25. Oktober

WANDSWORTH — LONDON

Sie hielten es immer noch so wie anfangs. Sie gab ihm ein Zeichen, und er fuhr zu ihr. Manchmal war es die Andeutung eines Lächelns, ein leichtes Schürzen der Lippen, so kurz, dass jemand, der seine Bedeutung nicht kannte, es gar nicht bemerkt hätte. Manchmal waren es nur die im Vorbeigehen auf dem Korridor gemurmelten Worte heute Abend? Manchmal, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten oder in der Kantine, oder wenn sie morgens zufällig gleichzeitig in der Tiefgarage eintrafen, lud sie ihn ganz offen ein. Aber in jedem Fall wartete er auf ein Zeichen von ihr. Das gefiel ihm nicht, doch er hatte keine andere Wahl. Sie war unter keinen Umständen bereit, zu ihm zu kommen, und selbst wenn sie dazu bereit gewesen wäre, sie war seine Vorgesetzte, und sie hatte das Sagen.

Nur einmal, ganz zu Anfang, hatte er erwähnt, sie könnten auch zu ihm gehen. Er hatte gedacht, es wäre ein Zeichen, wenn sie eine Nacht bei ihm in Belgravia verbrachte. Als hätte das ihrer Beziehung eine Wendung geben können, obwohl er sich nicht einmal sicher war, dass er das wollte. Auf ihre typische Art, wie sie Dinge klarstellte, die keinen Widerspruch duldeten, hatte sie nur gemeint: Das wird nie passieren, Thomas. Und die Tatsache, dass sie ihn Thomas nannte und nicht Tommy, wie alle seine Freunde und Kollegen, sagte mehr aus als das, was sie unausgesprochen ließ: Das Haus in Eton Terrace war immer noch voller Erinnerungen an seine ermordete Frau, und acht Monate nach ihrem Tod auf den Eingangsstufen hatte er es immer noch nicht über sich gebracht, irgendetwas im Haus zu verändern. Natürlich war es mehr als unwahrscheinlich, so einsichtig war er immerhin, dass irgendeine Frau in seinem Bett schlafen würde, solange Helens Kleider noch im Schrank hingen und Helens Parfümflaschen auf der Kommode standen, neben Helens Haarbürste, in der immer noch Helens Haare hingen. Solange Helen überall in seinem Haus präsent war, brauchte er sich keine Hoffnungen zu machen, dass eine andere Frau bereit war, es mit ihm zu teilen, und sei es nur für eine Nacht. So steckte er in der Zwickmühle, und wenn Isabelle sagte heute Abend?, dann fuhr er zu ihr, getrieben von einer Macht, die sowohl ein körperliches Bedürfnis war als auch eine Sehnsucht nach einem Moment des Vergessens, und sei er noch so kurz.

Auch an diesem Abend fuhr er zu ihr. Am Nachmittag hatten sie einen Termin mit dem Leiter der IPCC, der Independent Police Complaints Commission, gehabt. Es ging um eine Anzeige, die eine Anwältin im vergangenen Sommer im Namen ihres Mandanten erstattet hatte: Ein manisch depressiver Mann war auf der Flucht vor der Polizei im dichten Verkehr verunglückt. Wegen der inneren Verletzungen und des Schädelbruchs, die der Mann dabei erlitten hatte, klagte die Anwältin auf Schmerzensgeld. Die IPCC untersuchte den Fall, und das bedeutete endlose Sitzungen mit allen Beteiligten, die jeweils ihre Sicht der Ereignisse zu Protokoll gaben, das Sichten von Videos aus Überwachungskameras, die Vernehmung von Augenzeugen. Gleichzeitig lauerte die Londoner Boulevardpresse darauf, jedes noch so kleine Detail der Geschichte aufzuschnappen und die Sache groß rauszubringen, sobald die IPCC ihr Urteil fällte über Schuld, Unschuld, Pflichtverletzung, Unfall, unkontrollierbare Umstände oder was auch immer in Frage kam. Die Besprechung war in äußerst angespannter Atmosphäre verlaufen. Hinterher war Lynley ebenso nervös gewesen wie Isabelle.

Auf dem Weg durch den Korridor zurück in den Victoria Block hatte sie zu ihm gesagt, Ich würde dich heute Abend gern sehen, Thomas, wenn du genug Energie hast. Abendessen und Sex. Hervorragende Steaks, sehr guter Wein, saubere Laken. Nicht aus Damast, wie deine bestimmt sind, aber frisch gewaschen.

