14. Kapitel Das stumme Mädchen

Greystoke House war ein großes steinernes Gebäude am Rand von Todcaster. Von der Straße aus sah es abweisend und düster aus, aber innen waren die Wände in heiteren Farben gestrichen. Es gab ein Zimmer voller Spielsachen und einen Aufenthaltsraum, in dem die größeren Kinder fernsehen konnten.

Die Heimleiterin hieß Mrs Platt. Sie war eine dicke freundliche Frau, die ihr Bestes tat, den Waisen ein Zuhause zu geben. Doch für die Kinder, die hier lebten und darauf warteten, von Pflegeeltern abgeholt zu werden, war es nur »das Heim«. Niemand wollte länger hier bleiben als unbedingt nötig.

An dem Morgen, an dem der Zirkus seine erste Vorstellung geben sollte, war in Greystoke House gerade ein kleines Mädchen aufgewacht, das kein Interesse daran hatte, von Pflegeeltern aufgenommen zu werden. Es schien auch sonst an nichts Interesse zu haben. Das Mädchen war sehr hübsch mit seinen großen dunklen Augen, der goldfarbenen Haut und dem lackschwarzen Haar, aber es lebte in einer für andere unzugänglichen Welt.

Nini stammte aus Indonesien, von einer Insel voller üppiger Wälder, kristallklarer Flüsse und mit Bergen, die wie große grüne Kegel aussahen. Neben diesen Naturschönheiten gab es dort jedoch auch plötzliche Erdbeben und schreckliche Schlammlawinen. Bei einer dieser Katastrophen war Ninis Familie ums Leben gekommen und man hatte Nini in ein Waisenhaus gebracht, das von Nonnen geführt wurde.

Das Waisenhaus lag in der Nähe eines Klosters, in dem die Mönche friedlich sangen und beteten, während ihre Wachhunde auf den steinernen Stufen saßen, um die bösen Geister fernzuhalten.

Eines Tages waren ein reicher Geschäftsmann und seine Frau auf die Insel gekommen, um dort Ferien zu machen. Sie hatten das kleine Mädchen gesehen, das ruhig unter einem Jacaranda-Baum spielte, und beschlossen, es zu adoptieren und mit nach England zu nehmen.

Die erste Zeit hatte es ihnen Spaß gemacht, ihre hübsche Tochter nett anzuziehen und mit ihr vor ihren Freunden anzugeben. Doch dann stellten sie fest, dass das kleine Mädchen nicht so schnell Englisch lernte, wie sie gehofft hatten. Ja, Nini sprach nicht nur nicht Englisch, sie sprach überhaupt nicht.

Sie schleppten sie von einem Arzt zum anderen und bekamen viele Diagnosen für das, was mit Nini nicht stimmte, aber keiner wusste, was zu tun war. Nini war nicht taub, auch ihre Augen waren in Ordnung, aber sie war eingeschlossen in ihrer eigenen Welt.

Als sie wieder einmal einen ganzen Tag lang in einem Krankenhaus verbracht hatte, um irgendwelche Tests zu machen, bekam sie einen fürchterlichen Wutanfall.

»Das ist typisch für die Asiaten«, hatte ein Freund gemeint. »Man nennt es Amoklauf.«

Das war zu viel für das Ehepaar, das doch eigentlich nur eine hübsche, plappernde Puppe hatte haben wollen. Sie brachten Nini zum Jugendamt und sagten, sie könnten sie unmöglich behalten. Seither befand sie sich in Greystoke House. Sie benahm sich nicht schlecht, sie war auch nicht schwierig, sie war praktisch nicht da.

Nun stieg sie aus dem Bett und lief leichtfüßig wie eine Elfe den Korridor entlang und in den Schlafsaal der älteren Jungen. Dem Jungen, dessen Bett direkt neben der Tür war, zog sie die Decke weg.

Mick erwachte, und als er Nini sah, setzte er sich auf.

»Der Zirkus ist da, Nini. Heute gehen wir in den Zirkus«, wiederholte er noch einmal.

Mick war ein kräftiger Bursche mit roten Haaren, Sommersprossen und einem fröhlichen, offenen Gesicht. Sein Großvater war Bergmann gewesen, bis man die Mine geschlossen hatte. Aus unerfindlichen Gründen war Mick Ninis Beschützer geworden und der Einzige, den sie überhaupt zur Kenntnis nahm.

