XVII Das Hauptziel

Bolitho saß mit gezückter Feder an einem kleinen Tisch in der Kajüte vor seinem Bericht. Irgend jemand würde ihn lesen, dachte er grimmig; Logbücher und schriftliche Berichte schienen immer zu überleben, was auch geschah.

Ihm war so seltsam zumute, als ob er in einem verlassenen Haus säße. Das gesamte Mobiliar war in Räume unterhalb der Wasserlinie gebracht worden, und ohne daß er vom Tisch aufblickte, wußte er, daß die Bedienungen der nächststehenden Neunpfünder den Raum mit ihm teilten. Sämtliche Vorhänge waren abgenommen und das Schiff vom Bug bis zum Heck in Gefechtsbereitschaft versetzt worden, während es sich langsam wieder der dänischen Küste näherte.

Anders als Nelsons Flotte war Bolithos Geschwader während der Nacht unterwegs gewesen. Er hatte seine kleine Streitmacht in Kolonnen geteilt, weil sie auf diese Weise mehr sahen, als wenn sie in Kiellinie gesegelt wären. Matrosen und Seesoldaten hatten im ständigen Vierstundenwechsel Kriegswache geschoben und dazwischen ein paar Stunden neben ihren Kanonen ausgeruht, mit unverdünntem Rum und trockenem Hartbrot als einziger Ernährung. Das Kombüsenfeuer war aus Sicherheitsgründen schon lange gelöscht worden, denn innerhalb von Minuten mußte jedes Schiff des Geschwaders gefechtsbereit sein.

Bolitho las noch einmal durch, was er über Midshipman Penels, zwölf Jahre und neun Monate alt, geschrieben hatte, der am Tag zuvor in verzweifeltem Heldentum sein Leben geopfert hatte. Woran mochte der Junge zuletzt gedacht haben? An Pascoe, den er in die Affäre Babbage hineingezogen hatte? Oder an seinen Admiral, der sich seiner angenommen und ihn Browne zugeteilt hatte, als alle anderen nichts mehr von ihm wissen wollten?

Bolithos sorgfältig abgefaßter Bericht würde vielleicht der Mutter des Jungen helfen, wenn sie schließlich die Nachricht in Cornwall erhielt. Bolitho zweifelte nicht daran, daß auch Herrick es vermeiden würde, irgend etwas von Babbage zu erwähnen, um sie damit nicht zu belasten.

Allday trat an eine der offenen Stückpforten und lehnte sich hinaus, um aufs Wasser zu schauen, das kalt und grau im Licht des frühen Morgens dalag. Die Nicator, der Inchs Odin dichtauf folgte, stand in zwei Kabellängen Entfernung querab und brachte etwas Leben in die trübe Szene.

Er sagte:»Nicht mehr lange, Sir.»

Bolitho wartete, daß Yovell den Umschlag versiegelte, und erwiderte:»Nelsons Angriff wird in zwei Stunden beginnen, wenn alles programmgemäß verläuft. «Er blickte das Deck entlang, und da es keinen Vorhang mehr gab, konnte er vom Dunkel unter der Hütte bis zum Achterdeck hindurchschauen, auf dem lebhafte Tätigkeit herrschte.

«Unser Teil der Aufgabe kann jederzeit losgehen. «Er stand auf und belastete vorsichtig sein Bein.»Holen Sie meinen Säbel, bitte.»

Wie still es im Schiff war, dachte er. Die Aufregung über die Eroberung der Ajax war durch den Verlust von Peels Relentless und ihr schreckliches Ende durch die Entzündung ihrer Pulverkammer gedämpft. Lookout hatte insgesamt zehn Überlebende aufgefischt. Hinzu kamen Pascoe und der Seemann mit dem verbrannten Arm, die sie selber gerettet hatten. Das hieß, daß über zweihundert Matrosen und Seesoldaten ihr Leben verloren hatten, ein viel zu hoher Preis für diesen Erfolg.

Bolitho hatte seinen Neffen mehrmals während der Nacht besucht. Jedesmal war Pascoe hellwach, entgegen Loveys Vorhaltungen, daß er schlafen und seine Kräfte schonen solle. Vielleicht standen ihm die Augenblicke im Wasser noch zu lebhaft vor Augen, daß er fürchtete, nie wieder aufzuwachen, wenn er einschlief, und daß sein Überleben nur ein Teil eines Alptraumes wäre.

Pascoes Bericht, so knapp er war, rundete das Bild vom Verlust der Relentless auf schreckliche Weise ab.

Besonders tragisch daran war, daß Peel eigentlich schon gesiegt hatte. Aber in letzter Verzweiflung hatte die Ajax auf ihren Gegner zugedreht, und so waren die beiden Fregatten — Bugspriet gegen Bugspriet — zusammengestoßen. Durch die Gewalt des Aufpralls war der Kreuzmast des Franzosen von oben gekommen und hatte viele Männer von den Füßen gerissen.

Pascoe erinnerte sich dunkel, daß Peel etwas von Rauch geschrien hatte, als die Männer der Relentless sich schon mit Hurrageschrei daranmachten, den Feind zu entern.

Er selber war auf dem Achterdeck gewesen, weil der Zweite Offizier schon bei einer der ersten Breitseiten tödlich getroffen worden war. Im nächsten Augenblick fühlte er, wie er durch die Luft flog und dann ins Wasser geschleudert wurde, in das er zunächst tief eintauchte.

Pascoe hatte sich nach oben gearbeitet und war auf eines der herumtreibenden Boote zugeschwommen, als im selben Augenblick eine der Maststengen der Relentless wie die Lanze eines Riesen vom Himmel fiel und das Boot und die darin Rettung Suchenden zerschlug.

Was eigentlich explodiert war, hatte Pascoe nicht mitbekommen. Es hatte die Sechsunddreißig-Kanonen-Fregatte zwar in Stücke zerrissen, doch er hatte nichts gehört.

Wahrscheinlich hatte der Zusammenstoß der beiden Schiffe einige Männer unter Deck von den Füßen gebracht. Eine Lampe war dabei umgefallen, Pulver, das von den Munitionsträgern unwissentlich verstreut worden war, hatte sich entzündet und die Pulverkammer selber in Brand gesetzt. Vielleicht war auch ein brennender Rohrpfropf des Feindes schuld gewesen — es gab viele Möglichkeiten, wie es zur Explosion der Pulverkammer gekommen sein konnte.

