IX Banges Warten

Kapitän Thomas Herrick saß mit aufgestützten Ellenbogen am Schreibtisch und blätterte mißmutig im Tagesbericht des Zahlmeisters. Die viele Arbeit und mancherlei Sorgen drückten auf Leib und Gemüt, und die unangenehmen Bewegungen der Benbow trugen nicht dazu bei, seine Stimmung zu heben. Immer wieder sackte das Schiff jäh in ein Wellental ab, und jedesmal endete diese Bewegung mit einem anhaltenden Zittern, das durch alle Decks und Aufbauten lief.

Zusammen mit den anderen Linienschiffen lag die Benbow unter dem Schutz der Landspitze von Skagen vor Anker. Nach dem langsamen Marsch hierher von der Stelle, an der sie mit Ropars Geschwader gekämpft hatten, und nach einem Tag vor Anker waren sie immer noch bei den notwendigsten Ausbesserungsarbeiten: beim Auswechseln oder Flicken von Segeln, Spleißen von laufendem und Teeren von stehendem Gut und dergleichen mehr. Es war beinahe, als lägen sie sicher im Dock und nicht draußen in der unfreundlichen Nordsee.

Ein kurzes Klopfen riß Herrick aus seinen Gedanken.»Herein!»

Loveys, der Schiffsarzt, schloß die Tür hinter sich und nahm auf einem angebotenen Stuhl Platz. Er war wie immer: totenbleich und doch unermüdlich.

Loveys sagte:»Sie sehen erschöpft aus, Käpt'n.»

Herrick wischte alle Angelegenheiten des Geschwaders und seines Schiffes beiseite wie welke Blätter. Obwohl er gezwungen gewesen war, seine täglichen Arbeiten ohne Erholungspause zu erledigen, hatte er seinen Freund in der Kajüte keinen Augenblick vergessen.

Männer waren zu befördern gewesen, um Lücken zu schließen, die ihre toten oder verwundeten Kameraden hinterlassen hatten. Mids-hipman Aggett war zum diensttuenden Leutnant anstelle des jungen Courtenay ernannt worden. Es war ein Wunder, daß Courtenay, dem der Unterkiefer weggeschossen worden war und der auch geistig verwirrt schien, überhaupt noch lebte. Die Wach- und Klarschiff-Rollen mußten neu aufgestellt und erfahrene Leute entsprechend verteilt werden. Der Zahlmeister hatte über die Rationen gejammert: Einige Fässer mit Salzfleisch waren durch eine verirrte Kanonenkugel vernichtet worden. Dann das harte Geschäft der Seebestattungen, und schließlich die vielen Anfragen der anderen Kommandanten, die beantwortet werden mußten. Alles hatte an seinen Kräften gezehrt.

«Machen Sie sich um mich keine Sorgen. «Herrick bemühte sich, gelassen zu sprechen.»Wie geht's ihm heute?»

Loveys schaute auf seine kräftigen Hände.»Die Wunde ist stark entzündet, Sir. Ich habe den Verband mehrmals gewechselt und versuche es nun mit einer trockenen Kräuterauflage. «Er schüttelte bedenklich den Kopf.»Ich bin mir nicht ganz sicher, Käpt'n. Noch riecht es nicht nach Wundbrand, aber die Wunde selbst ist schlimm genug.»

Loveys Finger machten eine Scherenbewegung.»Die Kugel wurde beim Aufprall auf den Knopf abgeflacht, das ist normal. Aber der Knopf ist zersplittert, und ich fürchte, Teile davon stecken noch in der Wunde, möglicherweise auch Stoffetzen, die einen Fäulnisprozeß begünstigen.»

«Wie trägt er es?»

Über Loveys Gesicht huschte ein Lächeln.»Das wissen Sie wohl besser als ich. «Das Lächeln verschwand.»Er braucht sorgsame Pflege an Land. Jeder Stoß an seine Koje bereitet ihm Schmerz, jede Bewegung könnte den Wundbrand auslösen. Für die Nacht gebe ich ihm Schlafmittel, aber ich darf ihn nicht weiter schwächen. «Er sah Herrick in die Augen.»Ich kann wohl noch etwas warten, aber wenn es sich verschlechtert, muß ich das Bein abnehmen. Das aber kann den Stärksten umbringen und auf jeden Fall einen Mann, der darauf brennt, sich in der Schlacht zu bewähren.»