»Es wird bestimmt ganz toll«, fuhr er fort. »Da gibt’s Pferde und Akrobaten und Clowns.«

Aber Nini antwortete nicht, sie schaute ihn nur an. Er hätte ihr genauso gut erzählen können, dass sie alle am Nachmittag zum Zahnarzt müssten.

Mick seufzte und griff nach seinen Kleidern.

Greystoke House war nicht weit von dem Platz entfernt, an dem der Zirkus sein Zelt aufgeschlagen hatte.

Angeführt von der rundlichen Mrs Platt und einer Aushilfe namens Doreen, machten sich die Kinder auf den Weg. Sie waren so aufgeregt und voller Vorfreude, dass sie den ganzen Weg über hüpften und sprangen. Nur Nini, die Micks Hand umklammert hielt, lief schweigend und ruhig neben ihm her.

Im Zirkus bereiteten sich alle auf die Vorstellung vor. Auf einer Bühne vor dem Zelt jonglierte ein kleiner Mann mit Schnurrbart mit vielen bunten Bälle. Ein anderer Mann in glitzernden Strumpfhosen schlug auf eine große Trommel.

»Kommen Sie, meine Herrschaften! Kommen und erleben Sie Charlys Zirkus, das achte Weltwunder!«, rief er.

Die Kinder aus Greystoke House waren früh dran. Sie setzten sich in die erste Reihe. Mick setzte sich neben einen Jungen in seinem Alter, der einen weißen Hund auf dem Schoß hatte. Neben ihm saß Nini, ihre Beine reichten nicht auf den Boden.

»Gleich geht’s los«, sagte Mick zu ihr.

Aber in dem maskenhaft schönen Gesicht rührte sich nichts.

Henry, der Fleck auf dem Schoß hielt, war vor Aufregung ganz schlecht. In einer halben Stunde sollte die Hundenummer beginnen, und wenn die schiefging, würde man sie aus dem Zirkus werfen. Trotzdem lächelte er dem Jungen zu, der gerade mit einer Kindergruppe hereingekommen war und sich neben ihn gesetzt hatte. Er hatte rotblondes Haar und sah sympathisch aus.

Langsam gingen die Lichter aus, die Kapelle fing an zu spielen. Mr Charly, der Zirkusdirektor, ließ seine Peitsche knallen.

Die Pferde trabten in die Manege, es folgten die Clowns, die Akrobaten, Pauline mit ihren Papageien. Beifall brandete auf und die Vorstellung begann.

Zuerst kamen die Texas Cowboys hereingaloppiert. Die drei Männer sprangen von einem glänzenden Pferderücken zum anderen. Dann traten die Fantastischen Danielas auf, eine Gruppe von Mädchen, die einander auf die Schultern stiegen, bis sie eine hohe Pyramide bildeten. Es erschien das Lustige Pony, das seinem Herrn durch die Manege folgte, wobei es versuchte, ihm Zuckerstücke aus der Hosentasche zu stibitzen … und bei einem atemberaubenden Hochseilakt taten die Artisten so, als würden sie sich gegenseitig vom Seil schubsen.

Henry hielt den Atem an. Gleich war es so weit. Fleck jaulte kurz auf und Henry machte »Pscht!«.

»Und nun, meine Damen und Herren, freuen Sie sich auf Elsas weltberühmte Hundenummer!«, verkündete der Zirkusdirektor.

Die Clowns schoben eine mit Wasser gefüllte Badewanne herein und schleppten Eimer und eine Leiter herbei, um die Hochzeit vorzubereiten. Aber natürlich ging alles schief. Von dem Tisch, den sie schrubbten, brachen die Beine ab, die Ballons, die sie aufbliesen, platzten oder flogen davon und einer der Clowns plumpste rücklings in die Badewanne.

In der Nähe des Eingangs war ein Zelt aufgestellt worden, auf dem stand »Kirche«, davor wartete Rupert mit Schlips und seidenem Frack auf die Braut. Clowns auf Stelzen kamen herein, sie trugen Tabletts mit Wackelpudding und bunte Luftschlangen, in denen sie sich verhedderten, sie schlugen wie wild um sich und taten so, als würden sie in Tränen ausbrechen.

