18. Oktober

BRYANBARROW — CUMBRIA

Ian Cresswell war gerade dabei, den Tisch für zwei zu decken, als sein Lebensgefährte nach Hause kam. Er selbst hatte früh Feierabend gemacht, einen romantischen Abend im Sinn. Er hatte Lammbraten gekauft, der gerade unter einer duftenden Kräuterkruste im Ofen schmorte, und er hatte frisches Gemüse und Salat zubereitet. Im Kaminzimmer hatte er eine Weinflasche entkorkt, Gläser poliert und zwei Sessel und den Spieltisch aus Eichenholz aus der Zimmerecke vor den offenen Kamin geschoben. Obwohl es in dem uralten Herrenhaus eigentlich immer ein bisschen kühl war, war es noch nicht kalt genug für ein Kohlefeuer, und so hatte er eine Reihe Kerzen auf dem schmiedeeisernen Feuerrost befestigt und zwei weitere auf den Tisch gestellt. Als er gerade dabei war, die Kerzen anzuzünden, hörte er, wie die Küchentür geöffnet wurde, dann das Geräusch von Kavs Schlüsselbund, der in dem angeschlagenen Kammertopf auf der Fensterbank landete. Einen Augenblick später das Geräusch von Kavs Schritten auf den Küchenfliesen, und als die Tür des alten Backofens quietschte, lächelte Ian vor sich hin: Heute Abend war Kav mit Kochen an der Reihe, nicht er, und Kav hatte soeben die erste Überraschung entdeckt.

«Ian?«Schritte in der Küche, dann auf den Steinfliesen in der Eingangshalle. Ian hatte die Tür zum Kaminzimmer angelehnt gelassen.»Hier!«, rief er und wartete.

Kav erschien in der Tür. Sein Blick wanderte von Ian zum Tisch mit den Kerzen, zu den Kerzen im Kamin und wieder zu Ian zurück. Dann wanderte sein Blick über Ians Körper und verweilte genau da, wo Ian es wünschte. Aber nach einem Moment der Spannung, der früher einmal dazu geführt hätte, dass sie gleich darauf im Schlafzimmer gelandet wären, sagte Kav:»Ich musste heute mit anpacken, wir hatten zu wenig Leute. Ich bin verschwitzt. Ich geh mich kurz duschen und umziehen«, und verschwand ohne ein weiteres Wort. Das reichte, um Ian zu sagen, dass sein Lover genau wusste, was die Szene, die er vor sich gesehen hatte, bedeutete. Und es reichte, um Ian zu sagen, welche Richtung ihr Gespräch an dem Abend wie üblich nehmen würde. Eine solche unausgesprochene Botschaft von Kaveh hätte ihm früher den Wind aus den Segeln genommen, aber diesmal nicht. Nachdem sie drei Jahre heimlich und ein Jahr offen zusammengelebt hatten, wusste er, was ihm das für ihn bestimmte Leben wert war.

Es dauerte eine halbe Stunde, bis Kaveh endlich fertig war, aber obwohl der Braten schon seit zehn Minuten auf dem Tisch stand und das Gemüse langsam unansehnlich wurde, hatte Ian nicht vor, sich davon kränken zu lassen, dass Kav sich so viel Zeit genommen hatte. Ian schenkte ihnen Wein ein — vierzig Pfund hatte die Flasche gekostet, was der Anlass jedoch rechtfertigte — und hob sein Glas.»Das ist ein guter Bordeaux«, sagte er und wartete darauf, dass Kav mit ihm anstieß, denn es war schließlich nicht zu übersehen, dass er das wünschte, so wie er mit dem Glas in der Hand dastand und ihn erwartungsvoll anlächelte.

Zum zweiten Mal betrachtete Kav den Tisch.»Zwei Gedecke?«, sagte er.»Hat sie angerufen oder was?«

«Ich habe sie angerufen. «Ian ließ die Hand mit dem Glas sinken.

«Und?«

«Ich habe sie gebeten, die beiden erst morgen zurückzubringen.«

«Und darauf hat sie sich eingelassen?«

«Ausnahmsweise. Willst du nicht von dem Wein trinken, Kav? Ich hab ihn in Windermere gekauft. In dem Weinladen, wo wir letzten …«

«Ich hatte heute eine Auseinandersetzung mit dem alten George. «Kav machte eine Kopfbewegung in Richtung Straße.»Er hat mich abgefangen, als ich hier ankam. Beschwert sich mal wieder über die Kälte. Er meint, ihm würde eine Zentralheizung zustehen. Zustehen, hat er tatsächlich gesagt.«

«Er hat doch jede Menge Kohle. Warum verheizt er die nicht, wenn’s ihm im Haus zu kalt ist?«

«Er sagt, er will nicht mit Kohle heizen. Er will eine Zentralheizung. Er sagt, wenn er keine kriegt, sieht er sich nach was anderem um.«

«Als er hier gewohnt hat, hatte er doch auch keine Zentralheizung, Herrgott noch mal.«

«Da hatte er das Haus. Ich glaube, das hat er als eine Art Kompensation betrachtet.«

«Also, er soll sich gefälligst an die Situation gewöhnen, und wenn er das nicht kann, dann soll er sich eben einen andern Hof mieten. Aber ich habe keine Lust, den ganzen Abend über George Cowleys Groll auf uns zu reden. Das Anwesen stand zum Verkauf. Wir haben es gekauft, nicht er. Ende.«

«Du hast es gekauft.«

«Eine Formsache, die hoffentlich bald aus der Welt geschafft wird. Dann gibt es kein Dein und Mein mehr. Kein Ich, kein Du. Nur noch ein Wir. «Ian reichte Kav das zweite Glas. Kav zögerte kurz, dann nahm er es.»Gott, wie sehr ich dich begehre«, sagt Ian und fügte lächelnd hinzu:»Willst du mal fühlen, wie sehr?«

«Hmm. Nein. Lassen wir’s langsam angehen.«

«Mistkerl.«

«Ich dachte, das gefällt dir.«

«Das erste Mal, dass du lächelst, seit du nach Hause gekommen bist. Hattest du einen anstrengenden Tag?«

«Eigentlich nicht«, sagte Kav.»Nur viel Arbeit und wenig Leute. Und du?«

«Nein. «Sie tranken beide einen Schluck, ohne den Blick voneinander abzuwenden. Kav lächelte wieder. Ian trat auf ihn zu. Kav wich zurück. Er versuchte, es so aussehen zu lassen, als hätte das frischpolierte Besteck oder die Blumenschale auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit erregt, aber Ian ließ sich nicht täuschen. Er dachte, was jeder Mann denken würde, der vierzehn Jahre älter war als sein Liebhaber und alles aufgegeben hatte, um mit ihm zusammen sein zu können.

