12. November

CHELSEA — LONDON

Als Lynley und Deborah in London eintrafen, war es schon nach Mitternacht. Sie hatten fast während der ganzen Fahrt geschwiegen, obwohl Lynley sie gefragt hatte, ob sie reden wolle. Natürlich war ihm bewusst, dass sie von ihnen beiden die schwerere Last trug, weil sie sich an Alateas Tod mitschuldig fühlte, und er hätte ihr gern wenigstens einen Teil dieser Last genommen. Aber das hatte sie nicht zulassen wollen.»Können wir einfach still sein?«, hatte sie gefragt, und das hatte er akzeptiert. Nur hin und wieder hatte er kurz ihre Hand gestreichelt.

Kurz vor der Straße in Richtung Liverpool und Manchester wurde der Verkehr dichter. In der Nähe von Birmingham stockte der Verkehr wegen verschiedener Baustellen, und vor der Abfahrt auf die A45 nach Northampton gerieten sie wegen eines Unfalls in einen Stau. Schließlich fuhren sie auf eine Raststätte und aßen ausgiebig zu Abend in der Hoffnung, dass der Stau sich auflösen würde. Erst gegen Mitternacht erreichten sie den Kreisverkehr in Cricklewood, und eine halbe Stunde später trafen sie in Chelsea ein.

Als sie vor dem Haus hielten, sah Deborah sofort, dass in Simons Arbeitszimmer im Erdgeschoss noch Licht brannte. Offenbar wartete er auf sie.

Er saß im Sessel und las, und Peach lag vor dem Kaminfeuer auf einem Kissen, das Simon für sie dorthin gelegt hatte. Die Dackelhündin erhob sich träge, als Deborah eintrat, streckte erst die Vorderbeine, dann die Hinterbeine und kam auf sie zu, um sie zu begrüßen.

Simon legte sein Buch weg, einen Roman, wie Deborah verwundert bemerkte. Normalerweise las Simon ausschließlich Sachbücher und Biografien von Menschen, die in der Wildnis überlebt hatten. Sein Lieblingsheld war Shackleton.

Er stand mühsam auf.»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte er sie.

«Wir sind ein paarmal in einen Stau geraten«, sagte sie.»Hat Tommy dir alles erzählt?«Er nickte und musterte sie mit seinen grauen Augen. Sah die Last, die sie schier erdrückte.»Er hat mich angerufen, als ihr getankt habt. Es tut mir schrecklich leid.«

Sie hob Peach auf die Arme, die sofort versuchte, ihr das Gesicht abzulecken.»Du hast mit allem recht gehabt«, sagte sie zu Simon, während sie ihre Wange in das seidige Hundefell drückte.»Wie immer.«

«Das bereitet mir keine Genugtuung.«

«Was? Dass du immer recht behältst? Oder dass du diesmal recht hattest?«

«Weder das eine noch das andere. Und ich behalte nicht immer recht. Auf dem Gebiet der Wissenschaft bewege ich mich auf ziemlich sicherem Boden. Aber was Herzensdinge angeht, die Gefühle zwischen dir und mir … Glaub mir, Deborah, ich tappe völlig im Dunkeln.«

«Es war diese Zeitschrift. Ich war total auf die Sache mit der Schwangerschaft fixiert und fühlte mich Alatea so sehr verbunden. Der Gedanke, dass diese Frau ebenso entschlossen war wie ich, dass sie sich ebenso leer fühlte wie ich, hat mich nicht mehr losgelassen. Ich bin schuld an ihrem Tod. Wenn ich ihr nicht solche Angst eingejagt hätte, wenn ich sie in Ruhe gelassen hätte, dann … Ich dachte, sie redete von diesem verrückten Source-Reporter, während sie dachte, der Mann, der sie suchte, hätte mich geschickt.«

«Der Mann, von dem sie glaubte, er würde nach ihr suchen«, korrigierte sie Simon.»Wenn man die Wahrheit so zwanghaft verheimlicht, wie sie es getan hat, dann beherrscht sie irgendwann das ganze Leben. Alles wird nur noch von Misstrauen regiert. Du warst in Cumbria, weil Tommy dich darum gebeten hat, Deborah. Alles andere hat nur mit Alatea selbst zu tun.«

«Wir wissen doch beide, dass das so nicht stimmt«, entgegnete sie.»Ich habe in das, was ich bei Nicholas und Alatea gesehen habe, mehr hineingelegt, weil ich das wollte. Und wir wissen beide, warum ich das wollte. «Sie setzte sich in einen Sessel, und Peach machte es sich auf ihrem Schoß bequem.»Warum schläft sie nicht bei Dad?«, fragte Deborah, während sie die Dackelhündin streichelte.

«Weil ich sie bei mir haben wollte. Ich wollte nicht allein auf dich warten.«

Deborah ließ die Bemerkung auf sich wirken.»Wie seltsam«, sagte sie.»Ich hätte nie gedacht, dass es dir etwas ausmachen könnte, allein zu sein. Du wirkst immer so selbstgenügsam.«

«Wirklich?«

«Ja. Wie sonst? Kühl, rational, selbstbewusst. Ich explodiere immer mal wieder, aber dir passiert das nie. Und jetzt … stehst du vor mir und erwartest irgendetwas von mir. Ich spüre es, dabei habe ich keine Ahnung, was du erwartest …«

«Wirklich nicht?«

«… oder wie ich es dir geben soll.«

Simon setzte sich, aber nicht in den Sessel, in dem er bei ihrer Ankunft gesessen hatte, sondern auf die Lehne ihres Sessels. Deswegen konnte sie sein Gesicht nicht sehen, und er konnte ihres nicht sehen.»Ich muss einfach darüber wegkommen«, sagte sie.»Das weiß ich. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Warum komme ich nicht darüber weg, Simon? Warum kann ich etwas, das ich mir so sehr wünsche, nicht einfach loslassen?«

«Vielleicht solltest du es dir weniger wünschen«, sagte er.