Und nun, begleitet von einem Fanfarenstoß, erschien der von Otto gezogene Wagen. Auf den Sitzen saßen Li-Chee mit Babymützchen und Honey mit Rüschenhaube. Francine aber stand auf ihren Hinterbeinen. Mit ihrem weißen Brautkranz und dem begeisterten Bellen gab sie perfekt die erwartungsvolle Braut ab.

Doch nun geschah etwas, womit die Kinder nicht gerechnet hatte, das Publikum fing an zu klatschen. Immer lauter wurde es in seiner Begeisterung, und Otto fing an zu zittern. In der Schweiz hatte er sich allen möglichen Gefahren gegenübergesehen, er war steile Felsen hochgeklettert und in gefährliche Gletscherspalten gestiegen, um eingeklemmte Bergsteiger zu retten, aber dieser Lärm war einfach nur unerträglich. Der Bernhardiner rollte mit den Augen und blieb auf der Stelle stehen.

Li-Chee sprang mit schief sitzendem Mützchen von seinem Sitz und verschwand zwischen Ottos Beinen. Er wollte seinen Freund nur beruhigen, aber es sah so aus, als wollte er nun den Karren ziehen, und alles lachte. Nun nicht mehr über die Clowns, sondern über den ritterlichen kleinen Hund.

In diesem Augenblick drehte sich Mick erstaunt zu dem Mädchen neben ihm um. Nini lehnte sich gespannt nach vorn, ihr ganzes Gesicht leuchtete, die Augen hatte sie auf den Pekinesen gerichtet.

In der Manege wusste keiner, was er nun tun sollte. Otto stand mit gesenktem Kopf stocksteif da, keine zehn Pferde würden ihn dazu bringen, den Wagen bis zur Kirche ziehen.

Doch nun übernahm die bühnenerfahrene Francine, sie sprang von dem Karren, aber anstatt zu ihrem Bräutigam lief sie in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte kurzerhand das Drehbuch geändert und spielte nun die Braut, die sich nicht traut. Rupert begriff sofort und begann, Francine zu jagen, natürlich wollte er sich seine Braut nicht einfach durch die Lappen gehen lassen.

Er hatte die Hündin fast erreicht, da kletterte sie eine Leiter hoch und sprang von oben in die Arme eines Clowns. Rupert folgte ihr. Nun hatten auch die Clowns verstanden, worum es ging, und taten so, als wollten sie Francine einfangen. Sie griffen nach ihr, ließen sie wieder los und schlugen sich verzweifelt an die Stirn. Runde für Runde drehte die fliehende Braut in der Manege, sauste den Clowns zwischen den Beinen hindurch, sprang über Tische, versteckte sich hinter der Badewanne und jaulte dabei in gespielter Angst. Runde für Runde folgte ihr Rupert, der sitzen gelassene Bräutigam, und machte ihr jedes Kunststück nach.

Die Nummer wurde immer wilder und wilder. Die Clowns traten in die Eimer, fielen auf die Luftballons und brachten sie zum Platzen … Das war zu viel für Li-Chee, er ließ Otto stehen und mischte sich mit lautem Kläffen in das Geschehen.

Auch Fleck hielt es auf Henrys Schoß nicht länger aus. Seine Freunde waren da unten und hatten jede Menge Spaß, da musste er dabei sein. Er nahm all seinen Mut zusammen und sprang von Henrys Knien, setzte über den Rand der Manege – und landete in der Badewanne. Zuerst paddelte er ein wenig im Wasser, dann krabbelte er aus der Wanne, schüttelte sich und rannte mit den anderen herum.

Doch nun war die Reihe an Honey. Schließlich war sie die Brautmutter und konnte das Kuddelmuddel nicht länger mitansehen. Sie sprang vom Wagen und fing an, immer noch die Rüschenhaube auf dem Kopf, die Clowns, die Hunde, die Luftballons, alles, was sie sah, in Richtung Ausgang zu treiben.

Alle liefen rundherum im Kreis, Rupert vorneweg, dann Li-Chee, es folgten Fleck und Otto mit dem Wagen. Und rundherum liefen auch die Clowns.

Die Musik schwoll an, Tiere und Clowns verschwanden durch den Vorhang, die Lichter gingen aus.

Und das Publikum tobte, stampfte mit den Füßen und jubelte, während sich hinter der Bühne Mr Charly und George grinsend die Hände rieben.