Herrick nickte.»Ich danke Ihnen. «Es war wie befürchtet, obwohl er noch immer nach einem Hoffnungsschimmer Ausschau hielt und auf Bolithos Glück vertraute.

Loveys machte Anstalten zu gehen.»Ich schlage vor, daß Sie Mr. Pascoe wieder zu seinem normalen Dienst schicken, Sir. «Mit einer Handbewegung stoppte er Herricks Protest.»Mag sein, daß unser Admiral stirbt, aber der junge Mr. Pascoe wird weiterkämpfen müssen. Da muß es ihn nur unnütz belasten, wenn er dableibt und dem allen zusieht.»

«Sie haben recht. Sagen Sie Mr. Wolfe, er möge das für mich regeln.»

Als Herrick wieder allein war, überlegte er, was er tun sollte. Da die Styx schon fehlte, konnte er unmöglich auch noch die Relentless abstellen, um Bolitho nach England zu bringen. Die Relentless hatte in der Schlacht alle überrascht. Großartig, wie sie den Transporter gejagt hatte, der — wie Kapitän Peel annahm — voll französischer Soldaten steckte. Damit hatte sie Ropars' Fregatten vom eigentlichen Kampfplatz abgezogen, und das — neben dem unerwarteten Einsatz der Benbow — brachte die Wendung zum Guten. Und dabei hatte die Relentless kaum Beschädigungen davongetragen.

Herrick hatte schon überlegt, ob er die Lookout schicken sollte. Nach Loveys' entmutigendem Bericht schien es nun keine andere Möglichkeit zu geben. Doch würde er dafür von Bolitho kaum Dank ernten. Bei ihm rangierten die dienstlichen Notwendigkeiten stets vor den privaten Bedürfnissen, ohne Rücksicht auf irgendwelche Gefühle. Aber in diesem Fall…

Herrick fuhr auf, als jemand an die Tür klopfte und Lyb, der den Posten als dienstältester Midshipman von Aggett übernommen hatte, hereinspähte.

«Meldung von Mr. Byrd, Sir: Lookout hat ein Segel in westlicher Richtung gesichtet.»

Herrick stand zögernd auf.»Melden Sie dem Vierten Offizier, daß ich in Kürze an Deck komme. Und informieren Sie das Geschwader. Ist die Relentless in Sichtweite?»

Lyb stockte bei der unerwarteten Frage. Er war ein nett aussehender Junge, sechzehn Jahre alt, und sein Haar hatte die gleiche rote Farbe wie das von Wolfe. Deswegen hatte er sicher schon manche spitze Bemerkung einstecken müssen, dachte Herrick.

«Aye, Sir. Sie steht immer noch nordwestlich von uns.»

«Dann melden Sie Mr. Byrd, er soll das Signal für die Relentless wiederholen. Nur zur Sicherheit.»

Lyb kapierte nicht.»Zur Sicherheit, Sir?»

«Verdammt noch mal, Mr. Lyb, muß ich denn jeden Satz wiederholen?»

Er packte die Stuhllehne und zwang sich damit zur Ruhe. Nur zur Sicherheit. Er konnte doch unmöglich seine Besorgnis laut aussprechen. Der Satz war ein Zeichen seiner inneren Spannung, die ihn wie ein Schraubstock umfangen hielt.

Er rief:»Mr. Lyb!»

Der Junge kam zurück und bemühte sich offensichtlich, nicht ängstlich zu erscheinen.

«Ich hatte eben keinen Grund, Sie anzuschnauzen. Also gehen Sie schon und melden Sie dem Vierten Offizier, was ich gesagt habe.»

Lyb zog sich leicht verwirrt zurück. Erst der Anschnauzer, der gar nicht die Art des Kommandanten war, und dann die unerwartete Entschuldigung. Herrick griff nach seinem Hut und machte sich auf den Weg nach achtern. Tag für Tag hatte er sich bemüht, im Interesse Bolithos so zu tun, als sei alles wie zuvor. So hatte er Bolitho täglich Bericht erstattet und seine Meldungen über das Schiff und das Wetter abgegeben, selbst dann, wenn er Bolitho im Halbschlaf oder kaum aufnahmefähig angetroffen hatte. Indem er ihn für die Alltäglichkeiten des Lebens zu interessieren versuchte, hoffte er, die Seelenqual seines Freundes zu lindern.

