V Zuversicht

Bolitho packte die Achterdecksreling und schaute nach vorn über das Oberdeck der Fregatte, wobei er wegen des eiskalten Windes und des Schnees die Augen zukneifen mußte.

Es war ein geisterhaftes, fast unwirkliches Schauspiel, als die Matrosen bei ihren verschiedenen Tätigkeiten wie trunken vor der Kulisse der schneebedeckten Takelage und Kanonen herumschlitterten.

Er versuchte, nüchtern zu planen, seine Gedanken auf das zu konzentrieren, was kommen konnte. Aber von dem Augenblick an, als sie Anker gelichtet und sich in einer Schneebö aus dem Hafen hinausgestohlen hatten, hatte das Wetter jedem vorausschauenden Denken Einhalt geboten.

Sie waren jetzt zwölf Stunden unterwegs, und von Rechts wegen hätte Tageslicht herrschen sollen. Auf ihren Kurs nach Südosten, auf dem sie sich — von einem scharfen schwedischen Wind übel gezaust — mühsam vorwärtsgekämpft hatten, waren ihre Bewegungen immer krampfhafter, ihre Manöver bei jedem Wachwechsel langsamer geworden. Und während der ganzen Zeit waren die Schneemassen auf stehendem und laufendem Gut angewachsen.

Bolitho hatte Mühe zu verhindern, daß seine Zähne klapperten. Trotz seines dicken Wachmantels fror er bis ins Mark. Dabei dachte er an die unglücklichen Ausguckposten im Mastkorb, die zwar nach weniger als einer Stunde abgelöst wurden, aber dann große Mühe hatten, herunterzuklettern und sich unter Deck wieder aufzuwärmen.

Angenommen, es war alles umsonst? Sein Zweifel wuchs mit jeder mühsam zurückgelegten Meile. Bolitho nahm an, daß — je mehr der Tag sich in die Länge zog — jeder Mann an Bord seinen Namen verfluchte. Angenommen, der Franzose war ganz woanders hingefahren? Er konnte schon längst vor Herricks Kanonen geraten sein.

Kapitän Neale kam mühsam übers Achterdeck zu ihm, das pausbäk-kige Gesicht knallrot vor Kälte.»Darf ich vorschlagen, daß Sie nach unten gehen, Sir? Die Leute wissen doch, daß Sie an Bord sind und an ihrer Seite, was auch geschehen mag.»

Bolitho beobachtete schaudernd, wie der Gischt, der am Bug hochgeschleudert wurde, auf den Netzen zu Tausenden glitzernder Edelsteine gefror. Neale hatte die Stückpforten des Oberdecks an der Leeseite öffnen lassen, denn wenn das überkommende Wasser nicht sofort abfloß, sondern sich vor den Speigatten staute und dort gefror, konnte es gefährlich werden. Schon manches Schiff, auch größer als eine Fregatte, war unter einer durch Eis entstandenen Schlagseite gekentert.

Er fragte:»Wo stehen wir jetzt?»

«Der Master versicherte mir, daß wir die Insel Bornholm in Lee haben, etwa fünf Meilen entfernt. «Neale wischte sich mit den Fingern die Nässe aus dem Gesicht.»Ich muß mich auf ihn verlassen, Sir, denn wir könnten auch sonstwo sein, wenn Sie mich fragen.»

Neale ging auf seinen Ersten Offizier zu, der sich zu ihm vorkämpfte, und Bolitho rief ihm nach:»Machen Sie sich meinetwegen keine Gedanken, Captain Neale. Der kalte Wind verschafft mir wenigstens einen klaren Kopf.»

Er dachte an ihren schnellen Aufbruch von Kopenhagen und hätte gern gewußt, ob jemand ihr Auslaufen beobachtet hatte. Er bezweifelte es. Aber bei Tagesanbruch hatte Mr. Inskip sicher ein paar peinliche Fragen beantworten müssen.