Hunde als Artisten sind gut, aber Hunde als Clowns sind Gold wert.

»Wir haben’s geschafft«, sagte Pippa triumphierend. »Ich bin sicher, wir können bis Berwick mitfahren, und dann ist es nicht mehr weit bis zu deinen Großeltern. Und selbst wenn die Hunde in der nächsten Vorstellung was ganz anderes machen, Mr Charly wird uns schon nicht wegschicken.«

Sie hatten die Hunde zurück zum Lkw gebracht und halfen nun in dem Zelt aus, in dem die anderen Tiere untergebracht waren. Für etwas Geld durfte das Publikum sie sich nach der Vorführung anschauen.

»Entschuldigung«, sagte eine Stimme. Henry drehte sich um und da stand der rothaarige Junge, der im Zirkus neben ihm gesessen hatte. An der Hand hielt er das kleine Mädchen mit dem lackschwarzen Haar.

»Ich wollte nur wissen, ob wir den kleinen Hund sehen können, der versucht hat, den Wagen zu ziehen. Den Pekinesen. Sie ist total verrückt nach ihm.«

Nini schaute hoch. »Kleiner Hund«, sagte sie.

»Ich glaube, sie kennt diese Hunde aus ihrer Heimat. Es sind Tempelhunde, die die Mönche beschützen und böse Geister fernhalten. Es ist wirklich komisch, Nini hat noch nie auf irgendwas reagiert bis heute. Die Heimleiterin hat uns erlaubt, den Hund anzuschauen. Sie ist mit den anderen bei den Pferden.«

»Kleiner Hund«, wiederholte Nini, die bisher noch kein Wort gesprochen hatte.

»Er ist im Lkw, zusammen mit den anderen. Direkt da drüben«, sagte Henry. »Kommt mit, wir zeigen ihn euch.«

Sie wurden von einem mehrstimmigen freundlichen Bellen begrüßt. Mick hob Nini auf einen der Strohballen, sie verschwand fast zwischen den Hunden. Sie erwarteten, dass das kleine Mädchen nun Li-Chee auf den Schoß nehmen und streicheln würde, aber das geschah nicht. Nein, als sie noch einmal hinschauten, sahen sie, dass Nini im Schneidersitz vor ihm saß und leise in ihrer Sprache mit ihm redete, während Li-Chee ganz still war und sie respektvoll anschaute. Es schien, als verstünde er jedes Wort.

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, was das bedeutet«, sagte Mick und erzählte in wenigen Worten Ninis Geschichte.

Die Kinder hatten inzwischen den Lkw verlassen und standen etwas abseits, um Nini nicht zu stören. Sie unterhielten sich leise, als auf der anderen Seite des Lkws zwei Stallburschen vorbeikamen.

»Guck mal hier«, sagte der eine. »Auf Seite zwei.«

Man hörte das Umblättern einer Zeitung. »Ich fress ’n Besen, wenn das nich das Foto von dem Jungen mit dem weißen Hund is. Der bei Myra und Bill wohnt. Findste nich auch?«

Den Kindern gefror das Blut in den Adern, als sie das hörten.

Der zweite Stallbursche pfiff durch die Zähne. »›Zwanzigtausend Pfund Belohnung für Informationen‹ steht da, das kann nich derselbe Junge sein.«

»Vielleicht nich. Aber er sieht ihm verdammt ähnlich und ’nen Versuch is es wert. Da steht die Telefonnummer.«

Die beiden Männer gingen weiter, und was sie sagten, war nicht mehr zu verstehen. Mick schaute Pippa und Henry an, denen die Angst im Gesicht stand.

»Ich will nicht neugierig sein, aber kann ich euch irgendwie helfen?«, fragte er. »Ich meine, wenn ihr auf der Flucht seid oder so?« Und als Pippa und Henry Blicke wechselten, sagte er schnell. »Ihr müsst mir nichts erklären, ich helfe euch auch so. Das macht keinen Unterschied.«

Henry zögerte nur einen Moment. Der rothaarige Junge konnte die 20 000 Pfund bestimmt genauso gut gebrauchen wie die beiden Stallburschen. Aber er fühlte, dass er Mick vertrauen konnte, dass der Junge aufrichtig, ehrlich und tapfer war. Er sagte: »Ja, vielleicht könntest du uns helfen. Wir müssen sofort von hier verschwinden, aber wir wissen noch nicht einmal genau, wo wir überhaupt sind. Wir müssten uns die Nacht über verstecken und, wenn es hell wird, weiterziehen.«

Pippa hörte Henry stirnrunzelnd zu. Normalerweise traf sie die Entscheidungen, außerdem wussten sie praktisch nichts über den Jungen.