«Und wie soll ich das anstellen?«

«Indem du resignierst.«

«Aber das würde bedeuten, dass ich aufgebe. Dass wir aufgeben. Und wie würde ich mich dann fühlen?«

«Verloren«, sagte er.

«Sehnsüchtig«, sagte sie.»So fühlt es sich an. Da ist so eine Sehnsucht in mir, die sich durch nichts stillen lässt. Es ist schrecklich. Deswegen fühle ich mich immer so … leer. Ich weiß, dass ich so auf Dauer nicht leben kann, doch ich weiß auch nicht, wie ich diese Sehnsucht loswerden soll.«

«Vielleicht ist das auch nicht der richtige Weg«, sagte er.»Vielleicht musst du einfach lernen, damit zu leben. Oder du musst begreifen, dass die Sehnsucht und das Stillen der Sehnsucht zwei grundverschiedene Dinge sind. Die nichts miteinander zu tun haben. Das eine ist durch das andere nicht wegzukriegen.«

Deborah dachte darüber nach. Sie überlegte, wie groß der Teil ihres Lebens war, der von dieser unstillbaren Sehnsucht bestimmt wurde. Schließlich sagte sie:»So will ich nicht leben, mein Liebling.«

«Dann versuch, anders zu leben.«

«Und wie soll ich das machen?«

Er streichelte ihr übers Haar.»Vielleicht solltest du dich zuerst einmal ausschlafen.«

WANDSWORTH — LONDON

Ursprünglich hatte Lynley von Chelsea aus direkt nach Hause fahren wollen. Von St. James bis zu ihm waren es nur fünf Minuten mit dem Auto. Aber als hätte der Healey Elliott einen eigenen Willen, hatte er ihn zu Isabelle gefahren, und noch ehe er so recht wusste, warum er das tat, schloss er ihre Wohnungstür auf.

Es war dunkel in der Wohnung, wie mitten in der Nacht nicht anders zu erwarten. Er ging in die Küche und schaltete die schwache Lampe über der Spüle ein. Und obwohl er sich dafür verabscheute, warf er einen Blick in den Kühlschrank, öffnete sämtliche Schranktüren, überprüfte den Inhalt des Mülleimers und sah im Backofen nach.

In dem Moment ging das Licht an, und Isabelle stand in der Küche. Er hatte sie nicht gehört, so dass er nicht wusste, wie lange sie ihn schon dabei beobachtet hatte, wie er ihre Schränke durchsuchte.

Sie sahen einander schweigend an. Dann warf sie einen Blick auf die offene Ofenklappe, drehte sich um und ging zurück ins Schlafzimmer.

Er folgte ihr. Aber er konnte sich einfach nicht beherrschen. Im Schlafzimmer wanderte sein Blick zuerst zum Nachttisch, von dort zum Boden neben dem Bett, dann zur Kommode an der Wand. Es war, als hätte ihn eine Krankheit befallen.

Sie beobachtete ihn. Offenbar hatte er sie aus dem Schlaf geholt. Aber aus welcher Art von Schlaf? Hatte sie etwas geschluckt, etwas eingenommen? … Plötzlich musste er das unbedingt wissen. So glaubte er zumindest, bis er ihren Gesichtsausdruck wahrnahm: Billigung ebenso wie Resignation lagen in ihrem Blick.

«Es tut mir furchtbar leid«, sagte er.

«Mir auch«, sagte sie.

Er ging zu ihr. Sie trug nur ein dünnes Nachthemd, das sie sich über den Kopf zog. Er legte ihr eine Hand in den Nacken und küsste sie. Sie schmeckte nach Schlaf und nach sonst nichts. Er löste sich von ihr, schaute sie an, küsste sie noch einmal. Sie begann, ihn auszuziehen, und er legte sich zu ihr, während er die Laken herunterriss und auf den Boden warf, so dass nichts mehr zwischen ihnen war.

Und doch stand etwas zwischen ihnen. Auch als ihre Körper sich miteinander vereinigten, auch als sie sich auf ihn setzte und er ihre Brüste, ihre Taille, ihre Hüfte streichelte, auch als sie sich im Rhythmus zusammen bewegten und sich küssten. Es war immer noch da. Es gab kein Entrinnen, dachte er. Der Genuss ihrer Vereinigung war ein einziges Fest. Aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, auf einem Scheiterhaufen zu verbrennen.

Als sie später verschwitzt und befriedigt nebeneinanderlagen, sagte er:»Das war das letzte Mal, nicht wahr?«

«Ja«, sagte sie.»Das wussten wir beide. «Sie schwieg eine Weile. Dann sagte sie:»Es hätte nicht funktioniert, Tommy. Auch wenn ich es wirklich gern gewollt hätte.«

Er nahm ihre Hand, und ihre Finger verschränkten sich.»Das hat nichts mit Helen zu tun«, sagte er.»Das sollst du wissen.«

«Ja, ich weiß. «Sie schaute ihn an, und ihr Haar fiel ihr ins Gesicht. Er schob ihr eine nassgeschwitzte Strähne hinters Ohr.»Tommy, du musst dir eine Frau suchen«, sagte sie.»Nicht als Ersatz für sie, denn welche Frau könnte sie ersetzen? Aber eine, mit der du weitermachen kannst. Denn darum geht es doch im Leben, oder? Ums Weitermachen.«

«Ich wünsche mir das auch«, sagte er.»Anfangs war ich mir nicht sicher, und es wird bestimmt Tage geben, an denen ich rückfällig werde und mir einrede, das Leben ohne Helen sei sinnlos. Aber diese Momente werden vorübergehen. Ich werde das durchstehen und hinter mir lassen. Es kommen auch wieder andere Zeiten.«