Mit seinen achtundzwanzig Jahren würde Kaveh ihm tausend Gründe dafür nennen können, dass er noch nicht bereit war, sich zu binden. Doch Ian hatte keine Lust, sie sich anzuhören, denn er wusste, dass es nur einen Grund gab. Und um diese Heuchelei ging es in jedem Streit, den sie im letzten Jahr geführt hatten.

«Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?«, fragte Ian und hob erneut sein Glas.

Kav nickte, aber er wirkte gequält.»Der Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Ich hab’s total vergessen. Einfach zu viel los in Ireleth Hall. Aber dann …«Er zeigte auf den Tisch. Ian wusste, dass er nicht nur die schöne Deko meinte, sondern auch die Mühe, die er sich mit dem Abendessen gemacht hatte.»Als ich das gesehen hab, ist es mir natürlich sofort wieder eingefallen. Ich bin eine komplette Niete. Ich habe nichts für dich.«

«Ach, das macht doch nichts«, sagte Ian.»Was ich mir wünsche, hast du immer bei dir, du brauchst es mir nur zu geben.«

«Du hast es doch schon, oder?«

«Du weißt, was ich meine.«

Kaveh trat ans Fenster und schob die schweren Vorhänge einen Spaltbreit auf, wie um nachzusehen, wo das Tageslicht geblieben war, doch Ian wusste, dass er überlegte, was er sagen sollte, und der Gedanke, dass er sagen könnte, was Ian nicht hören wollte, bescherte ihm das verräterische Pochen im Kopf und Sternchen vor den Augen. Er blinzelte.

«Eine Unterschrift im Standesamt macht unsere Beziehung nicht offizieller, als sie es so schon ist.«

«Unsinn«, entgegnete Ian.»Sie macht sie mehr als offiziell. Sie macht sie legal. Die Leute im Dorf werden uns akzeptieren, und vor allem zeigt sie aller Welt …«

«Wir brauchen nicht die Anerkennung der Leute hier.«

«Und vor allem«, wiederholte Ian,»zeigt die Unterschrift aller Welt …«

«Ganz genau«, sagte Kaveh gereizt.»Die Welt, Ian. Denk mal drüber nach. Und allen, die darin leben.«

Vorsichtig stellte Ian sein Weinglas auf dem Tisch ab. Er sollte den Braten aufschneiden, das Gemüse anrichten, sich an den Tisch setzen und essen und es gut sein lassen. Nach dem Essen mit Kav nach oben gehen und sich im Bett austoben. Aber an diesem ganz besonderen Abend konnte er nicht anders, als seinem Lebensgefährten noch einmal zu sagen, was er ihm schon ein Dutzend Mal gesagt hatte, obwohl er sich geschworen hatte, das Thema ausgerechnet heute nicht zu erwähnen:»Du hast mich gebeten, mich zu meiner Homosexualität zu bekennen, und ich habe es getan. Für dich. Nicht für mich, denn für mich spielte es keine Rolle. Und was ich getan habe — für dich —, war für andere Leute genauso schlimm, als hätte ich ihnen einen Dolch ins Herz gestoßen. Mir war das egal, weil es das war, was du wolltest, und weil mir klar geworden war …«

«Das weiß ich alles.«

«Drei Jahre Heimlichtuerei ist genug, hast du gesagt. Du hast gesagt, heute Abend musst du dich entscheiden. Vor allen hast du das gesagt, Kav, und vor allen habe ich mich entschieden. Dann bin ich gegangen. Mit dir. Hast du überhaupt eine Ahnung …«

«Natürlich habe ich eine Ahnung. Glaubst du, ich bin aus Stein? Ich habe eine Ahnung, verdammt. Aber wir reden nicht vom Zusammenleben, nicht wahr? Wir reden vom Heiraten. Und wir reden über meine Eltern

«Die Leute gewöhnen sich an alles«, entgegnete Ian.»Das hast du mir doch gesagt.«

«Die Leute, ja. Andere Leute. Sie gewöhnen sich an alles. Aber nicht meine Eltern. Wir haben das doch schon hundertmal durchgekaut. In meiner Kultur — in ihrer Kultur — «

«Ihr gehört jetzt zu unserer Kultur. Ihr alle.«

«So funktioniert das nicht. Man flüchtet nicht in ein fremdes Land, nimmt eine Wunderdroge und wacht am nächsten Morgen mit einem völlig neuen Wertesystem auf. So läuft das nicht. Und als einziger Sohn — als einziges Kind, Herrgott noch mal — habe ich … Verdammt, Ian, das weißt du doch alles. Warum bist du nicht mit dem zufrieden, was wir haben? Mit dem, wie es ist?«

«Weil das, wie es ist, eine Lüge ist. Du bist nicht mein Mieter. Ich bin nicht dein Vermieter. Glaubst du im Ernst, dass sie uns das auf Dauer abkaufen?«

«Sie kaufen mir alles ab, was ich ihnen sage. Ich lebe hier, sie leben dort. Das funktioniert, und es wird immer funktionieren. Alles andere würden sie nicht verstehen. Sie brauchen es nicht zu wissen.«

«Warum nicht? Damit sie dir regelmäßig junge heiratsfähige Iranerinnen schicken können? Junge Frauen, die deine Eltern sofort zu Großeltern machen würden?«

«Das wird nicht passieren.«

«Es passiert doch bereits. Mit wie vielen haben sie dich schon zusammengebracht? Einem Dutzend? Mehr? Und wann wirst du einknicken und heiraten, weil du den Druck nicht mehr erträgst, weil dein Pflichtgefühl die Oberhand gewinnt? Und dann? Wie soll es dann weitergehen? Wirst du dann zwei Leben führen? Eins in Manchester mit ihr — wer auch immer sie sein wird — und den Kinderchen und eins mit mir und … Verdammt noch mal, sieh mich an. «Ian hätte den Tisch mit allem darauf umwerfen können. Etwas braute sich in ihm zusammen, er würde gleich explodieren. Er ging zur Tür. Er würde die Eingangshalle durchqueren und durch die Küche nach draußen gehen.

