18. Kapitel Der Müllgangster

Eigentlich war Kevin Dawks ein netter Mensch. Immer bereit, anderen zu helfen. Er half dem Manager des Supermarktes, der nicht wusste, wohin mit dem verrotteten Gemüse und den alten Plastiktüten, er half dem Besitzer der Kneipe, der seinen kaputten Fernseher loswerden wollte und ein Fahrrad, das sein Sohn zu Schrott gefahren hatte. Und er half dem Automechaniker, der nicht wusste, wohin mit den Kanistern voll Altöl und anderen giftigen Flüssigkeiten.

Kevin half all diesen Leuten, indem er den Müll auf seinen Kipplaster lud und irgendwo verschwinden ließ. Er brachte ihn zu abgelegenen ländlichen Plätzen, kippte ihn zum Beispiel in einen Wald voller Glockenblumen oder in einen Fluss oder auf ein frisch bestelltes Feld. Ihm war egal, wo, Hauptsache, es gab keine Zeugen.

Natürlich verlangte er Geld für diese Dienste. Illegal Müll abzuladen ist verboten und ziemlich gefährlich. Kevin musste ständig auf der Hut vor der Polizei sein. Und da er bei Weitem nicht das verdiente, was seine Arbeit wert war, hatte er auch noch ein paar andere Jobs. Er hortete Diebesgut wie Zigaretten oder Schmuck oder Werkzeug, das erst einmal aus dem Verkehr gezogen werden musste, bevor man es weiterverkaufen konnte. Er besaß einen Schuppen am Rande des Moors, der ihm als Versteck diente.

Nachdem die Kinder den Schäfer verlassen hatten, waren sie stramm marschiert und am frühen Nachmittag erreichten sie einen von Birken gesäumten Weg, der an einem fröhlich plätschernden Flüsschen entlangführte.

»Mein Großvater sagt, dass man aus all den Flüssen und Bächen hier oben trinken kann«, erzählte Henry. »Das Wasser kommt aus den Bergen und ist das sauberste von ganz England. Geh ruhig schon mal vor, ich fülle nur meine Wasserflasche.«

»In Ordnung«, sagte Pippa, »aber bleib nicht zu lange.«

Sie ging mit den anderen Hunden weiter, während Henry und Fleck das steile Ufer hinunterkletterten. Es war wunderschön hier. Dunkelgrüne Farnkrautwedel entrollten sich, zwischen den Birken wuchsen blaue Glockenblumen … diese verwunschen Flusstäler hatten einen eigenen Zauber.

Fleck war vorausgelaufen, doch nun kam er zu Henry zurück und hielt ihm seine Pfote entgegen.

»Was ist denn, Fleck?«

Fleck winselte und Henry sah zwischen seinen Krallen ein Stück rostigen Draht. Er zog es vorsichtig heraus und jetzt bemerkte er auch den Geruch.

Ein Geruch, der zu diesem lieblichen Ort überhaupt nicht passte. Ein Übelkeit erregender Gestank nach Fäulnis und Verfall.

Dann erblickte Henry einen Berg von Müll, der sich den Abhang hinunter in den Fluss ergoss. Eine zerschlissene Matratze, Kanister, aus denen Öl ins Gras lief, und jede Menge vergammelter Lebensmittel. Aus einem umgekippten Sofa staken die Sprungfedern heraus. Und über allem hing dieser unerträgliche Geruch …

Henry wusste nicht, wie er wieder zurück auf den Weg gekommen war. Er stand unter Schock. Wer konnte das getan haben, wer konnte diese Idylle in eine Müllkippe verwandelt haben? Er hielt immer noch die Luft an, während er sich bückte, um seinen Schnürsenkel zuzubinden. In diesem Moment fuhr ein Laster an ihm vorbei, bremste ab und rollte rückwärts auf ihn zu.

Kevin hatte seine Ladung in den Fluss gekippt und in seinem Wagen ein Nickerchen gemacht, wie man es tut, wenn man seine Arbeit ordentlich erledigt hat. Er wollte gerade wieder zu seinem Versteck im Moor fahren, als er am Wegesrand einen Jungen sitzen sah. Der Junge war blond und trug einen blauen Anorak – und irgendwie kam er ihm bekannt vor.

In Kevins Nacken stellten sich die Haare auf, das taten sie immer, wenn er ein gutes Geschäft witterte. Er bremste und griff nach der Zeitung. Ja, es war genau, wie er es sich gedacht hatte. Er hatte die Anzeige beim Frühstück gesehen und nun schaute er sie sich genauer an. Das war er! Das war der Junge, für den es 20 000 Belohnung gab! Er schaute noch einmal hin, doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Kevin konnte sein Glück kaum fassen, er lehnte sich aus dem Fenster und rief, so freundlich er konnte: »Soll ich dich ein Stückchen mitnehmen?«

Henry schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich bin mit meiner Freundin unterwegs. Ich muss sie nur einholen.«

Kevin grinste. Es war klar, dass der Junge log. In der Zeitung hatte nichts von einer Freundin gestanden, aber er würde so tun, als ob er es glaubte.