Sie streichelte ihm die Wange mit den Knöcheln und sah ihn liebevoll an.»Ich kann nicht sagen, dass ich dich liebe. Es gibt zu viele Dämonen in meinem Leben. Und in deinem.«

«Ich weiß, was du meinst.«

«Aber ich wünsche dir alles Gute. Das sollst du wissen. Egal, was passiert. Ich wünsche dir alles Gute.«

BELGRAVIA — LONDON

Um halb vier war Lynley endlich zu Hause. Er schloss die Tür zu seinem Haus in Eaton Terrace auf und tastete nach dem Lichtschalter. Sein Blick fiel auf ein Paar Damenhandschuhe, die seit neun Monaten am Fuß der Treppe lagen. Er durchquerte die Eingangshalle, hob die Handschuhe auf, hielt sie sich unter die Nase, um ein letztes Mal ihren Duft einzuatmen, drückte sie sich an die Wange, um das weiche Leder ein letztes Mal zu spüren, und legte sie dann in eine Schublade der Garderobe.

Plötzlich hatte er großen Hunger. Ein seltsames Gefühl. Es war eine Ewigkeit her, dass er zuletzt wirklichen, nagenden Hunger verspürt hatte. Eigentlich hatte er nur noch gegessen, weil er wusste, dass sein Körper das brauchte.

Er ging in die Küche und öffnete den Kühlschrank, der wie immer gut bestückt war. Er war ein verdammt schlechter Koch, aber Rührei mit Toastbrot würde er schon hinbekommen, ohne das Haus abzufackeln, sagte er sich.

Während er noch dabei war, alle Zutaten und Utensilien zusammenzusuchen, die er für die Zubereitung dieser schlichten Mahlzeit brauchen würde, kam Charlie Denton in Morgenrock und Pantoffeln in die Küche.

«Was machen Sie in meiner Küche, Mylord?«, fragte Denton, während er sich die Brille an seinem Morgenmantel polierte, worauf Lynley wie immer geduldig bemerkte:»Denton …«

«Sorry«, sagte Denton.»Bin noch nicht richtig wach. Was zum Teufel haben Sie in meiner Küche zu suchen, Sir

«Wie Sie sehen, mache ich mir etwas zu essen«, sagte Lynley.

Denton betrachtete die Zutaten, die Lynley auf der Anrichte aufgereiht hatte: Eier, Olivenöl, Marmite, Marmelade, Zucker.»Und was soll das werden?«, wollte er wissen.

«Rührei mit Toastbrot. Allerdings bin ich noch auf der Suche nach dem Brot und der Bratpfanne.«

Denton seufzte.»Lassen Sie mich mal machen. Sie veranstalten sowieso nur eine Riesensauerei, und ich muss hinterher alles in Ordnung bringen. Was hatten Sie denn mit dem Olivenöl vor?«

«Braucht man nicht etwas, um die Eier zu braten?«

«Setzen Sie sich. «Denton machte eine Geste in Richtung Küchentisch.»Lesen Sie die Zeitung von gestern. Gehen Sie Ihre Post durch, die habe ich noch nicht auf Ihren Schreibtisch gelegt. Oder machen Sie sich nützlich und decken Sie den Tisch.«

«Wo ist das Besteck?«

«Herrgott noch mal, setzen Sie sich einfach.«

Lynley tat, wie ihm geheißen. Er nahm sich seine Post vor. Wie immer waren jede Menge Rechnungen dabei. Aber auch ein Brief von seiner Mutter und einer von seiner Tante Augusta, die sich beide standhaft weigerten, E-Mails zu schreiben. Seine Tante hatte bis vor Kurzem nicht einmal ein Handy besessen.

Lynley legte die beiden Briefe beiseite und entfernte ein Gummiband von einem aufgerollten Handzettel.»Was ist das?«, fragte er.

«Keine Ahnung. Das klemmte hinterm Türknauf«, antwortete Denton.»Die sind gestern hier in der Straße verteilt worden. Hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen.«

Lynley betrachtete das Flugblatt. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Veranstaltung in Earl’s Court, und zwar zu einer ganz besonderen: Es wurde ein Roller Derby angekündigt, die Boudica’s Broads aus Bristol gegen die Electric Magics aus London. The Spills! The Thrills! stand da in großen Lettern. Frauen-Rollschuh-Wettkampf: Werden Sie Zeuge spektakulärer Artistik und hemmungsloser Rempeleien!

Darunter waren die Namen der Sportlerinnen aufgeführt, und Lynley konnte nicht widerstehen, die Liste zu überfliegen und nach einem Namen zu suchen, den wiederzusehen er nie geglaubt hätte: Kickarse Electra, der Kampfname einer Großtierärztin aus dem Zoo von Bristol, einer Frau namens Daidre Trahair, die ab und zu ein Wochenende in Cornwall verbrachte, wo er sie kennengelernt hatte.

Lynley lachte leise in sich hinein. Denton drehte sich kurz um und fragte:»Was ist?«

«Was wissen Sie über Roller Derby?«

«Was zum Teufel soll das sein?«

«Ich finde, das sollten wir in Erfahrung bringen, Charlie. Soll ich uns Eintrittskarten besorgen?«

«Eintrittskarten?«Denton sah Lynley an, als hätte der den Verstand verloren. Dann ließ er sich gegen die Anrichte sinken und griff sich theatralisch an die Stirn.»Mein Gott«, sagte er,»ist es schon so weit gekommen? Soll das heißen, Sie laden mich ein, mit Ihnen auszugehen

Lynley lachte.»Ganz recht.«

«Wo wird das noch hinführen?«

«Keine Ahnung«, sagte Lynley.

CHALK FARM — LONDON

Es war kein leichter Tag für Barbara Havers gewesen, denn sie hatte sich auf zwei Charaktereigenschaften verlassen müssen, die sie eigentlich nicht besaß, nämlich die Fähigkeit, das Offensichtliche zu ignorieren, und die Fähigkeit, Mitgefühl für Unbekannte zu empfinden.