«Wo willst du hin?«, fragte Kaveh scharf.

«Raus. Zum See. Was weiß ich. Ich muss einfach raus.«

«Komm schon, Ian. Jetzt sei doch nicht so. Was wir haben …«

«Was wir haben, ist nichts.«

«Das stimmt nicht. Komm her, dann zeig ich’s dir.«

Aber Ian wusste, wohin das führen würde, nämlich dahin, wohin es immer führte, nur nicht zu der Veränderung, die er wollte. Er verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

UNTERWEGS NACH BRYANBARROW — CUMBRIA

Tim Cresswell fläzte sich auf dem Rücksitz des Volvo. Er versuchte nicht hinzuhören, als seine kleine Schwester ihre Mutter mal wieder anflehte, sie beide bei sich wohnen zu lassen.»Bitte, bitte, bitte, Mummy«, sagte sie. Sie versuchte, ihre Mutter davon zu überzeugen, dass ihr etwas fehlte, wenn sie ihre Kinder nicht ständig um sich hatte. Nicht dass irgendetwas, was Gracie sagte, oder die Art, wie sie es sagte, etwas bewirken würde. Niamh Cresswell hatte nicht die Absicht, ihre Kinder bei sich in Grange-over-Sands wohnen zu lassen. Sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich um ihre Sprösslinge zu kümmern. Das hätte Tim Gracie gern erklärt, aber wozu? Sie war erst zehn und noch zu klein, um zu verstehen, was es mit Stolz, Hass und Rachegelüsten auf sich hatte.

«Daddys Haus ist schrecklich«, sagte Gracie nachdrücklich.»Es gibt überall Spinnen. Es ist dunkel, und die Treppen quietschen, und es zieht, und in den Ecken hängen Spinnweben. Ich will bei dir wohnen, Mummy. Und Timmy auch. «Sie wand sich auf ihrem Sitz.»Du willst doch auch bei Mummy wohnen, oder, Timmy?«

Nenn mich nicht Timmy, du dumme Gans, hätte Tim seiner Schwester am liebsten geantwortet, aber er konnte einfach nicht wütend auf Gracie sein, wenn sie ihn so vertrauensvoll anschaute. Und er hätte ihr gern geraten, sich ein dickeres Fell zuzulegen, wenn er diesen Blick sah. Die Welt war ein Drecksloch, und er konnte einfach nicht verstehen, warum Gracie das noch nicht begriffen hatte.

Tim sah, dass seine Mutter ihn im Rückspiegel beobachtete und abwartete, was er seiner Schwester antworten würde. Er kräuselte die Lippen und schaute aus dem Fenster. Eigentlich konnte er es seinem Vater nicht verübeln, dass er die Bombe hatte platzen lassen, die ihr Leben zerstört hatte. Seine Mutter war ein richtiges Miststück.

Typisch, das dumme Zeug, das die blöde Kuh ihnen erzählt hatte, um ihnen zu erklären, warum sie sie jetzt schon nach Bryanbarrow zurückbrachte. Sie wusste nicht, dass er im selben Moment in der Küche ans Telefon gegangen war wie sie in ihrem Schlafzimmer und dass er alles mitgehört hatte: Wie sein Vater gefragt hatte, ob sie die Kinder noch einen Tag länger bei sich behalten könne, und wie seine Mutter zugestimmt hatte. Und zwar ausnahmsweise einmal liebenswürdig, was seinem Vater eigentlich hätte sagen müssen, dass irgendetwas im Busch war, denn selbst Tim hatte es sofort kapiert. Deswegen hatte er sich auch nicht gewundert, als seine Mutter zehn Minuten später komplett aufgedonnert aus ihrem Zimmer gekommen war und ihn forsch-fröhlich aufgefordert hatte, seine Sachen zu packen, sein Vater habe gerade angerufen und seine Mutter gebeten, die Kinder früher als geplant nach Bryanbarrow zurückzubringen.

«Irgendeine Überraschung«, hatte sie gesagt.»Was, wollte er mir nicht verraten. Also beeilt euch.«

Dann hatte sie sich auf die Suche nach ihren Autoschlüsseln gemacht. Die hätte er verschwinden lassen sollen, dachte Tim. Nicht seinetwegen, sondern Gracie zuliebe. Sie hätte es verdient, noch einen Tag länger bei ihrer Mutter zu bleiben, wenn sie das so gern wollte.

«Es gibt nicht mal genug heißes Wasser, dass man die Badewanne vollkriegt, Mummy«, sagte Gracie gerade.»Und das Wasser tröpfelt aus dem Hahn, und es ist ganz braun und eklig. Nicht wie bei dir, wo ich schön Schaum haben kann. Ich hab so gerne Schaum. Warum können wir nicht bei dir wohnen, Mummy?«

«Das weißt du ganz genau«, antwortete Niamh Cresswell schließlich.

«Nein, das weiß ich nicht«, widersprach Gracie.»Die meisten Kinder bleiben bei ihrer Mutter, wenn ihre Eltern sich scheiden lassen. Sie wohnen bei ihrer Mutter, und sie besuchen ihren Vater. Du hast doch genug Platz für uns.«

«Gracie, frag deinen Vater, warum das bei uns alles anders ist, wenn du es schon unbedingt wissen willst.«

Na klar, dachte Tim. Als würde ihr Vater Gracie erklären, warum sie in einem grauenhaften Haus am Rand eines grauenhaften Kaffs wohnten, wo es an einem Samstagabend oder einem Sonntagnachmittag nichts zu tun gab, außer Kühe zu zählen oder den Schafen beim Blöken zuzuhören. Bryanbarrow lag am Arsch der Welt, aber für das neue Leben ihres Vaters war es perfekt. Und von dem Leben … hatte Gracie keine Ahnung. Das war auch nicht vorgesehen. Sie sollte glauben, dass sie Zimmer vermieteten, bloß dass es nur einen Untermieter gibt, Gracie, und was glaubst du wohl, in welches Bett der kriecht, wenn du längst schläfst, und was glaubst du wohl, was die beiden dort treiben, wenn die Tür zu ist?