Browne hatte sich so unverblümt geäußert, wie er sich traute:»Ich glaube, es ist falsch, daß Sie selber den Franzosen jagen. Sie können die Styx schicken, das genügt. Kapitän Neale kennt das Risiko, und Sie können ihn decken, wenn die Dinge schieflaufen. Aber wenn Sie mit dabei sind: wer deckt Sie?»

Einige Zeit später, als die Styx sich mühsam von der schwedischen Küste freigesegelt hatte, hörte Bolitho, wie Pascoe in ärgerlichem Ton mit dem Flaggleutnant flüsterte.

«Sie verstehen das nicht! Der Admiral ist schon in sehr viel schlimmeren Lagen gewesen. Er hat es immer geschafft, sich aus einer Falle freizukämpfen.»

Browne hatte betrübt geantwortet:»Damals war er Kommandant. Verantwortung ist zweischneidig: Sie kann nach beiden Seiten verletzen. «Man hörte, wie er die Hand auf Pascoes Schulter legte.»Aber ich bewundere Sie für Ihre Treue, glauben Sie mir.»

Pascoe eilte nach vorn, um die Blöcke des Fockmastes mit einigen Leuten nachzusehen. Wenn sie einfroren oder das Tauwerk, das durch den Schnee aufgequollen war, war die Styx gelähmt. Wie ein Geisterschiff würde sie auf diesem Kurs weitersegeln müssen, immer tiefer und tiefer in die Ostsee hinein.

Allday kam über das Deck geschlittert.

«Ozzard hat heiße Suppe für Sie, Sir. «Er warf einen Blick in die mit Weiß überzogenen Segel und fügte hinzu:»Ich läge lieber in einer Flaute!»

Bolitho sah die nächste Gruppe Matrosen aus dem Mast herabklettern. Es war zu hoffen, daß auch sie etwas Warmes in den Magen bekamen, wenn sie unter Deck gingen. Er kannte Neale und war sicher, daß er für seine Männer sorgte.

Er folgte Alldays Blicken und schaute zu der bauchig stehenden Leinwand empor. Sie war eisenhart und ein Alptraum für die Matrosen, die sie zu bedienen hatten. Und doch hatten die Segel auch jetzt ihre eigene Schönheit. Diese Feststellung half ihm, seine Sorgen zu verdrängen.

«Dann gehe ich hinunter. Etwas Suppe lasse ich mir gefallen, obwohl ich bezweifle, daß ich viel davon im Magen behalten kann!»

Allday grinste und trat beiseite, um Bolitho den Weg zum Niedergang freizumachen.

In den vielen Jahren, in denen er Bolitho gedient hatte, hatte er ihn nicht einmal seekrank gesehen. Aber es hieß ja, es gäbe ein erstes Mal für jeden.

Achtern in der Kajüte, wo es bei der schräg von achtern kommenden See munter auf und nieder ging, glich die Szene eher einer düsteren Grotte als einem Admiralsraum. Die Heckfenster hatten einen Spitzenvorhang aus Eiskristallen aufgezogen, und das wenige Licht, das durchkam, ließ alles noch kälter erscheinen.

Bolitho saß am Tisch und löffelte Ozzards Suppe, erstaunt, daß sein Appetit dabei zurückkehrte. Das paßte mehr zu einem Midshipman als zu einem Admiral, dachte er.

Neale kam später hinzu und legte die Seekarte vor Bolitho auf den Tisch.

«Wenn die britischen Handelsschiffe tatsächlich bei Gotland sind, Sir«, dabei hantierte er mit dem Stechzirkel auf der Karte,»dann müssen sie hier an der Nordwestküste liegen. «Er schaute in Bolithos gespanntes Gesicht.»Unter den Kanonen der Festung Visby, zweifellos.»

Bolitho rieb sich das Kinn und versuchte, die Linien und Zahlen der Karte in Land und See, Wind und Strom umzusetzen.