Bolitho trat langsam unter der Hütte hervor und duckte sich automatisch, um nicht an die Decksbalken zu stoßen. Gesichter wandten sich ihm im Vorbeigehen zu, die ihm nach fast sieben Monaten gemeins amen Lebens an Bord nicht mehr fremd waren.

Die Gestalten auf dem Achterdeck gewannen Leben, als er in das Morgenlicht hinaustrat. Er sah Herrick, der sein Teleskop über die Netze auf die Lookout gerichtet hielt, die Backbord voraus in dem befohlenen Abstand vor ihnen segelte.

Die See hob und senkte sich in langsamem Rhythmus, ohne daß sich die Wellenkämme überschlugen. Um sie herum lag noch leichter Dunst, weiter vor ihnen war er leicht grün getönt: eine optische Täuschung. Der Dunst war echt, aber die grüne Schicht voraus war Land: Dänemark.

Herrick bemerkte Bolitho und berührte seinen Hut.

«Der Wind hat um weitere zwei Strich geräumt, Sir. Mehr, als ich gehofft hatte. Ich werde auf diesem Nordnordost-Kurs durchhalten, bis ich eine klare Landpeilung habe. «Etwas vom alten, unsicheren Herrick kam wieder hervor, als er hinzufügte:»Wenn Sie einverstan-

den sind, natürlich.«»Aye, Thomas. Das ist genau richtig.»

Bolitho schlenderte zu den Finknetzen und schaute in die entgegengesetzte Richtung. Da, etwas achteraus, segelte die Styx, allein und wachsam, bereit, heranzubrausen und zu helfen, wenn es erforderlich wurde.

Der Kommandant der Ajax hatte die Relentless wahrscheinlich für die Styx gehalten, dachte Bolitho, und das hatte ihn zu größter Leistung angespornt, um sich für den Überfall bei Gotland zu rächen.

Midshipman Keys, der Browne half, rief aufgeregt:»Signal von Lookout, Sir: >Zwei fremde Segel in Nordwest<.»

Männer wühlten geschäftig in einem Wirrwarr von Flaggen, als das Signal durch die Linie bis zur entfernter stehenden Styx wiederholt wurde.

«Zwei Segel? Hm. «Herrick rieb sich das Kinn.

Bolitho sagte» Signal für alle, bitte: >Klar Schiff zum Gefecht

Wolfe kicherte und zeigte zur querabstehenden Nicator hinüber.»Hören Sie, Sir? Die brüllen vor Begeisterung.»

Browne meldete:»Signal ist durch!»

Bolitho fing seinen Blick auf.»Alles in Ordnung?»

Der Flaggleutnant lächelte etwas gequält.»Besser, Sir. Ein bißchen besser.»

«An Deck! Feind in Sicht! Zwei Linienschiffe!»

Wolfe marschierte auf und ab, wobei seine großen Füße wunderbarerweise weder an Ringbolzen im Deck noch an die mit Ansetzern und Handspaken hinter ihren Kanonen hockenden Geschützbedienungen stießen.

«Ohne Fregatten also? Das ist seltsam!»

Herrick straffte sich und richtete sein Teleskop nach Backbord voraus.»Hab' sie!»

Bolitho hob sein eigenes Glas und sah, wie die beiden turmhohen Leinwandpyramiden aus dem Dunst hervortraten, als die Schiffe sich ihnen auf konvergierendem Kurs näherten.

Es waren Zweidecker, jeder an der Gaffel mit einer großen, sich im Winde blähenden Flagge, rot mit weißem Kreuz, der Flagge Dänemarks.

Die Breitfock der Benbow wölbte sich wie ein gewaltiger Busen, als eine frische Brise über das träge Wasser fegte.

Bolitho sagte:»Die halten ihren Kurs durch, Thomas. Seltsam, da sie uns doch stark unterlegen sind.»

Herrick grinste.»Mal was anderes, Sir. Sonst sind immer wir in der Minderzahl gewesen.»

Bolitho dachte an den Mann in dem büchergefüllten Raum im Schloß von Kopenhagen. Was er jetzt wohl tat? Ob er sich noch an ihr kurzes Zusammentreffen mit Inskip im Hintergrund erinnerte?

Irgend jemand kicherte, und dieser Laut wirkte völlig unangebracht in der allgemeinen Spannung, die über dem Achterdeck lag. Als Bo-litho sich umdrehte, sah er Pascoe aus der Hütte kommen, sehr blaß, aber entschlossen, sich keine Unsicherheit anmerken zu lassen. Er trug eine geliehene Uniform, die ihm viel zu groß war.

Er tippte an seinen Hut und sagte mit schwacher Stimme:»Melde mich zum Dienst, Sir.»

Herrick starrte ihn an.»Mein Gott, Mr. Pascoe, was fällt Ihnen ein?»

Aber Bolitho sagte:»Schön, daß du wieder da bist.»

Pascoe gab den grinsenden Matrosen ein Lächeln zurück.»Der Rock gehört Mr. Oughton, Sir. Er ist etwas größer als ich.»

Bolitho nickte.»Wenn dir schwach wird, sage es.»

Er konnte Pascoes Drang, an Deck zu kommen, verstehen. Nach seinem Erlebnis auf der Relentless würde er es kaum unten im Orlop-deck aushalten können.

Pascoes sagte bescheiden:»Ich habe von Penels gehört, Sir. Ich fühle mich mitschuldig. Als er das erste Mal zu mir kam…»

Herrick unterbrach ihn.»Sie hätten nichts verhindern können. Wenn etwas falsch gemacht wurde, dann trifft mich genausoviel Schuld. Penels brauchte Rat und Führung, und ich habe ihn wegen seiner einen unbedachten Handlung verurteilt.»

«An Deck!«Der Ausguck stockte, als traue er sich nicht zu melden, was er sah.»Galeeren! Zwischen den beiden Linienschiffen!«Seine Stimme überschlug sich vor ungläubigem Staunen.»So viele, daß ich sie nicht zählen kann!»

