9. Kapitel Die Hundebefreiung

Jeden Monat ließ Mr Carker einen Werbeprospekt von Rent-a-Dog drucken, der den Tageszeitungen beilag. Die Werbung war sehr aufwendig und zeigte Fotos von besonders schönen oder seltenen Hunden, die ausgeliehen werden konnten. Im neuesten Prospekt wurde auch der Tottenham-Terrier erwähnt, eine neue Züchtung, von der es in England nur sehr wenige Exemplare gab. Rent-a-Dog wäre die einzige Agentur, bei der man diesen Hund bekäme.

Dieser Prospekt fiel einer gewissen Miss Gertie Gorland in die Hände, einer großen dünnen Frau, die mit ihrem Bruder Harold zusammenlebte, der ebenfalls groß und dünn war.

Den Gorlands gehörte ein Hotel am Meer, das schlecht lief, außerdem eine Wäscherei, die schlecht lief, und ein Lebensmittelladen, der nicht nur schlecht lief, sondern gerade pleitegegangen war. Als sie nun die Werbung von Rent-a-Dog sahen, hatten sie die Geschäftsidee.

»Wir könnten doch Tottenham-Terrier züchten«, sagte Gertie. »Wenn sie so selten sind, zahlen die Leute bestimmt ein Vermögen für die Welpen.«

Also gingen sie zu Rent-a-Dog, um sich den Tottenham-Terrier für ein paar Stunden auszuleihen. Sie wollten sichergehen, dass diese neue Züchtung nicht bösartig oder aggressiv Fremden gegenüber wäre.

Doch als sie vor Flecks Käfig standen, hatten sie keinerlei Bedenken mehr. Er lag zusammengerollt in seinem Käfig und schaute kaum zu ihnen hoch. Kayley legte ihm Halsband und Leine um und er folgte Gertie und Harold brav auf die Straße hinaus. Um die Wahrheit zu sagen, es war ihm herzlich egal, mit wem er wohin ging.

Die Gorlands waren noch nicht sehr weit gekommen, als sie merkten, dass ein Tottenham-Terrier nicht unbedingt als Modehund durchging. Niemand hielt an und fragte, woher sie diesen reizenden kleinen Hund hatten, keiner drehte sich nach ihnen um und jetzt bei Tageslicht konnten sie auch sehen, dass der Terrier wahrhaftig keine Schönheit war mit seinen kurzen Beinen und den Fledermausohren.

Als sie eine Weile gelaufen waren, meinte Gertie, sie wäre nun hungrig, und Harold meinte, auch er wäre hungrig. Große dünne Menschen müssen viel essen.

»Da können wir ja gleich mal sehen, wie der Hund sich im Restaurant benimmt«, sagte Gertie mit einem Blick auf Fleck.

Also gingen sie in ein großes Kaufhaus, in dessen Restaurant Hunde erlaubt waren.

Der Kellner führte die Gorlands zu ihrem Tisch, Gertie schlang Flecks Leine um ihr Stuhlbein, und nachdem Fleck ein wenig an den vorbeieilenden Füßen geschnuppert und festgestellt hatte, dass sie uninteressant waren, kroch er unter den Tisch und schlief ein.

»Ich bin nicht schwierig«, sagte Henry. »Es ist mir nur egal, ob ich eine blaue Lunchbox habe oder eine braune. Es macht keinen Unterschied.«

Albina seufzte. »Ich weiß nicht, was ich noch tun soll. Ich gebe ein Vermögen aus, damit du für deine neue Schule gut ausgestattet bist, und du stehst einfach nur rum wie eine Schaufensterpuppe.«

Henry und seine Mutter befanden sich gerade in einem exklusiven Kaufhaus, um Henrys Schuluniform für Okelands zu kaufen. Sie hatten bereits vier Paar dunkelblaue Hosen, sechs weiße Hemden, zwei gestreifte Schlipse und eine Mütze, in die das Motto von Okelands eingestickt war. Das Motto war lateinisch und normalerweise hätte Henry wissen wollen, was es bedeutete, aber jetzt interessierte es ihn nicht. Selbst wenn es gelautet hätte: »Geht hin und erschlagt alle Menschen mit einer Axt«, es wäre ihm gleichgültig gewesen.