Das Offensichtliche zu ignorieren hätte bedeutet, Lynley nicht darauf anzusprechen, dass zwischen ihm und Superintendent Ardery offenbar irgendetwas vorgefallen war. Denn wenn Barbara sich nicht täuschte, hatten die beiden miteinander Schluss gemacht. Beide wirkten irgendwie traurig, was sie jedoch mit Höflichkeit und Freundlichkeit zu überspielen versuchten, woraus Barbara schloss, dass sie sich in gegenseitigem Einvernehmen getrennt hatten, was sie beruhigend fand. Denn hätte sich nur einer getrennt und der andere darunter gelitten wie ein Hund, hätte sich das katastrophal auf die Arbeitsatmosphäre im Yard ausgewirkt. So konnte wenigstens alles seinen gewohnten Gang gehen, ohne dass sie einander die nächsten Monate mit Sticheleien und bissigen Bemerkungen das Leben zur Hölle machen mussten. Trotzdem dünsteten sie beide eine derartige Niedergeschlagenheit aus, die Barbara dazu veranlasste, ihnen vorerst aus dem Weg zu gehen.

Dass sie nur wenig Mitgefühl für Unbekannte aufzubringen vermochte, hatte jedoch nichts mit Lynley oder Ardery zu tun. Es war nicht damit zu rechnen, dass einer von beiden auf die Idee kommen würde, Barbara sein Herz auszuschütten, wofür sie dankbar war. Weniger dankbar war sie für die Aufgabe, sich noch einmal mit Engracia zu treffen und die junge Spanierin um einen letzten Anruf in Argentinien zu bitten.

Sie bekamen Alateas Bruder Carlos an den Apparat, der mit seiner Kusine Elena María seine Mutter besuchte. Engracia sprach sowohl mit Carlos als auch mit Elena María, während Barbara soufflierte.

Bitte sagen Sie ihnen, dass Alatea ertrunken ist … Ihre Leiche wurde bisher nicht gefunden … das liegt an den besonderen Verhältnissen in der Bucht von Morecambe … am Treibsand … dazu kommt, dass mehrere Flüsse in die Bucht münden … außerdem kam an dem Abend eine Flutwelle … Wir gehen davon aus, dass die Leiche irgendwann angespült wird, und wir wissen auch ungefähr, wo … Ihr Mann wird sie beerdigen … Ja, sie war verheiratet … Ja, sie war sehr glücklich … Sie wollte nur einen Spaziergang machen … Es tut uns schrecklich leid … Ja, ich werde sehen, ob es Fotos gibt … Selbstverständlich … Ja, es war ein Unfall … daran besteht kein Zweifel … ein schrecklicher, tragischer Unfall.

Es spielte keine Rolle, ob es ein Unfall gewesen war oder nicht, dachte Barbara. Alatea war tot, das war, was zählte.

Engracia hatte geweint, während sie der Familie die Nachricht von Alateas Tod überbracht hatte, ein Phänomen, das Barbara nicht zum ersten Mal in Erstaunen versetzt hatte: dass jemand über den Tod eines Menschen weinte, den er nie gekannt hatte, dass jemand Mitgefühl für Menschen empfand, denen er nie begegnen würde. Was löste solche Gefühle aus, fragte sie sich? Warum waren ihr solche Gefühle fremd? Konnte es sein, dass irgendetwas mit ihr nicht stimmte? Oder lag es einfach an dem Beruf, für den sie sich entschieden hatte?

Eigentlich wollte sie über all das gar nicht weiter nachdenken — über Lynleys finstere Stimmung, über Arderys Niedergeschlagenheit, über die Trauer einer argentinischen Familie. Also konzentrierte sie sich auf dem Heimweg auf etwas Erfreuliches, nämlich auf das bevorstehende Abendessen. Sie würde sich ein Steak in die Pfanne hauen, eine Nierenpastete in die Mikrowelle schieben, dazu einen Tetrapak Rotwein öffnen, zum Nachtisch würde sie sich ein Stück Cheesecake gönnen und eine Tasse Kaffee vom Morgen aufwärmen. Anschließend würde sie sich mit Die süßen Verheißungen der Leidenschaft aufs Sofa legen, einem schwülstigen Liebesroman mit viel Herzschmerz, denn sie war gespannt darauf zu erfahren, ob Grey Mannington sich endlich seine Liebe zu Ebony Sinclair eingestehen würde. Und sie würde den elektrischen Kamin anwerfen. Denn es war den ganzen Tag über fürchterlich kalt gewesen, ein Vorgeschmack auf den bevorstehenden Winter. Es würde ein bitterkalter, langer Winter werden, dachte sie. Zeit, die Biberbettwäsche aufzuziehen.

Azhars Auto stand vor dem Haus, aber im Erdgeschoss brannte kein Licht. Wahrscheinlich gönnten ihre Nachbarn sich heute ein Abendessen in einem Restaurant und waren das kurze Stück bis zur Chalk Farm Road oder zum Haverstock Hill zu Fuß gegangen. Vielleicht war alles am Ende doch gut gelaufen, dachte Barbara. Vielleicht saßen Azhar, Hadiyyah und Angelina in friedlicher Eintracht mit Azhars anderen Kindern und seiner nicht von ihm geschiedenen Exfrau im China-Restaurant um die Ecke. Wie eine richtige Großfamilie. Vielleicht verstanden sie sich ja jetzt alle prächtig, vielleicht hatte die Frau ihrem Mann verziehen, dass er sie wegen einer Studentin, die von ihm schwanger war, verlassen hatte, vielleicht hatte Azhar sich ja auch schuldig bekannt; vielleicht hatte die ehemalige Studentin sich als Mutter bewährt und durfte jetzt auch die Rolle der Stiefmutter übernehmen, und sie würden in Zukunft alle zusammenziehen und eine Patchwork-Familie bilden, die heutzutage so sehr in Mode waren … Möglich wäre es, dachte Barbara. Vielleicht waren aber auch allen Schweinen in England über Nacht Flügel gewachsen.