«Wenn die Schiffe nicht da liegen, Captain Neale, sind wir umsonst gekommen. Aber Mr. Inskip ist ein Mann, der sehr genau und vorsichtig mit seinen Informationen umgeht. Theoretisch werden sich die Schiffe in schwedischen Hoheitsgewässern befinden, aber da die Russen sie beschlagnahmt haben und die Franzosen an ihnen interessiert sind, habe ich kaum eine andere Wahl, als sie herauszuholen. Wenn die Schiffe befreit sind, ist der Anlaß für einen Krieg beseitigt, und alle Hoffnungen des Zaren auf eine erfolgreiche Landung in England werden wie der Schnee dahinschmelzen. «Neale machte ein skeptisches Gesicht.

Bolitho beobachtete ihn.»Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken, Captain. Ich kenne Kapitän Herricks Art, Sie am Reden zu hindern.»

«Ich bezweifle, daß der Franzose mit uns rechnet, vorausgesetzt, die Ajax ist überhaupt auf dem gleichen Kurs wie wir. Ich bin sehr begierig, mit ihm handgemein zu werden, Sir, denn mein Schiff schuldet ihm noch ein paar Hiebe. Aber offen gesagt: Ich glaube, Sie haben eher Aussicht, einen Krieg auszulösen, als ihn zu verhindern. «Er hob die Hände mit einer hilflosen Geste und sah dabei wieder wie ein Seekadett aus.»Es will mir nicht in den Kopf, warum unser Admiral versäumt hat, dieser Entwicklung rechtzeitig einen Riegel vorzuschieben.»

Bolitho blickte zur Seite und rief sich Brownes Worte und Admiral Beauchamps Warnung in Erinnerung. War Admiral Damerum der Anlaß für die Warnung gewesen? Wenn ja, warum? Es gab einfach keinen Sinn.

«Wie ist das Wetter?»

Neale lächelte, da er wußte, daß Bolitho mit der Frage nur Zeit zum Nachdenken gewinnen wollte.

«Es schneit noch, Sir, aber nicht mehr so schlimm. Der Master meint, gegen Morgen würde es aufklaren.»

Beide schauten tiefsinnig auf die Karte. Bis dahin können sich die Dinge bereits für sie entschieden haben.

Mit dichtgeholten Brassen und Schoten segelte die Styx mit Backbord Halsen stetig nach Norden, wobei immer wieder einzelne Brecher über das Schanzkleid schlugen und sich zur Leeseite über das Deck ergossen. Männer, die durch die Nässe und Kälte zu erstarrt waren, um sich zu unterhalten, beobachteten wachsam Tauwerk und Trimm der Rahen, völlig auf die akuten Mühen und Gefahren konzentriert.

Querab an der Backbordseite mußte die schwedische Küste liegen.

Als die Fregatte die Südspitze von Gotland passierte, wurde der Seegang niedriger, aber unregelmäßiger. Der letzte Teil ihrer Reise begann.

Bolitho war vor dem ersten Tageslicht auf und angezogen und so unruhig, daß Allday es noch schlimmer als sonst hatte, ihn zu rasieren. Noch immer waren die Heckfenster eisbedeckt, aber als die Dämmerung endlich durchbrach, war es heller als sonst; der Tag versprach sogar etwas Sonnenschein.

Bolitho ergriff seinen Hut und sah Allday an.»Mein Gott, Sie brauchen ja heute endlos, Mann!»

Allday wischte das Rasiermesser sorgfältig ab.»>Endlos< war damals, als Admirale noch Geduld hatten, Sir.»

Bolitho schenkte ihm ein Lächeln und eilte an Deck, wo ihm der schneidende Wind sofort den Atem verschlug.

