4. November

MILNTHORPE UND ARNSIDE — CUMBRIA

Als sie sich entschlossen hatten, ein paar Tage nach Cumbria zu fahren, um Tommy zu helfen, hatte Deborah St. James sich vorgestellt, dass sie und Simon sich ein Zimmer in einem von wildem Wein überwucherten Hotel nehmen würden, mit fantastischem Blick auf einen der Seen. Sie wäre sogar mit einem Blick auf einen Wasserfall zufrieden gewesen, die es in der Gegend im Überfluss gab. Stattdessen waren sie in einem alten Gasthaus namens Crow & Eagle gelandet, das genau dort lag, wo man ein Gasthaus erwarten würde: an einer Kreuzung von zwei Landstraßen, über die die ganze Nacht Lastwagen rumpelten. Die Kreuzung wiederum lag in der Mitte des Marktfleckens Milnthorpe, und zwar so weit im Süden, dass die Gegend offiziell gar nicht zum Lake District gehörte, und das einzige Gewässer, das der Ort zu bieten hatte, war ein Bach namens Bela, der irgendwo in die Morecambe Bay mündete.

Simon hatte ihren Gesichtsausdruck bemerkt, als sie den Gasthof erblickt hatte, und gesagt:»Tja, wir sind schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier, meine Liebe, aber wenn wir die Sache hinter uns gebracht haben, gönnen wir uns ein paar Tage Urlaub. «Dann hatte er grinsend hinzugefügt:»Und zwar in einem Luxushotel mit Blick auf Windermere, mit Kaminfeuer, Scones, Tee und allem, was das Herz begehrt.«

Sie hatte ihn mit zusammengekniffenen Augen angesehen und erwidert:»Ich nehme dich beim Wort.«

«Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet.«

Am Abend ihrer Ankunft hatte sie auf ihrem Handy den Anruf erhalten, auf den sie gewartet hatte. Sie hatte sich mit demselben Spruch gemeldet, den sie an dem Tag bei jedem Anruf aufgesagt hatte, um sich daran zu gewöhnen:»Fotostudio Deborah St. James«, und hatte Simon zugenickt, als der Anrufer sich als Nicholas Fairclough vorgestellt hatte. Sie hatten nicht lange gebraucht, um sich zu verabreden. Er war bereit, sich mit ihr zu treffen und über das Projekt zu reden, dessentwegen sie angerufen hatte. Er hatte gefragt:»Dieser Dokumentarfilm … da geht’s doch nicht um mich, oder? Zumindest nicht um mein Privatleben?«Sie hatte ihm versichert, dass es nur um das von ihm ins Leben gerufene Projekt gehe, ehemaligen Drogensüchtigen unter die Arme zu greifen. Sie wolle zunächst ein Vorabinterview mit ihm führen, erklärte sie ihm. Anschließend würde sie einen Bericht für einen Produzenten von Query Productions schreiben, der darüber zu entscheiden habe, ob Faircloughs Initiative in den Dokumentarfilm aufgenommen würde.»Ich mache das bisher alles nur auf Verdacht«, hatte sie ihm erklärt.»Ich habe keine Ahnung, ob Sie am Ende in dem Film auftauchen werden. «Das schien ihn zu erleichtern, denn er hatte lebhaft geantwortet:»Also gut. Wann treffen wir uns?«

Jetzt war sie gerade im Aufbruch, um zu dem Treffen zu fahren. Simon telefonierte derweil mit dem Coroner und erzählte diesem eine Geschichte von einer Vorlesung, die er an der London University halten wolle. Sie fand, dass er wesentlich wortgewandter war als sie. Dass er sich so gut verstellen konnte, gab ihr zu denken. Es war kein angenehmes Gefühl zu wissen, dass der eigene Ehemann so ein geschickter Lügner war, wenn es darauf ankam.

Ihr Handy klingelte, als sie gerade ihre Sachen zusammensuchte. Sie warf einen Blick aufs Display und erkannte die Nummer. Diesmal brauchte sie sich nicht mit» Fotostudio Deborah St. James «zu melden. Der Anrufer war Simons Bruder David.

Sie wusste sofort, warum David sie anrief. Sie war bereits darauf vorbereitet.

«Ich dachte, du hast vielleicht ein paar Fragen, die ich dir leicht beantworten kann«, sagte David in einem aufmunternden Tonfall.»Das Mädchen möchte dich unbedingt kennenlernen, Deborah. Sie hat sich deine Website angesehen, die Fotos und alles. Simon meinte, du wärst ein bisschen besorgt wegen der großen Entfernung, weil ihr in London wohnt und sie hier in Southampton. Also, unter normalen Umständen hätte sie das auch gar nicht in Erwägung gezogen, aber sie weiß, dass Simon mein Bruder ist, und ihr Vater arbeitet schon seit über zwanzig Jahren hier in der Firma. In der Buchhaltung«, fügte er hastig hinzu. Was bedeuten sollte: Sie stammt aus einer anständigen Familie, als glaubte er, das Mädchen könnte schlechte Erbanlagen haben, wenn ihr Vater Hafenarbeiter wäre.

Sie wollten eine Entscheidung von ihr. Das konnte Deborah verstehen. Für David und Simon war diese Art der Adoption die perfekte Lösung eines Problems, mit dem sie und Simon sich seit Jahren herumschlugen. Sie waren es beide gewöhnt, jedes Problem im Leben ohne zu zögern anzupacken. Sie waren nicht wie sie, die ängstlich in die Zukunft blickte und sich ausmalte, wie kompliziert und belastend das Szenario werden könnte, das sie vorschlugen.

Sie sagte:»David, ich weiß es einfach nicht. Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde. Ich kann mir nicht vorstellen …«

«Heißt das, du sagst Nein?«

Das war auch so ein Problem. Nein zu sagen, bedeutete nein. Um Aufschub zu bitten bedeutete, keine Position zu beziehen. Warum zum Teufel, fragte sie sich, konnte sie sich nicht zu einer klaren Haltung durchringen? Dass es vielleicht ihre letzte und einzige Chance war, müsste ihr die Sache doch eigentlich erleichtern. Aber sie war wie erstarrt.

Sie versprach, David zurückzurufen, erklärte ihm, sie habe es eilig und müsse sich jetzt auf den Weg nach Arnside machen. Ein schwerer Seufzer sagte ihr, dass ihm das nicht gefiel, doch er protestierte nicht. Simon enthielt sich eines Kommentars, obwohl er sein Gespräch beendet und zweifellos mitbekommen hatte, was sie zu David gesagt hatte. Sie verabschiedeten sich neben ihren beiden Mietwagen und wünschten einander viel Glück. Deborah hatte die kürzere Strecke zurückzulegen. Nicholas Fairclough wohnte am äußersten Ende von Arnside, einem Straßendorf, das sich südwestlich von Milnthorpe an einem Wattstreifen entlangzog, der bis zum Kent Channel reichte. Unten am Ufer standen Angler, allerdings konnte Deborah nicht richtig erkennen, in was die Leute angelten. Vom Auto aus war jedenfalls kein Wasser zu entdecken. Sie sah nur, wo die Gezeiten in der Bucht Mulden in den Sand gespült und Sandbänke errichtet hatten, die Gefahr verhießen.

Nicholas Faircloughs Wohnsitz nannte sich Arnside House. Es lag am Ende einer Straße, die gesäumt war von eindrucksvollen viktorianischen Villen, die zweifellos einmal die Sommerresidenzen von Industriemagnaten aus Manchester, Liverpool und Lancaster gewesen waren. Die meisten Häuser waren umgewandelt worden in teure Eigentumswohnungen mit unverbaubarem Blick auf die Bucht, auf das Eisenbahnviadukt, das über die Bucht nach Grange-over-Sands führte, und auf Grange-over-Sands selbst, das heute hinter einem leichten herbstlichen Nebelschleier verborgen lag.

Im Gegensatz zu den prächtigen Villen war Arnside House ein relativ schlichtes Gebäude mit weiß getünchtem Rauputz. Die Fenster waren von Sandstein eingerahmt, und aus den vielen Giebeln ragten runde Schornsteine, die ebenfalls weiß getüncht waren. Nur die Regenrinnenkästen im Arts-and-Crafts-Stil hoben sich von all der Schlichtheit ab. Im Innern des Hauses erwartete sie eine seltsame Stilmischung aus allen möglichen Epochen von mittelalterlich bis modern.

Nicholas Fairclough öffnete die Tür. Er bat sie in eine eichengetäfelte Eingangshalle, deren Marmorboden mit einem Muster aus Rauten, Kreisen und Quadraten gestaltet war. Er nahm ihr den Mantel ab und führte sie einen Korridor hinunter und an einem großen Raum vorbei, der aussah wie ein mittelalterlicher Bankettsaal. Der Raum befand sich in einem ziemlich bedauernswerten Zustand, soweit Deborah das beurteilen konnte, und wie zur Erklärung sagte Nicholas Fairclough:»Wir restaurieren den alten Kasten Stück für Stück. Dieser Raum wird wohl als Letztes drankommen, denn wir müssen erst jemanden auftreiben, der die außergewöhnliche Tapete wieder hinbekommt. Pfauen und Petunien habe ich sie getauft. Das mit den Pfauen stimmt, aber bei den Petunien bin ich mir nicht so sicher. Kommen Sie, wir können uns im Wohnzimmer unterhalten.«

Das Wohnzimmer war sonnengelb gestrichen, mit einem weißen Stuckfries aus Weißdornbeeren, Vögeln, Rosen und Bucheckern. Jeden anderen Raum hätte dieser opulente Fries dominiert, hier jedoch war der Blickfang der mit türkisfarbenen Kacheln verkleidete offene Kamin. Aber obwohl ein Feuer brannte, bedeutete Nicholas Deborah zu einem der Erkerfenster weiterzugehen und in einem von zwei niedrigen Sesseln Platz zu nehmen. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht auf die Bucht. Auf einem Tisch zwischen den Sesseln stand ein Kaffeeservice mit drei Tassen, daneben waren diverse Zeitschriften fächerartig angeordnet.

«Ich wollte mich kurz allein mit Ihnen unterhalten, ehe ich meine Frau hole«, sagte Nicholas.»Sie sollen wissen, dass ich bereit bin, ganz offen mit Ihnen zu reden, und dass ich mich freuen würde, wenn in dem Film über mein Projekt berichtet würde. Aber bei Allie werden wir noch ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten müssen. Da wollte ich Sie nur schon mal vorwarnen.«

«Verstehe. Können Sie mir ein bisschen über sie sagen …?«

«Sie ist ziemlich verschlossen«, sagte er.»Sie ist Argentinierin und geniert sich für ihr Englisch. Ich finde, ehrlich gesagt, dass sie es perfekt spricht, aber so ist sie nun mal. Außerdem …«Er rieb sich das Kinn.»Außerdem will sie mich beschützen.«

Deborah lächelte.»Dieser Film ist kein Enthüllungsbericht oder so was Ähnliches, Mr. Fairclough. Es sei denn, es stellt sich heraus, dass Sie ehemalige Drogensüchtige für Ihre Zwecke versklaven. Darf ich fragen, warum Sie es nötig haben, dass man Sie beschützt?«

Sie hatte die Frage als Scherz gemeint, aber ihr fiel auf, wie ernst er sie nahm. Er schien in Gedanken mehrere Möglichkeiten durchzugehen, und das fand sie ziemlich verräterisch. Schließlich sagte er:»Ich glaube, es verhält sich folgendermaßen. Sie fürchtet, dass ich irgendwie enttäuscht werde. Und sie macht sich Sorgen, wohin die Enttäuschung führen könnte. Natürlich spricht sie das nicht offen aus, aber schließlich kennt man eine Frau, wenn man eine Weile mit ihr zusammengelebt hat. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

«Wie lange sind Sie denn schon verheiratet?«

«Im März waren es zwei Jahre.«

«Dann stehen Sie sich sehr nahe.«

«Ja, allerdings. Ich werde sie holen, wenn’s recht ist. Sie sehen wirklich nicht besonders furchterregend aus.«

Er stand auf und ließ sie allein. Sie schaute sich um. Wer auch immer für die Gestaltung des Wohnzimmers verantwortlich war, besaß Geschmack. Das Mobiliar war im Stil an die Zeit angelehnt, aus der das Haus stammte, und fügte sich harmonisch in das Interieur ein. Neben dem auffälligen offenen Kamin besaß der Raum eine Reihe von schlanken Säulen mit Kapitellen in Form von überquellenden Obstkörben. Diese Säulen rahmten die Erkerfenster ein, bildeten den Abschluss der Sitzbänke in der Kaminecke und trugen einen Sims, der sich unterhalb des Frieses entlangzog. Die Restaurierung dieses Raums allein musste ein Vermögen verschlungen haben, dachte Deborah. Sie fragte sich, wo ein ehemaliger Junkie so viel Geld aufgetrieben hatte.

Ihr Blick wanderte zu dem niedrigen Tisch vor ihr und zu den Zeitschriften, die neben dem Kaffeeservice lagen. Sie hob sie nacheinander auf: Architektur, Innenarchitektur, Gartenbau. Dann hielt sie plötzlich inne. Eine Zeitschrift trug den Titel Conception. Empfängnis.

Deborah hatte diese Zeitschrift schon oft in den Wartezimmern von Gynäkologen liegen sehen, aber darin geblättert hatte sie noch nie. Vielleicht, dachte sie, gab es etwas, das sie und Nicholas Faircloughs Frau verband, und das könnte sich als hilfreich erweisen.

Sie schlug die Zeitschrift auf. Es gab Artikel zu Themen, wie sie in einem solchen Blatt zu erwarten waren: die richtige Ernährung während der Schwangerschaft, Vitaminpräparate für die Zeit vor der Empfängnis, Kindbettdepressionen und damit verbundene Probleme, Interviews mit Hebammen, die Kunst des Stillens. Dann fiel ihr auf, dass im hinteren Teil einige Seiten fehlten. Sie waren herausgerissen worden.

Sie hörte Schritte auf dem Korridor. Schnell legte sie die Zeitschrift auf den Tisch zurück und stand auf.»Alatea Vasquez del Torres Fairclough«, verkündete Nicholas. Dann musste er lachen.»Verzeih mir, es macht mir einfach Spaß, deinen vollen Namen auszusprechen. Allie, das ist Deborah St. James.«

Die Frau, dachte Deborah, sah ziemlich exotisch aus: dunkelhäutig mit fast schwarzen Augen und ausgeprägten Wangenknochen. Krauses, kaffeebraunes Haar, das um ihren Kopf wogte und in dem riesige goldene Ohrringe aufblitzten, wenn sie sich bewegte. Ein eklatanter Gegensatz zu Nicholas Fairclough, ehemaliger Junkie und schwarzes Schaf der Familie.

Alatea kam auf Deborah zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sie hatte große Hände mit langen, schmalen Fingern.»Nicky hat mir versichert, dass Sie vollkommen harmlos sind«, sagte sie lächelnd. Sie sprach mit einem starken Akzent.»Er hat Ihnen ja schon erzählt, dass mir die Sache nicht ganz geheuer ist.«

«Was? Meine Harmlosigkeit oder das Projekt?«, fragte Deborah.

«Nehmen wir doch Platz, dann können wir uns in Ruhe unterhalten«, sagte Nicholas hastig, als fürchtete er, seine Frau würde Deborahs Scherz nicht verstehen.»Ich habe Kaffee gemacht, Allie.«

Alatea schenkte ihnen ein. Sie trug goldene Armreifen — passend zu den Ohrringen —, und sie klimperten an ihrem Handgelenk. Sie zögerte kurz, als ihr Blick auf die Zeitschriften fiel, und schaute Deborah an. Deborah schenkte ihr ein, wie sie hoffte, ermunterndes Lächeln.