Inzwischen war es eiskalt, und sie beeilte sich, an dem Haus vorbei zu ihrem Bungalow zu gelangen. Es war ziemlich dunkel im Garten, da in zwei der fünf Gartenlaternen die Birnen durchgebrannt waren, und vor ihrem Bungalow war es noch dunkler, denn sie hatte am Morgen vergessen, die Verandabeleuchtung einzuschalten.

Trotzdem sah sie, dass jemand auf der Stufe vor ihrer Tür hockte. Die Knie angezogen, den Kopf auf die Knie gelegt, die Fäuste an die Schläfen gedrückt wiegte die Gestalt sich vor und zurück. Als Barbara näher kam, hob die Gestalt den Kopf. Es war Taymullah Azhar.

«Azhar?«, sagte sie. Er antwortete nicht. Dann bemerkte sie, dass er nur einen Anzug trug, aber weder Mantel noch Handschuhe, und dass er vor Kälte zitterte und mit den Zähnen klapperte.

«Azhar!«, rief sie erschrocken.»Was ist passiert?«

Er schüttelte den Kopf. Als sie ihm auf die Beine half, brachte er mühsam hervor:»Sie sind weg.«

Barbara begriff sofort. Sie legte Azhar einen Arm um die Taille und schloss ihre Tür auf.»Kommen Sie rein«, sagte sie. Sie führte ihn zu einem Stuhl. Der Mann war bis auf die Knochen durchgefroren. Selbst seine Kleider waren ganz steif und fühlten sich an, als wären sie dabei, an seiner Haut festzufrieren. Sie zog eine Decke von ihrem Schlafsofa und legte sie ihm um die Schultern. Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein, dann ging sie zurück zu Azhar und rieb ihm die Hände. Weil ihr nichts Besseres einfiel, wiederholte sie mehrmals seinen Namen. Wenn sie ihn noch einmal gefragt hätte» Was ist passiert?«, hätte er es ihr wahrscheinlich erzählt, doch sie wusste nicht, ob sie es wirklich wissen wollte.

Er hielt den Blick auf sie gerichtet, aber sie merkte, dass er sie eigentlich gar nicht sah, denn er starrte nur ins Leere. Der Wasserkocher schaltete sich ab, Barbara hängte einen Teebeutel in eine Henkeltasse und überbrühte ihn mit kochendem Wasser. Sie stellte die Tasse, ihre Zuckerdose und eine Tüte Milch auf den Tisch. Dann tat sie Milch und Zucker in den Tee, rührte um, hielt ihm die Tasse hin und forderte ihn auf zu trinken.

Seine Hände waren so steifgefroren, dass er die Tasse nicht halten konnte, also hielt sie ihm die Tasse an die Lippen. Er trank einen Schluck, hustete und trank wieder.»Sie hat Hadiyyah mitgenommen«, stieß er hervor.

Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, dachte Barbara. Angelina und Hadiyyah waren doch nur losgefahren, um Azhars Kinder abzuholen. Das war zwar eine ziemlich verrückte Idee, aber es konnte doch höchstens eine Stunde dauern, bis Angelina und Hadiyyah mit den beiden anderen Kindern im Schlepptau zurückkehrten und die Überraschungsparty steigen ließen. Zugleich jedoch wusste Barbara, dass sie sich etwas vormachte. Und dass Angelina sie angelogen hatte.

Dann fiel ihr auf, dass ihr Anrufbeantworter blinkte. Vielleicht, dachte sie, vielleicht …

Sie legte Azhars Hand um die Teetasse und ging zu dem Tischchen, auf dem der Anrufbeantworter stand. Zwei Nachrichten waren aufgezeichnet worden. Sie drückte auf die Abhörtaste. Die erste Stimme, die ertönte, war Angelinas:»Hari wird es heute Abend nicht gut gehen«, sagte sie freundlich.»Wenn Sie vielleicht einmal nach ihm sehen würden. Ich wäre Ihnen sehr dankbar. «Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:»Machen Sie ihm verständlich, dass es nichts Persönliches ist, Barbara … Na ja, einerseits ist es schon etwas Persönliches, andererseits auch wieder nicht. Würden Sie ihm das sagen, Barbara?«Dann hörte sie die zweite Nachricht ab. Azhars aufgeregte Stimme sagte:»Barbara … Barbara … Ihre Pässe … Hadiyyahs Geburtsurkunde …«Er begann zu schluchzen, dann war die Aufzeichnung zu Ende.

Barbara drehte sich zu ihm um. Er saß in sich zusammengesunken am Tisch.»O Gott, Azhar«, sagte sie.»Was hat sie getan?«Das Schlimme war, dass sie genau wusste, was Angelina Upman getan hatte. Und wenn sie rechtzeitig mit Azhar gesprochen und ihm von der»Überraschung «erzählt hätte, dann hätte er vielleicht geahnt, was Angelina vorhatte, und es vielleicht verhindern können.

Barbara setzte sich an den Tisch. Am liebsten hätte sie ihn in den Arm genommen, aber sie fürchtete, wenn sie das tat, würde er wie Glas zerbrechen.»Azhar«, sagte sie.»Hadiyyah hat mir etwas von einer Überraschung erzählt. Sie meinte, sie und ihre Mum würden losfahren, um Ihre anderen Kinder zu holen, die Kinder, die Sie mit … mit Ihrer Ehefrau haben. Ich wusste nicht, was ich Ihnen sagen sollte, Azhar. Ich wollte Hadiyyahs Vertrauen nicht missbrauchen … und … Verdammt, was ist eigentlich los mit mir? Ich hätte etwas sagen sollen. Ich hätte etwas unternehmen sollen. Ich hab doch nicht damit gerechnet, dass …«

«Sie weiß doch gar nicht, wo sie wohnen«, sagte er tonlos.

