnte, aber sie hatte nicht alles gesagt. Es war offensichtlich, dass Pippa vergessen hatte, die Alarmanlage einzuschalten und die Diebe deswegen hereinkommen und die Hunde hatten stehlen können. Aber sie wollte Pippa nicht verraten. Ihre Schwester war viel zu jung, um in so etwas hineingezogen zu werden.

»Ich muss es vergessen haben«, sagte sie, als man sie nach der Alarmanlage fragte. »Ich hab mich nicht gut gefühlt.« Die Polizisten sahen, dass das stimmte, das Mädchen hätte gar nicht erst arbeiten dürfen.

Aber Mr Carker beeilte sich zu erzählen, wie wertvoll die Hunde gewesen seien.

»Der Bernhardiner ist in der Schweiz extra für mich gezüchtet worden«, log er. »Er ist mindestens dreitausend Pfund wert. Und der Pudel hat in Paris in sämtlichen Hundeschauen den ersten Preis gemacht, man hat mir ein Vermögen für ihn geboten. Jeder der fünf Hunde ist unbezahlbar. Einer ist sogar eine exklusive Neuzüchtung, ein Tottenham-Terrier. Die Leute haben mir die Bude eingerannt und wollten ihn kaufen, aber ich habe immer abgelehnt.«

Der Polizist, der Mr Carkers Aussage notierte, schaute hoch. »Und was ist mit dem haarlosen kleinen Kläffer? Dem Mexikanischen Nackthund? Er war im gleichen Raum wie die anderen. Ist der nichts wert?«

»Aber ja doch«, sagte Mr Carker. »Das ist der wertvollste von allen Hunden.«

»Ich frage mich, warum die Diebe den dann nicht mitgenommen haben«, sagte der Inspektor. Und der junge Polizist, der mit Queen Tilly bereits unangenehm Bekanntschaft gemacht hatte, grinste und sagte leise: »Kann mir schon denken, warum nicht.«

In den nächsten Stunden fanden die üblichen Untersuchungen statt, Fingerabdrücke wurden genommen, Pfotenspuren markiert, Zeugen befragt …

»Wir halten Sie auf dem Laufenden, Sir«, sagte der ältere Polizist zu Mr Carker. »Und wir könnten die junge Dame hier nach Hause bringen. Es geht ihr offensichtlich nicht gut.«

»Oh, nein, nein«, wehrte Kayley ab. »Ich habe noch viel zu tun.«

Doch als die Polizisten gegangen waren, sagte Mrs Carker zu ihr: »Ich befürchte, du wirst wegen dieser Sache deinen Job verlieren. Wir können niemandem, der so verantwortungslos ist wie du, unsere wertvollen Hunde anvertrauen.«

Kayley traten Tränen in die Augen. Sie konnte sich ein Leben ohne die Hunde nicht vorstellen.

Mr Carker warf seiner Frau einen warnenden Blick zu. Für so wenig Geld würde niemand außer Kayley die Arbeit machen wollen. Und die gestohlenen Hunde waren hoch versichert. Er würde keinen Penny Verlust machen und das war das Einzige, das zählte.

»Du kannst bleiben, bis wir jemanden gefunden haben, der deinen Platz einnimmt«, sagte er zu Kayley.

Also arbeitete sie weiter, obwohl sie krank war, obwohl ihr beim Gedanken an die fünf Hunde fast das Herz brach und obwohl sie sich schreckliche Sorgen um Pippa machte, die in fürchterliche Schwierigkeiten geraten würde, wenn die Wahrheit herauskam. Als dieser grauenvolle Tag sich dem Ende zuneigte, beschloss Donald Fenton, seinen Vater und seine Mutter in Northumberland anzurufen. Schließlich waren sie Henrys Großeltern, sie hatten ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihm geschehen war.

Alec und Marnie lagen schon im Bett, als das Telefon klingelte, aber Alec tappte nach unten, stieg über Meg, die Labradorhündin, und nahm den Hörer ab. Er hasste das Telefon und ein Anruf spätabends bedeutete nie etwas Gutes.

Aber mit so etwas Schrecklichem hatte er nicht gerechnet.

»Henry ist entführt worden?«, wiederholte er und schnappte nach Luft, denn alles um ihn herum fing sich an zu drehen.

Donald berichtete ihm, was geschehen war.

»Die Polizei glaubt, dass er weggelaufen ist, aber das ist natürlich kompletter Unsinn. Ich setze jetzt einen Detektiv auf die Sache an. Er soll sehr gut sein, muss er auch bei dem Preis.«

»Wie geht es Albina?«

»Schlecht natürlich, sie weigert sich, ins Bett zu gehen, sitzt die ganze Zeit am Telefon.«

»Die Ärmste. Bitte sag uns sofort Bescheid, sobald du etwas hörst, ja?«

»Natürlich.«

Donald wollte gerade auflegen, als sein Vater fragte: »Wo war denn der Hund, als Henry verschwunden ist?«

»Welcher Hund?«

»Fleck. Henry hat uns geschrieben, dass er einen Hund hat.«

»Nein, nein. Das mit dem Hund ist längst vorbei. Wir haben den Hund zurückgebracht, er war nur ausgeliehen. Henry hat zuerst einen ziemlichen Aufstand gemacht, aber dann hat er ihn schnell vergessen. Er hat nur noch ans Internat gedacht und sich darauf gefreut.«

Langsam ging Alec die Treppe hoch. Er hatte beschlossen, Marnie nichts zu sagen, aber es war ihm noch nie gelungen, vor seiner Frau etwas zu verbergen.

»Was ist passiert?«, fragte sie. »Sag’s schon, ich weiß, dass es etwas Schlimmes ist.«

Alec erzählte es ihr.

»Donald ist ganz sicher, dass der Junge entführt wurde, aber das glaube ich nicht.«

Sie saßen zusammen im Bett, dicht beieinander, und versuchten zu ertragen, was eigentlich unerträglich war: Henry befand sich in Gefahr!

»Was genau hat Donald gesagt?«, wollte Marnie wissen.

Sie hörte genau zu, als Alec das Gespräch mit seinem Sohn Wort für Wort wiederholte.

»Eins stimmt auf jeden Fall schon mal nicht«, sagte Marnie. »Niemals hätte Henry den kleinen Hund vergessen.«

»Genau das glaube ich auch«, sagte Alec.

Nach einer Weile gaben sie den Versuch, wieder einzuschlafen, auf und gingen hinunter, um sich einen Tee zu kochen. Sie saßen da, während es allmählich heller wurde, und dachten an den Jungen, den sie so selten sahen und doch so lieb hatten. Und die alte Meg lag mit dem Kopf auf Alecs Füßen und wachte ebenfalls.

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