Alatea sagte:»Ich habe mich über Ihr Filmprojekt gewundert, Ms. St. James.«

«Bitte nennen Sie mich Deborah.«

«Wie Sie wünschen. Das Projekt, das Nicholas hier oben betreibt, ist ziemlich klein. Mich würde interessieren, wie Sie davon erfahren haben.«

Auf die Frage war Deborah vorbereitet. Tommy hatte in Bezug auf die Faircloughs seine Hausaufgaben gemacht und etwas zutage gefördert, was ihr als logische Erklärung dienen konnte.»Ich bin nicht selbst darauf gestoßen«, sagte sie.»Ich fahre einfach dorthin, wo man mich hinschickt, und führe die Vorabrecherchen durch für die Filmemacher von Query Productions. Wie die ausgerechnet auf Sie gekommen sind, Nicholas, weiß ich nicht genau, aber ich glaube, es hatte etwas mit dem Artikel über das Haus Ihrer Eltern zu tun.«

«Dieser Journalist schon wieder«, sagte Nicholas zu seiner Frau. Dann wandte er sich an Deborah:»Jemand hat einen Artikel über Ireleth Hall geschrieben, den Wohnsitz meiner Eltern. Es ist ein historisches Gemäuer mit Formschnittgarten am Lake Windermere, das meine Mutter zurückgekauft hat. Sie hat diesem Journalisten von unserem Haus erzählt, und da es sich um ein architektonisch interessantes Objekt handelt, ist er rübergefahren, um es sich anzusehen. Warum, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht wollte er in seinem Artikel auch so etwas erwähnen wie die Restaurierung historischer Gebäude liegt den Faircloughs im Blut oder was weiß ich. Dieses Haus hier hat mein Vater uns geschenkt, und einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Allie und mir wäre ein neueres Haus mit allem modernen Komfort lieber gewesen, nicht wahr, Darling?«

«Es ist ein wunderschönes Haus«, antwortete Alatea.»Ich schätze mich glücklich, dass ich hier wohnen kann.«

«Das liegt daran, dass für dich das Glas immer halbvoll ist«, sagte er.»Was mich wohl zu einem echten Glückspilz macht.«

«Bei einer der ersten Besprechungen in London«, sagte Deborah zu Alatea,»als wir angefangen haben, Ideen zu sammeln, hat einer der Produzenten das Wehrturmprojekt von Middlebarrow ins Gespräch gebracht. Ehrlich gesagt, wusste zuerst keiner, was ein Wehrturm ist, aber einige Leute hatten schon von Ihrem Mann gehört. Wer er ist, meine ich. Und noch ein paar andere Einzelheiten. «Sie ging nicht näher darauf ein, um was für Einzelheiten es sich handelte, denn die waren sowieso allen bekannt.

«Ich brauche also in diesem Film nicht mitzuwirken?«, fragte Alatea.»Es geht um meinen Akzent, wissen Sie …«

Den Deborah durchaus charmant fand.

«Außerdem hat Nicky das ja alles allein gemacht.«

«Wenn du nicht in mein Leben getreten wärst, hätte ich es nicht geschafft«, wandte Nicholas ein.

«Aber das ist ein ganz anderes Thema. «Als sie sich ihm zuwandte, wippte ihre krause Mähne.»Das Wehrturmprojekt … Da geht es um dich und darum, was du erreicht hast und was du ganz allein geleistet hast. Ich unterstütze dich nur im Hintergrund, Nicky.«

«Also, wenn das nicht wichtig ist …«Er verdrehte die Augen.»Sehen Sie, womit ich mich herumplage?«

«Jedenfalls spiele ich für das Projekt keine direkte Rolle, und ich möchte auch keine spielen.«

«Machen Sie sich keine Gedanken«, versuchte Deborah sie zu beruhigen. Hauptsache, Alatea gab ihre Zustimmung, dachte sie.»Und wie gesagt, bisher steht noch gar nicht fest, ob der Beitrag überhaupt in den Film aufgenommen wird. Ich treffe keine Entscheidungen, ich bin nur für die Recherchen zuständig. Ich schreibe einen Bericht, mache ein paar Fotos und schicke alles zusammen nach London. Und die Produzenten entscheiden, was in den Film kommt.«

«Siehst du?«, sagte Nicholas zu seiner Frau.»Alles ganz harmlos.«

Alatea nickte, wirkte jedoch nicht überzeugt. Trotzdem gab sie ihren Segen:»Vielleicht solltest du dann gleich mit Deborah zum Wehrturm fahren und ihr dein Projekt vorstellen, Nicholas. Das wäre doch ein guter Ansatzpunkt.«

ARNSIDE — CUMBRIA

Nachdem ihr Mann mit der rothaarigen Frau weggefahren war, blieb Alatea noch einen Moment vor dem Erkerfenster sitzen und betrachtete die Zeitschriften, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Deborah hatte offenbar darin geblättert. Einerseits war daran nichts Merkwürdiges, denn schließlich hatte die Frau hier gewartet, während Nicholas sie, Alatea, geholt hatte. Wer würde da nicht eine oder zwei Zeitschriften aufschlagen, um sich die Zeit zu vertreiben? Andererseits gab es in letzter Zeit kaum etwas, das Alatea nicht nervös machte. Dass Conception jetzt obenauf lag, hatte überhaupt nichts zu bedeuten, redete sie sich ein. Die Vorstellung, dass eine Fremde aus der Tatsache, dass eine solche Zeitschrift hier auf dem Tisch lag, ihre Schlüsse zog, war Alatea zwar ein bisschen peinlich, aber bedeuten musste es nichts. Diese Frau war nicht aus London hergekommen, um sich mit ihr zu unterhalten oder im Labyrinth ihrer persönlichen Geschichte herumzuschnüffeln. Sie war hier, weil sie sich für Nicholas’ Projekt interessierte. Und weil er als Sohn des Barons Fairclough of Ireleth nicht irgendwer war.

Anfangs hatte Alatea nichts davon geahnt, dass Nicholas der Sohn eines Barons war, und wenn sie es gewusst hätte, wäre sie vor ihm davongelaufen. Nicholas hatte ihr nur erzählt, dass sein Vater eine Firma besaß, die alles produzierte, was in einem Badezimmer gebraucht wurde, und selbst das hatte er heruntergespielt. Nicht erwähnt hatte er den Adelstitel seines Vaters, dass sein Vater eine Stiftung zur Bekämpfung von Bauchspeicheldrüsenkrebs gegründet hatte, dass er ein berühmter Mann war. Sie hatte erwartet, einen Mann kennenzulernen, der aus Kummer darüber, dass sein Sohn zwanzig Jahre seines Lebens vergeudet hatte, frühzeitig gealtert war — nicht den vor Energie strotzenden Bernard Fairclough. Und es hatte sie ziemlich irritiert, wie Nicholas’ Vater sie von oben bis unten ausgiebig gemustert und seinen Blick kurz auf ihrem Busen ruhen gelassen hatte, bevor er meinte:»Herzlich willkommen in der Familie, meine Liebe.«

Sie war es durchaus gewöhnt, dass Männer ihren Busen beglotzten. Das war nicht das Problem gewesen. Das war nur natürlich. So waren Männer nun mal. Aber normalerweise folgte darauf kein Blick, der sagte: Was will eine Frau wie du mit meinem Sohn?

Mit diesem Blick hatte jeder in der Familie sie angesehen, dem Nicholas sie vorgestellt hatte. Offenbar waren alle der Meinung, dass sie und Nicholas nicht zusammenpassten, und sosehr sie sich einzureden versuchte, dass ihr Aussehen der Grund für diese Annahme war, so vermutete sie doch, dass mehr dahintersteckte. Sie war Ausländerin, die anderen wussten nichts über sie, und sie und Nicholas hatten sehr schnell geheiratet. Daraus schloss seine Familie offenbar, dass Alatea hinter irgendetwas her war, und das konnte nur das Familienvermögen sein. Vor allem Nicholas’ Vetter Ian war dieser Überzeugung gewesen, denn er hatte Bernard Faircloughs Geld verwaltet.

Nicholas’ Angehörige kamen gar nicht auf die Idee, dass Alatea ihren Mann lieben könnte. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihnen zu zeigen, wie sehr sie Nicholas liebte. Sie hatte ihnen nicht den geringsten Grund gegeben, an ihrer Liebe zu Nicholas zu zweifeln, und irgendwann hatte sie den Eindruck gewonnen, sie alle überzeugt zu haben.

Eigentlich wäre das ganze Theater gar nicht nötig gewesen, denn sie liebte ihren Mann tatsächlich. Sie betete ihn an. Und, Herrgott noch mal, sie war bestimmt nicht die erste Frau auf der Welt, die sich in einen Mann verliebt hatte, der weniger attraktiv war als sie. Das passierte jeden Tag. Dass sie also immer wieder so skeptisch angesehen wurde … Das musste aufhören. Sie wusste nur nicht, wie sie das bewerkstelligen sollte.

Alatea wusste, dass sie ihre Ängste irgendwie in den Griff bekommen musste. Es konnte nicht so weitergehen, dass sie bei jedem Pups zusammenzuckte. Es war keine Sünde, das Leben mit Nicholas zu genießen. Sie hatte es nicht darauf angelegt. Es war ihr in den Schoß gefallen. Das musste doch bedeuten, dass dies der richtige Weg für sie war.

Trotzdem lag die Zeitschrift Conception jetzt oben auf dem Stapel. Trotzdem hatte die Frau aus London sie so merkwürdig angesehen. Woher sollten sie wissen, wer diese Deborah wirklich war, warum sie hier war, was sie vorhatte? Sie wussten es nicht. Sie mussten es herausfinden. Zumindest glaubte Alatea das.

Sie stellte die Kaffeetassen auf das Tablett und trug es in die Küche. Neben dem Telefon lag immer noch der Zettel, auf dem sie die Nachricht von Deborah St. James notiert hatte. Den Namen der Firma, für die Deborah arbeitete, hatte sie nicht auf den Zettel geschrieben, aber sie hatte ihn zum Glück nicht vergessen. Das war immerhin ein Ansatzpunkt.

Sie ging nach oben. In einem der ehemaligen winzigen Dienstbotenzimmer hatte Alatea ihr Planungsbüro eingerichtet, während am Haus gearbeitet wurde. In dieses Zimmer zog sie sich gern zurück, und hier stand auch ihr Laptop.

Es dauerte ewig, sich von hier aus ins Internet einzuloggen, aber irgendwann klappte es. Eine Zeitlang starrte sie auf den Bildschirm, dann begann sie zu tippen.

BRYANBARROW — CUMBRIA

Es war ganz einfach gewesen, die Schule zu schwänzen. Schließlich würde ihn niemand, der seine fünf Sinne beisammenhatte, in dem Zustand nach Ulverston fahren wollen. Er war einfach im Bett liegen geblieben, hatte sich den Bauch gehalten und gestöhnt, Manette müsse ihm am Abend zuvor irgendwas vorgesetzt haben, das er nicht vertragen hatte. Außerdem hatte er behauptet, er hätte sich im Lauf der Nacht schon zweimal übergeben. Wie erwartet, war Gracie daraufhin zu Kaveh gerannt und hatte gerufen:»Timmy hat gekotzt! Timmy ist krank!«Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte er schon gehabt, denn es war nicht zu überhören gewesen, dass er Gracie Angst eingejagt hatte. Die arme Kleine. Natürlich fürchtete sie, dass plötzlich noch einer aus der Familie abkratzen könnte.

Gracie sollte sich endlich mal beruhigen. Jeden Tag starben Leute. Das konnte man nicht verhindern, indem man sie rund um die Uhr betüddelte. Außerdem hatte Gracie, soweit er das beurteilen konnte, im Moment wirklich größere Probleme, als zu fürchten, dass noch jemand aus der Familie sterben könnte. Sie sollte sich lieber den Kopf darüber zerbrechen, was zum Teufel aus ihr werden sollte, jetzt, wo ihr Vater tot war und ihre Mutter keine Anstalten machte, sie und ihren Bruder zu sich zu nehmen.

Na ja, wenigstens waren sie nicht die Einzigen, die sich fragen mussten, was aus ihnen werden würde, dachte Tim. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis die Familie Kaveh vor die Tür setzen würde. Dann würde er sich eine neue Bleibe suchen müssen und einen neuen Schwanz, von dem er sich ficken lassen konnte. Dann kannst du wieder dahin verschwinden, wo mein Dad dich aufgegabelt hat, Kaveh, du Arsch.

Tim konnte den Moment kaum erwarten. Und wie sich herausstellte, war er nicht der Einzige.

Als Kaveh eben mit Gracie zum Auto gegangen war, hatte der alte George Cowley ihm aufgelauert, das hatte Tim von seinem Zimmerfenster aus beobachtet. Cowley sah aus wie ein Penner, aber das tat er immer. Es hatte also nichts weiter zu bedeuten, dass er seine Hosenträger vergessen hatte und ihm das Hemd halb aus der Hose hing. Wahrscheinlich hatte er Kaveh und Gracie gesehen, als er gerade dabei war, sich anzuziehen, und war aus seiner Hütte gerannt, um sich mit Kaveh anzulegen.

Tim konnte nicht hören, was die beiden sagten, aber er konnte sich auch so denken, um was es ging. Denn Cowley hatte sich mit einem Ruck die Hose hochgezogen und sich bedrohlich vor Kaveh aufgebaut. Und das konnte nur eins bedeuten: Cowley wollte wissen, wann Kaveh vorhatte, das Haus zu räumen. Er wollte wissen, wann die Bryan Beck Farm versteigert werden würde.

Gracie hatte ihren Rucksack auf dem Boden abgestellt und wartete darauf, dass Kaveh das Auto aufschloss und sie einsteigen konnte. Ihr Blick wanderte zwischen Kaveh und Cowley hin und her, und Tim sah ihr an, dass sie Angst hatte. Das versetzte ihm einen Stich. Eigentlich müsste er rausgehen und zwischen Cowley und Kaveh gehen oder zumindest Gracie da wegschaffen. Aber wenn er das tat, würde er Kavehs Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und der würde dann womöglich auf die Idee kommen, ihn doch noch zur Margaret Fox School zu bringen. Und das war das Letzte, was er gebrauchen konnte, denn er hatte heute etwas Wichtiges zu erledigen.

Tim wandte sich vom Fenster ab und warf sich auf sein Bett. Er wartete darauf, dass Kaveh losfuhr, denn dann würde er endlich allein sein. Als er den Motor aufheulen hörte — Kaveh gab beim Anfahren immer zu viel Gas —, nahm Tim sein Handy und tippte die Nummer ein.

Gestern war alles schiefgegangen. Er war total ausgeflippt bei Manette, und das war schlimm. Zum Glück hatte er sie nicht ernsthaft verletzt. Am liebsten hätte er sie erwürgt, damit sie endlich aufhörte, so bescheuert besorgt um ihn zu sein. Ihm war plötzlich schwarz vor Augen geworden, und er hatte die blöde Kuh auf dem Boden vor ihm nicht mal mehr gesehen. Er war auf die Knie gesunken und hatte nicht sie, sondern den Steg mit den Fäusten bearbeitet, und da hatte das Miststück ihn doch tatsächlich an sich gezogen und versucht, ihn zu trösten. Tim hatte keine Ahnung, wo die Kusine seines Vaters gelernt hatte, die andere Wange auch noch hinzuhalten. So wie die vergeben und vergessen konnte, war stark anzunehmen, dass sie mehr als eine Schraube locker hatte.