Gestalten eilten überall geschäftig umher, und als Bolitho ein Fernglas aus der Halterung nahm, sah er an Steuerbord — verschwommen noch und unregelmäßig im schwachen Licht — die Küste der Insel Gotland. Sie sah aus wie ein schlafendes Seeungeheuer. Angeblich war sie auch eine seltsame Insel, ein ehemaliges Seeräubernest und in Jahrhunderten immer wieder erobert und zurückerobert. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie die Langboote der Wikinger und die Koggen eines Klaus Störtebecker gegen diese unwirtliche Küste vorstießen, dachte er.

Neale kam über das Deck und tippte an seinen Hut.»Darf ich >Klar Schiff zum Gefecht< anordnen, Sir? Die Leute haben gefrühstückt, aber der Nutzen einer warmen Mahlzeit wird bald verflogen sein, wenn sie nicht beschäftigt werden.»

«Machen Sie es, wie Sie es für richtig halten. Sie befehlen hier. Ich bin nur ein Passagier.»

Neale marschierte weg und verbarg dabei ein Lächeln.

«Mr. Pickthorn! Lassen Sie >Klar Schiff zum Gefecht< und >Alle Mann auf Gefechtsstationen< anschlagen. «Er drehte sich um und fing Bolithos Blick auf, der Erinnerungen wachrief.»Und ich möchte, daß es zwei Minuten schneller geht als das letzte Mal, verstanden?»

Die Sonne machte zaghafte Versuche, das Schneegestöber zu durchdringen, und überzog die steifen Segel mit dem Glanz von altem Zinn. Alles glitzerte; selbst das Haar der Matrosen, die auf ihre Gefechtsstationen rannten, war mit Tropfen von schmelzendem Eis bedeckt, als seien sie eben vom Meeresgrund aufgetaucht.

Pascoe ging vorbei, schnallte dabei seinen Krummsäbel um und rief die Namen der Leute von der Benbow auf. Bolitho fiel auf, daß er sich kurz unterbrach, als er den Namen Babbage rief, den Mann ernst anschaute und ihn nach kurzer Prüfung von den anderen trennte.

War er Kandidat für eine Beförderung? Oder sollte er wegen einer Nachlässigkeit verwarnt werden? Bolitho fing Pascoes Blick auf und nickte ihm zu.»Nun, da hast du also eine Fregatte, Adam. Wie kommst du dir vor?»

Pascoes Gesicht überzog ein breites Lächeln.»Wie der Wind, Sir!»

Der Erste Offizier, schnaufend vor Anstrengung und mit vom scharfen Wind geröteten Backen, meldete:»Schiff ist gefechtsklar, Sir!»

Neale klappte den Deckel seiner Uhr zu.»Gut gemacht, Mr. Pickthorn.»

Dann drehte er sich um und machte eine Ehrenbezeigung zu Bo-litho:»Wir folgen Ihrem Befehl, Sir.»

Browne, der die Vorbereitungen beobachtet hatte und nun die Ruhe auf dem Batteriedeck registrierte, sagte halb zu sich selber:»Aber wohin, möchte ich wissen?»

Bolitho führte das Teleskop langsam die graue Küstenlinie entlang. Wenn doch bloß das Schneetreiben aufhören wollte! Aber im stillen wußte er, daß der Schnee ihr einziger Verbündeter war, ihr Schutz gegen vorzeitige Entdeckung.

Gestalten bewegten sich rastlos um ihn herum. Gelegentliches Klirren von Metall oder das Schrammen einer Handspake drangen in die kleine, kreisrunde Welt seines Blickfeldes und beunruhigten ihn. Er versuchte, sich alles in Erinnerung zu rufen, was er auf der Seekarte und in Neales Notizen gelesen hatte. Ein felsiger Landvorsprung mußte irgendwo da vorne an ihrer Leeseite in Sicht kommen, und dahinter sollten die Schiffe liegen. Bolitho biß sich auf die Lippen, um seine jagenden Gedanken und Zweifel im Zaum zu halten. Er hörte Neale fragen:»Soll ich die Flagge hissen, Sir?»