Nach der Lunchbox kamen das Halstuch, der Blazer und die Socken …

Als alles bezahlt war, beschloss Albina, noch eine Runde durch das Kaufhaus zu drehen. Obwohl sie kein Hochzeitskleid brauchte, ging sie mit Henry durch die Brautmodenabteilung. Sie hatte auch genug Nachthemden, aber Henry musste mit ihr in die Wäscheabteilung, danach schaute sie sich Gartenzubehör wie Schubkarren und Gießkannen an, obwohl es das Dienstmädchen war, das den Kies sprengte.

In der Abteilung mit dem Schmuck kaufte sie sich ein Armband mit Diamanten und danach war sie so gut gelaunt, dass sie beschloss, mit Henry ins Restaurant des Kaufhauses zu gehen, das berühmt war für seine exotische Küche. Henry hatte dort schon einmal gegessen und danach war ihm schlecht geworden, aber er folgte seiner Mutter und dem Kellner zu einem rosa gedeckten Tisch mit einer Vase voller stark duftender Lilien in der Mitte. Die Kellner trugen Frack und lächelten unentwegt, eine Kapelle spielte einschmeichelnde Musik.

»Ist das nicht nett hier?«, sagte Albina und vertiefte sich in die riesige Speisekarte.

»Ich schlage vor, als Vorspeise nehmen wir …«, doch weiter kam sie nicht.

Drei Tische weiter tauchte Gertie gerade ihren Löffel in die Tomatensuppe, als ein Erdbeben losbrach.

Der Tottenham-Terrier, der eben noch so apathisch unter dem Tisch gelegen hatte, sprang hoch und riss so heftig an seiner Leine, dass Gerties Stuhl umkippte und sie zu Boden stürzte, gefolgt von dem Suppenteller, wobei sich die Tomatensuppe über ihre Bluse ergoss. Und während sie noch schreiend auf dem Boden lag, war Fleck schon auf und davon.

Dieser teilnahmslose kleine Hund, der kaum eine Pfote vor die andere hatte setzen können, schoss durch den Saal wie ein Pfeil, vorbei am ersten Tisch, wobei er einen Kellner umriss, der ein Tablett mit Gläsern trug, vorbei am zweiten Tisch, wo er einen Mann, der versuchte, ihn festzuhalten, rücklings auf den Boden warf, bis er schließlich in den dritten Tisch rauschte … wo ein Junge aufgesprungen war und dabei eine Vase mit Lilien auf den Boden fiel und einer Frau zwischen die Beine rollte, die gerade zur Toilette gehen wollte.

Der Oberkellner, der herbeieilte, um zu sehen, was los war, fand alle schreiend und schimpfend und von oben bis unten bekleckert. Alle bis auf einen Jungen und einen kleinen Hund, die niemanden außer sich selbst wahrnahmen.

»Es ist wirklich seltsam«, sagte Albina zu ihrem Mann, als er am Abend nach Hause kam. »Sie mussten einen Wachmann holen, um diesen elenden Hund wegzuschaffen. Die ganze Zeit hat er gejault und sich gewehrt, weil er zu Henry wollte. Und trotzdem hat Henry den ganzen Heimweg über ganz ruhig im Taxi gesessen und keinen Ärger gemacht, also nicht geweint oder so. Er scheint sich auch damit abgefunden zu haben, ins Internat zu kommen. Er hat gefragt, ob er morgen bei Joel übernachten kann, um sich von ihm zu verabschieden. Erinnerst du dich? Das war der Junge, mit dem er sich in seiner alten Schule angefreundet hatte. Ein ziemlich gewöhnlicher Junge, aber ich hab’s erlaubt.«

»Sieht so aus, als würde Henry endlich erwachsen«, sagte Donald. »Es war genau richtig, dass wir hart geblieben sind. Ich geh mal hoch und sage ihm Gute Nacht.«

Als Donald in Henrys Zimmer kam, merkte er, dass Albina recht gehabt hatte. Henry schien ruhig und gelassen zu sein, er erwähnte kaum, dass er Fleck im Restaurant begegnet war, sondern sagte nur, dass er sich auf die neue Schule freue und froh sei, seinem Freund Joel noch Auf Wiedersehen sagen zu können.

Henry war in der Tat ruhig und gelassen, denn er hatte einen Entschluss gefasst. Die Erwachsenen hatten alle gemeint, dass Fleck ihn längst vergessen hatte. Nun, sie hatten sich geirrt und es kam ihm vor, als ob sie sich auch in anderen wirklich wichtigen Dingen irrten. Henry hatte es satt, in der Welt der Erwachsenen zu leben. Es war an der Zeit, sich seine eigene Welt zu schaffen, in der alles so war, wie es sein sollte: richtig und gerecht.