Er fand Allday in einem Stuhl sitzend und Ozzard, der einige blutdurchtränkte Binden in der Schlafkammer auflas. Herrick winkte Allday ab, der aufspringen wollte.»Bleiben Sie, Mann. Dies sind schwere Zeiten für uns alle. Wie schaut's mit ihm aus?»

Allday fand nichts Ungewöhnliches darin, von einem Kapitän um seine Meinung befragt zu werden. Herrick war anders als die meisten und ein wirklicher Freund. Hilflos streckte Allday die Hände aus.»Er ist so furchtbar schwach, Sir. Suppe hat er nicht bei sich behalten. Ich hab's mit Brandy versucht und dann Ozzard gebeten, der ja ein gebildeter Mensch ist, ihm etwas vorzulesen.»

Herrick nickte. Alldays schlichte Fürsorge rührte ihn.»Ich werde ihm jetzt berichten.»

Er trat in die kleine Schlafkammer und näherte sich zögernd der mit den Schiffsbewegungen schwingenden Koje. Es war immer dasselbe: die schreckliche Angst vor dem Wundbrand und was er aus einem machen konnte.

Er sagte:»Guten Morgen, Sir. Lookout hat eben ein Segel im Westen gesichtet, wahrscheinlich ein Däne oder ein anderer glücklicher Neutraler. Ich habe der Relentless befohlen, näher heranzugehen und ihn zu erkunden.»

Herrick beobachtete Bolithos zerquältes Gesicht. Er schwitzte stark, und die schwarze Haarlocke, die gewöhnlich die schreckliche Narbe auf seiner Stirn verdeckte, klebte an der Seite. Herrick betrachtete die Narbe. Auch das mußte knapp gewesen sein. Aber Bolitho war damals ein junger Leutnant gewesen, jünger noch als Pascoe heute oder der unglückliche Leutnant Courtenay.

Plötzlich bemerkte er, daß Bolitho die Augen geöffnet hatte. Sie waren fast das einzig Lebendige an dem ganzen Mann.

«Ein Segel, sagen Sie?»

Herrick antwortete sehr bedachtsam:»Aye. Wahrscheinlich nichts von Bedeutung.»

«Wir müssen dem Admiral Meldung machen, Thomas. «Das Sprechen bereitete ihm offenbar Schmerzen.»Melden Sie ihm alles über Ropars und den großen Transporter. Sobald wir eine Aufklärungsfregatte der Flotte sichten, müssen Sie.»

Herrick beugte sich über die Koje. Er spürte die Verzweiflung des Freundes, und wie er litt.»Keine Sorge, ich werde mich um alles kümmern.»

Bolitho machte einen Versuch, ihm zuzulächeln.»Ich bin wie in der Hölle, Thomas. Zeitweise brenne ich, aber manchmal fühle ich überhaupt nichts.»

Herrick wischte Bolithos Gesicht und Nacken mit einem Tuch ab.»Ruhen Sie sich jetzt aus.»

Bolitho ergriff sein Handgelenk.»Ausruhen? Sehen Sie sich doch selber an. Sie sehen schlechter aus als ich. «Er hustete und stöhnte danach, weil die Bewegung ihm Schmerzen bereitete. Dann fragte er:»Was macht das Schiff? Wie viele Leute haben wir verloren?»

«Dreißig Tote, Sir, und vier weitere werden ihnen wohl folgen, fürchte ich. Im gesamten Geschwader hatten wir rund einhundert Tote und Schwerverwundete.»

«Zu viele, Thomas. «Er sprach jetzt ganz ruhig.»Wo ist Adam?»

«Ich habe ihn zum Dienst geschickt. Er grübelt sonst zu viel.»

Herrick bemerkte erstaunt, daß Bolitho sich ein Lächeln abrang.»Gut, daß Sie daran gedacht haben.»

«Es war die Idee des Schiffsarztes, um ehrlich zu sein.»

«Der?«Bolitho versuchte, den Arm zu bewegen.»Er kommt mir vor wie der Sensenmann. Immer in Wartestellung.»

«Aber ein besserer Arzt als mancher andere, Sir. «Herrick stand auf.»Ich muß jetzt nach oben gehen und mich um den Neuankömmling kümmern. Ich komme bald zurück.»