«Sie muss es irgendwie rausgefunden haben.«

«Wie denn? Sie kennt ja nicht mal ihre Namen. Nicht den meiner Frau, nicht die meiner Kinder. Sie kann unmöglich … Aber Hadiyyah hat wahrscheinlich gedacht … Bestimmt denkt sie …«Er verstummte.

«Wir müssen die Polizei verständigen«, sagte Barbara, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war. Denn Hadiyyah war nicht mit einer Fremden fortgegangen. Sie war in Begleitung ihrer Mutter. Und dass Azhar nicht geschieden war, machte die Frage nach dem Sorgerecht kompliziert. Ein Mann und eine Frau und ihre gemeinsame Tochter hatten ein paar Jahre lang einigermaßen friedlich zusammengelebt. Dann war die Mutter ins Ausland gegangen. Zwar war sie irgendwann zurückgekehrt, aber Barbara begriff plötzlich, dass sie das nur getan hatte, um ihre Tochter zu holen: Sie hatte Azhar in falscher Sicherheit gewiegt, ihn glauben lassen, es wäre alles wieder gut, und einen günstigen Moment abgewartet, um mit Hadiyyah spurlos zu verschwinden.

Gott, Angelina hatte sie alle hereingelegt und benutzt, dachte Barbara. Und was würde Hadiyyah denken und fühlen, wenn ihr dämmerte, dass ihre Mutter sie von ihrem Vater fortbrachte, an dem sie hing, und dass sie sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen hatte. Wohin würde Angelina wohl mit ihrer Tochter gehen? fragte sich Barbara. Wohin?

Niemand verschwand wirklich spurlos. Barbara war schließlich Polizistin, und sie wusste nur zu gut, dass niemand verschwand, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen.»Kommen Sie, wir gehen in Ihre Wohnung«, sagte sie zu Azhar.

«Ich kann da nicht mehr reingehen.«

«Sie müssen, Azhar. Sonst finden wir Hadiyyah nie wieder.«

Ganz langsam stand er auf. Barbara führte ihn am Arm zum Vorderhaus. Auf der Terrasse vor seiner Wohnung blieb er stehen, aber sie bugsierte ihn weiter. Sie ließ sich von ihm die Schlüssel geben, schloss die Haustür auf und machte Licht.

Barbara betrachtete das Wohnzimmer, das Angelina so geschmackvoll renoviert hatte. Und auf einmal kapierte sie, was das alles zu bedeuten hatte. Angelina hatte sie alle hinters Licht geführt, nicht nur Azhar und Hadiyyah, sondern auch Barbara. Es wird ein Riesenspaß, und was glaubst du, was dein Vater für Augen machen wird!

Azhar stand in der Diele, das Gesicht aschfahl. Barbara fürchtete schon, dass er gleich aus den Latschen kippen würde. Sie führte ihn vorsichtshalber in die Küche und drückte ihn auf einen Stuhl an dem kleinen Tisch.»Warten Sie«, sagte sie zu ihm.»Es wird alles gut, Azhar. Wir werden sie finden. Wir werden sie beide finden. «Er sagte nichts.

Sie ging ins Schlafzimmer und stellte fest, dass alles verschwunden war, was Angelina gehörte. Die Frau konnte unmöglich alle ihre Habseligkeiten in Koffern mitgenommen haben, was bedeutete, dass sie die meisten Sachen schon vorher heimlich verschickt haben musste. Was wiederum bedeutete, dass sie bereits im Voraus gewusst hatte, wohin sie gehen würde, und vielleicht sogar, zu wem. Ein wichtiges Detail.

Auf dem Bett lag eine Geldkassette. Sie war offen, und der Inhalt war auf das Bett gekippt worden. Barbara ging die Sachen durch: Versicherungspolicen, Azhars Reisepass, eine Kopie seiner Geburtsurkunde, ein verschlossener Umschlag, auf dem in seiner sauberen Handschrift stand: Testament. Alles, was mit Hadiyyah zu tun hatte, fehlte, genau wie er es gesagt hatte.

Barbara ging ins Kinderzimmer. Hadiyyahs Kleider waren alle weg — bis auf ihre Schuluniform, die auf dem Bett lag wie zum Hohn, dass das Mädchen sie nie wieder tragen würde. Auch ihre Schultasche war noch da, mitsamt den Büchern und den in einem Ringbuch säuberlich abgehefteten Hausaufgaben. Auf dem Schreibtisch stand Hadiyyahs Laptop, und obenauf thronte eine kleine Plüschgiraffe, die ein freundliches Mädchen ihr im vergangenen Jahr auf dem Vergnügungspier in Balford-le-Nez in Essex geschenkt hatte. Diese Giraffe, dachte Barbara, hätte Hadiyyah niemals freiwillig zurückgelassen. Auch nicht den Laptop. Oder ihre Schulsachen. Und vor allem hätte sie niemals freiwillig ihren Vater verlassen.