Mr Carker war außer sich vor Wut. Fluchend und schimpfend stampfte er durch sein Büro. Das Kaufhaus wollte Unsummen an Geld für den Schaden, den der Tottenham-Terrier in seinem Restaurant angerichtet hatte. Gertie Gorland wollte von ihm ihre mit Tomatensuppe bekleckerte Bluse ersetzt bekommen. Die Geschäftsleute verlangten Hunderte von Pfund, um neue Anzüge zu kaufen, da ihre alten ruiniert worden waren, als das Tablett des Kellners auf sie fiel, und die Dame, die auf dem Weg zur Toilette über die Vase gestolpert und gestürzt war, schickte ihre Arztrechnung.

»Ich denke nicht im Traum dran«, wütete Mr Carker. »Ich verklage jeden. Ich werde diesen Gaunern nicht einen Penny zahlen! Und was diesen verfluchten Köter betrifft, der muss ja völlig durchgedreht sein. Wahrscheinlich Inzucht, das gibt’s ja oft bei diesen Hunden mit langem Stammbaum.«

Er ließ den Tierarzt holen, er sollte Fleck eine Beruhigungsspritze geben. Mr Carker wusste noch nicht genau, was er mit dem Hund machen sollte. Erst einmal wollte er mit Mrs Carker ein nettes Wochenende in Brighton verbringen, um sich von dem Stress der letzten Tage zu erholen. Kayley würde sich auch am Sonntag um die Hunde kümmern. Wie immer.

Aber am Sonntagmorgen wachte Kayley mit Fieber, Hals- und stechenden Kopfschmerzen auf.

»Du hast Grippe«, sagte ihre Mutter. »Du kannst auf keinen Fall arbeiten.«

»Ich muss aber«, sagte Kayley. »Pippa kann das unmöglich allein schaffen, außerdem muss sie ja auch noch packen.«

Am Montag sollte Pippa für eine Woche auf Klassenfahrt gehen.

Doch als Kayley versuchte, sich im Bett aufzurichten, fing alles an sich zu drehen und sie musste sich wieder hinlegen.

»Und ob ich es allein schaffen kann!«, sagte Pippa störrisch. »Ich weiß genau, was zu tun ist, und du weißt das auch.«

»Es ist zu viel«, wiederholte Kayley.

Doch da war Pippa schon halb aus der Tür.

Trotzdem, Kayley hatte recht. Obwohl sonntags keine Hunde verliehen wurden, war schrecklich viel zu tun.

Die Hunde verbrachten den Morgen im Freigehege, während die Räume sauber gemacht und die Käfige gescheuert wurden. Die Wasserschüsseln mussten ausgespült und die Teppiche gesaugt werden. Am Mittag kamen die Hunde zurück in ihre Käfige, dann wurden der Rasen gewässert, die Streu für die Schlafplätze gewechselt und das Futter vorbereitet.

Um vier Uhr nachmittags war Pippa völlig erschöpft. Sie musste nur noch die Hunde in Raum A aus den Käfigen holen, die Alarmanlage einschalten und sie konnte endlich nach Hause gehen.

Otto, Francine, Honey und der kleine Pekinese saßen ruhig in ihren Käfigen, während Fleck noch halb benommen nach der Spritze alle viere von sich gestreckt hatte.

Pippa hatte ihn in den Käfig tragen müssen und sie verspürte eine solche Wut, dass sie Mr Carker, wenn er denn erschienen wäre, glatt erwürgt hätte. Nur weil der kleine Hund liebevoll war und treu, hatte dieses Ungeheuer ihn bestraft.

Als sie sich zu Flecks Käfig hinunterbeugte, hörte Pippa ein Geräusch. Es klang, als würde die Tür, die von der Straße hereinführte, von jemandem geöffnet, der sich bemühte, keinen Lärm zu machen.

Die Alarmanlage war noch nicht eingeschaltet. Pippa wartete, bis sie das Geräusch noch einmal hörte, dann stürzte sie zur Tür.

»Hab ich dich!«, rief sie.

Der Junge, den sie überrascht hatte, war ungefähr in ihrem Alter, ein schlanker, blonder Junge, der einen Rucksack und eine Reisetasche bei sich hatte.