Jedenfalls hatte er es nicht mehr nach Windermere geschafft. Tim hatte das Theater mitgespielt und ein bisschen geheult. Irgendwann hatte er sich beruhigt. Dann hatten sie mindestens eine halbe Stunde auf dem Steg gelegen, während Manette ihn in den Armen gehalten und irgendwas gemurmelt hatte von wegen ganz ruhig, es wird alles gut, und wir beide fahren zum Zelten auf den Scout Scar, und wart’s nur ab, du wirst schon sehen, und wer weiß, vielleicht kommt dein Daddy ja zurück, als wollte ihn irgendjemand zurückhaben, und vielleicht ändert deine Mum sich ja, was genauso unwahrscheinlich war. Egal, dachte Tim. Wen interessierte das alles schon? Hauptsache, er musste nicht in Great Urswick übernachten, und das hatte er immerhin vermieden.

wo bist du, tippte er in sein Handy. heute ok.

Keine Antwort.

konnte nicht, lautete seine zweite SMS. keine mfg n W. Den Blödsinn mit Manette und dem Zelt und alles brauchte er nicht zu erwähnen, genauso wenig die Tatsache, dass er von Great Urswick Stunden gebraucht hätte, um nach Windermere zu trampen.

Immer noch keine Antwort. Tim wartete. Allmählich begann er sich zu fühlen, als hätte er tatsächlich etwas Verdorbenes gegessen. Er schluckte den Kloß der Verzweiflung, der ihm im Hals saß. Nein, sagte er sich. Er war nicht verzweifelt. Er war überhaupt nichts.

Er rollte sich vom Bett und warf das Handy auf den Nachttisch. Er klappte seinen Laptop auf und rief seine E-Mails ab. Keine neuen Nachrichten.

Zeit, ein bisschen Druck zu machen, dachte er. Er ließ es sich von keinem bieten, dass eine mit ihm getroffene Abmachung nicht eingehalten wurde. Er hatte seinen Teil erfüllt, und jetzt würde er dafür sorgen, dass der andere ebenfalls Wort hielt.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Lynley hatte eine kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach des Healey Elliott geholt und war gerade auf dem Weg zurück zum Bootshaus, um sich alles noch einmal genauer anzusehen, als sein Handy klingelte. Er erkannte Isabelles Nummer auf dem Display. Sie begrüßte ihn mit den Worten:»Tommy, ich brauche dich in London.«

Logischerweise nahm er an, dass es um einen neuen Fall ging, und fragte sie danach.

«Es geht nicht um eine dienstliche Angelegenheit«, antwortete sie.»Es gibt bestimmte Dinge, bei denen ich keinen deiner Kollegen für mich einspannen möchte.«

Er grinste.»Das freut mich. Es würde mir nicht gefallen, dich mit DI Stewart teilen zu müssen.«

«Ich würde es an deiner Stelle nicht darauf ankommen lassen. Wann kommst du wieder?«

Er schaute auf den See hinaus. Er hatte gerade das Pappelwäldchen durchquert und stand auf dem Weg zum Bootshaus, die Sonne schien ihm auf die Schultern. Es würde ein herrlicher Tag werden. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie es wäre, den Tag mit Isabelle zu verbringen. Er sagte:»Das weiß ich noch nicht. Ich habe gerade erst angefangen.«

«Wie wär’s mit einem kurzen Treffen? Du fehlst mir, und das gefällt mir nicht. Denn wenn du mir fehlst, spukst du in meinem Kopf herum, und dann kann ich mich bei der Arbeit nicht richtig konzentrieren.«

«Und ein kurzes Treffen würde dich davon erlösen?«

«Ja. Ich gehe einfach gern mit dir ins Bett.«

«Zumindest bist du geradeheraus.«

«Und daran wird sich auch nichts ändern. Also, hast du Zeit? Ich könnte heute Nachmittag kommen …«Sie unterbrach sich, und er stellte sich vor, wie sie in ihrem Terminkalender nachschaute. Als sie fortfuhr, wusste er, dass er richtig vermutet hatte.»Gegen halb vier«, sagte sie.»Könntest du dich um die Zeit für ein Stündchen freimachen?«

«Ich bin nicht in der Nähe von London.«

«Wirklich nicht? Wo bist du denn?«

«Isabelle …«Er fragte sich, ob das ein Versuch war, ihn reinzulegen. Ihn mit der Aussicht auf Sex abzulenken und ihm dann unverhofft seinen Aufenthaltsort zu entlocken.»Du weißt, dass ich dir das nicht sagen kann.«

«Ich weiß, dass Hillier dich zum Schweigen verpflichtet hat. Ich hätte nicht gedacht, dass das auch für mich gilt. Hätte es auch …«Sie brach ab.»Vergiss es«, sagte sie, woraus er schloss, dass sie hatte fragen wollen: Hätte das auch für deine Frau gegolten? Aber das würde sie nicht aussprechen. Sie sprachen nie über Helen, denn über Helen zu sprechen beinhaltete das Risiko, ihre rein sexuelle Beziehung in eine andere Richtung zu lenken, und Isabelle hatte von Anfang an klargestellt, dass sie das nicht wollte.»Jedenfalls finde ich das lächerlich«, sagte sie.»Was glaubt Hillier denn, was ich mit der Information anfangen würde?«

«Das ist garantiert nichts Persönliches«, entgegnete er.»Ich meine, dass er nicht will, dass du eingeweiht wirst. Er will nicht, dass irgendjemand Bescheid weiß. Ehrlich gesagt, bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, warum nicht.«

«Dass passt doch überhaupt nicht zu dir. Wolltest du vielleicht aus irgendeinem Grund aus London weg?«Dann fügte sie hastig hinzu:»Ach was, schon gut. Solche Gespräche bringen uns nur in Schwierigkeiten. Ich melde mich wieder, Tommy.«

Sie legte auf. Einen Augenblick lang betrachtete er sein Handy. Dann steckte er es ein und ging zum Bootshaus. Besser, er konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt, dachte er. Isabelle hatte recht. Manche Gespräche würden sie nur in Schwierigkeiten bringen.

Er stellte fest, dass das Bootshaus offenbar nie verriegelt wurde. Um die Tageszeit war es drinnen noch dunkler als beim letzten Mal, und er schaltete seine Taschenlampe ein. Es war kühl hier: das Wasser, das alte Gemäuer, die herbstliche Jahreszeit. Und es roch nach feuchtem Holz und Algen. Er ging den Anleger entlang zu der Stelle, wo Ian Cresswells Skullboot vertäut war.

Er kniete sich hin und beleuchtete die Lücke, wo sich die beiden Steine aus dem Gemäuer gelöst hatten. Viel zu sehen war nicht. Mörtel war per se ziemlich rau, und über die vielen Jahre waren Risse entstanden und kleine Partikel herausgebrochen. Wonach er suchte, war ein Hinweis darauf, dass ein Werkzeug zum Einsatz gekommen war, um die Steine zu lockern, eine Spitzhacke vielleicht, ein Schraubenzieher oder ein Brecheisen. Eigentlich kam jedes Werkzeug in Frage. Und jedes Werkzeug hätte Spuren hinterlassen.

Er konnte nichts entdecken. Zur näheren Untersuchung würde man eine bessere Beleuchtung beschaffen müssen, was allerdings schwierig werden würde, wenn er sich weiterhin als Besucher ausgeben sollte. Außerdem mussten die beiden herausgebrochenen Steine aus dem Wasser geholt werden — keine angenehme Vorstellung, denn das Wasser war zwar nicht tief, aber eiskalt.

Er schaltete die Taschenlampe aus und verließ das Bootshaus. Ließ den Blick über den See schweifen. Es war kein einziges Boot draußen, und in der vollkommen glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die herbstbunten Bäume und der beinahe wolkenlose Himmel. Er schaute in Richtung des Herrenhauses. Von hier aus war es nicht zu sehen. Man musste den Pfad zurückgehen, und erst unter den Pappeln kam das Haus in Sicht. Allerdings gab es noch eine Stelle, von der aus das Bootshaus zu sehen war, fiel Lynley auf, nämlich vom obersten Stockwerk und vom Dach eines viereckigen Turms aus, der einen kleinen Hügel südlich des Pappelwäldchens überragte. Das war der Zierbau, in dem Mignon Fairclough wohnte. Sie war am Abend zuvor nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht würde sie sich über einen morgendlichen Besuch freuen.

Der Turm war den für die Gegend typischen Wehrtürmen nachempfunden. Solche Gebäude hatten wohlhabende Familien früher errichten lassen, um ihren Wohnsitzen einen historisierenden Anstrich zu verleihen, obwohl das bei Ireleth Hall kaum nötig gewesen war. Trotzdem war der Turm irgendwann errichtet worden, und jetzt stand er da, vier Stockwerke hoch, mit einem zinnenbewehrten Dach, das offenbar begehbar war. Und von dort, sagte sich Lynley, würde man rundherum alles einsehen können — Ireleth Hall, die Zufahrt, die gesamte Parkanlage, den See und das Bootshaus.

Als er an die Tür klopfte, rief eine Frau aufgeregt:»Was denn? Was denn nun schon wieder?«Vermutlich hatte er Mignon bei irgendeiner Tätigkeit unterbrochen, und er rief:»Miss Fairclough? Verzeihen Sie. Störe ich?«

Ihre Antwort klang überrascht:»Ach! Ich dachte, es wäre schon wieder meine Mutter. «Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet, und vor Lynley stand, gestützt auf einen Rollator, eine von Bernard Faircloughs Zwillingstöchtern. Die Frau war von ebenso kleiner Statur wie ihr Vater. Sie trug mehrere wallende Gewänder übereinander, die ihr das Flair einer Künstlerin verliehen und ihren Körper vollständig verhüllten. Außerdem war sie komplett geschminkt, als hätte sie vor auszugehen. Ihre Frisur wiederum hatte etwas Kindliches: Wie Alice im Wunderland trug sie eine blaue Schleife im Haar, das allerdings nicht blond, sondern hellbraun war.

«Ah, ich nehme an, Sie sind der Londoner«, sagte sie.»Sie schleichen schon den ganzen Morgen hier herum. Ich habe Sie eben schon wieder am Bootshaus gesehen.«

«Ach, Sie haben mich gesehen?«Lynley fragte sich, wie das möglich war. Vier Treppen hoch mit einem Rollator. Und er fragte sich, warum sie ihn beobachtete.»Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen«, sagte er.»Vom Bootshaus aus habe ich den Turm gesehen und beschlossen herzukommen, um mich vorzustellen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, Sie gestern beim Abendessen kennenzulernen.«

«Das ist mir im Moment alles zu viel«, erwiderte sie.»Ich bin vor Kurzem operiert worden und immer noch nicht ganz auf dem Damm. «Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Lynley rechnete schon damit, dass sie sagen würde:»Ich nehme Sie. «Oder dass sie ihn bitten würde, den Mund aufzumachen, damit sie sein Gebiss begutachten konnte, doch sie sagte nur:»Kommen Sie rein.«

«Störe ich auch nicht?«

«Ich war gerade im Internet, aber das kann warten. «Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen.

Das Erdgeschoss bestand aus einem Wohnzimmer und einer Küche. In einer Ecke des Wohnzimmers stand Mignons Computer. Außerdem schien das Erdgeschoss als Lagerraum zu dienen, denn überall stapelten sich Kartons. Zuerst dachte Lynley, Mignon sei dabei umzuziehen, doch dann sah er, dass die Kartons, auf denen eingeschweißte Packzettel klebten, alle an Miss Fairclough adressiert waren.

Der Computer war eingeschaltet, und an der Bildschirmoberfläche erkannte Lynley, dass Mignon gerade dabei gewesen war, E-Mails abzurufen und zu beantworten. Als sie seinen Blick bemerkte, sagte sie:»Virtuelles Leben. Meiner Meinung nach dem wirklichen Leben bei Weitem vorzuziehen.«

«Eine moderne Version der Brieffreundschaft?«

«Gott, nein. Ich habe eine heiße Affäre mit einem Gentleman auf den Seychellen. Zumindest behauptet er, dass er da wohnt. Außerdem sagt er, dass er verheiratet ist und Lehrer ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Der arme Mann ist dahin gezogen, weil er Lust auf Abenteuer hatte, und musste leider die Erfahrung machen, dass für ihn Abenteuer nur im Internet zu finden sind. «Ein unaufrichtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.»Aber vielleicht ist das ja auch alles gelogen … Mich zum Beispiel hält er für eine Modedesignerin, die sich gerade auf die Präsentation ihrer nächsten Kollektion vorbereitet. Das letzte Mal war ich eine Missionsärztin, die in Ruanda gute Werke tat, und davor … mal überlegen … Ah ja. Davor war ich eine misshandelte Hausfrau auf der Suche nach jemandem, der mich verstand. Wie gesagt, virtuelles Leben. Alles ist möglich. Die Wahrheit ist uninteressant.«

«Kann dabei nicht der Schuss auch nach hinten losgehen?«

«Das ist ja gerade der Reiz an der Sache. Aber ich bin vorsichtig, und sobald einer ein Treffen in irgendeinem Hafen vorschlägt, breche ich den Kontakt ab. «Sie bewegte sich in Richtung Küche.»Ich sollte Ihnen einen Kaffee anbieten, aber ich fürchte, ich habe nur Instantkaffee. Möchten Sie eine Tasse? Oder lieber Tee? Ich habe nur Beutel, keinen losen Tee. Ich weiß, loser Tee ist besser, aber das ist mir alles zu viel Aufwand.«

«Einen Kaffee nehme ich gern. Ich möchte Ihnen jedoch keine Umstände bereiten.«

«Wirklich nicht? Wie wohlerzogen, das zu sagen. «Sie war in der Küche verschwunden, und er hörte sie mit Geschirr klappern. Lynley nutzte die Gelegenheit, sich ein bisschen umzusehen. Abgesehen davon, dass sich überall Kartons stapelten, stand auf allen verfügbaren Flächen schmutziges Geschirr herum. Die Teller und Tassen schienen schon seit geraumer Zeit dort zu stehen, denn als er eine Tasse anhob, hinterließ sie einen sauberen Kreis in der Staubschicht, die alles andere überzog.

Er trat näher an den Computer. Offenbar hatte Mignon nicht gelogen. Gott, ich weiß genau, was du meinst, hatte sie geschrieben. Manchmal lenkt einen das Leben von den wirklich wichtigen Dingen ab. Wir haben es früher jede Nacht gemacht. Jetzt kann ich froh sein, wenn es einmal im Monat passiert. Trotzdem solltest du mit ihr darüber reden. Wirklich. Na gut, ich sage das, obwohl ich mit James auch nicht darüber rede. Egal. Was ich mir wünsche, wird nicht passieren. Aber schön wär’s.

«Wir sind inzwischen so weit, dass wir uns von unserem erbärmlichen Eheleben erzählen«, sagte Mignon, die plötzlich hinter ihm stand.»Wirklich unglaublich: Es läuft immer gleich ab. Man sollte meinen, dass irgendjemand mal ein bisschen Fantasie entwickeln würde, wenn es um Verführung geht, doch weit gefehlt. Ich habe Wasser aufgesetzt. Gleich gibt’s Kaffee. Sie müssen sich Ihre Tasse selber holen.«

Lynley folgte ihr in die Küche. Sie war winzig, aber mit allem Nötigen ausgestattet. Mignon würde allerdings bald einmal abspülen müssen, dachte Lynley. Es waren kaum noch saubere Teller übrig, und die letzte saubere Henkeltasse hatte sie für seinen Kaffee verwendet. Sie selbst trank nichts.

«Würden Sie nicht eine echte Beziehung bevorzugen?«, fragte er.