Sie ging zurück in die Küche, wo Azhar immer noch am Tisch saß und vor sich hinstierte.»Azhar«, sagte sie.»Sie sind Hadiyyahs Vater. Das lässt sich nachweisen. Sie hat seit ihrer Geburt bei Ihnen gewohnt. Die Nachbarn im ganzen Haus werden das bezeugen. Die Polizei wird die Leute hier befragen, und sie werden aussagen, dass Sie ein liebevoller Vater sind. Hadiyyahs Lehrer werden das bestätigen. Alle werden …«

«Mein Name steht nicht in der Geburtsurkunde, Barbara. Angelina hat darauf bestanden. Es war der Preis dafür, dass ich mich nicht habe scheiden lassen.«

Barbara schluckte. Sie überlegte fieberhaft.»Also gut. Das kriegen wir schon hin. Es spielt keine Rolle. Es gibt schließlich DNS-Tests. Wir werden beweisen, dass Sie der Vater sind.«

«Wie denn, wenn sie nicht hier ist? Und welche Rolle spielt es schon, solange sie bei ihrer Mutter ist? Angelina hat gegen kein Gesetz verstoßen. Sie hat gegen keinen Gerichtsbeschluss verstoßen. Es gibt keine richterliche Anordnung in Bezug auf ein gemeinsames Sorgerecht, der sie sich entzieht. Sie ist einfach verschwunden. Sie hat meine Tochter mitgenommen, und die beiden werden nie wieder zurückkommen.«

Er schaute sie so unglücklich an, dass Barbara sich abwandte.»Nein, nein, das kann nicht sein«, sagte sie wider besseres Wissen.

Er schlug sich mit den Fäusten an die Stirn. Einmal, zweimal. Barbara hielt seine Handgelenke fest.»Nicht. Wir werden sie finden. Ich schwöre es Ihnen. Ich rufe ein paar Leute an. Jetzt gleich. Es gibt Möglichkeiten. Sie werden Hadiyyah wiedersehen, daran müssen Sie glauben. Glauben Sie daran?«

«Mein Leben hat keinen Sinn mehr«, murmelte er.»Ohne Hadiyyah hat mein Leben keinen Sinn.«

CHALK FARM — LONDON

Wen konnte sie verantwortlich machen? fragte sich Barbara verzweifelt. Wem auf Gottes verfluchter Erde konnte sie die Schuld geben? Sie musste einen Schuldigen finden, denn wenn ihr das nicht gelang, musste sie sich selbst die Schuld geben. Dafür, dass sie sich hatte verführen lassen, sich hatte einschüchtern lassen, dass sie zu blöd gewesen war, dass sie …

Letztlich war Isabelle Ardery schuld, dachte sie. Wenn die bescheuerte Ardery nicht darauf bestanden hätte, dass Barbara ihre äußere Erscheinung änderte, wäre das alles nicht passiert; denn dann hätte Barbara Angelina Upman erst gar nicht kennengelernt, dann wäre sie auf Distanz zu der Frau geblieben und hätte klarer gesehen … Aber was für eine Rolle spielte das überhaupt, denn Angelina hatte von Anfang an vorgehabt, ihre Tochter mitzunehmen, und genau darum war es in dem Streit zwischen Angelina und Azhar gegangen, den Barbara zufällig mitbekommen hatte. Sie hatte ihm gedroht, mit Hadiyyah wegzugehen, und er war wütend geworden. Azhar hatte die Beherrschung verloren, wie es jedem Mann gehen würde, wenn er erführe, dass man ihm sein Kind wegnehmen wollte. Als Angelina Barbara kurz darauf erzählt hatte, um was es bei dem Streit gegangen war, hatte Barbara ihr das Lügenmärchen abgekauft, so wie sie ihr überhaupt alles abgekauft hatte.

Sie wollte Azhar nicht allein lassen, doch wenn sie den Anruf tätigen wollte, würde ihr nichts anderes übrig bleiben. Sie wollte nicht in seiner Gegenwart telefonieren, da sie nicht wusste, was bei dem Gespräch herauskommen würde, auch wenn sie Azhar versicherte, dass alles gut werden würde.»Legen Sie sich ein bisschen hin, Azhar«, sagte sie zu ihm.»Ruhen Sie sich aus. Ich bin gleich wieder da. Versprochen. Warten Sie hier auf mich. Ich werde ein paar Leute anrufen, und dann komme ich mit einem Plan zurück … Azhar, hören Sie mir überhaupt zu?«Am liebsten hätte sie jemanden gebeten herzukommen und sich um ihn zu kümmern, aber es gab niemanden. Sie konnte nichts anderes tun, als ihn ins Schlafzimmer zu bringen, ihn zuzudecken und ihm zu versprechen, dass sie bald wieder da sein würde.

Sie lief zu ihrem Bungalow, um zu telefonieren. Es gab nur einen Menschen, der ihr helfen konnte, der in einer solchen Situation klar denken konnte. Sie wählte seine Handynummer.

«Ja? Barbara?«, sagte Lynley.»Sind Sie das?«Im Hintergrund war ein fürchterlicher Lärm zu hören.»Ja, Sir«, sagte Barbara erleichtert.»Ja, Sir, ich bin’s. Ich brauche …«

«Ich kann Sie nicht verstehen, Barbara. Kann ich Sie zurück …«

Seine Stimme ging im Jubelgeschrei einer Menschenmenge unter. Wo zum Teufel steckte er? fragte sich Barbara. In einem Fußballstadion?

Als hätte er ihre Frage gehört, sagte er:»Ich bin im Earl’s Court …«Wieder tobte die Menge, und Lynley sagte zu jemandem:»Charlie, ist die verrückt geworden? Gott, ist die Frau aggressiv. Haben Sie gesehen, was passiert ist?«Jemand antwortete etwas, und Lynley lachte. Er lachte, dachte Barbara, wie sie ihn nicht mehr hatte lachen hören seit dem vergangenen Februar, als sie geglaubt hatte, er würde nie wieder lachen. Er sagte:»Roller Derby, Barbara«, dann wurde es so laut, dass sie fast kein Wort mehr verstand.»… diese Frau aus Cornwall«, hörte sie. War er bei einem Rendezvous? fragte sie sich. Mit einer Frau aus Cornwall? Und was war Roller Derby? Und wer war Charlie? Eine Frau namens Charlotte? Es konnte doch unmöglich Charlie Denton sein, oder? Wieso zum Teufel sollte Lynley mit Charlie Denton ausgehen?