Tim bohrte die Fingernägel seiner rechten Hand so tief in die Haut an seinem linken Handrücken, bis er spürte, wie sich kleine Blutströpfchen bildeten. Seinem Gesicht war nichts anzusehen, das wusste er, denn er hatte diesen leeren Ausdruck trainiert. Zusammen mit dem Schmerz, den er seinen Händen zufügte, sorgte dies dafür, dass er dort blieb, wo er sein wollte, nämlich weit weg von anderen Leuten und weit weg von allem. Er hatte sogar erreicht, dass sein Vater ihn von der örtlichen Schule genommen hatte. Er ging jetzt auf eine Sonderschule in der Nähe von Ulverston, meilenweit weg von da, wo sein Vater wohnte — dem es natürlich tierisch lästig war, ihn jeden Tag dorthin zu fahren —, und meilenweit entfernt von dort, wo seine Mutter wohnte. Und genauso wollte er es haben, denn dort, bei Ulverston, wusste niemand, was in seinem Leben vorgefallen war, und das war ihm ganz wichtig.

Schweigend betrachtete Tim die vorbeifliegende Landschaft. Die Fahrt von Grange-over-Sands zum Haus seines Vaters führte sie im schwindenden Tageslicht durch das Lyth Valley nach Norden. Die Landschaft war ein Flickenteppich aus kleegrünen und smaragdgrünen Pferdekoppeln und Viehweiden, der wie eine Welle gegen die kahlen Berge rollte. Große Felsbrocken aus Schiefer und Sandstein ragten aus den von grauem Geröll bedeckten Hängen. Am Fuß der Berge standen Wäldchen aus Erlen, Eichen und Ahorn, deren Herbstlaub gelb, golden und rot leuchtete. Und hier und da Bauernhöfe: große, aus Feldsteinen errichtete Scheunen und mit Schieferschindeln verkleidete Wohnhäuser mit Kaminen, aus denen der Rauch von Holzfeuern quoll.

Nach einigen Kilometern, wo das Lyth Valley sich verjüngte, veränderte sich die Landschaft. Jetzt fuhren sie durch Wald, und die von Bruchsteinmauern gesäumte Straße wurde immer kurvenreicher. Es hatte angefangen zu regnen, aber wann regnete es nicht in dieser Gegend? Cumbria war bekannt für sein feuchtes Klima, und man sah es ja auch an dem Moos, das auf den Steinwänden wucherte, an den Farnen, die aus allen Ritzen sprossen, und an den Flechten, die Boden und Baumstämme überzogen.

«Es regnet«, bemerkte Gracie überflüssigerweise.»Wenn es regnet, kann ich dieses alte Haus erst recht nicht ausstehen. Du auch nicht, Timmy, oder? Es ist furchtbar in dem Haus, alles ist muffig und düster und einfach nur gruselig.«

Niemand sagte etwas dazu. Gracie ließ den Kopf hängen. Ihre Mutter bog in die Straße nach Bryanbarrow ein, als hätte Gracie überhaupt nichts gesagt.

Die Straße war eng hier und wand sich in Haarnadelkurven aufwärts. Schließlich bogen sie in die Straße zum Dorf ein, das unten im Tal lag und eigentlich nicht viel mehr als eine Kreuzung mit einem Rasen in der Mitte zu bieten hatte. Da es hier eine Gaststätte, ein Rathaus, eine Methodistenkapelle und eine anglikanische Kirche gab, war das Dorf eine Art Treffpunkt, allerdings nur abends und sonntags morgens, und die, die sich dann versammelten, hatten nichts Besseres zu tun, als zu beten oder zu saufen.

Gracie begann zu weinen, als sie langsam über die steinerne Brücke fuhren.»Mummy, ich find es schrecklich hier. Mummy, bitte

Aber ihre Mutter sagte nichts, und Tim wusste, sie würde auch nichts dazu sagen. Bei der Frage, wo Tim und Gracie Cresswell leben sollten, gab es durchaus Gefühle zu berücksichtigen, allerdings nicht die Gefühle von Tim und Gracie. So war es, und so würde es bleiben, zumindest bis Niamh tot umfiel oder sie einfach aufgab, je nachdem, was zuerst passierte. Und über die erste Möglichkeit hatte Tim viel nachgedacht. Hass konnte einen Menschen umbringen, so schien es ihm. Andererseits hatte der Hass ihn noch nicht umgebracht, also würde der Hass seine Mutter vielleicht auch nicht umbringen.

Im Gegensatz zu vielen Anwesen in Cumbria, die weit außerhalb von Dörfern oder Weilern lagen, stand die Bryan Beck Farm direkt am Dorfrand, und sie bestand aus einem alten elisabethanischen Herrenhaus, einer genauso alten Scheune und einem noch älteren Cottage. Hinter den Gebäuden erstreckten sich die Ländereien, und auf den Weiden grasten Schafe, die jedoch nicht Tims Vater gehörten, sondern einem Bauern, der das Land pachtete. Die Schafe gaben dem Hof» einen authentischen Anstrich«, wie sein Vater gern sagte, und sie standen im Einklang mit der» Tradition im Lake District«, was auch immer er damit meinte. Ian Cresswell war kein verdammter Bauer, und so wie Tim das sah, waren die blöden Schafe besser dran, wenn sein Vater sich von ihnen fernhielt.

Als Niamh in der Einfahrt hielt, schluchzte Gracie bitterlich. Anscheinend dachte sie, wenn sie nur laut genug schluchzte, würde ihre Mutter im letzten Moment wenden und mit ihnen zurück nach Grange-over-Sands fahren, anstatt genau das zu tun, was sie sich vorgenommen hatte, nämlich sie aus dem Auto zu werfen, um ihrem Vater eins auszuwischen, und nach Milthorpe zu düsen, um sich von ihrem dämlichen Freund in der Küche seiner China-Imbissbude durchvögeln zu lassen.