Und dann dieses Lächeln und dieses gewisse Etwas in ihrem Blick, das er drei Monate, nachdem er in dem seelenlosen Schlafzimmer ihrer Souterrainwohnung zum ersten Mal mit ihr geschlafen hatte, immer noch nicht zu deuten wusste. Er wollte verdammt sein, wenn er sie nicht begehrte. Es hatte damit zu tun, dass er sich im Bett einbilden konnte, er sei ihr Meister, während er in Wirklichkeit ihr Sklave war.

Das Arrangement war ziemlich einfach. Sie würde einkaufen gehen, und er konnte in der Zwischenzeit entweder direkt zu ihr fahren und in ihrer Wohnung auf sie warten — er hatte einen Schlüssel —, oder er konnte erst zu sich nach Hause fahren und sich dort die Zeit vertreiben, bis er sich in die trostlose Straße begab, die zwischen dem Gefängnis von Wandsworth und einem Friedhof lag. Er entschied sich für letztere Variante. Sie erlaubte ihm, sich einzureden, er sei sein eigener Herr.

Um diese Illusion weidlich auszukosten, ließ er sich Zeit mit seinen Vorbereitungen: Er las in Ruhe seine Post, duschte, rasierte sich und rief seine Mutter zurück, die ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen hatte und mit ihm über die Dachrinnen an der Südseite des Hauses in Cornwall reden wollte. Sollten sie erneuert oder repariert werden? Der Winter steht vor der Tür, mein Lieber, und wenn demnächst mehr Regen fällt … Natürlich waren die Dachrinnen nur ein Vorwand gewesen. Sie wollte einfach wissen, wie es ihm ging, aber sie fragte nicht gern so direkt. Sie wusste genau, dass die Dachrinnen repariert werden mussten. Sie konnten unmöglich ausgewechselt werden. Schließlich stand das Haus unter Denkmalschutz. Es musste schon über ihren Köpfen zusammenbrechen, ehe sie die Erlaubnis erhielten, irgendetwas daran zu verändern. Sie plauderten über Familienangelegenheiten. Wie es seinem Bruder gehe, fragte er, was der innerfamiliäre Code war für: Ist er noch clean, oder hängt er wieder am Kokain, Heroin oder was auch immer er derzeit bevorzugt, um sich von der Welt zurückzuziehen? Die Antwort lautete: Es geht ihm sehr gut, mein Lieber. Was wiederum der Familiencode war für: Ich schau ihm auf die Finger, mach dir keine Sorgen. Wie geht es meiner Schwester? bedeutete im Klartext: Hat Judith es endlich aufgegeben, für immer ein Leben als Witwe zu führen? Und die Antwort darauf — Sie hat wie immer wahnsinnig viel um die Ohren — hieß: Sie will nicht noch einmal in so einer schrecklichen Ehe landen, glaub’s mir. Nachdem sie schließlich alle wichtigen Themen besprochen hatten, sagte seine Mutter: Ich hoffe so sehr, dass du Weihnachten herkommst, Tommy, und er versprach ihr, das zu tun.

Nachdem ihn nun nichts mehr in Belgravia hielt, fuhr er Richtung Themse nach Süden und über die Wandsworth Bridge. Kurz nach halb acht erreichte er das Haus, in dem Isabelle wohnte. In der Gegend einen Parkplatz zu finden, war die Hölle, aber er hatte Glück, denn nur gut zwanzig Meter weiter fuhr ein Lieferwagen aus einer Parklücke.

Vor der Wohnungstür, zu der ein paar Stufen hinunterführten, nahm er Isabelles Schlüssel aus der Tasche. Als er ihn gerade ins Schloss gesteckt hatte, wurde die Tür von innen aufgerissen. Isabelle trat schnell heraus und zog die Tür hinter sich zu.

«Heute geht’s nicht«, sagte sie.»Es ist etwas dazwischengekommen. Ich hätte dich auf dem Handy angerufen, aber das ging nicht. Tut mir leid.«

Er war völlig verblüfft. Wie ein Idiot betrachtete er über ihre Schulter hinweg die geschlossene Tür.»Wer ist denn bei dir?«, fragte er, denn es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass jemand da war. Ein Mann, dachte er, und damit lag er richtig, doch er hatte mit jemand ganz anderem gerechnet.

«Bob«, sagte sie.

Ihr Exmann. Warum sollte das ein Problem sein?» Und?«, fragte er freundlich.