Bolitho senkte sein Glas in dem Augenblick, als an den Rahen der Lookout eine neue Reihe von Signalen hochging. Er brauchte sie nicht abzulesen. Zwischen den beiden auf sie zukommenden Schiffen war eine ansehnliche Flottille von rudergetriebenen Fahrzeugen zu erkennen. Wie rote Flügel hoben und senkten sich die Blätter der Riemen in gleichmäßigem Takt, und über die verdeckt sitzenden Ruderer und die schwere Kanone, die jedes Fahrzeug am Bug trug, wehte bei dem achterlichen Wind eine riesige Flagge nach vorn aus.

«Lassen Sie laden und ausrennen, Kapitän Herrick!«Bolithos betonte Förmlichkeit beendete das plötzliche Nachlassen der allgemeinen Spannung.»Das obere Batteriedeck mit Schrapnells und Stangenkugeln laden!»

Er wandte sich an die Offiziere der Seesoldaten.»Major Clinton, es gibt heute Arbeit für Ihre Scharfschützen.»

Die beiden Offiziere machten eine knappe Ehrenbezeigung und eilten zu ihren Männern.

Bolitho sprach seine Gedanken laut aus.»Sie werden versuchen, uns voneinander zu trennen. Signalisieren Sie Styx und Lookout, daß sie den Feind im Rücken angreifen, sobald wir im Gefecht stehen.»

Der junge Midshipman, der den Platz des toten Penels eingenommen hatte, schrieb kratzend auf seiner Schiefertafel und wartete dann mit halboffenem Mund, als bekäme er nicht genug Luft.

Bolitho sah ihn gedankenverloren an und erfaßte in diesen wenigen Sekunden, wie jung, wie voller Hoffnung und Vertrauen er war.

«Jetzt können Sie Signal Nummer sechzehn setzen, Mr. Keys! Und sorgen Sie dafür, daß es wehen bleibt.»

Ein Ruck ging durch den Jungen, und dann rannte er zurück zu seinen Signalgasten.»Los, Steward!«hörte man ihn brüllen,»Setzen Sie das Signal >Ran an den Feind

Keys war schätzungsweise vierzehn. Wenn er den heutigen Tag überlebte, würde er sich dieses Augenblicks zeitlebens erinnern, dachte Bolitho.

Langsam und unerbittlich kamen sich die beiden Formationen näher. Es war, als würden sie von irgendeiner übermächtigen Kraft gezogen, und als seien ihre Befehlshaber der wachsenden Gefahr gegenüber blind oder ahnungslos.

Herrick fragte:»Sollen wir die Schlachtlinie bilden, Sir?»

Bolitho antwortete nicht sofort. Er richtete sein Glas nacheinander sorgsam auf jedes seiner Schiffe und registrierte, daß alle ihre Geschütze ausgefahren hatten, die nun wie drohende Gebisse aussahen, während ihre Rahen und Segel unverändert standen.

Die Nacht über hatte sich Bolithos Geschwader genau an den sorgfältig bedachten Plan gehalten. Nachdem sie sich von Kopenhagen abgesetzt hatten, hatte das Geschwader langsam Kurs geändert und dabei von der Windänderung profitiert, die es ihnen erlaubte, wieder näher an die Küste heranzugehen. Wie es schien, hatte sich ihr Plan glänzend bewährt. Hier waren die Galeeren, die mit nördlichem Kurs auf Kopenhagen zuhielten, um ihre mächtige Unterstützung anzubieten, sobald der britische Admiral Anstalten zum Angriff machte. Bo-litho konnte sich jetzt entweder in einen Nahkampf mit ihnen einlassen, oder er konnte in gebührendem Abstand folgen und ihnen auf dem Weg zu ihrem eigentlichen Ziel möglichst großen Schaden zufügen.

Die Anwesenheit der beiden Linienschiffe dritten Ranges irritierte ihn. Größere Kriegsschiffe waren im Zusammenwirken mit schnellen Ruderbooten meist nutzlos. Ihre unterschiedliche Beweglichkeit und Feuerkraft hatten sich bisher eher als hinderlich denn als nützlich erwiesen.

Vielleicht wollten die Dänen diese Schiffe auch nur als Verstärkung nach Kopenhagen schicken und benützten den Schwarm der Galeeren als Begleitschutz dorthin.

Er sagte:»Nein. Wir bleiben in zwei Kolonnen. Ich bin mir über die Absichten des Feindes noch nicht sicher. In einer festen Schlachtlinie wären wir noch gefährdeter.»

Herrick schien überrascht.»Sie werden doch nicht wagen, uns anzugreifen, Sir! Ich würde es mit der Benbow allein gegen diesen Haufen aufnehmen.»

Bolitho senkte sein Fernrohr und wi schte sich das Auge.»Haben Sie jemals erlebt, wie Galeeren angreifen?»

«Nein, ich selber habe damit keine Erfahrung, aber. «Bolitho nickte.»Aye, Thomas, aber.»

Er dachte an das Bild, das er gerade durch sein Fernrohr gesehen hatte: zwei, möglicherweise drei Reihen von Galeeren, die zwischen den beiden großen Kriegsschiffen vorwärts marschierten. Es hatte etwas Entnervendes, dieses unaufhaltsame Vordringen. So ähnlich mußte es in alten Zeiten bei Actium und Salamis gewesen sein.

Er sagte:»Wir wollen ihre Reichweite prüfen. Die vordersten vier Geschütze der unteren Batterie feuern mit größter Erhöhung, Thomas. Mal sehen, ob sie das abschreckt.»

Herrick winkte einen Midshipman heran.»Meine Empfehlung an Mr. Byrd, und sagen Sie ihm, er solle das Feuer mit vier Probeschüssen eröffnen. Geschütz für Geschütz, so daß ich beobachten kann, wie die Aufschläge liegen.»

Der Midshipman verschwand nach unten, und Bolitho konnte sich vorstellen, wie sich die Männer von ihren geladenen Zweiunddreißig-pfündern umdrehten, als sie ihn zu dem befehlshabenden Offizier eilen sahen. Das untere Batteriedeck war seit eh und je ein unheimlicher Ort. Wegen der Feuergefahr waren sämtliche Laternen gelöscht, und das einzige Licht fiel durch die Stückpforten ein, die aber mit den Kanonen fast ausgefüllt waren. Von den Geräuschen und Ereignissen oben an Deck waren die Männer hier unten so gut wie ausgeschlossen. Die Wände ihrer Räume waren rot gestrichen, um der Schlacht etwas von ihrem Schrecken zu nehmen, wenn auch nicht den Verwundeten ihre Schmerzen.