»Kein Problem, ich fahre in dieselbe Richtung. Ich gabele sie auf und bring euch beide ins nächste Dorf. Es ist nicht weit. Ach übrigens, ich bin Kevin.«

Henry zögerte, aber nur kurz. Er hatte schon zu viel Zeit verloren. Mick hatte er auch vertraut und war nicht enttäuscht worden. Die Menschen hier oben im Norden waren einfach nett und freundlich.

»In Ordnung, vielen Dank«, sagte er und kletterte in die Fahrerkabine. Dann hob er Fleck hoch, aber der Hund benahm sich eigenartig. Als Kevin den Motor startete, fing er an zu knurren und zeigte seine Zähne.

»Still, Fleck!«, sagte Henry.

Doch der sonst so gehorsame Fleck reagierte nicht. Henry versuchte ihn zu beruhigen und bemerkte nicht gleich, dass der Lkw scharf nach links in einen holprigen Pfad eingebogen war.

»Halt«, sagte er. »Das ist der falsche Weg. Wir müssen geradeaus fahren.« Und als Kevin nicht reagierte, sagte er lauter: »Wo fahren Sie hin?«

»Das merkst du noch früh genug«, sagte Kevin. Seine Stimme klang nun ganz anders als vorher, barsch und unfreundlich.

Fleck war nun nicht mehr zu beruhigen. Er sprang von Henrys Schoß und versuchte, auf das Lenkrad zu klettern. Und die ganze Zeit über bellte er aus Leibeskräften.

»Halt, die Klappe, blöder Köter«, sagte Kevin. Er packte den Hund am Genick und warf ihn aus dem Fenster.

Henry schrie laut auf und versuchte, die Tür aufzumachen, doch Kevin streckte einen Arm aus und hielt ihn fest. Er würde sich die 20 000 Pfund nicht durch die Lappen gehen lassen.

Während Fleck ängstlich jaulend auf dem Weg zurückblieb, fuhr der Laster bergauf zu einem Schuppen aus Stein mit einem Wellblechdach. Kevin zerrte den zappelnden Jungen aus dem Wagen und schubste ihn durch die Tür.

»Fleck!«, schrie Henry.

Dann schlug die Tür zu, der Riegel wurde vorgeschoben und er war gefangen.

Kevin grinste zufrieden. Nun musste er nur noch die Nummer aus der Anzeige anrufen und dann war er um 20 000 Pfund reicher!

Der verfluchte Köter jaulte und winselte immer noch und versuchte zu Henry in die Hütte zu gelangen, immer wieder sprang er an der Tür hoch. Blöde Töle! Kevin hob einen Stein auf und schleuderte ihn auf den Hund. Er traf ihn an der Seite. Dann zog Kevin sein Handy heraus und ging weiter den Hügel hoch, um ein Netz zu bekommen.

Fleck war außer sich. Der Stein hatte ihn schmerzhaft an der Schulter getroffen. Von drinnen konnte er Henrys Stimme hören, wie sie panisch seinen Namen rief.

Ein paar Minuten rannte Fleck weiter nutzlos um die Hütte herum und versuchte einen Weg hinein zu finden. Doch plötzlich hörte er damit auf und sauste schnell wie der Wind den Hügel runter und zurück auf die Straße.

Pippa wurde langsam ärgerlich. Was trieb Henry denn bloß so lange? Er brauchte ja eine Ewigkeit, um seine Wasserflasche zu füllen.

Die Hunde hatten brav dagesessen und mit ihr gewartet, doch nun standen sie auf und starrten mit vor Erregung zuckenden Nasen auf die Straße.

Ein weißer Pfeil schoss auf sie zu, der sich beim Näherkommen in Fleck verwandelte.

Der kleine Hund hechelte vor Anstrengung, aber er wollte sich nicht ausruhen. Er sprang an ihnen hoch, drückte ihnen die Schnauze in die Seite und bellte aufgeregt.

»Wo ist Henry?«, fragte Pippa. Ihr Herz fing ängstlich an zu klopfen. »Wo ist er, Fleck?«

Fleck rannte abwechselnd von ihr zu den anderen Hunden. Dann lief er auf die Straße zurück und drehte sich immer wieder nach ihnen um. Zuerst wussten die Hunde nicht, was Fleck von ihnen wollte, doch dann begriffen sie und auf einen Schlag verwandelten sich die sonst so freundlichen Haushunde in eine blutrünstige Meute.