«Ja, bitte. Und ich empfehle, Kriegsflaggen am Fockmast und am Großmast zu setzen. Wenn unsere gekaperten Handelsschiffe da drüben sind, brauchen sie so viele Hinweise, wie wir ihnen gegen können.»

Er blickte zur Besanstenge empor, wo seine eigene Flagge wehte, seit er von der Benbow übergestiegen war. Sie konnte bei den Franzosen — oder wer sie auch angreifen würde — den Eindruck erwecken, als wären weitere britische Schiffe zur Unterstützung im Anmarsch. Selbst sehr junge Admirale pflegten nicht auf einer einzelnen Fregatte herumzustreifen. Bolitho fragte:»Wie ist der Wind?»

Der Master antwortete sofort:»Hat einen Strich gedreht, Sir. Kommt aus Nordwesten.»

Bolitho nickte. Er war viel zu sehr von seinen Gedanken in Anspruch genommen, um zu merken, daß ein scharfer Ton in seine Stimme gekommen war.

«Lassen Sie drei Strich abfallen. Wir wollen die Landzunge so dicht wie möglich umfahren.»

Der Master sagte:»Jawohl, aber ich…«, fing jedoch Neales Blick auf und ließ seinen Einspruch ungesagt.

Das große Steuerrad drehte sich knarrend, drei Mann standen breitbeinig daran, um auf den vereisten Decksplanken das Gleichgewicht zu halten, und beobachteten Segel und Kompaß wie Habichte.

Schließlich meldete der Master:»Kurs Ost zu Nord liegt an, Sir.»

Bolitho achtete nicht auf die Seeleute, die umherrannten, um Segel und Rahen zu trimmen, noch auf das Getrampel der Leute auf dem Achterdeck, die das gleiche für den Besanmast taten. Neale hatte eine Menge gelernt. Allein unter Marssegeln, Fock und Klüver reagierte die Styx gut und drängte unter ihrer vereisten Leinwand vorwärts, als wolle sie sich aus eigenem Antrieb in die Schlacht stürzen.

Er blickte auf die Geschützbedienungen, die — um sich gegenseitig warmzuhalten — zusammengerückt, aber jederzeit sprungbereit waren. Der Sand, der um die langen Zwölfpfünder aufs Deck gestreut worden war, damit die Leute nicht ausrutschten, hatte sich in flüssiges Gold verwandelt.

Wie leuchteten die roten Röcke der Seesoldaten in dem eigenartigen Licht! Unter der Schneekappe, die sich auf ihren Hüten gesammelt hatte, sahen sie aus wie weihnachtliches Kinderspielzeug.

Er sah Pascoe bei den vorderen Geschützen, eine Hand am Säbel, die schlanke Gestalt leicht im regelmäßigen Auf und Ab des Vorstevens mitschwingend. Er sprach mit einem anderen jüngeren Offizier, wahrscheinlich über ihre Chancen. So war es immer. Man versuchte, ruhig zu scheinen, nüchtern zu bleiben, auch wenn das Herz wie in einen Schraubstock gepreßt war und man sich einbildete, jeder Matrose in der Nähe müßte hören, wie heftig es schlug.

«Land in Sicht über den Lee-Bug, Sir!«Eine kurze Pause, dann:»Fast recht voraus!»

Neale rief scharf:»Schicken Sie einen Mann in die vorderen Rüsten, Mr. Pickthorn. Er soll in fünfzehn Minuten anfangen zu loten.»

Wenn er fürchtete, daß sein Schiff auf Grund laufen könnte, so verbarg er es recht gut, dachte Bolitho.

Bolitho richtete sein Glas wieder aufs Ufer. Das Land schien sehr nahe zu sein. Eine Sinnestäuschung, er wußte es, aber wenn der Wind plötzlich drehte oder einschlief, mußte es ihnen schwerfallen, sich vom Ufer freizusegeln.