Einige Leute an Oberdeck jubelten, als die erste Kanone unter der Back Feuer und Rauch ausspie. Herrick kommentierte:»Ziemlich nahe.»

Bolitho beobachtete, wie die zweite Kugel von der Wasseroberfläche abprallte und schließlich vor dem Schiff, das am weitesten rechts stand, ins Wasser plumpste.

Grubb knurrte ungemütlich:»Die lassen sich nicht beirren, die Kerle.»

«Weiter feuern, Sir?«Herrick beobachtete die breiter werdende Linie der Angreifer und erwartete immer noch, daß sie ihren Kurs änderten.

«Nein.»

Bolitho richtete sein Glas auf die Galeeren. Sie waren immer noch zu weit weg, als daß er Einzelheiten hätte genau unterscheiden können, außer der Genauigkeit ihres Ruderschlags, der so leicht und mühelos erschien, als ob es nicht Menschenhände wären, die ihn ausführten. Und dann erkannte er über jedem Bug die Kanone, die wie ein Elefantenrüssel hervorragte, das einzig Häßliche an dem sonst schönen Bild.

Er zuckte zusammen, obwohl er darauf vorbereitet war, als die führenden Galeeren einen Augenblick in wirbelndem Rauch verschwanden. Dann kam der Ton, ein kreischendes Geheul, anschwellend und unheildrohend, während die großen Kanonen auf ihren Schlitten zurückrutschten.

In den wenigen verbleibenden Sekunden hörte Bolitho den ärgerlichen Schrei der Möwen, die sich nach den Schüssen der Benbow gerade erst wieder auf dem Wasser niedergelassen hatten.

«Verflucht und zugenäht!«Wolfe trat vor Erstaunen einen Schritt zurückt, als die See vor ihnen in einem vulkanartigen Ausbruch von Gischt und Raum emporstieg.»Hast du das gesehen, um alles in der

Welt?»

Herrick rief:»Das war verdammt nahe, Sir. Es müssen Zweiund-dreißigpfünder sein, wenn nicht noch größere.»

Browne meldete:»Die dänischen Linienschiffe ändern Kurs, Sir.»

Bolitho beobachtete sie. Wie schwerfällige Ballettänzerinnen drehten die dänischen Schiffe langsam nach Backbord und zeigten nun auf nordöstlichem Kurs ihre Breitseiten. Vor, zwischen und hinter ihnen schwärmten die Galeeren in Gruppen zu dreien oder vieren aus.

«Verringern Sie den Abstand, Thomas. Luven Sie zwei Strich an, wenn Sie können.»

Danach schwieg er und wartete ab. Als die dänischen Kanonen wieder feuerten, zählte er die Sekunden und fühlte, wie der Schiffsrumpf zitterte, als die Kugeln dicht neben der Bordwand einschlugen und Kaskaden von Spritzwasser aufwarfen, die hoch über die Laufbrücke und bis an die hart angebraßten Rahen schlugen.

Bolitho rief sich Alldays Worte in Erinnerung. Die Feinde konzentrierten ihr Feuer offensichtlich auf das Flaggschiff. Er sagte:»Mr. Browne, geben Sie an Nicator. >Die Leekolonne greift noch nicht ein

Er warf einen Blick auf die Segel, die heftig flatternd gegen die Kursänderung protestierten. Die Benbow lag so hoch am Wind, wie Grubb es ermöglichen konnte, aber die Dänen waren noch immer im Vorteil, ihre Leinwand stand prall und wurde ausgezeichnet bedient.

Herrick beobachtete eine Gruppe von Galeeren, die in keilförmiger Aufstellung hinter dem führenden Linienschiff hervorpreschten.

Er sagte:»Diese Teufel wollen uns von vorn angreifen, wenn wir es dazu kommen lassen.»

Bolitho nickte.»Dagegen können wir im Augenblick nichts tun. Wenn wir Kurs nach Lee ändern, um beweglicher zu werden, beharken die dänischen Linienschiffe unser Heck. Selbst auf diese Entfernung würde uns das schwer schaden, bevor wir selber zurückschlagen könnten.»

Während er sprach, erkannte er die Absicht des dänischen Befehlshabers. Wie Haifische um einen hilflosen Wal konnten die Galeeren die Benbow bis auf die Knochen abnagen, ohne einen einzigen Mann zu riskieren.

Mit rauher Stimme befahl er:»Signal an Lookout: >Angreifen! <»

Herrick wandte sich Wolfe zu, der gerade weitere Leute an die Leebrassen schickte.

Er weiß, was dieser Befehl bedeutet, dachte Bolitho bitter. Lookout war schnell und beweglich, aber ihr schnittiger Rumpf war schweren Geschossen nicht gewachsen.

Browne rief:»Sie hat das Signal bestätigt, Sir.»

Bolitho beobachtete, wie die Korvette ihre Bramsegel setzte und herumschwenkte, wobei ihre Stückpforten auf der Leeseite fast unter Wasser gerieten. Er erinnerte sich an sein erstes selbständiges Kommando, und mit welchen Hoffnungen er es angetreten hatte. Nun sah er Veitch, den Kommandanten dieser Korvette, vor sich und betete im stillen, daß er all seine Erfahrungen nutzen und das Schicksal der Relentless aus seinen Gedanken verbannen würde.

Das Geschützfeuer nahm zu und breitete sich aus, als die Indomita-ble ihre erste gut gezielte Breitseite auf den Feind losließ. Eine weitere purpurrote Kolonne von Galeeren ruderte hinter dem Geschwader herum, aber offensichtlich mit weniger Zuversicht, als die Styx Kurs änderte und sich ihr entgegenstellte.

Die Wasseroberfläche war nun mit dahinziehenden Wolken von Pulverqualm bedeckt, und die Luft dröhnte von dem fast unaufhörlichen Geheul und anschließendem Einschlag der schweren Eisenkugeln.

Während einer kurzen Feuerpause hörte Bolitho ein tieferes, gewaltigeres Geräusch, das unter der Wasseroberfläche entlangzulaufen und den Kiel seines Schiffes anzuheben schien.