In einer Gefühlsaufwallung berührte er Bolithos Schulter, aber der war schon wieder ins Dösen zurückgesunken. Sehr vorsichtig zog Herrick die Decke herunter und legte nach einem Augenblick des Zauderns die Hand auf Loveys' sorgfältig angebrachten Kräuterumschlag. Er zog sie schnell wieder zurück und verließ die Kammer. Selbst durch den Verband hindurch hatte sich Bolithos Schenkel angefühlt wie Feuer, als ob sein Körper sich von innen verzehre. Allday bemerkte seinen Gesichtsausdruck.»Soll ich zu ihm gehen, Sir?»

«Lassen Sie ihn schlafen. «Herrick sah ihn traurig an.»Er hat ganz klar mit mir gesprochen, aber…«Er beendete den Satz nicht, sondern ging schnurstracks hinaus.

Im trüben Licht des Vormittags bemerkte er, daß die Offiziere, die auf dem Achterdeck über das fremde Segel diskutierten, seinen Blick mieden. Er hörte Wolfe sagen:»Ich verstehe, was Sie empfinden, Mr. Pascoe, aber Dienst ist Dienst. Ich bin zu knapp an Leuten, wenn auch Sie sich noch von Ihrer Division fernhalten.»

Wolfe machte eine flüchtige Ehrenbezeigung zu Herrick und meldete:»Erledigt, Sir. Besser, er hört es von mir. Mich kann er in die Hölle wünschen, so viel er will, vorausgesetzt, er macht seine Arbeit.»

Midshipman Lyb rief:»Signal von Lookout, Sir. Das andere Schiff ist. «Er reckte sich, um über den Arm eines anderen Kadetten in die Liste der Schiffsnummern blicken zu können.»Es ist die Brigg Mar-guerit, Sir.»

Wolfe atmete erleichtert auf.»Mit Neuigkeiten, hoffentlich. «Dann warf er Lyb einen scharfen Blick zu und donnerte:»Himmel und Hölle, Sir! Beantworten Sie das Signal der Lookout, wenn's recht ist!»

Herrick wandte sich ab. Man hatte es leichter, wenn man so war wie Wolfe: innerlich unberührt und dadurch nicht so verletzlich. Doch im selben Augenblick, als er das dachte, wußte er, daß es eine Täuschung war.

Die Besatzung ging zum Mittagessen, und als sie wieder zum Dienst antrat, lag die muntere kleine Brigg Marguerite schon nahe bei ihnen im Wind und war dabei, ein Boot zu Wasser zu lassen.

Herrick sagte matt:»Lassen Sie die Fallreepsgäste aufziehen, Mr. Wolfe. Der befehlshabende Offizier der Brigg scheint herüberzukommen.»

Achtern quälte sich Bolitho ab, der die vertrauten Geräusche vom Achterdeck hörte, um sich in seiner Koje in Seitenlage zu wälzen. Oben traf man also Vorbereitungen zum Empfang des Kommandanten eines anderen Schiffes. Allday hatte ihm den Namen der Brigg gesagt, und Bolitho hatte ihn an Deck geschickt, um zu erkunden, was sie brachte.

Der Schmerz schien sein Bein zu packen wie ein wildes Tier. Schwitzend und stöhnend zog sich Bolitho weiter an den Rand der Koje. In seinem fiebrigen Hirn war es jetzt plötzlich lebenswichtig, daß er wieder Wasser und die anderen Schiffe sah. An diese Idee klammerte er sich wie an eine Rettungsleine.

Es war wie damals auf der Laufbrücke: Eben noch stand er da, und in der nächsten Sekunde fühlte er, wie sein Gesicht das Deck berührte, ohne Erinnerung an die Zeitspanne dazwischen.

Auf der anderen Seite des Türvorhangs rief der aufgeschreckte Posten:»Sir, Sir!«Allday stürzte herbei, stieß den Posten beiseite und rannte entgeistert zu Bolitho, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Die schwarz-weiß karierte Bodenbespannung unter ihm war mit dunklem Blut getränkt, das sich weiter ausbreitete. Allday schrie:»Holt den Doktor!«Er nahm Bolitho in die Arme und hielt ihn fest.

Als Herrick und Loveys eintraten, gefolgt von dem erschreckten Kommandanten der Brigg, hatten sich weder Allday noch Bolitho bewegt.

Loveys kniete neben ihnen nieder und sagte kurz:»Die Wunde wird aufgebrochen sein. «Er schaute zu Herrick empor:»Bitte lassen Sie meine Instrumente holen. «Er schien laut zu denken.