«Sir«, rief sie ins Handy.»Sir!«Aber es hatte keinen Zweck.

Die Menge tobte, und Lynley sagte zu jemandem:»Ist das ein Punkt?«Dann sagte er ins Handy:»Barbara, kann ich Sie zurückrufen? Ich verstehe kein Wort.«

«In Ordnung«, sagte sie. Sie überlegte, ob sie ihm eine SMS schicken sollte. Aber er war gerade so gelöst und glücklich, wie konnte sie ihn da herausreißen, wo sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass er sowieso nichts tun konnte? Von offizieller Seite konnte niemand etwas tun. Was auch immer sie unternahm, es musste vollkommen inoffiziell geschehen.

Sie betrachtete ihr Handy. Dachte an Hadiyyah. Sie kannte sie erst seit zwei Jahren, es kam ihr jedoch so vor, als würde sie das fröhliche Mädchen mit den Zöpfen schon kennen, seit es auf der Welt war. Plötzlich fiel Barbara auf, dass Hadiyyah die letzten beiden Male, als sie sie gesehen hatte, gar keine Zöpfe gehabt hatte, und sie fragte sich, wie sie ihr Haar wohl demnächst tragen würde.

Was wird sie aus dir machen? dachte Barbara. Wie wird sie dir deine Verkleidung erklären? Was wird sie dir über euer Reiseziel erzählen, wenn du erst einmal begreifst, dass sie nicht vorhat, dich zu deinen Halbgeschwistern zu bringen? Wohin wird eure Reise euch führen? In wessen Arme wird deine Mutter sich flüchten?

Denn darauf lief es letztlich hinaus. Und wie sollte man Angelina Upman daran hindern, ihr Kind mitzunehmen, eine Mutter, die aus» Kanada «zurückgekommen war, oder wo und bei wem auch immer sie gewesen war? Denn natürlich war sie jetzt unterwegs zu ebendiesem Mann, den sie genauso wie Azhar verführt hatte, so wie sie wahrscheinlich jeden dazu verführt hatte, ihr jeden Blödsinn zu glauben … Was hatte Angelina getan, und wohin war sie unterwegs?

Unruhig ging Barbara in ihrem Bungalow auf und ab. Sie würde jedes Londoner Taxi überprüfen, dachte sie. Jeden Bus. Sie würde sich jedes Band aus den Überwachungskameras des U-Bahnhofs Chalk Farm ansehen. Dann die Fernbahnhöfe überprüfen. Den Eurostar. Die Flughäfen. Luton, Stansted, Gatwick, Heathrow. Jedes Hotel. Sämtliche Pensionen. Jede Wohnung und jedes mögliche Versteck in London und Umgebung. Die Kanalinseln. Die Isle of Man. Die großen und die kleinen Hebriden. Europa. Frankreich, Spanien, Italien, Portugal …

Wie lange würde man brauchen, um eine schöne, blonde Frau mit einem dunkelhaarigen kleinen Mädchen zu finden, das schon bald nach seinem Vater fragen würde, das es irgendwie schaffen würde, seinen Vater anzurufen und zu sagen:»Daddy, Daddy, Mummy weiß nicht, dass ich dich anrufe, aber ich will nach Hause …«

Also, warten wir auf den Anruf? fragte sich Barbara. Oder suchen wir sie? Oder beten wir einfach nur? Reden wir uns ein, dass Angelina nichts Schlimmes im Schilde führt und nichts Schlimmes passieren wird, weil sie ihr Kind liebt und weiß, dass Hadiyyah zu ihrem Vater gehört, der ihretwegen alles aufgegeben hat und ohne sie nicht leben kann?

Gott, sie wünschte, Lynley wäre da. Er würde wissen, was zu tun war. Er würde das Richtige sagen. Er würde sich die ganze schreckliche Geschichte anhören, und er würde den richtigen Ton finden, um Azhar Hoffnung zu machen. Sie selbst wusste nicht, wie sie es anstellen sollte, aber irgendetwas musste sie tun. Sie musste etwas sagen, irgendetwas unternehmen, denn wenn sie das nicht tat, was für eine Freundin war sie dann?

Es war fast zehn Uhr, als Barbara schließlich in ihr kleines Badezimmer ging. Lynley hatte noch nicht zurückgerufen, doch er würde es tun, das wusste sie. Er würde sie nicht im Stich lassen, denn DI Lynley ließ niemanden im Stich. So war er nicht. Er würde so bald wie möglich anrufen, und an den Gedanken klammerte sich Barbara, schließlich musste sie an irgendetwas glauben.

Sie drehte das Wasser in der Dusche auf und wartete darauf, dass es warm wurde. Sie fror plötzlich, aber nicht vor Kälte, denn der elektrische Kamin hatte den kleinen Wohnraum ganz gut aufgewärmt. Nein, etwas viel tiefer in ihrem Innern ließ sie frösteln. Sie betrachtete sich im Spiegel, während es aus der Dusche dampfte. Sie betrachtete die Frau, die sie auf Geheiß anderer geworden war. Sie dachte an die Schritte, die unternommen werden mussten, um Hadiyyah zu finden und zu ihrem Vater zurückzubringen. Es waren viele Schritte, aber Barbara wusste, welcher der erste war.

Sie ging in die Küche und nahm eine Schere aus der Schublade, eine gute, scharfe Schere, mit der man leicht Hühnerknochen durchtrennen konnte, obwohl sie sie zu diesem Zwecke noch nie benutzt hatte. Oder zu irgendeinem anderen Zweck. Aber sie war perfekt geeignet für den Zweck, für den Barbara sie jetzt brauchte.

Sie ging zurück ins Bad und zog sich aus.

Sie stellte die Wassertemperatur ein.

Sie trat in die Duschkabine.

Und begann, sich die Haare abzuschneiden.

6. September 2010

Whidbey Island, Washington

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