Grubb ging zur Logkladde.»Schätze, daß die Flotte jetzt angreift,

Sir.»

Wolfe wandte sich um und lächelte grimmig.»Wird auch verdammt Zeit, Mr. Grubb! Ich habe es satt, immer das Hauptziel zu sein.»

Ein Ruck lief durch den Schiffsrumpf, als eine Kugel tief unten in der Bilge einschlug. Bolitho hörte, wie der Bootsmann einige seiner Reserveleute zur Hilfeleistung hinunterschickte.

«Lookout ist in Schwierigkeiten, Sir!»

Bolitho schaute hinüber zur Korvette und erstarrte, als er ihren

Fockmast umsinken sah, während allerlei Trümmer an ihrer Gefechtsseite außenbords herumhingen. Die Galeeren kamen ihr immer näher und hämmerten so schnell sie nachladen konnten mit ihren Kanonen auf sie ein. Eine war zu waghalsig gewesen und wurde wie ein Jagdhund vom verfolgten Eber hochgeworfen. Menschen und Riemen fielen aus ihrem zertrümmerten Rumpf ins Wasser, bevor er selber versank.

Irgend jemand rief: «Styx hat zwei von ihnen geknackt!»

Schreie und Flüche kamen von unten, als eine weitere schwere Kugel wie ein Rammbock die Bordwand durchschlug.

Bolitho hörte Wolfe durch sein Sprachrohr kommandieren:»Geschützführer in der Aufwärtsbewegung feuern!»

Die Männer der oberen Batterie warteten in Hockstellung wie Statuen, blind und taub gegen alles außer dem Befehl zum Feuern.

Wolfe schrie:»Feuer!»

Bolitho beobachtete den führenden dänischen Zweidecker. Der Mund wurde ihm trocken, als die gesammelte Ladung von Schrapnells und Stangenkugeln durch die Takelage des Gegners fegte. Erst kamen Segel und allerlei Tauwerk, dann die Stenge des Großmastes selber wie eine alles vernichtende Lawine von oben. Mit den Stangenkugeln — Massen von halbkugeligen Eisenstücken, die durch kurze Stangen miteinander verbunden waren — ließ es sich schlecht zielen, aber wenn sie trafen, dann konnten sie die Takelage eines feindlichen Schiffes in Sekunden zu Fetzen zerreißen.

Der Erfolg der Breitseite ermutigte die Geschützbedienungen, die von der überlegenen Taktik und Beweglichkeit der Dänen etwas eingeschüchtert waren. Sie wischten ihre Kanonenrohre aus, schufteten und fluchten in dem undurchdringlichen Pulverqualm wie die Dämonen, während ihnen der Schweiß trotz der Kälte an Armen und Rük-ken herunterrann.

«Feuer!»

Bolitho ging weiter nach achtern — die Augen fest auf das führende Schiff gerichtet, das unter dem mörderischen Feuer der Benbow nach Lee abtrieb.

Jetzt zahlten sich die Wochen und Monate harten Drills seiner Geschützbedienungen aus. Nur ein paar ferne Wassersäulen zeugten von Fehlschüssen, die meisten aber — ob Kugeln oder Stangen — fanden ihr Ziel. Die vordere Bramstenge des Dänen fiel und drehte sich dabei wie betrunken, als sie mit dem Zug der Wanten und Stage kämpfte, bevor sie mit Donnergetöse und in einem riesigen Wasserschwall über die Seite fiel.

Die Benbow steckte einen weiteren Treffer ein, der von irgendwoher voraus kam, und Bolitho bemerkte zwei Galeeren, die auf das Schiff zuhielten und dabei, so schnell sie konnten, feuerten. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er die Lookout jenseits des wogenden Qualms sah. Ihr Kreuzmast war verschwunden, und sie trieb dahin, hilflos dem Bombardement der Galeeren ausgesetzt; nur noch einige ihrer Kanonen antworteten.

«Versuchen Sie, diese Galeeren mit den Buggeschützen zu erwischen!»

Bolitho fühlte, wie ihn der große Zorn packte: kein Zorn aus Verzweiflung oder Enttäuschung, sondern etwas viel Schlimmeres, das sein Inneres wie ein Schraubstock packte, als er auf die kämpfenden Schiffe ringsum sah.

Plötzlich war ihm alles klar: die Bemühungen Admiral Damerums, ihn und sein Geschwader hierher zu schicken. Sein Versuch, Pascoe durch einen bezahlten Duellanten töten zu lassen. Und nun dies. Doch die plötzliche Drohung einer Niederlage hatte eher anspornende als umgekehrte Wirkung.

«Signal an Nicator: Sie soll das andere Linienschiff angreifen!«Er fühlte, wie Metall über seinen Kopf hinwegpfiff und krachend in die Hütte einschlug. »Styx soll Nicator und Odin unterstützen!»

Er wandte sich nach den nächststehenden Galeeren um, während der dänische Zweidecker hilflos achteraus trieb und von der Indomitable, die ihre Position hinter dem Flaggschiff hielt, behämmert wurde.

«Volle Breitseite, Thomas. Wir ändern Kurs nach Steuerbord und schießen nach beiden Seiten. «Er beobachtete, wie die Nicator und dann die Odin sein Signal bestätigten, und befahl dann:»Neuer Kurs Ostnordost!»

Männer rannten von der einen auf die andere Seite, als beide Batterien sich auf die nächste Salve vorbereiteten.

Bolitho rief:»Wir müssen uns sehr beeilen, sonst sind die Galeeren aus unserem Bestreichungswinkel heraus, bevor wir sie richtig ins Visier bekommen haben.»

Durch die Drehung nach Lee und damit weg von dem übriggebliebenen feindlichen Zweidecker schien es, als wolle die Benbow sich aus dem Kampf zurückziehen. Indem er Keen und Inch befohlen hatte, den Rest der feindlichen Formation anzugreifen, ging er das Risiko ein, sie und alle von ihnen Befehligten zu opfern.

Aber er mußte unbedingt die beiden Galeeren vernichten und das Selbstvertrauen der übrigen untergraben, sonst wurde sein ganzes Geschwader von ihnen überwältigt. Auf Damerum würde dadurch kein schlechtes Licht fallen, denn das Ostsee-Geschwader hatte dann eben seine Aufgabe in der Selbstaufopferung erfüllt. Nelson stand vor den Toren Kopenhagens, und weder die Galeeren noch sonst jemand konnte das noch verhindern.