Sie sah ihn an.»Wie die meiner Eltern?«

Er hob eine Braue.»Die beiden wirken einander sehr zugetan.«

«Aber ja. Das sind sie auch. Die reinsten Turteltauben. Haben sie Ihnen die Nummer vorgeführt?«

«Ich weiß nicht.«

«Na ja, wenn sie die Nummer gestern nicht abgezogen haben, dann kommt das bestimmt heute. Achten Sie auf verschwörerische Blicke. Darin sind sie besonders gut.«

«Alles Schau und nichts dahinter?«

«Das habe ich nicht gesagt. Sie sind einander zugetan. Und sie passen zueinander. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass mein Vater fast nie hier ist. Das ist für sie beide perfekt. Na ja, zumindest für ihn. Und meine Mutter beklagt sich nicht, und warum sollte sie auch? Solange sie zum Angeln rausfahren, mit Freunden zu Mittag essen, mein Leben organisieren und jede Menge Geld für ihren Garten ausgeben kann, ist sie zufrieden. Und es ist übrigens ihr Geld und nicht das meines Vaters, aber das scheint ihm nichts auszumachen, solange er darüber verfügen kann. Das wäre nicht gerade meine Vorstellung von einer Ehe, doch da ich sowieso nicht vorhabe zu heiraten, sollte ich besser auch nicht über die meiner Eltern urteilen, nicht wahr?«

Das Wasser kochte, und der Wasserkocher schaltete sich ab. Mignon machte Lynley eine Tasse Kaffee, stellte sich dabei aber nicht sehr geschickt an. Sie löffelte Kaffeepulver in die Tasse und verstreute dabei die Hälfte auf der Anrichte, goss Wasser darauf und rührte so heftig um, dass der Kaffee überschwappte. Dann schaufelte sie mit demselben Löffel Zucker in die Tasse, ließ wieder Kaffee überschwappen, fügte Milch hinzu, und es schwappte noch einmal. Sie reichte Lynley die Tasse, ohne sie vorher abzuwischen, und sagte:»Sorry, ich bin keine besonders gute Hausfrau.«

«Ich auch nicht«, erwiderte er.»Danke.«

Sie schlurfte ins Wohnzimmer und sagte über ihre Schulter:»Was ist das übrigens für ein Auto?«

«Auto?«

«Das unglaubliche Gefährt, mit dem Sie rumfahren. Ich habe es gesehen, als Sie gestern angekommen sind. Ziemlich schicker Schlitten, aber der säuft bestimmt Sprit wie ein Kamel in der Oase.«

«Das ist ein Healey Elliott«, sagte er.

«Nie gehört. «Sie fand einen Sessel, der nicht unter der Last von Kartons und Zeitschriften ächzte, ließ sich hineinplumpsen und sagte:»Machen Sie sich’s bequem. Was im Weg ist, können Sie zur Seite räumen. «Und während er nach einem Sitzplatz suchte, fuhr sie fort:»Was wollten Sie denn nun am Bootshaus? Ich hab Sie auch gestern schon dort gesehen, zusammen mit meinem Vater. Was ist so interessant da unten?«

Er nahm sich vor, bei seinen Nachforschungen mehr Umsicht walten zu lassen. Anscheinend vertrieb sich Mignon, wenn sie nicht gerade im Internet war, die Zeit damit zu beobachten, was auf dem Anwesen vor sich ging. Er sagte:»Ich wollte ein bisschen mit dem Skullboot hinausrudern, aber dann hat meine Faulheit gesiegt.«

«Besser so. «Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung See.»Der Letzte, der das Boot benutzt hat, ist ertrunken. Ich dachte schon, Sie wären da unten rumgeschlichen, um sich den Tatort anzusehen. «Sie lachte grimmig.

«Tatort?«Er trank einen Schluck von seinem Kaffee. Er schmeckte scheußlich.

«Mein Vetter Ian. Man hat Ihnen doch sicher davon erzählt. Oder nicht?«Das meiste von dem, was sie ihm in unverändert unbekümmertem Tonfall erzählte, wusste er bereits. Ihre Leutseligkeit machte ihn nachdenklich. Nach seiner Erfahrung diente eine derart zur Schau getragene Aufrichtigkeit meist dazu, die wichtigsten Informationen zu verbergen.

Für Mignon stand fest, dass Ian Cresswell ermordet worden war. Ihrer Meinung nach kam es selten vor, dass jemand starb, bloß weil jemand anders sich das wünschte. Als Lynley daraufhin die Brauen hob, ließ sie sich ausführlicher dazu aus. Ihr Bruder Nicholas habe sein Leben lang im Schatten seines Vetters Ian gestanden. Seit Ian nach dem Tod seiner Mutter aus Kenia gekommen und im Haus eingezogen war, habe es nur noch geheißen Ian hier und Ian da, und warum kannst du nicht so sein wie Ian? Ian war ein Musterschüler in St. Bees gewesen, ein Spitzensportler, der Lieblingsneffe seines Onkels Bernard, der Stern am Himmel der Familie Fairclough, der Goldjunge, der nie etwas hatte falsch machen können.

«Als er seine Familie hat sitzen lassen und mit Kaveh zusammengezogen ist, dachte ich, das würde meinem Vater in Bezug auf unseren lieben Ian endlich die Augen öffnen. Nicky ist es bestimmt genauso gegangen, da bin ich mir sicher. Aber weit gefehlt. Und jetzt arbeitet Kaveh für meine Mutter. Wer soll das wohl arrangiert haben, wenn nicht Ian, hm? Nein, nichts, was der arme Nicky in seinem Leben getan hat, war gut genug, um ihm die Bewunderung seines Vaters einzutragen. Und nichts, was Ian tat, konnte die Liebe meines Vaters zu ihm mindern. Das bringt einen doch zum Nachdenken …«

«Worüber?«

«Über alles Mögliche«, antwortete sie mit einem unschuldigen und zugleich süffisanten Grinsen, das klarstellte, dass sie nicht bereit war, mehr zu dem Thema zu sagen.

«Nicholas hat ihn also ermordet?«, fragte Lynley.»Ich nehme an, er profitiert irgendwie von Ians Tod.«

«Also, was Ersteres angeht, würde ich mich jedenfalls nicht wundern. Aber ob er von Ians Tod profitiert … das weiß der Himmel. «Ihr Ton ließ auch vermuten, dass sie es Nicholas nicht übel nehmen würde, wenn er Ian Cresswell etwas angetan hätte, und das war neben dem, was sie sonst noch über den Mann gesagt hatte, ein Punkt, mit dem er sich noch genauer befassen würde, dachte Lynley. Ein weiterer Punkt war Ian Cresswells Testament.

Er sagte:»Ziemlich riskante Methode, Ian zu ermorden, meinen Sie nicht?«

«Warum?«

«Soweit ich weiß, fährt Ihre Mutter täglich mit dem Boot raus.«

Mignon richtete sich in ihrem Sessel auf.»Wollen Sie damit andeuten …?«

«Dass der Mordanschlag eigentlich Ihrer Mutter galt — wenn wir davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um einen solchen handelt.«

«Niemand könnte auch nur das geringste Interesse am Tod meiner Mutter haben«, erklärte Mignon und zählte an ihren Fingern ab, welche Personen dafür in Frage kämen, allen voran natürlich wieder ihr Vater.

Lynley musste an Hamlet denken und an die Königin, die zu laut protestierte. Und er musste an reiche Leute denken und daran, was die mit ihrem Geld machten, und dass man mit Geld alles kaufen konnte, von unfreiwilligem Schweigen bis hin zu widerstrebender Kooperation. Aber all das warf natürlich die Frage auf, warum Bernard Fairclough nach London gefahren war und darum gebeten hatte, dass jemand ermittelte, unter welchen Umständen sein Neffe ums Leben gekommen war.

Da hielt sich einer für einen richtigen Schlaumeier, kam ihm in den Sinn. Die Frage war nur, auf wen das zutraf.

GRANGE-OVER-SANDS — CUMBRIA

Manette Fairclough McGhie hatte lange geglaubt, dass es niemanden auf der Welt gab, der geschickter darin war, andere Leute zu manipulieren, als ihre eigene Schwester, aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Mignon hatte einen simplen Unfall in Launchy Gill ausgenutzt, um ihre Eltern dreißig Jahre lang an der Kandare zu halten: ein Sturz auf den glitschigen Steinen unter einem Wasserfall, eine Schädelfraktur — und schon ging die Welt unter. Doch im Vergleich zu Niamh Cresswell war Mignon ein Waisenkind. Mignon nutzte die Schuldgefühle und die Ängste anderer Leute aus, um zu bekommen, was sie wollte. Niamh hingegen benutzte ihre Kinder. Und das, dachte Manette grimmig, musste unbedingt aufhören.

Sie nahm sich einen Tag frei. Sie hatte sogar einen guten Grund, denn nachdem Tim gestern auf sie losgegangen war, tat ihr alles weh. Aber selbst wenn er sie nicht so brutal in die Nieren und den Rücken getreten hätte, hätte sie etwas unternommen. Wenn vierzehnjährige Jungs sich so aufführten, wie Tim es tat, dann gab es dafür einen Grund. Natürlich hatte sie sich schon gedacht, dass hinter Tims Aggressivität und seiner Versetzung auf die Margaret Fox School mehr stecken musste als die Verwirrung des Jungen angesichts der Entscheidungen seines Vaters. Doch sie hatte nicht gewusst, dass es seine nichtsnutzige Mutter war.

Niamh wohnte etwas außerhalb von Grange-over-Sands in einem schicken, modernen, an einem Hang gelegenen Neubaugebiet mit Blick auf die Morecambe Bay. Die Siedlung war offenbar von jemandem entworfen worden, der ein Faible für das Mediterrane hatte: Die Häuser waren alle gleich gestaltet, strahlend weiß mit blauen Türen und Fensterrahmen und identischen Vorgärten mit Kies und ein paar Sträuchern als gestalterischen Elementen. Die Häuser waren unterschiedlich groß, und wie nicht anders zu erwarten, besaß Niamh eins der größten mit der besten Aussicht auf die Bucht und die Vögel, die dort überwinterten. Niamh war dort eingezogen, nachdem Ian die Familie verlassen hatte. Ian hatte Manette nach der Scheidung erzählt, dass Niamh darauf bestanden hatte umzuziehen. Na ja, das war ja weiß Gott verständlich, hatte Manette damals gedacht. Das Haus, in dem sie mit Ian gewohnt hatte, war voller Erinnerungen, und außerdem musste sie sich nach dem Supergau, der sich in ihrer Familie ereignet hatte, um ihre beiden Kinder kümmern. Wahrscheinlich wollte sie einfach eine angenehme Umgebung schaffen, die die drastischen Veränderungen im Leben der Familie etwas erträglicher machte.

Diese Schlussfolgerungen hatte sie gezogen, bevor sie erfahren hatte, dass Tim und Gracie nicht bei ihrer Mutter, sondern bei ihrem Vater und dessen Liebhaber wohnten. Manettes erster Gedanke war gewesen: Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Aber sie hatte die Frage nicht weiterverfolgt, als Ian ihr erklärt hatte, dass es sein Wunsch gewesen sei, die Kinder zu sich zu nehmen. Nach Ians Tod war sie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Niamh die Kinder zu sich holen würde. Und dass sie das offenbar nicht getan hatte, brachte Manette erneut auf die Frage: Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Und diesmal würde sie dafür sorgen, dass sie eine Antwort bekam.

Niamhs Kombi stand vor dem Haus, und sie machte sofort auf, als Manette an die Haustür klopfte. Ihr erwartungsvoller Gesichtsausdruck verschwand, als sie Manette erblickte. Niamh hatte genug Parfüm aufgelegt, um den stärksten Hengst ins K.o. zu befördern, und sie trug ein fast bis zum Bauchnabel ausgeschnittenes pinkfarbenes Cocktailkleid. Aber allein ihr Gesicht hätte Manette verraten, dass sie jemand ganz anderen erwartet hatte.

«Manette«, sagte Niamh zur Begrüßung, machte jedoch keine Anstalten, von der Tür wegzutreten.

Egal, dachte Manette und trat einen Schritt nach vorne, so dass Niamh keine andere Wahl blieb, als entweder eine Kollision zu riskieren oder aus dem Weg zu gehen. Sie entschied sich für Letzteres, schloss allerdings nicht die Tür, als sie Manette ins Haus folgte.

Manette ging ins Wohnzimmer, von dessen Panoramafenstern aus man auf die Bucht sah. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Arnside Knott auf der anderen Seite der Bucht und verschwendete einen ebenso flüchtigen Gedanken daran, dass man mit einem starken Teleskop nicht nur die vom Wind gebeutelten Koniferen oben auf dem Hügel erkennen, sondern auch beobachten konnte, was sich weiter unten im Wohnzimmer ihres Bruders Nicholas abspielte.

Sie drehte sich um. Niamh musterte sie mit zusammengekniffenen Augen, aber aus irgendeinem Grund schoss ihr Blick mehrmals in Richtung Küche. Als würde sich dort jemand verstecken, dachte Manette, was allerdings in Anbetracht von Niamhs erwartungsvollem Gesichtsausdruck beim Öffnen der Tür irgendwie keinen Sinn ergab. Deswegen sagte Manette:»Ich könnte einen Kaffee gebrauchen. Darf ich …«Sie ging auf die Küchentür zu.

«Was willst du, Manette?«, fragte Niamh.»Du hättest wenigstens anrufen und mir Bescheid sagen können …«

Aber Manette war bereits in der Küche und stellte den Wasserkessel auf den Herd, als wäre sie hier zu Hause. Auf der Anrichte entdeckte sie den Grund für Niamhs nervöse Blicke. Dort stand ein knallroter Blecheimer, gefüllt mit allen möglichen Gegenständen. Ein schwarzer, wie eine Flagge geformter Aufkleber verkündete in weißer Schrift: Liebeseimer. Ein offener Karton, der ebenfalls auf der Anrichte stand, verriet, dass der Eimer eben erst mit der Post geliefert worden war. Man brauchte keinen Doktortitel in Sexualkunde, um zu erraten, dass der Inhalt des Eimers aus einer Auswahl an Spielzeug bestand, mit dessen Hilfe ein Paar ein bisschen Würze in sein Sexualleben zu bringen hoffte. Sehr interessant, dachte Manette.

Niamh schob sich an ihr vorbei und verstaute den Liebeseimer wieder in dem Karton.»Also gut«, sagte sie.»Was willst du? Und ich werde den Kaffee machen, wenn du nichts dagegen hast. «Sie nahm einen Kaffeekocher aus dem Schrank und knallte ihn auf die Anrichte. Dieselbe Behandlung wurde einer kleinen Packung Kaffee und einer Henkeltasse mit der Aufschrift Ich war in Blackpool zuteil.