«Thomas, es wäre mir peinlich. Sandra ist mitgekommen. Und die Jungs ebenfalls.«

Bobs neue Frau. Die Zwillinge, Isabelles Söhne aus der Ehe mit Bob, die fünf Jahre gehalten hatte. Die Jungs waren acht Jahre alt, und er hatte sie noch nie gesehen. Soweit er wusste, waren sie noch nie bei ihrer Mutter in London gewesen.

Er sagte:»Wie schön, Isabelle. Er hat ihnen also endlich erlaubt, dich hier zu besuchen?«

«Du verstehst das nicht«, sagte sie.»Ich hatte nicht mit ihnen gerechnet …«

«Natürlich, das habe ich begriffen. Ich werde sie also kennenlernen, wir essen was zusammen, und dann verschwinde ich.«

«Er weiß nichts von dir.«

«Wer?«

«Bob. Ich hab’s ihm nicht gesagt. Das ist alles völlig überraschend gekommen. Er und Sandra sind in London, weil sie irgendwo zum Abendessen eingeladen sind. Irgendwas Gott weiß wie Vornehmes. Die haben sich total in Schale geworfen. Sie haben die Jungs mitgebracht, weil sie meinten, sie könnten bei mir bleiben, während die beiden bei dieser Veranstaltung sind.«

«Und sie haben dich nicht vorher angerufen? Was, wenn du nicht zu Hause gewesen wärst? Was hätte er dann mit den Kindern gemacht? Hätte er sie während des Abendessens im Auto warten lassen?«

Sie wirkte irritiert.»Das ist doch völlig unwichtig, Thomas. Tatsache ist, dass ich zu Hause bin und dass sie in London sind. Ich habe die Jungs seit Wochen nicht gesehen, und es ist das erste Mal, dass er mir erlaubt, ein paar Stunden mit ihnen allein zu sein, und ich habe nicht die Absicht …«

«Was ist los?«Er schaute sie an. Sie kniff die Lippen zusammen. Er wusste, was das bedeutete. Sie brauchte einen Drink.»Was fürchtest du, was ich tun könnte, Isabelle? Hast du Angst, ich könnte deine Kinder mit meiner ausschweifenden Lebensart verderben?«

«Mach’s bitte nicht so kompliziert. Das hat nichts mit dir zu tun.«

«Stell mich doch einfach als Kollegen vor.«

«Ein Kollege, der einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat?«

«Herrgott noch mal, wenn er sowieso schon weiß, dass ich deinen Hausschlüssel habe …«

«Das weiß er nicht. Und er wird es auch nicht erfahren. Ich hab ihm gesagt, ich hätte jemanden klopfen hören, und bin aufgestanden, um nachzusehen.«

«Merkst du eigentlich, dass du dir widersprichst?«Wieder betrachtete er die Tür hinter ihr.»Isabelle, ist jemand anders da drin? Ist es gar nicht Bob? Und auch nicht seine Frau? Und nicht die Jungs?«

Sie richtete sich auf. Sie war eins achtzig groß, fast so groß wie er, und er wusste, was es bedeutete, wenn sie diese Tatsache hervorhob.»Was willst du damit sagen?«, fragte sie.»Dass ich einen anderen habe? Mein Gott, ich fasse es nicht. Du weißt, was das für mich bedeutet. Das sind meine Kinder. Du wirst sie und Bob und Sandra und weiß der Teufel wen sonst noch kennenlernen, wenn ich so weit bin, und nicht eher. Und jetzt muss ich wieder rein, sonst kommt er gleich nachsehen, was los ist. Du musst jetzt gehen. Wir reden morgen darüber.«

«Und wenn ich trotzdem reinkomme? Du kannst mich hier stehen lassen, aber ich habe einen Schlüssel. Was, wenn ich einfach aufschließe?«Noch während er die Worte aussprach, war er über sich selbst entsetzt. Neben seinem Verstand, seiner Geduld und seiner Selbstbeherrschung war ihm offenbar auch noch seine Würde abhandengekommen.

Und sie wusste es. Das zumindest sah er in ihren Augen, egal, wie viel sie sonst vor ihm verbergen mochte. Sie sagte:»Am besten, wir vergessen, dass du das gerade gesagt hast«, dann ging sie hinein und überließ es ihm, mit seinem Trotzanfall umzugehen, der eines Fünfjährigen würdig war.

Gott, was hatte er sich dabei gedacht? Thomas Lynley, Detective Inspector von New Scotland Yard, ein Angehöriger des Landadels, Absolvent der Universität von Oxford und Inhaber des Narrenordens erster Klasse.

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