Bolitho sah Pascoe zwischen den Kanonen auf und ab gehen. Sein geborgter Hut war verschwunden, und das schwarze Haar fiel ihm ins Gesicht, als er mit einigen Matrosen sprach. Er hatte den Schock seines Erlebnisses offenbar noch nicht überwunden, denn selbst auf die Entfernung einer ganzen Deckslänge fiel Bolitho auf, wie unnatürlich steif sich sein Neffe hielt.

Er hörte Herrick Wolfe und Grubb seine Absicht erklären, sah Matrosen an die Brassen eilen und zu den durchlöcherten Segeln aufschauen.

«Achterdecksmannschaft, Achtung!»

Weitere Treffer erschütterten das Schiff, aber in der allgemeinen Spannung schrie niemand auf.

Die Geschützbedienungen standen an ihren Vorholtaljen bereit, die Stückmeister hielten die Abzugsleinen in der Hand und ihr Ziel im Auge.

«Jetzt! Ruder hart Steuerbord! Hol' die Backbord, fier die Steuerbordbrassen! Fiert rund, Jungs!»

Bolitho spürte, wie das Deck sich seitlich neigte, sah eine umgestürzte Pütz ihr Wasser über das Deck ergießen, als die Benbow wieder einmal gehorsam den Befehlen ihrer Herren folgte.

«Die Galeeren formieren sich neu, Sir!«Browne hatte es geschafft, sich durch den Pulverqualm der unaufhörlich feuernden Oberdecksgeschütze verständlich zu machen.

Bolitho trat an die Finknetze und sah, wie die Nicator und Odin sich dem zweiten dänischen Schiff näherten. Galeeren umschwärmten sie und wurden mit gleichmäßigen Ruderschlägen mit Vorwärts- oder Rückwärtsfahrt so vorzüglich geführt, als ob sie mit ihren Kanonen zu einer Einheit zusammengewachsen wären.

Rauch drang seitlich aus der Hütte der Odin, aber Keens Nicator feuerte unbeirrt auf Kernschußweite auf ihren Widersacher. Als wieder eine volle Breitseite in das dänische Schiff einschlug, schien es, als würde es wie von einer gewaltigen Welle umgeworfen.

Die Kursänderung hatte die Benbow nicht nur von ihrem Geschwader entfernt, sondern hatte sie auch zwischen den Galeeren isoliert. Ihre erste geschlossene Breitseite nach dem Abdrehen hatte die Galeeren total überrascht. Sieben von ihnen waren gesunken oder bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Menschen strampelten zwischen treibenden Holzplanken und zerbrochenen Spieren. Bolitho nahm an, daß einige davon Überlebende der Lookout waren, die untergegangen war, ohne daß jemand es beobachtet hatte.

Bolithos Blick schweifte über das Oberdeck und über die Matrosen und Soldaten, die seit Beginn des Gefechtes unaufhörlich schufteten, Tote und Verwundete beiseite zogen und immer wieder Rohre auswischten, luden und schossen. Wieder und wieder wurde der Schiffsrumpf getroffen, und trotz des Getöses war hin und wieder das Klik-ken der Pumpen zu hören.

«Signal von Odin, Sir! >Brauche Unterstützung

Bolitho warf Herrick einen Blick zu und sagte:»Inch muß aushallen, Thomas.»

Er wandte sich ab, als neben ihm ein Mann, von einem Eisensplitter getroffen, zu Boden fiel und an seinem eigenen Blut zu ersticken schien.

Irgend jemand hatte noch Luft für einen Hurraruf, als eine weitere Galeere von einer vollen Ladung Kugeln und Schrapnelle getroffen wurde und kenterte.

Die Indomitable war weit hinter ihr Flaggschiff zurückgefallen und wehrte sich gegen Angriffe von Galeeren, die von vorn und achtern kamen, wobei die schweren Geschosse in Längsrichtung durch die Decks sausten, Geschütze umwarfen und die Bedienungen zwangen, irgendwo Schutz zu suchen.

Herrick blinzelte, barhäuptig und eine Pistole in der Hand, durch den Qualm und brüllte:»Zwei von ihnen nähern sich von achtern!»

Es gab einen Schlag, und Grubb schrie:»Ruder ist ausgefallen, Sir!»

Ein wild schlagender Schatten schwebte herab, und Bolitho fühlte sich energisch zur Seite gezogen, als die Besanstenge mit allem Drum und Dran an Rundhölzern und stehendem wie laufendem Gut von oben kam und krachend über die Backbordseite fiel. Es kam ihm jetzt vor, als wären sie nackt. Kanonen donnerten und rollten zurück wie bisher, aber als die Benbow steuerlos herumdrehte, verloren die Geschützführer ihr Ziel aus den Augen. Viele Männer lagen unter dem großen Haufen von heruntergefallenem Tauwerk begraben, andere krochen wie erschreckte Hunde auf Händen und Füßen herum. Dazwischen lagen viele Tote, unter ihnen auch Marston, der Leutnant der Seesoldaten. Eine umgekippte Kanone hatte ihm Brust und Magen zu blutigem Brei zerschmettert.

Swale, der Bootsmann, war schon mit seinen Männern bei der Arbeit. Äxte blitzten, als sie sich bemühten, ihr Schiff von dem längsseits hängenden und wie ein Treibanker wirkenden Gestrüpp zu befreien.

Herrick half Bolitho auf die Füße und rief gleichzeitig mit wildem Blick seinem Ersten Offizier zu:»Schicken Sie einen Steuermannsmaaten nach unten, Mr. Wolfe. Er soll das Reserve — Rudergeschirr anschlagen!»

Bolitho nickte Allday zu, der ihn weggezogen hatte, als die Maststenge herunterfiel.

Major Clinton eilte an der Spitze einiger Seesoldaten nach achtern, um seine dort postierten Leute zu verstärken, da sich vier oder fünf Galeeren dem ungeschützten Heck der Benbow näherten. Wieder und wieder zitterte und bebte das Deck, als Kugel auf Kugel in Heckgalerie und Achterschiff einschlugen. Dagegen klangen die Schüsse von Clintons Musketen kümmerlich und nutzlos.