Manette hielt es für das Beste, gleich zur Sache zu kommen.»Ich bin hier, um mit dir über deine Kinder zu reden«, sagte sie.»Warum wohnen sie immer noch nicht bei dir, Niamh?«

«Ich wüsste nicht, was dich das angeht. Hat Timothy dir gestern irgendwas erzählt?«

«Tim ist gestern mit den Fäusten auf mich losgegangen. Ich denke, wir sind uns einig, dass das kein normales Verhalten für einen Vierzehnjährigen ist.«

«Ah, also darum geht’s. Du wolltest ihn doch unbedingt von der Schule abholen. Und Timothy hat sich nicht gefreut? Das tut mir aber leid«, sagte Niamh sarkastisch. Sie löffelte Kaffee in die Kanne und nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank.»Aber ich verstehe gar nicht, warum du dich darüber wunderst, Manette. Es hat schließlich einen Grund, dass er auf die Margaret Fox School geht.«

«Und wir beide kennen den Grund«, sagte Manette.»Was zum Teufel hat das alles zu bedeuten?«

«Was das zu bedeuten hat, wie du dich ausdrückst, ist, dass Timothys Verhalten schon seit einiger Zeit nicht normal ist. Ich nehme an, du kannst dir denken, warum.«

Gott, dachte Manette, die alte Leier: Tims Geburtstagsparty und der Überraschungsgast. Großartige Gelegenheit, um zu erfahren, dass der Vater jemand anderen liebt, noch dazu einen Mann. Manette hätte Niamh erwürgen können. Wie viel Profit wollte diese Frau noch aus dem schlagen, was Ian und Kaveh ihr angetan hatten? Manette sagte:»Es war nicht Tims Schuld, Niamh. Und versuch nicht, dieses Gespräch auf deine übliche Tour zu sabotieren«, fügte sie hinzu.»Das mag vielleicht bei Ian funktioniert haben, aber bei mir ist das zwecklos.«

«Ehrlich gesagt habe ich nicht das geringste Bedürfnis, über Ian zu reden, da kannst du also ganz beruhigt sein.«

Das war ja etwas ganz Neues, dachte Manette. Eine interessante Abwechslung, denn seit einem Jahr hatte Niamh gar kein anderes Gesprächsthema gehabt als Ian und das, was er ihr angetan hatte. Nun, sie würde Niamh beim Wort nehmen. Sie war sowieso hergekommen, um über Tim zu reden.»Sehr gut«, sagte sie.»Denn ich habe auch nicht vor, über Ian zu reden.«

«Ach?«Niamh betrachtete ihre perfekt manikürten Fingernägel.»Das ist ja ein Ding. Ich dachte immer, Ian sei eins deiner Lieblingsthemen.«

«Wie bitte?«

«Also wirklich, tu doch nicht so verwundert. Du hast vielleicht die ganzen Jahre über versucht, es zu verbergen, aber ich habe von Anfang an gewusst, dass du hinter Ian her warst.«

«Wie bitte

«Du hast doch immer geglaubt, dass er zu dir kommen würde, wenn er irgendwann genug von mir hätte. Dass er sich stattdessen Kaveh als neuen Lebensgefährten ausgesucht hat, müsste dich doch eigentlich genauso wütend gemacht haben wie mich.«

Großer Gott, dachte Manette. Niamh hatte es auf raffinierte Weise geschafft, von Tim abzulenken.»Hör auf mit dem Blödsinn«, sagte sie.»Ich weiß genau, was du vorhast. Aber es wird nicht funktionieren. Ich bleibe, bis wir über Tim geredet haben. Wir können das jetzt gleich erledigen, oder wir können bis heute Abend Katz und Maus spielen. Doch irgendetwas …«Sie warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Liebeseimer»… sagt mir, dass du mich gern möglichst bald los wärst. Aber das schaffst du nicht, indem du mich ärgerst.«

Niamh entgegnete nichts darauf. Ihre Rettung war der Wasserkocher, der in dem Moment piepte. Sie füllte die Kaffeekanne mit kochendem Wasser und rührte den Kaffee mit einem Löffel um.

Manette sagte:»Alle Externen gehen nach Schulschluss nach Hause zu ihren Eltern. Aber Tim wohnt immer noch bei Kaveh, nicht bei dir. Was glaubst du, was das mit seinem Seelenzustand macht?«

«Was was mit seinem Seelenzustand macht, Manette?«Niamh fuhr herum.»Dass er immer noch bei Ians geliebtem Kaveh wohnt? Oder dass man ihn nach Hause gehen lässt, anstatt ihn einzusperren wie einen Verbrecher?«

«Sein Zuhause ist hier, nicht in Bryanbarrow. Das weißt du ganz genau. Wenn du ihn gestern erlebt hättest … Herrgott noch mal, was ist los mit dir? Tim ist dein Sohn. Warum hast du ihn noch nicht zu dir nach Hause geholt? Warum hast du Gracie nicht zu dir geholt? Bestrafst du die beiden aus irgendeinem Grund? Wieso spielst du mit dem Leben deiner Kinder?«

«Was weißt du denn schon über das Leben meiner Kinder? Was hast du denn je gewusst? Dir ging es doch immer nur um Ian. Ian, Ian, Ian. Der gute, geliebte Ian, der keinem Fairclough je etwas zuleide tun konnte. Selbst dein Vater hat sich auf seine Seite geschlagen, als er mich verlassen hat. Dein Vater. Der heilige Ian verlässt dieses Haus Hand in Hand — oder soll ich lieber sagen, Hand am Arsch — mit diesem … diesem … Araber, der noch ein halbes Kind ist, und dein Vater rührt keinen Finger. Keiner von euch. Und jetzt arbeitet dieser Araber für deine Mutter, als hätte er nicht mein Leben zerstört. Und du wirfst mir vor, ich würde Spielchen spielen? Du stellst mein Verhalten in Frage, während keiner von euch versucht hat, Ian dazu zu überreden, wieder nach Hause zu kommen, wo er hingehörte, zu seiner Familie, zu seinen Kindern, zu seiner … seiner …«Sie schnappte sich ein Geschirrtuch, denn ihre Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten, drohten überzulaufen und ihr Make-up zu ruinieren. Nachdem sie ihre Tränen getrocknet hatte, warf sie das Geschirrtuch in den Mülleimer, drückte den Kaffeesatz nach unten, wie um einen Schlusspunkt unter ihre letzten Worte zu setzen.

Manette beobachtete sie. Zum ersten Mal wurde ihr einiges klar. Sie sagte:»Du hast überhaupt nicht vor, sie zu dir zu holen, nicht wahr? Du willst die Kinder bei Kaveh lassen. Warum?«

«Trink deinen verdammten Kaffee und hau endlich ab«, fauchte Niamh.

«Erst, wenn wir ein paar Dinge geklärt haben. Erst, wenn ich genau verstanden habe, was du vorhast. Ian ist tot, das Problem kannst du also von der Liste streichen. Jetzt also geht’s um Kaveh. Aber Kaveh wird wahrscheinlich nicht sterben, es sei denn, du bringst ihn um …«Manette brach ab. Die beiden Frauen starrten einander an.

Niamh wandte sich als Erste ab.»Geh«, sagte sie.»Mach einfach, dass du wegkommst.«

«Was ist mit Tim? Was ist mit Gracie? Was passiert mit den beiden?«

«Nichts.«

«Was bedeutet, du lässt sie bei Kaveh. Bis jemand dich juristisch oder sonst wie zwingt, sie bei dir aufzunehmen, bleiben sie in Bryanbarrow. Damit Kaveh auch wirklich kapiert, was er angerichtet hat. Diese beiden Kinder, die übrigens an dem, was passiert ist, überhaupt keine Schuld tragen …«

«Sei dir da nicht so sicher.«

«Wie bitte? Willst du etwa behaupten, dass Tim … Mein Gott. Du bist ja wirklich nicht bei Trost.«

Es hatte keinen Zweck, das Gespräch weiterzuführen. Manette ließ ihren Kaffee Kaffee sein und ging. Noch ehe sie die Haustür erreichte, hörte sie von draußen Schritte, und gleich darauf rief jemand:»Niamh? Süße? Bist du da?«

Als sie die Tür, die nur angelehnt war, ganz öffnete, stand ein Mann vor ihr, in der Hand einen Strauß Chrysanthemen. Der Ausdruck freudiger Erwartung in seinem Gesicht wies ihn zweifelsfrei als den Absender des Liebeseimers aus, der gekommen war, um sich mit dem darin enthaltenen Spielzeug zu vergnügen, dachte Manette. Ein feiner Schweißfilm glänzte auf seinen pummeligen Wangen.

«Oh!«, sagte er und schaute sich um, als hätte er sich in der Haustür vertan.

«Komm rein, Charlie«, rief Niamh, die hinter Manette stand.»Meine Schwägerin wollte gerade gehen.«

Charlie. Er kam Manette irgendwie bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, woher. Bis er nervös zum Gruß nickte und sich an ihr vorbei ins Haus schob. Er roch nach Küche und noch irgendetwas anderem. Zuerst dachte Manette an Fish ’n Chips, aber dann fiel ihr ein, dass er der Eigentümer einer der drei chinesischen Imbissbuden am Marktplatz in Milnthorpe war. Sie hatte mehr als einmal auf dem Heimweg von einem Besuch bei Nicholas dort angehalten, um für Freddie etwas zum Essen mitzunehmen. Sie hatte diesen Mann bisher immer nur in Kochkleidung gesehen, die weiße Jacke mit Fett und Sojasoße bespritzt. Und jetzt war er hier, doch was er im Schilde führte, hatte absolut nichts mit Chop Suey und Frühlingsrollen zu tun.

Er sagte gerade zu Niamh:»Du siehst zum Anbeißen aus!«

Sie kicherte.»Das hoffe ich doch. Hast du denn auch Appetit mitgebracht?«

Sie lachten beide. Dann schloss sich die Tür hinter Manette.

Blanke Wut überkam sie. Irgendwie, dachte sie, musste Ians Witwe zur Vernunft gebracht werden. Manette war klug genug zu wissen, dass das außerhalb ihrer Macht stand. Aber sie konnte sehr wohl dafür sorgen, dass sich für Tim und Gracie etwas änderte.

WINDERMERE — CUMBRIA

Die Berichte des Gerichtsmediziners zu beschaffen, war nicht schwierig gewesen, und das lag vor allem an St. James’ gutem Ruf als Gerichtssachverständigem. Natürlich wurde seine Sachkenntnis in diesem Fall gar nicht gebraucht, da der Coroner seinen Bericht längst abgegeben hatte, aber ein Anruf und eine Fantasiegeschichte über einen Vortrag für Medizinstudenten hatten ausgereicht, um alle entscheidenden Dokumente in die Hände zu bekommen. Die Unterlagen bestätigten, was Lynley ihm bereits über den Tod von Ian Cresswell berichtet hatte, und sie enthielten darüber hinaus einige zusätzliche, interessante Details. Der Mann hatte einen heftigen Schlag gegen den Kopf erlitten — in der Nähe der linken Schläfe —, der ihm das Bewusstsein geraubt und eine Schädelfraktur verursacht hatte. Die Kopfverletzung hatte Cresswell sich an dem gemauerten Steg zugezogen, und obwohl seine Leiche fast neunzehn Stunden lang im Wasser gelegen hatte, bis sie gefunden wurde, war es — zumindest laut Bericht des Gerichtsmediziners — angeblich möglich gewesen, einen Bezug zwischen der Kopfwunde und der Form des Steins herzustellen, auf den er aufgeschlagen war.

St. James runzelte die Stirn. Er fragte sich, wie das möglich war. Neunzehn Stunden im Wasser waren eine lange Zeit, in der eine Wunde sich normalerweise so stark veränderte, dass man nichts mehr an ihr ablesen konnte, es sei denn, man fertigte eine Rekonstruktion an. Er suchte nach einem entsprechenden Bericht, fand jedoch keinen. Er machte sich eine Notiz und las weiter.

Ian Cresswell war ertrunken, wie die Untersuchung der Lunge ergeben hatte. Hämatome am rechten Bein legten die Vermutung nahe, dass er beim Fallen mit dem Fuß im Schuh des Stemmbretts hängen geblieben war, was das Boot zum Kentern gebracht hatte. Cresswell war so lange unter Wasser gehalten worden, bis sich der Fuß — vielleicht durch die sanften Wellen des Sees — irgendwann gelöst hatte. Erst dann war die Leiche des Mannes an die Oberfläche getrieben.

Der toxikologische Bericht hatte nichts Auffälliges ergeben. Cresswell hatte Alkohol im Blut gehabt, war aber nicht betrunken gewesen. Ansonsten besagte der Bericht des Gerichtsmediziners, dass der Mann vollkommen gesund und für sein Alter — Anfang vierzig — außerordentlich fit gewesen war.

Da es sich um einen nicht beobachteten Tod durch Ertrinken gehandelt hatte, war die Kriminalpolizei eingeschaltet worden. Der Gerichtsmediziner hatte die Leiche begutachtet, und es hatte eine gerichtliche Untersuchung des Todesfalles stattgefunden. Als Zeugen hatten ausgesagt: die Kriminalpolizisten, Valerie Fairclough, der Gerichtsmediziner, der Polizist, der als Erster am Ort des Geschehens eingetroffen war, sowie dessen Kollege, der zur Unterstützung herbeigerufen worden war. Beide waren der Meinung gewesen, dass keine Tatortspezialisten angefordert zu werden brauchten, da es sich um kein Verbrechen handelte. Und am Ende entschied der Coroner dann auf Unfalltod durch Ertrinken.

Soweit St. James das beurteilen konnte, enthielt der Bericht nichts Fragwürdiges. Aber falls Fehler begangen worden waren, dann musste das ganz zu Anfang passiert sein, und zwar durch den Polizisten, der als Erster am Ort des Geschehens eingetroffen war. Also fuhr St. James nach Windermere, um sich mit dem Mann zu unterhalten.

Der Polizist hieß PC William Schlicht, und er holte St. James in Windermere am Bahnhof ab. Er sah aus, dachte St. James, als käme er gerade frisch von der Polizeischule. Das würde auch erklären, warum er einen Kollegen herbeigerufen hatte, der seine Schlussfolgerung bestätigen sollte. Wahrscheinlich war es Schlichts erste Leiche gewesen, und er hatte seine berufliche Laufbahn nicht mit einem groben Schnitzer beginnen wollen. Abgesehen davon war der Tote auf dem Grund und Boden eines bekannten Industriellen gefunden worden. Das war ein gefundenes Fressen für die örtliche Presse gewesen, und PC Schlicht hatte gewusst, dass aller Augen auf ihn gerichtet sein würden.

Schlicht war schmächtig, aber zugleich drahtig und muskulös, und seine Uniform sah aus, als würde er sie jeden Morgen stärken und bügeln und die Knöpfe an der Jacke polieren. St. James schätzte ihn auf Anfang zwanzig, und der Mann machte auf ihn den Eindruck, als wolle er es allen recht machen. Nicht gerade die beste Charaktereigenschaft für einen Polizisten, dachte St. James. Solche Typen waren leicht zu manipulieren.

«Ah, Sie geben also ein Seminar über forensische Untersuchungsmethoden?«, fragte PC Schlicht, nachdem sie einander begrüßt hatten. Er führte St. James in eine Art Bahnhofscafé, wo auf einem Kühlschrank ein Zettel klebte mit der Aufschrift: Schreibt euren *#%*# Namen auf eure Butterbrottüte! Eine uralte Kaffeemaschine verströmte einen Duft, der an Kohlebergwerke aus dem 19. Jahrhundert erinnerte. Schlicht hatte offenbar sein Mittagessen unterbrochen. Der Rest seiner Hähnchenpastete lag noch in einem Plastikbehälter. Daneben stand ein kleinerer Behälter mit Himbeercreme.

St. James brummte irgendetwas Zustimmendes, als Schlicht das Seminar erwähnte. Er hielt hin und wieder Vorlesungen an der University of London. Falls PC Schlicht sich bemüßigt fühlen sollte, Erkundigungen über ihn einzuziehen, so war alles, was er in Bezug auf seinen Besuch in Cumbria behauptete, verifizierbar. Er solle sein Mittagessen getrost fortsetzen, sagte St. James zu PC Schlicht, er wolle lediglich ein paar Details bestätigt haben.