«Mummy! Mummy!«, jammerte Gracie.»Sein Auto steht nicht mal da. Ich trau mich nicht rein, wenn sein Auto nicht dasteht, weil er dann nicht zu Hause ist und …«

«Grace, hör sofort auf damit«, fauchte Niamh.»Du führst dich auf wie eine Zweijährige. Er ist einkaufen gefahren, weiter nichts. Im Haus brennt Licht, und das andere Auto steht da. Ich schätze, du kannst dir denken, was das bedeutet.«

Natürlich sprach sie den Namen nicht aus. Sie hätte hinzufügen können:»Der Mieter eures Vaters ist zu Hause«, mit dieser verächtlichen Betonung, die Bände sprach. Aber damit hätte sie Kaveh Mehrans Existenz anerkannt, und das würde sie niemals tun. Stattdessen sagte sie mit bedeutungsvollem Unterton:»Timothy«, und machte eine Kopfbewegung in Richtung Haus. Das hieß, dass er seine Schwester aus dem Auto zerren und zum Haus bugsieren sollte, da sie nicht vorhatte, das zu übernehmen.

Er stieg aus und warf seinen Rucksack über die niedrige Steinmauer. Dann riss er die Tür auf der Seite auf, wo seine Schwester saß.»Los, raus«, sagte er und packte sie am Arm.

«Nein! Ich will nicht!«, kreischte Gracie und schlug und trat um sich.

Niamh löste Gracies Sicherheitsgurt und sagte:»Hör auf, so ein Theater zu machen. Das ganze Dorf denkt noch, ich bringe dich um.«

«Das ist mir egal!«, schluchzte Gracie.»Ich will mit dir fahren! Mummy!«

«Herrgott noch mal. «Niamh sprang ebenfalls aus dem Auto, aber nicht etwa, um Tim zu helfen. Sie riss Gracies Rucksack vom Rücksitz, öffnete ihn und warf ihn im hohen Bogen über die Steinmauer. Er landete — zum Glück — auf Gracies Trampolin, und der gesamte Inhalt kullerte in den Regen, darunter auch Gracies Lieblingspuppe.

Als Gracie sah, wie ihre Puppe sich überschlug, schrie sie auf. Tim sah seine Mutter wütend an, woraufhin Niamh blaffte:»Was hast du denn von mir erwartet?«Und zu Gracie sagte sie:»Wenn du nicht willst, dass sie kaputtgeht, solltest du sie aufheben.«

Gracie rannte in den Garten, kletterte auf das Trampolin und drückte ihre Puppe an sich. Sie weinte immer noch, und ihre Tränen mischten sich mit dem Regen.»Wie reizend von dir«, sagte Tim zu seiner Mutter.

«Beklag dich bei deinem Vater«, gab Niamh zurück.

Das war ihre Standardantwort auf alles. Beklag dich bei deinem Vater, als würde das, was der getan hatte, jede Gemeinheit von Niamh Cresswell rechtfertigen.

Tim schlug die Autotür zu und wandte sich wortlos ab. Als er in den Garten ging, hörte er hinter sich den Volvo losfahren, wohin auch immer, das war ihm egal. Von ihm aus konnte seine Mutter vögeln, mit wem sie wollte.

Gracie hockte heulend auf dem Trampolin. Hätte es nicht geregnet, wäre sie darauf herumgesprungen bis zur Erschöpfung, denn das tat sie jeden Tag, genauso wie er jeden Tag tat, was er tat, um sich zu erschöpfen.

Er hob seinen Rucksack auf und schaute ihr einen Moment lang zu. Okay, sie war eine Nervensäge, aber sie hatte das alles nicht verdient. Er ging zum Trampolin und nahm ihren Rucksack.»Komm«, sagte er.»Wir gehen rein.«

«Ich nicht«, sagte sie und drückte sich die Puppe an die Brust.»Ich nicht, ich nicht. «Sie da hocken zu sehen, drehte ihm den Magen um.

Er konnte sich nicht an den Namen der Puppe erinnern. Er sagte:»Komm, Gracie. Ich seh nach, ob Spinnen da sind, und ich mach die Spinnweben weg. Du kannst deine … wie heißt sie noch …«

«Bella. Sie heißt Bella«, schniefte Gracie.

«Also Bella-sie-heißt-Bella. Du kannst Bella-sie-heißt-Bella in ihre Wiege legen und ich … ich kämm dir die Haare. Okay? Das hast du doch so gern. Und ich mach dir so eine Frisur, wie du sie so schön findest.«

Gracie schaute ihn an. Sie rieb sich die Augen mit dem Arm. Ihr Haar, auf das sie so stolz war, wurde nass, und schon bald würde es so kraus sein, dass man es nicht mehr bürsten konnte. Sie drehte eine lange Locke um einen Finger.»Machst du mir einen französischen Zopf?«Dabei sah sie ihn so hoffnungsvoll an, dass er ihr den Wunsch nicht abschlagen konnte.

Er seufzte.»Also gut. Einen französischen Zopf. Aber dann musst du jetzt mit reinkommen, sonst mach ich’s nicht.«

«Okay. «Sie rutschte zum Rand des Trampolins und reichte ihm Bella-sie-heißt-Bella. Er stopfte die Puppe kopfüber in Gracies Rucksack und ging zum Haus. Gracie stapfte hinter ihm her und schlurfte mit den Füßen durch den Kies auf dem Weg.

Sie betraten das Haus durch den Seiteneingang, der direkt in die Küche führte. Auf dem primitiven Herd lag ein Braten auf einem Rost, die Soße in der Fettpfanne darunter war schon kalt und fest. Daneben stand ein Topf mit kaltem Gemüse. Auf dem Abtropfgitter welkte ein Salat vor sich hin. Tim und Gracie hatten noch nichts zu Abend gegessen, aber ihr Vater auch nicht, so wie das hier aussah.

«Ian?«

Tim wappnete sich innerlich, als er Kaveh Mehrans Stimme hörte. Sie klang verhalten. Vielleicht ein bisschen verkrampft?

«Nein, wir sind’s«, sagte Tim.