Eine Drehbasse spuckte Kartätschenladungen vom Großtopp, und Bolitho bemerkte, daß das erste dänische Linienschiff, das von den Breitseiten der Benbow außer Gefecht gesetzt worden war, auf sie zutrieb und kaum noch fünfzig Yards entfernt war. Schüsse wurden über den immer kleiner werdenden Wasserstreifen ausgetauscht; die Scharfschützen auf beiden Seiten bemühten sich, die Offiziere des Gegners zu treffen und damit zum allgemeinen Durcheinander und Untergang beizutragen.

Midshipman Keys stolperte und fiel zur Seite, aber Allday fing ihn auf, bevor er das Deck berührte. Er schaute starr über Bolitho und Allday hinweg, und seine Augen wurden glasig, als er mit letzter Kraft herausbrachte:»Nummer… Sechzehn… weht… noch… Sir!«Dann starb er.

Bolitho riß sich von dem Anblick los und schaute nach oben, wo ein anderer Midshipman, der eine Konteradmiralsflagge wie ein Banner hinter sich her zog, aufenterte, um sie an der Bramstenge des Großmastes zu befestigen.

Wolfe sprang zurück, als der Rest der abgeschlagenen Takelage des Besanmastes über das Achterdeck schleifte und über die Seite verschwand. Aber er drehte sich wieder schnell um, als Major Clinton rief:»Sie entern uns, Sir!»

Herrick fuchtelte mit seiner Pistole herum, aber Bolitho rief:»Kümmern Sie sich um Ihr Schiff, Thomas!«Dann winkte er den Geschützbedienungen der Feuerleeseite zu und rief:»Mir nach, Männer!»

Keuchend und brüllend wie die Wahnsinnigen stürmten sie durch das Hüttendeck und den halb zerschossenen Niedergang hinunter. Stahl traf im Halbdunkel auf Stahl, bald überzogen Säbel und Enterbeile Deck und Bordwände mit schimmernden Mustern von Blut.

Eine Pistole knallte, und durch die zertrümmerten Heckfenster der Offiziersmesse sah Bolitho, wie immer mehr Männer aus den Galeeren, die sich am Heck der Benbow eingehakt hatten, hochkletterten und sich ihren Weg nach binnenbords erkämpften. Viele fielen Major Clintons Musketen zum Opfer, aber immer neue erschienen schreiend und fluchend, als sie mit den Männern der Benbow handgemein wurden. Denn auch in diesem grausigen Chaos waren sie sich der Tatsache bewußt, daß ihre einzige Überlebenschance darin bestand, zu siegen.

Leutnant Oughton richtete seine Pistole auf einen dänischen Offizier, zog den Abzugshebel und starrte entgeistert auf die Waffe, als sich kein Schuß löste.

Der dänische Offizier schlug das Entermesser eines Matrosen beiseite und stieß seine Klinge einmal und dann blitzschnell noch einmal in Oughtons Magen, bevor der überhaupt aufschreien konnte. Als Oughton fiel, sah der dänische Offizier dahinter Bolitho, und seine Augen weiteten sich, als er in diesem kurzen Moment dessen Rang und Stellung erkannte.

Bolitho fühlte, wie die Klinge des Dänen an seiner entlangstrich, und sah die Entschlossenheit im Blick des Mannes Verzweiflung Platz machen, als er, wie er es so oft getan hatte, seine Waffe mit einer kurzen Drehung des Handgelenks zum entscheidenden Stoß löste.

Aber als er sein Körpergewicht auf das verwundete Bein verlagerte, schien es unter ihm nachzugeben. Heftiger Schmerz durchfuhr ihn, und sein augenblicklicher Vorteil war dahin. Keuchend fiel er gegen die Männer, die von hinten drängten, zurück.

Alldays großes Entermesser blitzte vor seinen Augen auf und schlug in die Stirn des Offiziers ein wie die Axt in einen Holzblock. Allday riß es mit einem Ruck zurück und schwang es gegen einen Mann, der sich an ihm vorbeizudrücken versuchte. Der Mann schrie auf und fiel unmittelbar unter die Füße der kämpf enden und keuchenden Männer, die mit wildem Eifer ihre Stellung zu halten versuchten.»Wir sind fast längsseits beim Feind, Sir!»

Er sah die Hand eines Mannes aus dem Dunkel hervorlangen und nach einer heruntergefallenen Pistole angeln. Ein großer Fuß nagelte das Handgelenk des Mannes an Deck fest, und mit fast geringschätziger Gelassenheit hieb Wolfe mit seinem Säbel nach unten und schnitt den Schrei des Mannes ab, bevor er überhaupt begonnen hatte.

Bolitho keuchte:»Lassen Sie ein paar Leute hier!»

Er hörte Allday hinter sich, als er den Niedergang hochstürmte, sah, wie ein Schatten auf die Bedienungen der vorderen Geschütze fiel, als das steuerlose feindliche Schiff langsam auf sie zutrieb. Aber sie fuhren fort zu feuern, zu schreien und zu fluchen und hatten nichts anderes vor Augen als die durchlöcherte feindliche Bordwand. Um die Geschütze herum lagen Tote und Sterbende, aber für die Lebenden zählte nur das Schiff. Taub, halbblind und im Rausch des Tötens hatten sie nicht einmal bemerkt, daß ihr Schiff beinahe von achtern geentert worden wäre.

Bolitho ging über das zerschossene Achterdeck, den Blick fest auf den Feind gerichtet. Männer feuerten mit Musketen, Drehbassen und Pistolen, während andere ihre Entermesser und Spieße drohend gegen die Dänen schüttelten. Herrick hielt eine Hand im Rockausschnitt, und Blut tropfte von seinem Gelenk.

Browne lag auf den Knien und verband das Bein des diensttuenden Leutnants Aggett, das von einem Holzsplitter aufgerissen worden war.

«Auf die Enterer!»

Mit knirschendem Geräusch stießen die beiden Schiffsrümpfe wie zu einer letzten Umarmung zusammen. Rahen und Tauwerk verstrickten sich, und die Mündungen der Kanonen zeigten aneinander vorbei, als die beiden Schiffe, hilflos ineinander verschlungen, nach Lee abtrieben.