Herrick starrte ihn entsetzt an, als Ozzard losrannte, um Loveys Assistenten zu holen.»Doch nicht amputieren.?»

Allday klagte» Es ist meine Schuld. Er hat mich weggeschickt. Ich hätte es wissen müssen.»

Loveys sah ihn scharf an.»Was hätten Sie wissen müssen?»

Männer drängten sich in die Kajüte, und Befehle gingen von Mund zu Mund wie beim Gewehrexerzieren.

Allday machte eine Kopfbewegung zu den Heckfenstern hin.»Er wollte zum Wasser. Es ist sein Leben, verstehen Sie?»

Loveys schnitt den Verband weg, und der Offizier von der Margue-rite fuhr bei dem Anblick der Wunde zurück.»Mein Gott, er muß furchtbare Schmerzen gehabt haben«, sagte er.

Loveys bedachte ihn mit einem eiskalten Blick.»Hinaus mit Ihnen, Sir, wenn Sie nichts anderes als Gemeinplätze zu bieten haben!»

Milder meinte er zu Allday:»Gehen Sie auch, es ist besser. Glauben Sie mir.»

Allday löste nur zögernd seinen Griff um Bolithos schlaffen Körper, als die Männer des Schiffsarztes einen Ring um ihn bildeten.

In der danebenliegenden Kajüte sagte Herrick sehr beherrscht:»Nun, was haben Sie mir zu melden, Herr Leutnant?»

Der Leutnant, der noch immer unter dem Eindruck des Hinauswurfs durch den Arzt stand, antwortete:»Ich habe eine Depesche für Ihren Admiral, Sir. Das französische Geschwader ist nicht nach Irland gesegelt. Es ist so gut wie sicher, daß es versuchen wird, in die Ostsee einzudringen. Kommodore Rice vom Geschwader in den Downs wird zu Ihnen stoßen und Sie verstärken.»

Herrick gab sich Mühe, nicht auf die Geräusche hinter der verschlossenen Tür zu achten. Dann antwortete er schlicht:»Wir sind vor drei Tagen mit Vizeadmiral Ropars zusammengetroffen. Der Mann, den Sie eben gesehen haben und der vielleicht innerhalb der nächsten Stunde stirbt, hat das feindliche Geschwader auseinandergetrieben und einen seiner Vierundsiebziger vernichtet. «In der totenstillen Kajüte klangen seine Worte wie Pistolenschüsse.

Der Leutnant sagte mit etwas zittriger Stimme:»Das war eine tapfere Tat, Sir. Haben Sie Befehle für mich?»

Herrick schaute zur Tür.»Nachher.»

Der Ehrenwerte Leutnant Oliver Browne beobachtete, wie der Schatten von Herricks gedrungenem Körper im Licht der Deckslaternen schwankte.

Die Schiffsbewegungen waren im Lauf des Tages noch schlimmer geworden, und Browne konnte nur ahnen, welche Schwierigkeiten der Schiffsarzt unter diesen Bedingungen hatte. Es war inzwischen fast dunkel geworden. Herrick schien kurz vor dem Zusammenbruch, wenn er nicht endlich ausruhte. Browne wußte wohl, warum er sich all die Arbeit auflud, die — zum Teil wenigstens — auch andere erledigen konnten; aber er wußte nicht, wie er Herrick davon abhalten sollte.

Die Ausguckposten im Masttopp hatten ein Signal von der Relent-less gemeldet, die auf ihrer Sicherungslinie im Nordwesten der vor Anker liegenden Schiffe patrouillierte. Sie hatte das aus den Downs kommende Geschwader von Commodore Rice gesichtet. Aber kaum war das Signal abgelesen und für die anderen Schiffe wiederholt worden, hatten Dämmerung und eine plötzliche Regenbö jede weitere Beobachtung unmöglich gemacht.

Herrick sagte:»Ich werde Kommodore Rice über unsere Lage unterrichten. Wir sind zwar kampffähig, aber einige Schäden an unserem Schiffsrumpf bedürfen sorgfältigerer Reparatur. Ich werde um Erlaubnis bitten, dieses Gebiet zu verlassen und einen Hafen anzulaufen.»

Browne nickte. Die Benbow hatte bei dem Gefecht zweifellos am meisten abbekommen und mehr als ein Drittel der Verluste des ganzen Geschwaders. Weitere zwei Männer waren erst an diesem Tag beigesetzt worden, und gerade sie hatte man schon außer Lebensgefahr geglaubt.