Pippa starrte ihn an. Im gleichen Augenblick hörte man Fleck im Schlaf leise wimmern und plötzlich begriff Pippa.

»Du bist der Junge, bei dem Fleck war«, sagte sie. »Henry, stimmt’s?« Sie sah ihn prüfend an. »Bist du etwa gekommen, um ihn zu stehlen?«

Henry zögerte, aber nicht lange.

»Ja. Und du wirst mich nicht daran hindern.«

»Das hab ich auch gar nicht vor. Aber hast du denn einen genauen Plan?«

Henry nickte. »Meine Eltern glauben, dass ich bei einem Schulfreund übernachte, aber ich nehme den Nachtzug in Richtung schottische Grenze. Man kann eine Fahrkarte für einen Hund kaufen. Ich habe Geld. Meine Großeltern leben an der Küste. Sie werden uns aufnehmen, das weiß ich.«

»Gut, das klingt vernünftig. Aber ich warne dich, du musst Fleck erst einmal tragen.«

Henry wurde blass. »Ist er verletzt?«

»Das nicht, aber der reizende Mr Carker hat ihm eine Spritze verpassen lassen, damit er Ruhe gibt. Komm, wir müssen uns beeilen. Ich habe sein Tuch, das nimmst du besser. Gott sei Dank ist meine Schwester nicht hier. Sie gehört zu denen, die niemals etwas Verbotenes tun würden.«

»So war ich auch mal«, sagte Henry.

Er folgte ihr in Raum A und beugte sich über Flecks Käfig. Henry hatte nur Augen für ihn, aber die anderen Hunde stellten sich auf die Hinterbeine, zuerst zitternd vor Neugier und Aufregung … dann vor Verzweiflung.

Denn sie wussten, was geschehen würde. Flecks Geschichte würde ein Happy End haben. Sein Herrchen war zurückgekommen, um ihn hier herauszuholen. Fleck würde frei sein.

Otto war frei von Neid wie jeder Hund, aber sein ganzer Körper vibrierte vor Sehnsucht. Francine presste ihre Schnauze gegen die Gitterstäbe und ihre dunklen Augen waren voll Kummer. Der Pekinese grunzte vor Enttäuschung.

Henry, der seinen schlafenden Hund aus dem Käfig hob, bemerkte nichts davon. Dafür aber Pippa. Sie war mit diesen Hunden aufgewachsen und sie kannte sie mindestens so gut wie ihre eigenen Brüder.

»Sag mir Bescheid, wenn du angekommen bist.« Sie kritzelte ihren Namen und ihre Telefonnummer auf ein Stück Papier und Henry steckte es sich in die Hosentasche. »Danke«, sagte er. »Das vergesse ich dir nie.«

Nachdem Henry und Fleck fort waren, wurde es sehr still im ganzen Gebäude. Höchste Zeit, die Hunde für die Nacht in das Freigehege zu lassen und die Alarmanlage einzuschalten, dachte Pippa. Und höchste Zeit, nach Hause zu gehen.

Doch Pippa rührte sich nicht von der Stelle. Sie schaute Otto an, der immer noch sehnsüchtig bebte, sah die Furcht in den Augen des Collies …

Sie war der Gefängniswärter dieser armen Kreaturen!

Henry, den sie für reich und verweichlicht gehalten hatte, hatte seinen Hund befreit, und was tat sie? Sie verurteilte die Hunde zur Gefangenschaft, dazu, wie Spielzeug herumzusitzen, Tag für Tag, bis jemand kam, der sie für kurze Zeit mitnahm.

Die Hunde erwarteten nichts. Sie schauten Pippa nur an.

Dann stieß Otto einen leisen Klagelaut aus – und plötzlich sah Pippa rot. Sie ging zu den Käfigen und schloss die Türen auf. Dann öffnete sie die Tür zu Kayleys Büro und schließlich die, die auf die Straße führte.

»Ihr seid frei«, sagte sie zu den Hunden.

Und die Hunde verstanden sie. Otto blieb einen Moment stehen, um ihr die Hand zu lecken. Honey rieb ihren Kopf an Pippas Rock, als ob sie Danke sagen wollte.

Und dann waren sie fort.

Nur Queen Tilly war in ihrem Käfig geblieben, obwohl die Tür aufstand. Kurze Zeit später begann sie sich zu beklagen, weil ihre Wärmflasche kalt war. Aber es war niemand da, der sie hören konnte.

Weit und breit niemand.

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