Neale sagte:»Bergen Sie die Fock. «Und dann, indem er näher heranrückte, zu Bolitho:»Kann ich einen Strich höher an den Wind gehen, Sir?»

Bolitho ließ das Glas sinken und sah ihn an.»Gut.»

Er blickte hinauf zu den prächtigen Flaggen an Mastspitzen und Gaffel und fühlte dabei, wie Schneeflocken in seinen Augen schmolzen und seine Lippen netzten. Das beruhigte ihn.

Die große Breitfock wurde mühsam an den Gleitauen zu ihrer Rah hochgezogen, Matrosen legten auf den Fußpferden aus und schlugen mit den Fäusten wie wild gewordene Affen auf die hartgefrorene Leinwand ein. Eisstücke fielen wie Glassplitter durch die Schutznetze auf die Geschützbedienungen. Bolitho sah einen Unteroffizier sich bücken, ein Stück aufheben und in den Mund stecken.

Ein vertrautes Anzeichen: der Mund war wie ausgetrocknet und verlangte nach Bier oder Wasser, irgend etwas Trinkbarem.

Wenn die Leute in England sie doch so hätten sehen können, dachte Bolitho grimmig. Diese Sorte Männer lebte in der ganzen Flotte im Schmutz, kämpfte aber großartig und unglaublich tapfer. Einige von ihnen waren sicher der Auswurf der Gefängnisse, mißbraucht an Land und auf See, aber nur sie allein standen zwischen England und Napoleon — oder wer sonst Englands Feinde waren. Er hätte beinahe gelächelt, als er sich erinnerte, was sein Vater einmal gesagt hatte:»England muß Feinde lieben, Richard. Wir machen uns so viele.»

Der Erste Offizier rief:»Erlaubnis zum Laden, Sir?»

Neale warf einen Blick auf Bolitho und erwiderte:»Ja. Aber keine doppelte Ladung. Die Bodenstücke sind durchgefroren, da könnte es mehr Schaden bei uns als bei den Franzosen geben!»

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken. Sie vertrauten ihm so sehr, daß sie den Feind im Geist schon vor sich sahen. Wenn die Bucht nun leer war, würde dieses Vertrauen einen argen Stoß bekommen.

Der Arm des Lotgasten beschrieb eine ausholende Kreisbewegung, dann ließ er Lot und Leine in der Vorwärtsbewegung los und beugte sich vor, um sie weit voraus ins Wasser platschen zu sehen. Wenn der Lotkörper den Boden berührte, würde die Leine bei ihm auf und nieder, also senkrecht, stehen.

«Gerade zehn!«{Zehn Faden = 18,39 Meter}

Bolitho spürte, wie der Master unruhig ums Steuerrad ging und sicher an den felsigen Grund unter ihrem kupferbeschlagenen Schiffsboden dachte.

Das Lot klatschte wieder ins Wasser.

«Einhalb über neun!»

Bolitho biß die Zähne zusammen. Sie mußten so nahe wie möglich heran. Er sah die große Steinplatte der Landzunge drohend über Bugspriet und Klüverbaum emporsteigen.

«Gerade sieben!»

Der Leutnant der Seesoldaten räusperte sich nervös, und einer der Seeleute von der Achterdecksmannschaft sprang entsetzt auf.»Gerade fünf!»

Bolitho bemerkte, wie der Master seinem Kommandanten etwas zuflüsterte. Dreißig Fuß {30 Fuß = 9,15 Meter} Wasser unter dem Kiel, das war nicht viel angesichts der Nähe des abschüssigen Ufers.

«Vier Faden!«rief der Lotgast ungerührt aus. Als wäre er überzeugt, daß er sowieso sterben müsse, ohne etwas dagegen tun zu können.