Stille. Dann:»Timothy? Gracie?«Aus dem Kaminzimmer war ein Geräusch zu hören, etwas wurde über die Steinfliesen auf den Teppich geschoben, dann ein Fluchen» Verdammter Mist!«. Wahrscheinlich hatten sie sich gestritten, dachte Tim, und plötzlich überkam ihn ein Hochgefühl, während er sich ausmalte, wie sein Dad und Kaveh mit Messern aufeinander losgegangen waren, und jetzt war alles voller Blut. Das wäre doch mal was! Er ging zum Kaminzimmer, gefolgt von Gracie.

Zu seiner Enttäuschung war alles in Ordnung. Keine umgestürzten Möbel, kein Blut. Das Geräusch war entstanden, als Kaveh den schweren, alten Spieltisch in die Ecke zurückgeschoben hatte, wo er hingehörte. Kaveh wirkte allerdings sehr bedrückt, und das reichte, um Gracie vergessen zu lassen, dass sie selbst aussah wie das heulende Elend. Besorgt lief sie auf den Mann zu.

«Kaveh«, sagte sie,»ist was passiert?«, woraufhin der Blödmann sich aufs Sofa fallen ließ, den Kopf schüttelte und die Hände vors Gesicht schlug.

Gracie setzte sich neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schultern.»Willst du’s mir nicht erzählen?«, sagte sie.»Bitte, erzähl’s mir, Kaveh.«

Aber Kaveh schwieg.

Offensichtlich, dachte Tim, hatten er und sein Dad sich gestritten, und sein Dad war wutschnaubend abgehauen. Recht so, dachte er. Er hoffte, dass es den beiden richtig dreckig ging. Falls sein Dad mit dem Auto von der Straße abkam und in eine Schlucht stürzte, wäre ihm das absolut recht.

«Ist deiner Mummy was passiert?«, fragte Gracie Kaveh. Sie war sich nicht mal zu blöd, dem Typen über sein fettiges Haar zu streicheln.»Oder deinem Dad? Soll ich dir ’ne Tasse Tee machen, Kaveh? Hast du Kopfweh? Oder vielleicht Bauchweh?«

Okay, dachte Tim, Gracie war vorerst beschäftigt. Sie hatte ihre eigenen Sorgen vergessen und würde jetzt die Krankenschwester spielen. Er stellte ihren Rucksack neben der Tür ab, durchquerte das Zimmer und ging durch eine andere Tür in eine kleine, viereckige Diele, von der aus eine Treppe mit abgetretenen Stufen in den ersten Stock führte.

In seinem Zimmer stand sein Laptop auf einem wackeligen Tisch unter dem Fenster, von dem aus man einen Blick auf den Vorgarten und den Dorfanger hatte. Inzwischen war es fast dunkel, und es regnete in Strömen. Der Wind, der heftiger geworden war, fegte das Laub der Ahornbäume unter die Bänke auf dem Rasen und verteilte es von dort aus über die Straße. In den Häusern jenseits des Dorfplatzes brannte Licht, und in dem heruntergekommenen Cottage, in dem George Cowley mit seinem Sohn wohnte, bewegte sich jemand hinter den Gardinen. Tim sah eine Weile zu — anscheinend diskutierten die beiden über irgendetwas, aber was wusste er schon, was sich dort abspielte —, dann schaltete er seinen Computer ein.

Er ging ins Internet. Die Verbindung brauchte ewig, um sich aufzubauen. Es war, wie Wasser beim Gefrieren zuzusehen. Von unten hörte er gedämpft Gracies Stimme. Dann wurde die Stereoanlage eingeschaltet. Wahrscheinlich glaubte sie, Musik würde Kaveh trösten. Tim fragte sich, wie sie auf die Idee kam, denn Musik ging dem Typen am Arsch vorbei.

Endlich. Er rief seine E-Mails ab. Vor allem um eine bestimmte ging es ihm. Er musste unbedingt wissen, wie es weiterging, und das hätte er unmöglich vom Laptop seiner Mutter aus überprüfen können.

Toy4You hatte endlich das Angebot gemacht, auf das Tim gewartet hatte. Er las es sich durch und überlegte. Was Toy4You verlangte, war nicht viel im Vergleich zu dem, was Tim im Gegenzug erwartete. Also tippte er die Nachricht ein, die er schon seit Wochen hatte abschicken wollen, seit er mit Toy4You in Kontakt getreten war.

O.K., aber wenn ich es mache, will ich eine Gegenleistung.

Unwillkürlich musste er lächeln, als er auf» Senden «klickte. Er wusste ganz genau, welche Gegenleistung das sein würde.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Ian Cresswell hatte sich längst abgeregt, als er den See erreichte, denn die Fahrt bis dorthin hatte zwanzig Minuten gedauert. Allerdings hatte er sich nur äußerlich beruhigt; an seinen Gefühlen hatte sich nichts geändert. Und in erster Linie fühlte er sich verraten.

Das Argument» Unsere Lebensumstände sind nicht miteinander vergleichbar «beschwichtigte Ian nicht mehr. Anfangs hatte er das noch akzeptiert. Vor lauter Liebestrunkenheit war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, ob sein junger Lover dasselbe tun würde, was er von ihm verlangt hatte. Mit Kaveh Mehran zusammen aus dem Haus zu gehen, hatte ihm gereicht. Es hatte gereicht, um seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um — das hatte er sich selbst, Kaveh und ihnen erklärt — endlich offen der sein zu können, der er war. Keine heimlichen Fahrten nach Lancaster mehr, kein namenloses Fummeln und Ficken mehr. Damit hatte er sich jahrelang begnügt in der Überzeugung, dass es wichtiger war, andere vor dem zu schützen, was er sich selbst viel zu spät eingestanden hatte. Dass das wichtiger war, als zu sich selbst zu stehen. Und genau das hatte Kaveh ihn gelehrt. Kaveh hatte gesagt:»Entweder sie oder ich«, und dann hatte er an der Tür geklingelt, war ins Haus gekommen und hatte gefragt:»Sagst du’s ihnen, oder soll ich es tun, Ian?«Und anstatt zu entgegnen:»Wer zum Teufel sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?«, hatte Ian sich geoutet und war mit Kaveh gegangen und hatte es Niamh überlassen, den anderen alles zu erklären, falls sie das denn wollte. Aber jetzt fragte er sich, was er sich dabei gedacht hatte, welcher Wahnsinn ihn da geritten hatte, ob er vielleicht tatsächlich geisteskrank war.