Sogar Li-Chee, der im Gefolge der anderen über das Heidekraut jagte, spürte das Wolfsblut in seinen Adern pulsieren. Denn Wölfe waren sie in grauen Vorzeiten gewesen und zu Wölfen waren sie wieder geworden. Kevin hatte den Anruf erledigt und war sehr zufrieden mit sich. Der Junge hämmerte immer noch gegen die Tür der Hütte, aber das würde er schon leid werden. Kevin musste jetzt nur noch warten, bis er ihn übergeben konnte. Er streckte sich im Gras aus und dachte an all das, was er sich von der Belohnung kaufen wollte: einen neuen Lkw, die Anzahlung auf einen kleinen Bungalow, eine Reise nach Las Vegas, und döste ein.

Er wachte auf vom Druck zweier riesiger Pfoten auf seiner Brust. Aus einem gewaltigen Maul mit grauenerregenden Zähnen tropfte Speichel in sein Gesicht.

Dann wurde erst an seinem rechten, dann an seinem linken Bein gezerrt. Seine Hose zerriss, als sich Francine und Honey darin verbissen.

»Aufhören!«, schrie Kevin in Todesangst. »Loslassen! Sofort!«

Doch nun tauchte auch Li-Chee auf, sprang auf Kevins Bauch, verschwand unter Ottos Brustkorb und schlug seine kleinen nadelspitzen Zähne in Kevins Nase.

Das war zu viel. Kevin rappelte sich mühsam auf und taumelte in einer Woge wahnsinnig gewordener Hunde zu seinem Wagen. Er schaffte es, den Pekinesen abzuschütteln, und griff mit blutender Nase nach dem Türgriff.

Doch nun war Fleck an der Reihe. Bevor Kevin die Tür öffnen konnte, rannte der Tottenham Terrier auf ihn zu, sprang an ihm hoch und biss ihn wütend in den Hintern.

Kevin stolperte, fiel aufs Trittblech und wurde ohnmächtig.

So fand ihn Pippa und danach ging dann alles ganz schnell. Henrys Schläge von innen gegen die Tür der Hütte wurden lauter, Pippa sah das Vorhängeschloss. Sie durchsuchte die Hosentaschen des bewusstlosen Mannes und fand den Schlüssel. Binnen Kurzem war Henry frei und versuchte Fleck zu beruhigen, der außer sich vor Freude war, während Pippa die Tür wieder abschloss und den Schlüssel wieder zurücksteckte.

»Wir müssen übers Moor gehen«, sagte sie, nachdem Henry ihr berichtet hatte, was geschehen war. »Wir können es nicht riskieren, auf der Straße zu laufen. Solange die Sonne scheint, können wir uns orientieren. Die Küste ist östlich von uns.«

Henry und Pippa stiegen den Hügel hinauf, die Hunde umkreisten sie immer noch aufgeregt. Es war nicht leicht, auf dem unebenen Grund zu laufen, aber sie wollten keine Pause machen, solange sie nicht sicher waren, ob Kevin sie verfolgte. Doch nach ein paar Stunden waren die Kinder am Ende ihrer Kräfte.

»Ich muss erst mal Luft holen«, sagte Pippa, als sie zu einem kleinen Fleckchen Gras kamen, das von Wacholderbüschen umstanden war.

Sie ließ sich fallen und Henry setzte sich neben sie.

»Hier, Fleck«, sagte er und griff in seine Tasche. »Du kannst dein Tuch haben, du hast es dir verdient.«

Fleck schnappte nach dem Tuch und wedelte dankbar mit dem Schwanz. Doch dann hörten die Hunde irgendein Geräusch aus dem Gestrüpp und sausten los.

»War das ein Hase?«, fragte Henry.

Pippa zuckte mit den Schultern. »Ich hab’s nicht gesehen. Aber unsere fünf müssen ziemlich hungrig sein. Vielleicht finden sie ja etwas, das sie fressen können. Sie sind bestimmt gleich wieder da.«

Pippa hatte recht. Die Hunde kehrten unverrichteter Dinge zurück, was immer sie aufgestöbert hatten, es war wohl schneller als sie gewesen.

Als Henry Fleck über den Kopf strich, sah er, dass der sein Tuch verloren hatte.

»Wo ist es?«, fragte er. »Wo ist dein Tuch?«

Fleck sah auf den Boden, dann hoch zu Henry, rannte suchend ein Stück und kehrte zurück, während Henry ihn besorgt ansah. Was das nur wieder für einen Aufstand geben würde, bisher hatte Fleck das Tuch wie seinen Augapfel gehütet.

Doch nach kurzer Zeit setzte sich Fleck hin und leckte ausgiebig seine Pfoten sauber. Es war nicht mehr wichtig, wo sein Tuch war. Als er Kevin in den Hintern gebissen hatte, hatte er Blut geschmeckt, und ein Hund, der das getan hat, braucht keine Schmusetücher mehr.

Загрузка...