Herrick warf seine Papiere auf den Tisch und fragte verzweifelt:»Was tut dieser verdammte Schlächter eigentlich?»

«Sein Bestes, Sir!«Das klang abgedroschen und so ganz anders, als Browne es gemeint hatte, daß er einen heftigen Anranzer von Herrick erwartete.

Statt dessen sagte Herrick nur:»Ich habe mich noch nie so um einen Mann gesorgt, verstehen Sie das? Wir haben auf allen Meeren von hier bis in die Südsee zusammen gekämpft. Ich könnte Ihnen Dinge von ihm erzählen, die Sie allein beim Zuhören vor Angst und Stolz zittern ließen. «Herrick schaute Browne bei diesen Worten an, aber seine blauen Augen schienen weit weg und bei Erinnerungen, an denen Browne, wie er wohl wußte, niemals teilhaben würde.

Herrick fuhr fort:»Ich war es auch, der ihm die Nachricht vom Tode seiner jungen Frau überbringen mußte. Man sagte, es wäre besser, wenn er es von mir hörte, aber wie können solch schrecklichen Dinge jemals besser klingen?«Herrick saß, zum Leutnant hingeneigt, auf der Kante des Kajüttisches, als könne er seinen Worten so mehr Nachdruck verleihen.»Da unten im Orlopdeck hat ihm einer eine Ermunterung zugerufen und ihn dabei >Dick< genannt. «Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.»Auf seiner Fregatte Phalarope nannten sie ihn so. >Der gerechte Dick<. Er sorgt sich um alle, das ist es. Verstehen Sie?»

Herrick blickte über Brownes Kopf hinweg, als die Kajüttür aufging, wobei die üblichen Schiffsgeräusche wie ungewohnter Lärm zu ihnen hereindrangen.

Allday stand da mit steinernem Gesicht. Sein Körper füllte den Eingang völlig aus.

Herrick sprang auf.»Was ist, Mann?»

Browne kam mit langen Schritten durch die Kajüte und ergriff All-days Arm.»Nun reden Sie schon, um Gottes willen!»

Allday sagte mit schwacher Stimme:»Ich könnte ein Glas Schnaps vertragen, Sir.»

Er wirkte wie betäubt, als ob er nur halb mitbekäme, was um ihn herum vorging. Die drei Männer standen eng beieinander und folgten den Schiffsbewegungen, als die Benbow wieder in ein tiefes Wellental sackte. Jeder von ihnen war mit seinen Gedanken beschäftigt.

«Erzählen Sie!«Herrick ging rückwärts durch die Kajüte, als würde alles zunichte, wenn er die Augen von Allday abwandte, und tastete nach einer Flasche und Gläsern.

Allday nahm den Brandy und schluckte ihn nahezu geistesabwesend hinunter.

Herrick sagte vorsichtig:»Ich dachte, der Doktor hätte Sie aufgefordert, den Raum zu verlassen?»

«Sie wissen, daß ich das nicht konnte, Sir. «Allday hielt das Glas zu neuer Füllung hin.»Aber es war nicht leicht. All das Blut. Sogar der alte Loveys. «Er schüttelte sich.»Bei allem Respekt, Sir, aber auch ihn hat's fast umgehauen.»

Herrick hörte ihm gebannt und gleichzeitig erleichtert zu.

Allday fuhr fort:»Der Doktor sagt, wenn er nicht aus der Koje gefallen wäre, hätte er das Bein verloren. So aber ist die Wunde aufgebrochen, und Mr. Loveys fand mit seiner Pinzette noch einen Metallsplitter und einige Stoffetzen.»

Herrick ließ sich in einen Stuhl fallen.»Gott sei Dank!«Bis zu diesem Augenblick hatte er geglaubt, Bolitho lebe zwar, habe aber sein Bein eingebüßt.

Allday schaute sich immer noch benommen in der Kajüte um.»Ich. Tut mir leid, Sir, ich hätte hier nicht so hereinplatzen sollen, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen.»

Herrick übergab ihm die Flasche.»Nehmen Sie die mit in Ihr Quartier, und trinken Sie den Rest aus. Sie haben es verdient.»

Allday nickte und ging langsam zur Tür. Doch er drehte sich noch einmal um und murmelte:»Er hat plötzlich die Augen aufgemacht, Sir. «Wie zur Bekräftigung rieb er sich das Kinn.»Und wissen Sie, was er als erstes zu mir sagte?»