Das fragte er sich nicht, weil er Kaveh Mehran nicht mehr liebte oder mit an Irrsinn grenzender Leidenschaft begehrte. Nein, er fragte es sich, weil er keinen Augenblick überlegt hatte, was er den anderen damit angetan hatte. Und er fragte es sich, weil er ebenso wenig darüber nachgedacht hatte, was es heißen könnte, wenn Kaveh nicht bereit war, dasselbe für ihn zu tun, was Ian für ihn getan hatte.

In Ians Augen wäre Kavehs Bekenntnis zu ihm eine ziemlich einfache Angelegenheit und viel weniger zerstörerisch als das, was Ian getan hatte. Okay, Kavehs Eltern waren Ausländer, aber sie waren nur in kultureller und religiöser Hinsicht Fremde. Immerhin lebten sie schon seit mehr als zehn Jahren in Manchester, es war also nicht so, als trieben sie in völlig unbekannten ethnischen Gewässern. Kav und er lebten jetzt schon über ein Jahr zusammen, und es wurde allmählich Zeit, dass Kaveh die Wahrheit über das aussprach, was sie einander bedeuteten. Dass Kaveh diese simple Tatsache nicht begriff, dass er nicht mit seinen Eltern darüber reden konnte … Das war so unfair, dass Ian nur noch schreien wollte.

Und dieses Bedürfnis zu schreien musste er loswerden. Denn er wusste, dass es ihm nichts nützen würde.

Als er ankam, stand das Tor von Ireleth Hall offen, was in der Regel bedeutete, dass Besuch da war. Aber Ian hatte keine Lust, irgendjemandem zu begegnen, und deswegen ging er nicht auf das mittelalterliche Haus zu, das sich über dem See erhob, sondern folgte einem Weg, der direkt zum Ufer führte und zu dem steinernen Bootshaus.

Hier lag sein Skullboot. Es war lang und schmal und lag nur flach im Wasser, und es war gar nicht so einfach, von dem gemauerten Anleger aus ein- und wieder auszusteigen. Noch schwieriger war es jetzt, weil das Bootshaus keine Beleuchtung besaß. Normalerweise reichte das Licht aus, das durch die zum See gelegene Einfahrt hereinfiel, aber heute war der Himmel bewölkt, und zudem war es schon fast dunkel. All das jedoch durfte jetzt keine Rolle spielen, denn Ian musste raus auf den See, die Ruder ins Wasser tauchen, Tempo aufnehmen und sich verausgaben, bis ihm der Schweiß über den Rücken rann und er nur noch die Anstrengung spürte und sonst nichts.

Er machte das Boot los und hielt es ganz nah am Anleger fest. Drei Steinstufen ins Wasser, aber sie waren von Algen bewachsen und tückisch glatt, denn sie waren seit Jahren nicht gereinigt worden. Ian hätte die Stufen leicht schrubben können, doch das Problem fiel ihm immer nur auf, wenn er sein Boot benutzte, was er nur tat, wenn er Bewegung nötig hatte, und dann hatte er es immer ziemlich eilig.

Diesmal war es nicht anders. Die Festmachleine in der einen Hand, die andere Hand am Dollbord, stieg er vorsichtig ein, wobei er sorgfältig darauf achtete, sein Gewicht gleichmäßig zu verteilen, um das Boot nicht zum Kentern zu bringen. Er setzte sich. Rollte das Tau auf und legte es in den Bug. Dann schob er die Füße in die Schuhe am Stemmbrett und drückte sich von der Mauer ab. Da er mit dem Gesicht zum See saß, war es leicht, sich aus dem Bootshaus auf den See hinauszuschieben.

Der Regen, der eingesetzt hatte, als er nach Ireleth Hall gefahren war, fiel jetzt heftiger, und wenn er es nicht so nötig gehabt hätte, sich zu verausgaben, wäre er umgekehrt. Aber so machte der Regen ihm nichts aus. Außerdem hatte er nicht vor, lange draußen zu bleiben. Nur einmal volle Kraft voraus bis Windermere und wieder zurück zum Bootshaus.

Er legte die langen Riemen in die Dollen und justierte die Position der Riemenschäfte. Probeweise bewegte er die Beine, um sich zu vergewissern, dass der Rollsitz glatt in seinem Schlitten lief. Dann war er startklar. In weniger als zehn Sekunden hatte er sich bereits ein gutes Stück vom Bootshaus entfernt und war unterwegs zur Seemitte.

Von dort aus konnte er das Gutshaus Ireleth Hall mit seinem Turm, seinen Giebeln und den vielen Kaminen ausmachen. In den Erkerfenstern des Salons brannte Licht, ebenso im ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer befand. An der Südseite des Gebäudes erhoben sich die riesigen geometrischen Umrisse des Formschnittgartens dunkel über der Mauer, die den Garten einschloss, und knapp hundert Meter jenseits davon brannte Licht in sämtlichen Fenstern eines weiteren Turms. Es war der Zwilling des ältesten Teils von Ireleth Hall, ein nutzloser Zierbau im Stil der Wehrtürme von Cumbria und Wohnsitz einer der nichtsnutzigsten Frauen, denen Ian je begegnet war.

Er wandte sich ab vom Anblick des Herrenhauses, des Turms und des Formschnittgartens, dem Landsitz seines Onkels, den er zwar mochte, aber nicht verstand.»Ich akzeptiere dich, wie du bist, und deswegen musst du mich akzeptieren, wie ich bin«, hatte Bernard Fairclough zu ihm gesagt,»denn das Leben besteht aus Kompromissen.«

Aber Ian fand das ziemlich fraglich, ebenso wie er sich fragte, was es mit den Verbindlichkeiten auf sich hatte, die gezahlt werden mussten, und mit den Personen, die diese Zahlungen erhielten. Das ging ihm an dem Abend durch den Kopf. Ein Thema mehr, das ihn auf dem Wasser hielt.