«Jemand wie Sie hätte wahrscheinlich lieber einen interessanteren Fall für so einen Vortrag«, bemerkte Schlicht, stieg mit einem Bein über die Rückenlehne eines Stuhls und setzte sich. Dann nahm er sein Besteck und machte sich über sein Essen her.»Der Fall Cresswell war von Anfang an eine ganz klare Sache.«

«Aber Sie müssen doch zunächst einige Zweifel gehabt haben«, entgegnete St. James.»Schließlich haben Sie einen Kollegen hinzugezogen.«

«Ach so, das. «Schlicht wedelte zustimmend mit seiner Gabel. Dann bestätigte er, was St. James vermutet hatte: Es war sein erster Toter gewesen, er habe sich keinen Schnitzer erlauben wollen, außerdem sei die Familie in der Gegend ziemlich bekannt.»Noch dazu steinreich«, fügte er hinzu,»wenn Sie wissen, was ich meine. «Er grinste, als verlangte der Reichtum der Faircloughs, dass die örtliche Polizei zu ganz bestimmten Schlussfolgerungen gelangte. Als St. James ihn fragend anschaute, sagte er:»Die Reichen haben ihre Eigenheiten, wissen Sie? Die sind nicht wie Sie und ich. Meine Frau zum Beispiel: Wenn die in unserem Bootshaus eine Leiche finden würde — also, nicht dass wir ein Bootshaus hätten —, dann würde die schreien wie am Spieß, die würde komplett durchdrehen, und selbst wenn sie es schaffen würde, bei der Polizei anzurufen, würde am Telefon kein Mensch ein Wort verstehen. Aber die …«St. James nahm an, dass damit Valerie Fairclough gemeint war.»… war absolut obercool. ›In meinem Bootshaus schwimmt ein Toter im Wasser‹, hat sie zu unserem Wachhabenden gesagt und ihm gleich auch noch unaufgefordert ihre Adresse gegeben, was ziemlich merkwürdig ist. Denn man sollte doch meinen, dass sie unter den Umständen nicht von allein auf so was kommt. Und als ich ankam, hat sie nicht etwa in der Einfahrt auf mich gewartet, und sie ist auch nicht nervös im Garten auf und ab gelaufen, wie man es in einer solchen Situation von einer Frau erwarten würde. O nein. Sie war im Haus, und als sie rauskam, war sie angezogen, als wär sie auf dem Weg zu irgendeinem vornehmen Nachmittagstee, und da hab ich mich natürlich gefragt, was sie in dem Aufzug unten am Bootshaus zu suchen gehabt hatte. Aber ohne dass ich sie danach gefragt hab, hat sie mir sofort erklärt, sie wär zum Bootshaus gegangen, weil sie zum Angeln hatte rausfahren wollen. So feingemacht, wie die war, das muss man sich mal vorstellen. Sie meinte, das würde sie regelmäßig machen — zwei-, drei-, manchmal viermal die Woche. Und zwar zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie wär gern auf dem Wasser, hat sie mir erzählt. Natürlich hätte sie nicht damit gerechnet, einen Toten in ihrem Bootshaus vorzufinden. Aber sie wusste sogar, wer der Tote war: der Neffe ihres Mannes. Dann sind wir zum Bootshaus gegangen, damit ich mir die Leiche ansehen konnte. Wir waren noch nicht weit gekommen, da kam auch schon der Krankenwagen, und wir haben auf die Sanitäter gewartet.«

«Mrs. Fairclough wusste also mit Sicherheit, dass der Mann im Wasser tot war?«

Schlicht, der sich gerade eine weitere Portion von seiner Pastete in den Mund schieben wollte, hielt mitten in der Bewegung inne.»Aber sicher. Der lag ja mit dem Gesicht nach unten im Wasser, und zwar schon ziemlich lange. Aber ihre Kleider. Die sprechen doch auch für sich, oder?«

Als sie am Bootshaus eintrafen, so Schlicht, sei die Situation eindeutig gewesen, so merkwürdig ihm die Kleidung und das Verhalten von Valerie Fairclough auch erschienen sein mochte. Das Skullboot war gekentert, der Tote lag daneben im Wasser, und die fehlenden Steine in dem Anleger erklärten, was vorgefallen war. Aber zur Sicherheit hatte er darum gebeten, dass ein Detective Inspector sich die Sache ansah, und daraufhin war die Kollegin Dankanics gekommen und hatte ihm in seiner Einschätzung der Lage beigepflichtet. Der Rest war mehr oder weniger Routine gewesen: Er hatte den Papierkram erledigt, einen Bericht geschrieben, vor dem Coroner ausgesagt, et cetera.

«Hat DI Dankanics sich mit Ihnen zusammen den Ort des Geschehens angesehen?«

«Ja, natürlich. Wir alle.«

«Alle?«

«Die Sanitäter, Mrs. Fairclough, die Tochter.«

«Die Tochter? Wo war die denn?«Das war allerdings merkwürdig. Das Bootshaus hätte abgesichert werden müssen. Es war absolut ordnungswidrig, dass dies nicht erfolgt war, und St. James fragte sich, worauf diese Ordnungswidrigkeit zurückzuführen sein mochte — auf Schlichts Unerfahrenheit, auf DI Dankanics’ Gleichgültigkeit oder auf etwas ganz anderes.

«Ich weiß nicht genau, wo sie sich vorher aufgehalten hat«, sagte Schlicht,»aber der Lärm war ja nicht zu überhören. Der Krankenwagen ist mit eingeschalteter Sirene bis zum Haus gefahren — die Jungs fahren auf ihre Sirene ab, sag ich Ihnen —, und sie ist mit ihrem Rollator runter an den See gekommen.«

«Ist sie behindert?«

«Sieht so aus. Jedenfalls wurde die Leiche zur Obduktion abtransportiert, DI Dankanics und ich haben Zeugenaussagen aufgenommen und …«Er runzelte die Stirn.

«Ja?«

«Tut mir leid. Ich hab vergessen, den Freund zu erwähnen.«

«Freund?«

«Der Tote war ’ne Schwuchtel. Sein Freund hat auf dem Anwesen gearbeitet. Nicht zu dem Zeitpunkt, das nicht, aber er kam, als der Krankenwagen grade wegfuhr. Natürlich wollte er wissen, was passiert war — ist ja nur menschlich, oder? Und Mrs. Fairclough hat ihn zur Seite genommen und es ihm gesagt, und er ist prompt umgekippt.«

«Er ist ohnmächtig geworden?«

«Ist der Länge nach auf den Boden geschlagen. Wir wussten erst nicht, wer er war, und fanden es ziemlich übertrieben, dass ein Typ, der ankommt und erfährt, dass einer ertrunken ist, gleich aus den Latschen kippt. Also hat uns Mrs. Fairclough erklärt, dass er der Gartenarchitekt war und dass der andere — also, der Tote im Bootshaus — sein Partner war. Und mit Partner meinte sie Lebensgefährte, wohlgemerkt. Jedenfalls ist der Bursche ziemlich schnell wieder zu sich gekommen, und dann hat er angefangen zu heulen. Meinte, es wäre seine Schuld, dass der andere ertrunken war, was uns natürlich hellhörig gemacht hat — also, mich und Dankanics —, aber dann kam raus, dass die zwei sich am Vorabend gestritten hatten. Ian Cresswell wollte heiraten mit großem Fest und allem Drum und Dran, aber der andere fand alles ganz prima, so wie’s war. Gott, hat der geheult. Da denkt man sich doch sein Teil, oder? Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

St. James verstand nicht, was er meinte, fand allerdings die Informationen, die er bekam, verquerer und verquerer, wie Alice im Wunderland sich ausgedrückt hätte. Er sagte:»Und das Bootshaus selbst …?«

«Hmm?«

«War dort alles in Ordnung? Abgesehen von den fehlenden Steinen natürlich.«

«Nach Aussage von Mrs. Fairclough jedenfalls ja.«

«Und die Boote?«

«Die waren alle drinnen.«

«Wie üblich?«

Schlicht zog die Brauen zusammen. Er hatte seine Pastete aufgegessen und öffnete den Behälter mit der Himbeercreme.»Ich versteh nicht, was Sie meinen.«

«Lagen die Boote immer in der gleichen Anordnung in dem Bootshaus? Oder wurde darauf nicht geachtet?«

Schlichts Lippen kräuselten sich, als wollte er pfeifen, doch er gab keinen Laut von sich. Er antwortete auch nicht gleich, aber trotz seiner ungezwungenen Art zu reden war der Mann nicht dumm, dachte St. James.»Das ist ja ein Ding«, sagte Schlicht.»Dass wir danach nicht gefragt haben. Verflucht, Mr. St. James, ich hoffe, das bedeutet nicht, was ich befürchte.«

Denn wenn auf die Anordnung nicht geachtet wurde, legte das einen Unfall nahe. Alles andere ließ auf einen Mord schließen.

MIDDLEBARROW FARM — CUMBRIA

Das Wehrturmprojekt von Middlebarrow befand sich östlich des Arnside Knott, eines riesigen Hügels, der als Naturschutzgebiet ausgewiesen war. Deborah St. James und Nicholas Fairclough fuhren erst durch Arnside und folgten dann den Schildern nach Silverdale. Während der Fahrt plauderte Nicholas Fairclough freundlich mit Deborah, wie es seine natürliche Art zu sein schien. Er wirkte offen und geradeheraus, ganz und gar nicht wie ein Mensch, der in der Lage war, den kaltblütigen Mord an seinem eigenen Vetter zu planen, falls es denn Mord gewesen war. Natürlich erwähnte er Ian Cresswells Tod mit keinem Wort. Der Tod des Mannes hatte schließlich nichts mit dem zu tun, warum Deborah angeblich den Wehrturm besuchen wollte. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob sie es dabei belassen sollte. Sie hatte den Eindruck, dass sie Cresswell auf die eine oder andere Weise ins Gespräch bringen musste.

Leider war das nicht gerade ihre Stärke. Munter drauflos zu plaudern war ihr noch nie leichtgefallen, allerdings hatte sie mit den Jahren dazugelernt, denn es zahlte sich aus, wenn die Personen, die sie fotografierte, sich entspannten. Die dazu notwendige Plauderei war zumindest irgendwie ehrlich. Aber sich für jemanden auszugeben, der sie nicht war, brachte sie in eine Situation, in der sie sich extrem unwohl fühlte.

Zum Glück schien Nicholas nichts davon zu bemerken. Er war viel zu sehr bemüht, ihr zu versichern, wie sehr seine Frau ihn in seinen Bemühungen unterstützte.

«Am Anfang ist sie immer ziemlich reserviert, aber das ändert sich, wenn sie einen besser kennenlernt«, erklärte er Deborah, als sie durch die enge Straße rasten.»So ist sie nun mal. Das dürfen Sie nicht persönlich nehmen. Allie ist erst mal jedem gegenüber misstrauisch. Das hat mit ihrer Familie zu tun. «Er lächelte sie an. Er hatte ein seltsam jungenhaftes Gesicht, wahrscheinlich würde er bis ins hohe Alter jung wirken, dachte Deborah. Manche Menschen hatten in der Hinsicht einfach Glück.»Ihr Vater ist Bürgermeister der Stadt, in der sie geboren wurde. In Argentinien. Er ist schon ewig Bürgermeister, und sie ist aufgewachsen in dem Bewusstsein, ständig im Rampenlicht zu stehen und aufpassen zu müssen, was sie tut. Sie lebt also bis heute mit dem Gefühl, dass irgendjemand sie beobachtet und sie bei … irgendwas erwischt, weiß der Teufel, wobei. Deswegen ist sie anfangs immer so scheu. Man muss ihr Vertrauen erst gewinnen.«

«Sie ist sehr attraktiv«, sagte Deborah.»Ich könnte mir vorstellen, dass das für jemanden, der ständig im Rampenlicht steht, ein Problem ist, vor allem in einer Kleinstadt. Aller Augen sind pausenlos auf sie gerichtet, wissen Sie. Aus welchem Ort in Argentinien stammt Ihre Frau denn?«

«Aus Santa María de irgendwas. Das vergesse ich immer. Ein Städtename, der aus zehn Wörtern besteht. Am Fuß von irgendeinem Gebirge. Tut mir leid. Ich kann mir diese spanischen Namen einfach nicht merken. Sprachen sind mir ein Buch mit sieben Siegeln. Ich kann ja kaum Englisch! Auf jeden Fall mag sie den Ort nicht. Sie sagt, es war wie hinterm Mond zu leben. Wahrscheinlich ein kleines Kaff. Mit fünfzehn ist sie von zu Hause weggelaufen. Später hat sie sich mit ihren Eltern versöhnt, aber sie ist nie dorthin zurückgekehrt.«

«Sie wird ihren Eltern doch fehlen.«

«Dazu kann ich Ihnen nichts sagen«, erwiderte Nicholas.»Aber man würde es doch vermuten, oder?«

«Sie haben ihre Eltern also noch nicht kennengelernt? Sind sie denn nicht zur Hochzeit gekommen?«

«Tja, wir haben in aller Stille geheiratet. Nur Allie und ich im Rathaus von Salt Lake City, einer, der die Trauung vollzogen hat, und zwei Frauen, die wir auf der Straße angesprochen und gefragt hatten, ob sie sich als unsere Trauzeugen zur Verfügung stellen könnten. Danach hat Allie ihren Eltern geschrieben, um ihnen mitzuteilen, dass sie geheiratet hatte, doch sie haben nicht geantwortet. Ich glaube, die sind ziemlich sauer auf sie. Aber sie werden sich bestimmt irgendwann wieder beruhigen, wie alle Eltern. Vor allem …«, er grinste,»… wenn erst mal ein Enkelkind unterwegs ist.«

Deswegen also hatte Conception auf dem Tisch gelegen, eine Zeitschrift voller Artikel über Themen rund um das Thema Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt.»Sie erwarten ein Kind? Herzlichen …«

«Nein, nein, noch nicht. Aber wir rechnen jeden Moment damit. «Er trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad.»Ich bin ein Glückspilz«, sagte er.»Ein echter Glückspilz. «Dann zeigte er auf ein Waldgebiet östlich der Straße, wo Laubbäume in bunten Herbstfarben zwischen grünen Koniferen leuchteten.»Der Middlebarrow Wald«, sagte er.»Von hier aus kann man den Wehrturm sehen. «Er hielt in einer Haltebucht, damit sie in Ruhe schauen konnte.

Der Turm stand auf einer Erhebung, die an die prähistorischen Grabhügel erinnerte, die es überall in England gab. Jenseits des Hügels begann der Wald. Der Turm stand auf einer freien Fläche, so dass man von seinen Fenstern aus jeden Angreifer sehen konnte, der sich aus dem Wald näherte, was in den Jahrhunderten, als die Grenze zwischen Schottland und England sich ständig änderte, an der Tagesordnung gewesen war. Die Angreifer hatten alle dasselbe Ziel. Es handelte sich um Marodeure, die die Rechtlosigkeit der damaligen Zeit ausnutzten und das Grenzgebiet unsicher machten. Sie überfielen die Dörfer, stahlen das Vieh, plünderten die Häuser aus und flohen mit ihrer Beute über die Grenze. Dabei gab es natürlich unweigerlich immer wieder Tote auf beiden Seiten.

Die Wehrtürme waren zum Schutz gegen diese Marodeure errichtet worden. Einige davon waren unzerstörbar, mit meterdicken Mauern und Schießscharten anstatt Fenstern und getrennten Stockwerken für das Vieh, die Bewohner und die Verteidigungsstellungen. Aber als man die Grenze schließlich festgelegt, Gesetze erlassen und Sheriffs eingesetzt hatte, wurden die Türme nicht mehr gebraucht. Einige wurden abgetragen und das Baumaterial für andere Zwecke benutzt, andere wurden in größere Bauten integriert wie Pfarrhäuser oder Schulen.

Der Wehrturm von Middlebarrow gehörte zu der ersten Kategorie. Er ragte hoch auf, die meisten seiner Fenster waren intakt. In einiger Entfernung standen ein paar alte Bauernhäuser, die Zeugnis davon ablegten, welchem Verwendungszweck einige der Steine aus seinen Mauern zugeführt worden waren. Auf der Wiese zwischen dem Turm und den Bauernhäusern war ein Zeltlager errichtet worden. Es war eine Ansammlung von kleinen Zelten, mehreren behelfsmäßigen Schuppen und einem größeren Zelt für das Zwölf-Schritte-Programm, wie Nicholas Fairclough erklärte. Außerdem diente das große Zelt als Speisesaal.

Nicholas fuhr weiter und bog in eine Straße ein, die zu dem Turm führte. Der Turm, sagte er, stehe auf dem Land eines Bauern aus Middlebarrow. Der Bauer hatte seine Zustimmung zu dem Projekt gegeben, nachdem er begriffen hatte, dass der restaurierte Turm als Touristenattraktion dienen würde und man sogar Ferienwohnungen darin einrichten konnte.