Herrick antwortete nicht, als er die Tränen sah, die über Alldays stoppelige Backen liefen.

>»Du hast dich heute nicht rasiert, du Lümmel!< Das hat er gesagt,

Sir.»

Browne schloß vorsichtig die Tür, die Allday in Gedanken offengelassen hatte, setzte sich wieder und schaute zu Boden.»Jetzt verstehe ich Sie, Sir.»

Als Herrick nicht antwortete, bemerkte er, daß der Kapitän in seinem Stuhl eingeschlafen war.

Sehr vorsichtig verließ Browne die Kajüte und ging zum Niedergang. Dort stieß er fast mit dem Schiffsarzt zusammen, der einen Augenblick abwartete, in dem das Schiff wieder auf ebenem Kiel lag. Browne bemerkte Loveys Hände, die aussahen, als trüge er rote Handschuhe.

Er sagte:»Kommen Sie mit in die Messe. Ich mache eine Flasche auf. Die haben Sie mehr als verdient!»

Loveys betrachtete ihn mißtrauisch.»Ich bin kein Zauberer, wie Sie wissen. Konteradmiral Bolitho kann noch einen Rückfall bekommen, und selbst wenn alles gutgeht, wird er bis an sein Lebensende leicht humpeln und Schmerzen haben. «Völlig unerwartet lächelte er, und dabei war besonders deutlich zu erkennen, wie erschöpft er war.»Glauben Sie mir, Mr. Browne, ich bin selber überrascht.»

Herrick kam aus seinem Stuhl hoch und ertastete sich den Weg aus der Kajüte. Seine Erschöpfung war ein guter Grund dafür gewesen, daß er eingeschlafen war. Wenn er sich noch länger mit Browne unterhalten hätte, wäre es ihm — genau wie Allday — unmöglich gewesen, seine Gefühle zu verbergen.

Er tapste hinauf aufs Achterdeck, wobei seine Augen in der Dunkelheit doch noch die schemenhaften Kanonen erkennen konnten, während die Finknetze sich klar wie Schattenrisse gegen den Abendhimmel abzeichneten.

Der Steuermannsmaat der Wache stand beim Aufgang zur Hütte, einer der Midshipmen schrieb etwas auf seine Tafel, die er dazu ans Kompaßlicht hielt. Das Schiff ächzte und quietschte bei seiner heftigen Dümpelei vor der Ankertrosse. Die Decks glänzten naß vom Regen, und die Luft war eiskalt. An der entgegengesetzten Ecke des Achterdecks entdeckte Herrick den wachhabenden Offizier. Er rief:»Mr. Pascoe!»

Pascoe eilte herbei, seine Schritte waren auf dem nassen Deck kaum zu hören. Er blieb vor seinem Kommandanten stehen und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen.»Sie haben mich gerufen, Sir?»

«Es ist vorüber, Adam. Er wird überleben, und zwar mit beiden Beinen!«Herrick wandte sich ab und sagte nur noch im Gehen:»Ich bin in meiner Kajüte, wenn etwas sein sollte.»

«Aye, aye, Sir!«Pascoe wartete, bis er verschwunden war, und schlug dann glücklich die Hände zusammen.

Der Midshipman fragte ängstlich:»Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?»

Pascoe mußte seine Freude teilen, jemandem berichten.»Nicht mehr. Ich habe mich nie besser gefühlt.»

Er stakste davon und ließ den Midshipman so ratlos stehen wie zuvor. Auch dieser machte sich selbstverständlich Sorgen um den Admi-ral. Aber im Leben eines Midshipman gab es viele Dinge, über die er sich Sorgen machen konnte. Diese Rechenaufgabe zum Beispiel. Der alte Grubb wollte sie noch vor Tagesanbruch haben. Da gab es keinerlei Entschuldigung.

Die Tafel zitterte, als der Junge sich an den schrecklichen, aber großartigen Augenblick erinnerte. An den Konteradmiral, der seinen Hut schwenkte und die Kanonen des Feindes mißachtete. An die jubelnden oder sterbenden Männer. Und er, Midshipman Edward Graham aus der Grafschaft Hampshire, hatte überlebt.

Der dreizehn Jahre alte Midshipman konnte nicht wissen, daß Richard Bolitho fast genau dasselbe dachte.

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