Bolitho hob wieder das Glas. Zwei einzelne Wohnhäuser standen wie Haufen heller Ziegelsteine am Abhang. Darüber abziehender Rauch — oder was sonst? Das Schneetreiben verhinderte, daß er es klarer erkennen konnte. Rauch von einem Herdfeuer am frühen Morgen? Oder eine Batterie, die gewarnt war und ihre Kanonenkugeln glühend machte, um der unverschämten Styx einen heißen Empfang zu bereiten?

Er sah die Brandung gegen die Felsen schlagen und sich an der scharf gezackten Eiskante gefährlich auftürmen.»Luven Sie zwei Strich an, Captain Neale. «Er schob das Teleskop mit einem Klicken zusammen und übergab es einem Midshipman.

Die Matrosen hatten den Befehl erwartet wie Sprinter den Startschuß, und als die Rahen im Gleichklang mit dem Ruder herumschwangen, drehte die Fregatte stetig nach Luv, während die Felszunge wie eine große steinerne Tür zurückfiel. Der Lotgast rief:»Gerade zehn!«Von irgendwoher hörte man ein ironisches» Bravo«.»Kurs Nordost liegt an, Sir! Segel voll und dichtgeholt!«Bolitho packte wieder die Reling des Achterdecks, wie er es so oft und auf so vielen Schiffen getan hatte.

Jetzt war es soweit. Der Wind stand günstig, das Schiff lag so hoch an, wie es konnte und die Leinwand noch zog. Wenn sie um die Felsspitze herum waren, mußte alles schnell und wirkungsvoll ablaufen, mußte der Überraschungseffekt wie kaltes Wasser auf einen schlafenden Matrosen wirken.»Rennen Sie die Kanonen aus, wenn's beliebt!«Bolitho vermied es, die kleine Gruppe von Offizieren anzuschauen. Wenn die Bucht leer war, würden sie über seine läppischen Vorbereitungen lachen. Aber wenn er kostbare Minuten opferte, um sein Ansehen zu retten, mußten sie ihn mit Recht verfluchen.

Als der Zweite Offizier ein Handzeichen gab, rumpelten die Geschütze auf ihren quietschenden Lafettenwagen an die Lee-Pforten und wurden in ihrer Abwärtsbewegung mit Taljen und Handspaken gebremst. Es war keine leichte Arbeit auf dem tückisch glatten Deck.

Fast gleichzeitg steckten die Zwölfpfünder ihre schwarzen Mäuler aus den Stückpforten, während hier und da ein Richtschütze den Schnee von seinem Schützling wischte.»Steuerbord-Batterie ist ausgerannt, Sir!»

«An Deck!«Die spannungsvolle Erwartung ging plötzlich zu Ende, als der Ausguck im Mastkorb aufgeregt herunterrief:»Schiffe vor Anker hinter der Spitze, Sir!»

Bolitho schaute Neale und Allday an, der hinter ihm stand und mit seinem Entermesser Löcher in die Luft schlug, als kämpfe er mit einem Feind. Sein Blick schweifte weiter nach vorn, wo sein Neffe auf einen Geschützwagen geklettert war, um besser über die Netze sehen zu können. Wenn alle anderen an ihm gezweifelt hatten — diese drei bestimmt nicht.

«Klar zum Abfallen!»

«An die Brassen, Schoten und Halsen!»

Während Toppsgasten und Decksleute auf Posten rannten, blieben die Geschützbedienungen ruhig an ihrem Platz, jeder Geschützführer auf Ordnung in seiner kleinen Welt bedacht, die von der Stückpforte wie ein Bild eingerahmt wurde.

Neale hob die Hand.»Ruhig, Leute! Ganz ruhig bleiben!»

Bolitho hörte ihn. Es klang, als besänftige jemand ein nervöses

Pferd.

Er starrte gebannt über die Netze und konnte seine Gefühle kaum noch beherrschen. Da lag es vor ihnen: ein halbes Dutzend Handelsschiffe, eng beieinander geankert. In ihren weißen Schneemänteln, den kreuz und quer gebraßten Rahen und ihrer Leblosigkeit machten sie einen ziemlich niedergeschlagenen Eindruck.