Clinton schwang seinen Stock.»Auf sie, Soldaten!»

Die rotröckigen Seesoldaten schritten zum Angriff, stachen mit ihren aufgepflanzten Bajonetten in die Enternetze, in die dänische Seeleute von der anderen Seite Löcher zu schlagen versuchten.

Männer fielen aufschreiend zwischen die beiden Bordwände und wurden — menschliche Fender — von den in der Dünung gegeneinan-derstoßenden Schiffskörpern zerquetscht. Andere versuchten zu entkommen und wurden von ihren Kameraden zertreten oder — kurz bevor sie sich in Sicherheit wähnten — in den Rücken geschossen. Eine Pike stieß durch das Netz und verfehlte nur knapp Alldays Brust. Browne hatte sie zur Seite gestoßen und schlug nun dem Angreifer mit dem Degen quer über das Gesicht, bevor er ihm mit einem kräftigen Stoß den Rest gab. Wie gerettete Schiffbrüchige auf einem Felsen standen Grubb und seine Männer um das nutzlos gewordene Steuerrad, feuerten mit Pistolen auf die Gestalten auf der feindlichen Laufbrücke und Hütte, während ihre verwundeten Genossen, so schnell sie konnten, ihre Waffen nachluden.

Pascoe kam mit den Bedienungen der Karronaden nach achtern gerannt, sein Säbel blinkte matt im Pulverqualm.

Schliddernd hielt er an, wobei Blut an seinen Füßen hochspritzte, und schrie:»Sir, die Indomitable hat ein Signal gesetzt!»

Herrick fluchte und feuerte seine Pistole auf den Kopf eines Mannes ab, der gerade über die Hängemattsnetze klettern wollte.

«Signale? Gottverdammmich, dafür haben wir jetzt keine Zeit.»

Browne wischte sich mit dem Handrücken die Augen und senkte seinen Degen.»Die Indomitable wiederholt ein Signal von der Flotte, Sir. Es ist Nummer neununddreißig und heißt: >Gefecht abbrechen

Bolitho schaute über den schwer mitgenommenen Rumpf und die nachgeschleppten Wanten der Indomitable hinweg. Eine Fregatte, eine von Nelsons Flotte, stand außerhalb der auf dem Wasser liegenden Wolken von Pulverqualm, als wolle sie ihnen zu Hilfe kommen, aber an ihren Rahen flatterten die Signalflaggen: >Feuer einstellend

Wolfe wies mit seinem Säbel auf das längsseits liegende Schiff, als die dänischen Seeleute nacheinander ihre Waffen fallen ließen und mit gebeugten Köpfen dastanden wie Kreaturen, für die alles zu Ende ist.

Herrick befahl:»Nehmen Sie unsere Prise in Besitz, Mr. Wolfe!«Er wandte sich um und suchte nach dem anderen Linienschiff und den übriggebliebenen Galeeren, die gerade im Rauch verschwanden, um in ihrem Hafen Schutz zu suchen.

Die See war bedeckt mit Treibgut aller Art. Freund und Feind arbeiteten Hand in Hand, um einander zu helfen und Überlebende zu retten, ohne sich darum zu scheren, wer nun eigentlich gewonnen hatte. Es gab auch viele Leichen, und Inchs Odin lag so tief im Wasser, daß es schien, als würde sie jeden Augenblick kentern. Nur die Styx machte den Eindruck, als sei sie unbeschädigt, aber es war wohl nur die Entfernung, die ihre Wunden verbarg. Auch sie nahm nun Segel weg, um zwischen dem Treibgut nach Überlebenden zu suchen.

Bolitho legte den Arm um die Schulter seines Neffen und fragte:»Möchtest du noch immer eine Fregatte kommandieren, Adam?»

Aber die Antwort ging in dem Jubelgeschrei unter, das immer lauter und wilder von Schiff zu Schiff übersprang und in das selbst die Verwundeten mit krächzenden Stimmen einfielen, dankbar, daß sie noch lebten, daß sie wieder einmal — oder auch das erste schreckliche Mal — davongekommen waren.

Herrick sammelte seinen Hut auf und schlug ihn über dem Knie aus. Dann setzte er ihn auf und sagte:»Die Benbow ist ein gutes Schiff. Ich bin stolz auf sie.»

Bolitho lächelte seinem Freund zu. Er spürte die Müdigkeit und Erschöpfung der Männer mit den rauchgeschwärzten, grinsenden Gesichtern, die ihn umstanden.

«Männer, nicht Schiffe entscheiden, sagten Sie einmal, Thomas. Erinnern Sie sich?»

Grubb schneuzte sich geräuschvoll und sagte dann:»Wir haben wieder Steuerwirkung, Sir.»

Bolitho schaute Browne an. Es war nahe dran gewesen, und er war nicht sicher, wie die Sache geendet hätte, wenn die Fregatte nicht erschienen wäre. Vielleicht waren die Engländer und die Dänen einander ähnlich, wenn sie kämpften. Wenn es so war, dann wäre bei Anbruch der Dunkelheit wohl niemand mehr am Leben gewesen.

Browne fragte mit heiserer Stimme:»Ein Signal, Sir?»

«Aye. Signal an alle: >Geschwader Linie bilden vor oder hinter Flaggschiff, wie es kommt<.»

Die Flagge >Ran an den Feind< sank von der Rah herunter, und als sie von der Flaggleine abgesteckt war, nahm Allday sie und deckte sie über den toten Midshipman.

Bolitho beobachtete das; er sagte ruhig:»Wir kehren zur Flotte zurück, Kapitän Herrick.»

Sie sahen einander an: Bolitho, Herrick, Pascoe und Allday. Jeder hatte jedem während der Schlacht Kraft gegeben. Und diesmal gab es auch für die Zukunft einiges zu erhoffen.

Selbst wenn das Wetter dem zerzausten und ausgebluteten Geschwader freundlich gesonnen blieb, war viel zu tun. Kontakte von Schiff zu Schiff mußten hergestellt, Tote bestattet und wichtigste Reparaturen vor der Heimfahrt ausgeführt werden.

Aber für diesen einen kostbaren Augenblick lohnte es sich, mit neuer Hoffnung nach vorn zu schauen.

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