«Er hat sich sogar entschlossen, einen Campingplatz zu bauen«, sagte Nicholas.»Das bringt ihm während der Urlaubssaison ein bisschen Geld ein. Es war übrigens Allies Idee, den Bauern mit ins Boot zu holen. Anfangs hat sie noch bei dem Projekt mitgemacht.«

«Und jetzt nicht mehr?«

«Sie hält sich gern im Hintergrund. Außerdem … na ja, als die ersten Junkies kamen, ist sie lieber zu Hause geblieben. «Sie waren auf der Baustelle angekommen, und Nicholas hielt an.»Aber keine Sorge. Diese Burschen sind viel zu kaputt und viel zu sehr damit beschäftigt, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, um eine Gefahr für irgendjemanden darzustellen.«

Aber sie waren nicht zu kaputt, um zu arbeiten, stellte Deborah fest. Einer von ihnen war zum Gruppenleiter bestimmt worden, ein Mann, den Nicholas ihr als Dave K vorstellte —»Es ist üblich, keine Nachnamen zu verwenden«, erklärte er ihr —, und sie begriff sofort, dass der Tagesablauf aus Arbeiten, Essen, Zwölf-Schritte-Programm und Schlafen bestand. Dave K hatte einige zusammengerollte Pläne bei sich, die er auf der Motorhaube von Nicholas Faircloughs Auto ausrollte. Mit einem Nicken nahm er Deborah zur Kenntnis, dann zündete er sich eine Zigarette an, die er, während er mit Nicholas über das Projekt sprach, als Zeigestock benutzte.

Deborah schlenderte zur Baustelle hinüber. Der Turm war enorm, ein Trumm von einem Gebäude mit Zinnendach, das an eine normannische Burg erinnerte. Auf den ersten Blick hatte sie gar nicht den Eindruck, dass hier größere Restaurierungsarbeiten vonnöten waren, doch als sie um den Turm herumging, sah sie, was im Lauf der Jahrhunderte aus dem Gemäuer geworden war. Jeder hatte sich von den Steinen bedienen können.

Deborah betrachtete das alles mit dem Blick der Fotografin, die Baustelle und auch die Männer, die dort arbeiteten, die meisten im Rentneralter. Sie hatte keine ihrer großen Kameras dabei, nur eine kleine Digitalkamera, sozusagen als Requisit für ihre Rolle als Filmemacherin. Sie nahm die kleine Kamera aus der Tasche und begann zu fotografieren.

Nicholas Fairclough stieß zu ihr.»Ehrlich gesagt sehen Ihre Arbeiter nicht aus, als wären sie kräftig genug, hier viel auszurichten, Mr. Fairclough. Warum sind hier keine jungen Männer?«, fragte sie.

«Weil diese Männer am dringendsten Hilfe brauchen. Hier und jetzt. Wenn niemand sich ihrer annimmt, werden sie in den nächsten Jahren auf der Straße sterben. Ich finde, dass niemand es verdient hat, so zu sterben. Im ganzen Land — auf der ganzen Welt — gibt es Programme für junge Leute, und glauben Sie mir, da kenne ich mich aus, denn ich habe eine Menge davon durchlaufen. Aber für solche Männer wie die hier? Schlafplätze, Sandwiches, warme Suppe, Bibeln, Decken, alles Mögliche gibt es für sie. Aber keine Hoffnung. Die sind noch nicht so weit weggetreten, dass sie nicht in der Lage wären, Mitleid zehn Meter gegen den Wind zu riechen. Wenn man sie so behandelt, besorgen sie sich von dem Geld, das man ihnen gibt, den nächsten Rausch und wünschen einen zum Teufel … Entschuldigen Sie mich einen Moment, ja? Sehen Sie sich ruhig um. Ich muss kurz mit einem der Männer reden.«

Deborah schaute ihm nach, als er behende über den Bauschutt kletterte.»Hey Joe!«, rief er.»Hat der Steinmetz sich schon gemeldet?«

Deborah ging auf das große Zelt zu, über dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift EAT AND MEET hing. Ein bärtiger Mann mit Strickmütze und dicker Jacke — viel zu warm für das Wetter, aber er schien überhaupt kein Körperfett zu haben, das ihn wärmte — war drinnen gerade dabei, das Mittagessen vorzubereiten. Auf Spirituskochern standen große Kochtöpfe, und es duftete nach Fleisch und Kartoffeln. Er sah Deborah, und sein Blick fiel sofort auf die Kamera, die sie in der Hand hielt.

«Hallo«, sagte sie freundlich.»Keine Sorge, ich schaue mich nur ein bisschen um.«

«Das sagen sie alle«, brummte der Mann.

«Kommen viele Besucher her?«

«Am laufenden Band. Der Chef braucht die Kohle.«

«Ah, verstehe. Ich fürchte, ich bin keine potentielle Spenderin.«

«Das war der Letzte auch nicht. Mir ist das egal. Wenn einer mich fragt, ob ich glaub, dass das hier funktioniert, dann sag ich ja.«

Deborah durchquerte das Zelt bis zu dem langen Tisch, auf dem die Kessel mit dem Eintopf standen.»Aber eigentlich glauben Sie das nicht?«

«Das hab ich nicht gesagt. Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Ich krieg was zu essen und kann an dem Programm teilnehmen, und das reicht mir. Die Versammlungen gefallen mir besser, als ich gedacht hätte, und das ist schon mal nicht schlecht. Außerdem hab ich hier einen trockenen Schlafplatz.«

«Während der Versammlungen?«, fragte Deborah.

Er sah sie scharf an. Als sie grinste, lachte er in sich hinein.»Wie gesagt, die sind besser, als ich dachte. Es wird ein bisschen viel von Gott gelabert und ein bisschen viel von Akzeptanz, aber damit komm ich klar. Vielleicht hilft’s ja. Ich versuch’s jedenfalls. Zehn Jahre als Tippelbruder … irgendwann reicht’s einfach.«

Aus einer großen Kiste, die auf einem Stuhl stand, nahm der Bärtige Besteck, Blechteller, Plastikgläser und — tassen und Papierservietten und reihte sie auf dem Tisch auf. Deborah half ihm dabei.

«Lehrer«, sagte er leise.

«Wie bitte?«

«Das war ich früher. An einer Mittelschule in Lancaster. Chemie. Da wären Sie nicht draufgekommen, oder?«

«Nein«, antwortete sie ebenso leise.

Er zeigte nach draußen.»Bei uns ist alles vertreten«, sagte er.»Einer war früher Chirurg, einer Physiker, zwei waren Banker und einer Immobilienmakler. Sie brauchen die Servietten nicht so ordentlich zu falten. Wir sind hier nicht im Ritz.«

«Oh, Verzeihung. Macht der Gewohnheit.«

«Wie der Chef«, sagte der Mann.»Man kann seine Herkunft nicht verleugnen.«

Deborah sagte ihm nicht, dass sie aus einer Familie stammte, deren Mitglieder bei Herrschaften» in Stellung gingen«, wie man sich in einem anderen Jahrhundert ausgedrückt hätte. Ihr Vater arbeitete seit jeher für die Familie St. James und sorgte seit siebzehn Jahren für Simon, während er gleichzeitig so tat, als würde er nichts dergleichen tun. Es war ein schwieriger Balanceakt, und er redete seinen Schwiegersohn tatsächlich immer noch mit Mr. St. James an. Deborah murmelte etwas mehr oder weniger Zustimmendes und sagte:»Sie scheinen ihn zu mögen.«

«Den Chef? Der ist anständig. Ein bisschen zu vertrauensselig, aber grundanständig.«

«Sie glauben, er wird ausgenutzt? Ich meine, von diesen Gentlemen hier.«

«Nein, nein. Die meisten wissen, dass es ihnen hier ganz gut geht, und wer nicht völlig hinüber ist vom Suff oder von Drogen, der bleibt, solange er kann.«

«Von wem dann?«

«Von wem er ausgenutzt wird?«Er schaute sie mit hochgezogenen Brauen an.»Leute kommen her und machen ihm Versprechungen, und er glaubt ihnen. Er ist halt naiv.«

«Es geht also um Geld? Um Spenden?«

«Manchmal. Manche erhoffen sich auch was von ihm. «Schon wieder dieser bedeutungsvolle Blick.

Deborah wurde klar, dass sie in seinen Augen zu der Kategorie von Leuten gehörte, die sich etwas von Nicholas Fairclough erhofften. Und mit dieser Einschätzung lag er ziemlich richtig. Trotzdem fragte sie:»Was denn zum Beispiel?«

«Na ja, er hat immerhin eine interessante Geschichte hinter sich, nicht wahr? Er glaubt, wenn er sie erzählt, könnte ihm das eine Menge Geld für sein Projekt einbringen. Aber so funktioniert es eben nicht immer. Meistens kommt überhaupt nichts dabei raus. Irgend so ein Journalist ist viermal hier gewesen und hat ihm versprochen, seine Story groß rauszubringen, und er dachte, es würde einen warmen Regen geben, sobald die Geschichte gedruckt wird. Aber nichts ist passiert, und wir stehen wieder ganz am Anfang und wissen nicht, wo wir die Mittel auftreiben sollen. Das hab ich gemeint. Ein bisschen naiv.«

Deborah sagte:»Viermal?«

«Hä?«

«Ein Journalist ist viermal hier gewesen, und es ist kein Artikel erschienen? Das ist aber sehr ungewöhnlich. Wenn man bedenkt, wie viel Zeit und Energie da aufgewendet wurde, und am Ende hatte niemand etwas davon. Das muss ja eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Welcher Journalist investiert so viel Zeit in eine Story und schreibt sie am Ende doch nicht?«

«Das wüsste ich auch mal gerne. Er hat behauptet, er käme von der Source in London, aber keiner hat sich seinen Ausweis zeigen lassen, er kann also genauso gut gelogen haben. Wenn Sie mich fragen, dann war der hier, um irgendwas Negatives über den Chef rauszufinden und ihn schlechtzumachen. Der war nur auf der Suche nach was, womit er groß rauskommen kann, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber der Chef sieht das nicht so. Sein einziger Kommentar war: ›Die Zeit war noch nicht reif.‹«

«Aber Sie sind anderer Meinung?«

«Ich finde, er sollte sich vorsehen. Doch das tut er nicht, und das wird noch mal zu einem Problem. Wenn nicht jetzt, dann in Zukunft.«

WINDERMERE — CUMBRIA

Yaffa Shaw hatte Zed gesagt, dass er schon etwas mehr Einsatz bringen müsste, als im Willow & Well in Bryanbarrow herumzuhängen und darauf zu warten, dass ihm auf wundersame Weise eine Offenbarung zuteilwerden würde — zum Beispiel in Gestalt eines Scotland-Yard-Detectives mit einer Riesenlupe in der Hand und einer Meerschaumpfeife zwischen den Zähnen. Zed hatte Yaffa angerufen, nachdem er sich notiert hatte, was der alte George Cowley ihm auf dem Dorfplatz erzählt hatte. Unter anderem, dass Cowleys halbwüchsigem Sohn die Schimpftiraden seines Vater ziemlich peinlich gewesen waren. Vielleicht, dachte er, wäre es keine dumme Idee, sich mit Daniel Cowley einmal unter vier Augen zu unterhalten.

Yaffa, die ihre Rolle als Verlobte spielte, weil Zeds Mutter gerade mit ihr im Zimmer war — wann war sie das mal nicht, fragte sich Zed —, machte ihn darauf aufmerksam, dass Ian Cresswells Tod George Cowleys Pläne durchaus durchkreuzt haben könnte, anstatt ihm, wie Zed angenommen hatte, einen Vorteil einzubringen.

Zuerst hatte Zed sich aufgeregt. Schließlich war er der investigative Reporter und sie bloß eine Studentin in London, die ihr Studium möglichst schnell hinter sich bringen wollte, um möglichst bald zu ihrem Freund Micah in Tel Aviv zurückkehren zu können. Er sagte:»Da wäre ich mir nicht so sicher, Yaf«, und war zusammengezuckt, als ihm bewusst wurde, dass er ihr einen Spitznamen verpasst hatte.»Äh, sorry, Yaffa«, hatte er hinzugefügt.

«Mir gefällt es«, sagte sie.»Das bringt mich zum Lächeln. «Dann, offenbar zu seiner Mutter, die wahrscheinlich mit großen Augen gefragt hatte, was Yaffa Shaw während eines Telefongesprächs mit ihrem geliebten Sohn zum Lächeln brachte:»Ach, Zed hat mich Yaf genannt. Das fand ich süß. «Und dann zu Zed:»Deine Mum sagt, du bist einfach ein süßer Bengel. Sie sagt, hinter deinem hünenhaften Äußeren verbirgt sich ein Zuckerbursche.«

«O Gott«, stöhnte Zed.»Kannst du sie nicht aus dem Zimmer werfen? Oder soll ich einfach auflegen und wir einigen uns, dass wir für heute unsere Pflicht erfüllt haben?«

«Zed! Hör auf damit!«Sie lachte. Sie hatte, so fand er, ein sehr angenehmes Lachen. Sie sagte zu seiner Mutter:»Er macht Kussgeräusche! Macht er das immer, wenn er mit einer Frau telefoniert? … Nein? Hmmm. Da bin ich ja mal gespannt, was ihm als Nächstes einfällt.«

«Sag ihr, ich hätte dich aufgefordert, dein Höschen auszuziehen oder so was«, sagte Zed.

«Zedekiah Benjamin! Deine Mutter steht direkt neben mir. «Dann:»Er ist sehr ungezogen. «Einen Augenblick später sagte sie in einem ganz anderen Ton zu Zed:»Sie ist weg. Aber sie ist wirklich sehr nett, deine Mum. Neuerdings bringt sie mir abends immer heiße Milch und Kekse, wenn ich in meinem Zimmer sitze und lerne.«

«Sie weiß, was sie will, und sie arbeitet schon seit Jahren daran. Aber dann scheint ja alles gut zu laufen, oder?«

«Ja, alles prima. Micah hat angerufen, und ich habe deiner Mutter von ihm erzählt. Er spielt jetzt meinen Bruder Ari, der ab und zu aus Israel anruft, um sich zu erkundigen, wie seine kleine Schwester mit dem Studium vorankommt.«

«Aha. Okay. Gut. «Und damit hätte das Gespräch beendet sein müssen, denn sie hatten lediglich vereinbart, zweimal täglich in Hörweite seiner Mutter miteinander zu telefonieren.

Doch Yaffa kam noch einmal auf das zurück, was sie zu Beginn des Gesprächs gesagt hatte:»Was, wenn alles ganz anders ist, als es auf den ersten Blick aussieht?«

«Wie bei uns, meinst du?«

«Na ja, ich rede nicht von uns, aber es kann doch sein, oder?«

«Dieser Typ von Scotland Yard …«

«Abgesehen von dem Typen von Scotland Yard. Bisher hast du mir Folgendes erzählt: Ein Mann ist tot, ein anderer Mann will das Haus haben, in dem der Tote gewohnt hat, und noch ein anderer Mann wohnt zusammen mit den Kindern des Toten in ebendiesem Haus. Was schließt du daraus?«

Eigentlich schloss er überhaupt nichts daraus, aber plötzlich wurde ihm bewusst, dass Yaffa ihm gedanklich voraus war. Er sagte:»Äh …«, und räusperte sich.

Sie erlöste ihn von seinem Elend.»Auf jeden Fall ist an der Sache mehr dran, als man auf den ersten Blick erkennt, Zed. Hat der Tote ein Testament hinterlassen?«

«Ein Testament?«Was zum Teufel hatte das mit der Sache zu tun? Was war an einem Testament sexy?