Allday hatte sich hinter ihn geschoben, wie immer, um ihm nahe zu sein. Und bereit. Bolitho konnte ihn aufatmen hören, als er sagte:»Englische Schiffe, ohne Zweifel, Sir. «Sein kräftiger Arm schoß vor.»Und schauen Sie da: der verdammte Franzmann!»

Bolitho griff wieder nach dem Glas und suchte sich zwischen Masten und Takelage ein Blickfeld. Da war sie, die Ajax, wie er sie in der Erinnerung hatte. Näher zum Ufer hin lag ein weiteres Kriegsschiff, größer und wuchtiger. Wahrscheinlich ein ehemaliger Zweidecker: der Begleiter der beschlagnahmten Handelsschiffe, hier vor Anker, um besseres Wetter oder neue Befehle abzuwarten.

Die blassen Umrisse der Festungswälle verloren sich fast hinter den herabrieselnden Schneeflocken, aber irgendwo schmetterte ein Trompetensignal, und Bolitho konnte sich gut vorstellen, wie die aufgeschreckten und fluchenden Soldaten umherrannten, um ihre Verteidigungsstellungen zu bemannen. Niemand war begeistert, wenn er aus seinem warmen Nest in ein solches Wetter gejagt wurde.

«Jetzt, Captain Neale! Ändern Sie Kurs, und fahren Sie knapp hinter den Handelsschiffen vorbei.»

Weit weg ein Kanonenschuß, der Knall wurde vom Schnee gedämpft. War es ein Probeschuß? Ein Alarmsignal? Bolitho fühlte Erregung in sich aufsteigen wie Fieber. Was auch kam, jetzt war es für ein Ausweichen zu spät.

Er packte wieder das Geländer, um sich zu beruhigen, während Ruder gelegt wurde und die Styx Kurs auf den Ankerplatz nahm. Er berührte den prächtigen, vergoldeten Griff seines Ehrensäbels und erschrak, als ihm einfiel, daß er seinen alten Degen auf der Benbow gelassen hatte. Allday bemerkte diesen Augenblick der Unsicherheit und fühlte mit ihm.

Bolitho drehte sich um und sah ihn an. Er wußte, daß Allday ihn verstand und sich selber die Schuld zuschob.

«Keine Sorge, Allday, wir konnten nicht wissen, daß unser Besuch bei den Dänen hier enden würde.»

Beide lächelten, aber keiner machte dem anderen etwas vor. Es war wie ein Omen.

«Die Ajax hat ihre Ankertrosse gekappt, Sir!«Ein Midshipman hüpfte vor Aufregung.»Sie sind völlig durcheinander!»

Bolitho sah das erste Stück Leinwand an den Rahen der gegnerischen Fregatte erscheinen und beobachtete den steilen Winkel ihrer Masten, als Wind und Strömung sie zum Ufer trieben.

Neale hatte sein Schwert gezogen und hielt es über die Köpfe der nächsten Geschützbedienung, als wolle er sie zurückhalten. Das französische Schiff trat nun deutlicher aus dem Schneetreiben hervor und gewann Umriß und Persönlichkeit. Weitere Segel waren gesetzt, und über das Getöse von Wellen und schlagender Leinwand hinweg hörten sie das Gepolter der Geschützwagen und den eindringlichen Ton einer

Pfeife.

Über die Schulter rief Neale:»Nicht zu stark abfallen! Wir wollen den Franzosen zwischen uns und der Landbatterie halten!»

Bolitho beobachtete die feindliche Fregatte, als sie nach achtern auswanderte. Neale hatte nichts vergessen. Aus dem Augenwinkel sah er, als die Styx ihre leichte Kursänderung vollendet hatte, wie das Schwert des Kommandanten niederfuhr.

«Ziel aufgefaßt! Feuern!»

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