»Ihr könnt die Nacht über bei uns im Heim bleiben«, sagte Mick. »Im Keller gibt es einen Heizungsraum. Da kommt nie jemand hin. Ich weiß, wo der Schlüssel ist. Ich schnapp ihn mir und dann besorg ich euch was zu essen und ein paar Decken. Nachts ist nur Mrs Platt da und die schläft wie ein Bär.«

»Willst du das wirklich tun?«, fragte Henry. »Es könnte klappen. Aber wie kommen wir zu euch? Seid ihr mit dem Bus gefahren?«

Mick schüttelte den Kopf.

»Wir sind gelaufen, es sind nur zwanzig Minuten. Ich zeichne euch den Weg auf.«

»Und was ist mit den anderen Kindern?«, fragte Pippa. »Können wir sicher sein, dass sie uns nicht verraten?«

»Ja«, sagte Mick. »Das könnt ihr.«

Sie hinterließen eine Nachricht für George. Es fiel ihnen schwer, jemanden anzulügen, der ihnen so geholfen hatte, aber sie hatten keine Wahl. Sie schrieben, dass Tante Elsa ihnen mitgeteilt hätte, dass sie nicht kommen könnte, da ihr Schwager im Krankenhaus läge, und sie nun den Nachtbus zurück nach London nehmen würden. Glücklicherweise waren Bill und Myra ins Kino gegangen, sodass die Kinder ihnen schriftlich Auf Wiedersehen sagen und sich für alles bedanken konnten.

Dann packten sie schnell ihre Siebensachen zusammen und holten die Hunde.

Zuerst ging alles gut. Den Hunden gefiel der nächtliche Spaziergang. Sie merkten wohl, dass Pippa ihren Rucksack umschnallte und Henry seine Reisetasche mitnahm, außerdem trugen beide ihre Anoraks. Für Fleck, Otto, Li-Chee und Honey hieß das, dass sie auf dem Weg zu einem neuen Abenteuer waren, und sie freuten sich darauf.

Francine aber nicht. Francine wusste, dass das bedeutete, sie würden den Zirkus verlassen. Und mit dem Zirkus – Rupert.

Sie blieb, wo sie war, und rührte sich nicht. Sie warf ihren Kopf zurück und heulte. Es war ein Heulen der Verzweiflung und der Einsamkeit, die Kinder hatten solche schrecklichen Laute noch nie gehört.

Von Georges Wohnwagen, in dem Rupert schlief, kam Antwort. Und dann kam Rupert selbst.

Was nun folgte, war kaum zu ertragen. Die beiden Pudel standen nebeneinander in der Dämmerung. Ihre Körper waren so dicht beieinander, dass sie zu verschmelzen schienen. Sie bellten nicht, sie jaulten nicht, sie zitterten nur, als ob ein großer Kummer sie schüttelte.

Henry und Pippa schauten sich fragend an. Durften sie Francine zwingen, mit ihnen zu kommen? Sie liebte das Zirkusleben und sie liebte Rupert.

Aber andererseits konnten sie auch nicht ohne Francine gehen. Diese Flucht hatte sie alle zusammengeschweißt und sie mussten sie gemeinsam durchstehen.

Die beiden Pudel standen still wie zwei Statuen. Außer ihnen beiden existierte nichts und niemand für sie. Otto machte ein paar Schritte auf sie zu und hielt inne. Francine und er waren seit Langem Freunde, aber jetzt musste sie selbst entscheiden.

»Komm, Henry«, sagte Pippa, die es nicht länger ertrug. »Wir müssen hier weg. Lass sie, sie hat ein Recht hierzubleiben.«

Die Kinder drehten sich um und gingen langsam über das von vielen Füßen zertrampelte Gras. Sie hatten gerade den Eingang des Zirkusgeländes erreicht, als Francine einen letzten, zu Herzen gehenden Heuler ausstieß. Dann riss sie sich von Rupert los und lief hinter ihnen her.

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