«Ja, ein Testament. Da liegt Potential für einen Konflikt, siehst du das denn nicht? Dieser George Cowley glaubt, dass er das Haus kriegt, weil es jetzt versteigert wird. Aber was ist, wenn er sich irrt? Was ist, wenn das Haus längst abbezahlt ist und Ian Cresswell es jemandem vermacht hat? Oder wenn nicht nur sein Name im Grundbuch steht? Das wäre doch eine Ironie des Schicksals, oder? Dann würde George Cowley nämlich schon wieder in die Röhre kucken. Und die Ironie wäre noch viel größer, wenn der gute alte Cowley etwas mit Ian Cresswells Tod zu tun gehabt hätte, oder?«

Zed musste zugeben, dass sie recht hatte. Und er musste zugeben, dass sie ganz schön clever war und außerdem auf seiner Seite stand. Und deswegen begann er, nachdem sie aufgelegt hatten, der Frage nachzugehen, ob Ian Cresswell ein Testament hinterlassen hatte. Er brauchte nicht lange, um in Erfahrung zu bringen, dass tatsächlich ein Testament existierte, denn Cresswell hatte es klugerweise online registrieren lassen: Eine Kopie des Dokuments lag bei Cresswells Anwalt in Windermere. Eine weitere Kopie — da der Mann tot war — müsste beim zuständigen Gericht zu bekommen sein, aber dort Einsicht in das Testament zu beantragen, würde wertvolle Zeit kosten, ganz abgesehen davon, dass Zed dafür nach York fahren müsste. Also musste er sich die Informationen, die er brauchte, auf andere Weise beschaffen. Und er wusste auch schon, wer ihm dabei helfen könnte, an das Dokument heranzukommen.

«Ein Testament«, sagte Rodney Aronson, als Zed ihn in London anrief.»Sie wollen also einen Blick auf das Testament des Toten werfen. Ich bin gerade in einer Besprechung, Zed. Wir müssen eine Zeitung herstellen. Das wissen Sie doch, oder?«

Zed vermutete, dass sein Chefredakteur außerdem gerade dabei war, einen Schokoriegel zu vernichten, denn er hörte das Papier knistern.

Er sagte:»Die Situation ist komplizierter, als sie aussieht, Rod. Hier gibt’s einen Typen, der sich Ian Cresswells Haus unter den Nagel reißen will. Er rechnet damit, dass die Hütte demnächst versteigert wird. Ich finde, der hätte doch auf jeden Fall ein Motiv gehabt, unseren Knaben …«

«Unser Knabe, wie Sie sich ausdrücken, ist Nick Fairclough. Die Story, die Sie schreiben, handelt von ihm, wenn ich mich recht erinnere. Und um diese Story sexy zu machen, sind Sie nach Cumbria gefahren, und sexy wird sie durch Scotland Yard. Und das auch nur dann, wenn der Typ von Scotland Yard gegen Fairclough ermittelt. Zed, mein Junge, muss ich die Arbeit für Sie erledigen, oder kriegen Sie das alleine geregelt?«

«Ich kriege das geregelt, keine Sorge. Aber da bisher immer noch kein Detective von Scotland Yard hier aufgetaucht ist …«

«Das ist es, was Sie da oben machen? Sie warten darauf, dass irgendein Detective von Scotland Yard auftaucht? Herrgott noch mal, Zed. Was für ein Reporter sind Sie eigentlich? Ich sag Ihnen eins: Wenn dieser Credwell …«

«Cresswell. Ian Cresswell. Er hat hier ein Haus, und in dem Haus wohnen seine Kinder, zusammen mit irgendeinem Kerl, soweit ich weiß. Wenn dieser Typ also das Haus erbt, oder die Kinder, und …«

«Es interessiert mich einen Scheißdreck, wer das Haus erbt, wem es gehört oder ob es Tango tanzt, wenn keiner kuckt. Und es interessiert mich einen Scheißdreck, ob dieser Cresswell ermordet wurde. Ich will wissen, was Scotland Yard da oben zu suchen hat. Und wenn die nicht hinter Nicholas Fairclough her sind, dann ist Ihre Story tot, und Sie machen, dass Sie auf schnellstem Weg nach London zurückkommen. Haben wir uns verstanden?«

«Ich habe verstanden, aber …«

«Gut. Dann kümmern Sie sich jetzt um Fairclough, und gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Oder kommen Sie zurück nach London, hängen Ihren Job an den Nagel und verdienen Ihre Brötchen mit dem Verfassen von Texten für Grußkarten. Solche, die sich reimen.«

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. Trotzdem sagte Zed:»Okay.«

Also gut, dachte Zed. Er würde sich dem Thema Nicholas Fairclough und Scotland Yard widmen. Aber zuerst wollte er herausfinden, was in dem verfluchten Testament stand, denn sein Bauch sagte ihm, dass dieses Testament für verschiedene Personen in Cumbria von entscheidender Bedeutung war.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Lynley traf sich mit St. James in der Hotelbar. Bei ein paar Gläsern mittelmäßigen Portweins gingen sie die Informationen durch, die sie bisher gesammelt hatten. St. James, stellte Lynley fest, war derselben Meinung wie er. Sie mussten die fehlenden Steine des Anlegers bergen, und St. James musste sie untersuchen. Das Bootshaus selbst würde er sich auch gern einmal genauer ansehen, sagte er Lynley, aber er wusste nicht, wie sie das bewerkstelligen sollten, ohne ihre Tarnung aufzugeben.

«Ich schätze, die fliegt irgendwann sowieso auf«, bemerkte Lynley.»Ich weiß wirklich nicht, wie lange ich glaubwürdig den neugierigen Besucher mimen kann. Faircloughs Frau weiß übrigens inzwischen Bescheid. Er hat sie eingeweiht.«

«Das erleichtert die Sache ein wenig.«

«In gewisser Weise, da gebe ich dir recht, Simon. Denn es gibt mehr als einen Grund, warum du dir das Bootshaus ansehen musst.«

«Was meinst du damit?«, fragte Deborah. Sie hatte ihre Digitalkamera auf dem Tisch neben ihrem Portweinglas abgestellt und ein kleines Notizbuch aus ihrer Handtasche genommen. Sie nahm ihre Rolle bei dieser kleinen Ermittlung sehr ernst, dachte Lynley. Er lächelte sie an, dankbar für die Gesellschaft seiner alten Freunde.

«Ian Cresswell ist nicht regelmäßig mit dem Skullboot rausgefahren«, sagte Lynley zu Deborah.»Aber Valerie Fairclough geht mehrmals die Woche rudern. Das Skullboot war zwar an der Stelle vertäut, wo die beiden Steine sich gelockert hatten, allerdings hatte es dort nicht seinen festen Platz. Offenbar vertäut jeder sein Boot dort, wo gerade eine Stelle frei ist.«

«Aber jemand, der gesehen hat, wo das Skullboot vertäut war, hätte die Steine lockern können, während Ian auf dem See war, richtig?«, sagte Deborah.

«Das müsste dann jemand gewesen sein, der auf dem Anwesen wohnt«, sagte St. James.»War Nicholas Fairclough an dem Abend dort?«

«Wenn, dann hat ihn niemand gesehen. «Lynley wandte sich an Deborah.»Was für einen Eindruck hattest du von Fairclough?«

«Ich fand ihn sehr sympathisch. Und seine Frau ist sehr schön, Tommy. Ich glaube, sie könnte einen Mönch dazu bringen, seine Gelübde zu vergessen. Sie müsste dazu nur mit den Wimpern klimpern.«

«Also eine Affäre zwischen ihr und Cresswell?«, überlegte St. James laut.»Und Nicholas hat Cresswell zur Rede gestellt?«

«Unwahrscheinlich, da Cresswell homosexuell war.«

«Oder bisexuell.«

«Und da ist noch etwas«, sagte Deborah.»Oder eigentlich sind es zwei Dinge. Vielleicht sind sie ja auch vollkommen unwichtig, aber wenn ihr möchtet, dass ich von allem berichte, was mir auffällt …«

«Auf jeden Fall«, sagte Lynley.

«Also. Alatea Fairclough hatte eine Ausgabe der Zeitschrift Conception auf dem Tisch liegen. Im hinteren Teil waren mehrere Seiten herausgerissen, und wir sollten uns vielleicht diese Ausgabe besorgen und uns ansehen, was das für Seiten sind. Nicholas hat mir erzählt, sie wünschen sich ein Kind.«

St. James räusperte sich. Sein Gesichtsausdruck besagte, dass die Zeitschrift nichts zu bedeuten hatte und dass sie außer Deborah niemandem aufgefallen wäre.

Anscheinend hatte Deborah den Blick ihres Mannes genauso interpretiert, denn sie sagte:»Das hat nichts mit mir zu tun, Simon. Tommy interessiert sich für alles Auffällige, und ich dachte … Also, ich habe mich gefragt: Was ist, wenn die Drogensucht Nicholas unfruchtbar gemacht hat und Alatea nicht möchte, dass er das erfährt? Vielleicht hat ein Arzt sie darüber informiert, ihn aber nicht. Oder sie hat einen Arzt überredet, Nicholas die Wahrheit vorzuenthalten, weil ihn das sonst in eine schwere Krise stürzen könnte. Was wäre also, wenn Alatea in dieser Situation Ian gebeten hat auszuhelfen — wenn ihr versteht, was ich meine.«

«Damit es in der Familie bleibt?«, fragte Lynley.»Möglich ist alles.«

«Und noch etwas«, sagte Deborah.»Ein Journalist von der Source …«

«Großer Gott.«

«… ist viermal bei ihnen gewesen, angeblich, um einen längeren Artikel über Nicholas zu schreiben. Viermal, und es ist nichts dabei herausgekommen, Tommy. Einer der Männer, die an dem Wehrturmprojekt arbeiten, hat es mir erzählt.«

«Wenn die Source einen Reporter hier raufschickt, dann hat irgendeiner Dreck am Stecken«, bemerkt St. James.

Lynley überlegte, wer das sein könnte. Er sagte:»Cresswells Lebensgefährte hat anscheinend seit einiger Zeit auf Ireleth Hall zu tun. Er arbeitet für Valerie. Sein Name ist Kaveh Mehran.«

«PC Schlicht hat mir von dem Mann erzählt«, sagte St. James.»Hat er ein Motiv?«

«Wir müssen uns noch das Testament und die Lebensversicherungspolice ansehen.«

«Sonst noch jemand?«

«Mit einem Motiv?«Lynley berichtete den beiden von seiner Begegnung mit Mignon Fairclough: von ihren Andeutungen über die Ehe ihrer Eltern, die sie später wieder zurückgenommen hatte.»Sie ist eine ziemlich harte Nuss«, sagte er.»Und ich habe den Eindruck, dass sie ihre Eltern mit irgendetwas in der Hand hat. Es wäre also kein Fehler, wenn wir uns Bernard Fairclough selbst einmal vorknöpfen würden.«

«Erpressung? Und Cresswell wusste Bescheid?«

«Sie wohnt auf dem Anwesen, aber nicht im Haus. Und es gibt noch eine zweite Schwester. Die habe ich allerdings noch nicht kennengelernt.«

Er berichtete ihnen, dass Bernard Fairclough ihm ein Video gegeben hatte mit der Bemerkung, falls tatsächlich jemand bei Ians Tod seine Hände im Spiel gehabt habe, dann müsse er sich» etwas sehr Verräterisches ansehen«.

Es handelte sich um ein Video von der Beerdigung, das aufgenommen worden war, um es Ians Vater in Kenia zu schicken, der zu schwach war, um nach England zu kommen und seinem Sohn die letzte Ehre zu erweisen. Fairclough hatte es sich mit Lynley gemeinsam angesehen, und er hatte Lynley auf etwas aufmerksam machen wollen, was in dem Video fehlte. Niamh Cresswell, Ians Witwe und Mutter seiner zwei Kinder, war nicht zur Beerdigung erschienen. Fairclough hatte betont, dass sie mindestens ihren armen Kindern zuliebe hätte kommen müssen.

«Er hat mir einiges über Ian Cresswells Ehe erzählt. «Nachdem Lynley ihnen berichtet hatte, was er wusste, sagten St. James und Deborah gleichzeitig:»Ein Motiv, Tommy.«

«Die Hölle selbst kann nicht wüten wie eine verschmähte Frau. Ja. Aber es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass Niamh Cresswell um Ireleth Hall herumschleichen könnte, ohne gesehen zu werden, und bisher hat noch niemand erwähnt, dass sie dort gesehen wurde.«

«Trotzdem«, sagte St. James,»müssen wir sie überprüfen. Rache ist ein starkes Motiv.«

«Habgier ebenfalls«, sagte Deborah.»Aber das gilt für alle Todsünden, nicht wahr? Warum heißen sie sonst Todsünden?«

Lynley nickte.»Wir werden also überprüfen müssen, ob sie von Ians Tod profitiert — abgesehen davon, dass sie ihre Rache bekommen hat«, sagte er.

«Und damit wären wir wieder bei dem Testament. Oder bei einer Versicherungspolice«, sagte St. James.»Diese Informationen werden nicht leicht zu bekommen sein, wenn du weiterhin geheim halten willst, warum du dich in Cumbria aufhältst, Tommy.«

«Ja, ich kann das nicht selbst machen, da hast du recht«, sagte Lynley.»Aber es gibt jemanden, der das kann.«

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Als sie sich schließlich voneinander verabschiedeten, war es für Lynley zu spät, um den geplanten Anruf zu tätigen. Er würde stattdessen Isabelle anrufen. Denn er musste zugeben, dass sie ihm fehlte. Gleichzeitig war er froh, weit weg von ihr zu sein. Das hatte nichts damit zu tun, dass er ihrer überdrüssig geworden wäre. Es hatte damit zu tun, dass er wissen wollte, was er wirklich für sie empfand. Er wusste, dass ihm ihr Körper fehlte. Jetzt musste sich nur noch herausstellen, ob ihm auch alles andere fehlte, was Isabelle Ardery ausmachte.

In Ireleth Hall angekommen, rief er sie von seinem Handy aus an. Er stand neben dem Healey Elliott, gab die Nummer ein und wartete. Wie sehr er sich doch wünschte, sie wäre bei ihm. Er wollte wieder eine Frau haben, mit der er locker und selbstverständlich reden konnte — beim Frühstück, beim Abendessen, abends im Bett vor dem Einschlafen oder wenn einer von ihnen in der Badewanne lag. Zum ersten Mal jedoch wurde ihm bewusst, dass diese Frau nicht mehr ausschließlich Helen sein musste, dass es auch eine andere sein konnte. Und das fühlte sich an wie Verrat an seiner geliebten Frau, die ohne eigenes Verschulden durch einen sinnlosen Akt der Gewalt aus dem Leben gerissen worden war. Aber dass solcherlei Gefühle in ihm aufkamen, bedeutete auch, dass er dabei war, wieder in sein normales Leben zurückzukehren. Und er wusste, dass Helen ihm das gewünscht hätte.

Am anderen Ende der Leitung hörte es auf zu klingeln, er hörte ein leises» Verdammt«, dann ein Krachen, als Isabelles Handy irgendwo aufschlug, dann war es still.

«Isabelle?«, sagte er.»Bist du da?«Er wartete. Nichts. Noch einmal sagte er ihren Namen. Als sie sich nicht meldete, ging er aus der Leitung. Offenbar war die Verbindung unterbrochen worden.

Er gab ihre Nummer noch einmal ein. Es klingelte. Und klingelte. Vielleicht saß sie im Auto und konnte nicht rangehen. Oder sie stand unter der Dusche. Oder sie war mit etwas beschäftigt, das …

«Hallo? Tommy? Hassu grade angerufen?«Dann ein Geräusch, das er nicht hören wollte, etwas, das mit ihrem Handy kollidierte, ein Glas, eine Flasche, es spielte keine Rolle.»Hab grad an dich gedacht, und schwupp! So was nennt man Telepe… Tele… Telepathie!«

«Isabelle …«Mehr brachte Lynley nicht über die Lippen. Er beendete das Gespräch, steckte sein Handy ein und ging auf sein Zimmer.

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