Der See war kein einsamer Ort. Wegen seiner Größe — das größte stehende Gewässer in Cumbria — hatten sich an seinen Ufern eine ganze Reihe kleiner Städte und Dörfer angesiedelt, und in dem unerschlossenen Gelände dazwischen standen hier und da einzelne Häuser mit Schieferfront, Landhäuser, die schon vor Jahren zu teuren Hotels umgebaut worden waren, oder Privathäuser, die auf gutbetuchte Eigentümer schließen ließen, die sich mehr als einen Wohnsitz leisten konnten. Denn wenn der Winter einsetzte, wurde das Seengebiet hier oben ziemlich unwirtlich für Leute, die nicht an Wind und Schnee gewöhnt waren.

Daher fühlte Ian sich nicht allein auf dem See. Zwar war er der Einzige, der im Moment mit einem Ruderboot draußen war, doch am Ufer lagen noch die Boote der Ruderclubs und die Kajaks, Kanus und Skulls der Eigentümer von Wassergrundstücken, die die Boote noch nicht für den Winter aus dem Wasser genommen hatten, und das war ein tröstlicher Gedanke.

Er wusste nicht, wie lange er schon ruderte. Lange konnte er noch nicht unterwegs sein, dachte er, denn er war noch nicht weit gekommen. Er war noch nicht am Hotel Beech Hill vorbei, von wo aus er die Belle Isle gesehen hätte. In der Regel hatte er an dem Punkt die Hälfte seiner Trainingsstrecke hinter sich. Aber offenbar hatte ihn die Auseinandersetzung mit Kaveh mehr mitgenommen, als ihm bewusst geworden war, denn seine Muskeln begannen zu ermüden, was ihm verriet, dass er besser umkehren sollte.

Einen Moment lang blieb er reglos sitzen. Von der A 592, die am Ostufer des Sees entlang verlief, drangen Verkehrsgeräusche herüber. Aber außer dem Regen, der auf das Wasser prasselte, war nichts zu hören. Die Vögel schliefen schon, und alle, die einen Funken Verstand besaßen, waren in ihren Häusern.

Ian holte tief Luft. Ein Schauder überlief ihn. Wenn er tot wäre, würde das den einen oder anderen freuen, sagte er sich bitter. Oder es lag am Wetter, dass er fröstelte, was wahrscheinlicher war. Selbst bei dem Regen roch er den Rauch aus einem Kamin in der Nähe, und er sah das wärmende Holzfeuer vor sich, stellte sich vor, dass er vor dem offenen Kamin in einem Sessel saß, neben sich Kaveh in einem ähnlichen Sessel, beide ein Glas Wein in der Hand bei einer zwanglosen Plauderei nach einem langen Tag, genauso wie Millionen von Paaren in Millionen von Häusern rund um den Globus.

Das, sagte er sich, war es, wovon er träumte. Das und der Friede, den es einem gab. Es war doch nicht zu viel verlangt: einfach nur ein ganz normales Leben.

So vergingen einige Minuten: kaum Geräusche, Ian entspannt, das Boot im Einklang mit den Bewegungen des Sees. Wenn es nicht geregnet hätte, wäre er vielleicht sogar eingeschlafen. Aber er war schon ziemlich durchnässt, und nach einer Weile entschloss er sich, zum Bootshaus zurückzurudern.

Er schätzte, dass er etwas über eine Stunde auf dem Wasser gewesen war, und als er sich dem Ufer näherte, war es stockdunkel. Die Bäume am Ufer waren nur noch als geometrische Formen zu erkennen: spitze Koniferen wie Menhire, Birken wie zarte Striche vor dem Nachthimmel, dazwischen Ahornbäume, deren Laub im Regen zitterte. Ein Pfad führte zum Bootshaus, vom Wasser aus betrachtet eine verspielte Konstruktion, denn selbst in der Dunkelheit und in dem Wetter hob es sich wie ein Märchenschlösschen vom Ufer ab.

Ian fiel auf, dass die Außenlampe durchgebrannt war. Normalerweise schaltete sie sich bei Einbruch der Dunkelheit ein und beleuchtete wenigstens den Außenbereich des Bootshauses. Aber wo ein gelber Lichtschein — zumindest bei besserem Wetter — Motten angelockt hätte, war es jetzt dunkel. Ian nahm sich vor, sich auch um die Lampe zu kümmern, wenn er sich die veralgten Stufen vornahm.

Er steuerte das Bootshaus an und glitt hinein. Die Dunkelheit im Innern war undurchdringlich. Außer seinem Skullboot lagen hier noch drei weitere Boote. Ein ziemlich abgenutztes Angelruderboot, ein Schnellboot und ein Kanu unbestimmten Alters und noch unbestimmterer Seetauglichkeit, alle willkürlich am Anleger vertäut. Er musste sich zwischen diesen drei Booten hindurcharbeiten, um bis ans hintere Ende zu gelangen, und es gelang ihm ganz gut, sich im Dunkeln vorzutasten, obwohl er einmal mit der Hand zwischen das Ruderboot und sein Skullboot geriet und laut fluchte, als seine Finger zwischen dem Fiberglas und dem Holz eingequetscht wurden.

Er quetschte sich die Hand noch einmal zwischen Boot und Mauer, und diesmal spürte er, dass er blutete.»Verflucht«, murmelte er und drückte seine Knöchel kurz gegen seine Rippen. Es tat höllisch weh, und er nahm sich vor, etwas besser aufzupassen.

In seinem Auto lag eine Taschenlampe, und er hatte noch genug Sinn für Humor, um sich dafür zu gratulieren, dass er sie dort gelassen hatte, wo sie ihm überhaupt nichts nützte. Etwas vorsichtiger streckte er die Hand nach der Mauer aus und tastete nach dem Metallring, an dem er sein Boot vertäuen konnte. Wenigstens konnte er den Knoten mit verbundenen Augen machen. Anschließend zog er die Füße aus den Stemmbrettschuhen. Dann verlagerte er sein Gewicht und griff nach der Steinmauer, um sich aus dem Boot zu hieven.

Es passierte, als er mit einem Fuß auf einen einzelnen Stein am Rand trat und mit dem anderen Fuß noch im Boot stand. Der Stein, der offenbar schon locker saß, löste sich ganz, Ian verlor das Gleichgewicht, und sein Boot, das nur am Bug befestigt war, schoss nach hinten. Ian stürzte in das eiskalte Wasser.

Dabei schlug er mit dem Kopf auf der Mauer auf. Als er im Wasser landete, war er bewusstlos, und wenige Minuten später war er tot.

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