28. Oktober

MARYLEBONE — LONDON

Es gelang ihm, ihr zwei Tage lang aus dem Weg zu gehen, obwohl er sich einredete, dass das gar nicht seine Absicht war, schließlich hatte er an diesen beiden Tagen sowieso an den Königlichen Gerichtshöfen zu tun. Dort musste er als Zeuge in einem Prozess gegen einen Serienmörder aussagen, mit dem er im vergangenen Februar in sehr engen und beinahe tödlichen Kontakt gekommen war. Nachdem seine Anwesenheit in Gerichtssaal Nummer eins nicht mehr gebraucht wurde, lehnte er höflich die Anfragen von drei Journalisten nach einem Interview ab, da er wusste, dass sie bei dem einzigen Thema landen würden, über das er nicht sprechen konnte — den Tod seiner Frau. Stattdessen kehrte Lynley unverzüglich in den Yard zurück. Isabelle zitierte ihn zu sich und fragte ihn, wie nicht anders zu erwarten, ob er ihr aus dem Weg gegangen sei, da er nicht sie, sondern die Sekretärin der Abteilung über seine Abwesenheit informiert hatte. Selbstverständlich sei er ihr nicht aus dem Weg gegangen, antwortete er, dazu habe er nicht den geringsten Grund, er sei ebenso wie seine langjährige Partnerin DS Barbara Havers bei Gericht gewesen. Und Isabelle werde wohl kaum annehmen, dass DS Havers ihr ebenfalls aus dem Weg ging, oder?

Die letzte Bemerkung hätte er sich sparen sollen, denn sie war allzu verräterisch. Er hatte tatsächlich kein Bedürfnis gehabt, mit Isabelle zu reden, ehe er sich nicht selbst darüber im Klaren war, warum er sich vor ihrer Haustür so unmöglich aufgeführt hatte. Isabelle erklärte, selbstverständlich glaube sie, dass DS Havers ihr aus dem Weg gehe, weil sie das grundsätzlich tat. Worauf er erwiderte, das sei ja durchaus möglich, aber seine Absicht sei es jedenfalls nicht gewesen.

Isabelle sagte:»Du bist wütend, und das ist dein gutes Recht, Tommy. Es war nicht in Ordnung, wie ich mich verhalten habe. Bob war plötzlich mit den Kindern bei mir aufgetaucht, und ich war total durch den Wind. Aber versuch mal, es aus meiner Sicht zu sehen. Bob ist durchaus zuzutrauen, dass er hier in der oberen Etage anruft und sagt: ›Wissen Sie eigentlich, dass Detective Superintendent Ardery mit einem Untergebenen vögelt? Ich dachte nur, dass Sie das vielleicht interessiert.‹ Der würde das fertigbringen, da bin ich mir ganz sicher. Und du weißt ganz genau, was dann passieren würde.«

Er fand das ziemlich paranoid, doch das sagte er nicht. Das würde nur zu einem Streit führen, wenn nicht hier in ihrem Zimmer, dann an einem anderen Ort. Er murmelte:»Vielleicht hast du recht«, und als sie darauf erwiderte:»Also …?«, wusste er, dass das ihre Art war zu fragen:»Heute Abend?«, damit sie nachholen konnten, was sie hatten verschieben müssen. Steaks, Wein und heißer, sehr, sehr guter Sex. Und genau das, dachte er, war es, was ihn an ihr faszinierte. Isabelle war erfindungsreich und aufregend im Bett, und das Bett war der einzige Ort, wo er ihr Meister sein konnte.

Er dachte gerade über ihr Angebot nach, als Dorothea Harriman, die gertenschlanke, stets todschick gekleidete Abteilungssekretärin in der Tür erschien, die er offen gelassen hatte.»Detective Inspector Lynley?«Als er sich umdrehte, fuhr sie fort:»Da war gerade ein Anruf. Ich fürchte, Sie werden gewünscht.«

«Von wem?«Er vermutete, dass er aus irgendeinem Grund noch einmal zum Gericht musste.

«Von seiner Hoheit.«

«Ah. «Also nicht das Gericht. Seine Hoheit war Sir David Hillier. Wenn Hillier rief, kam man seinem Wunsch sofort nach.»Jetzt gleich?«, fragte er.

«Sieht so aus. Aber er ist nicht hier. Sie sollen zu ihm in den Club kommen.«

«Um die Zeit? Was macht er denn jetzt in seinem Club?«

Harriman zuckte die Achseln.»Keine Ahnung. Aber Sie sollen so schnell wie möglich hinfahren. Wenn der Verkehr es zulässt, möchte er Sie in einer Viertelstunde sehen, das hat seine Sekretärin betont.«

«Tja, da kann man wohl nichts machen. «Er wandte sich an Isabelle.»Wenn Sie mich entschuldigen wollen, Chefin?«Sie nickte knapp, und er machte sich auf den Weg, ohne dass zwischen ihnen etwas geklärt worden wäre.

Sir David Hilliers Club lag in der Nähe des Portland Place, und die Vorstellung, dass Lynley von New Scotland Yard aus in einer Viertelstunde dorthin gelangen konnte, war geradezu lächerlich. Aber da es sich um etwas Dringendes zu handeln schien, nahm er sich ein Taxi und sagte dem Fahrer, er solle Vollgas geben und um Himmels willen den Piccadilly Circus vermeiden, der um diese Zeit regelmäßig verstopft war. Auf diese Weise schaffte er es in zweiundzwanzig Minuten zum Twins Club, was für diese Uhrzeit ein Rekord sein musste.

Der Twins Club war in drei Stadtvillen untergebracht, einer der wenigen Komplexe in der Gegend, die im neunzehnten Jahrhundert nicht irgendeinem wahnwitzigen Stadtumbauprojekt zum Opfer gefallen waren. Nur eine diskrete Bronzetafel und eine blaue Flagge mit dem Konterfei der namengebenden Gründer wies auf den Club hin. Nach dem Bild zu urteilen musste es sich bei den Brüdern um siamesische Zwillinge gehandelt haben. Soweit Lynley wusste, hatte niemand die Geschichte des Clubs so weit erforscht, dass bekannt wäre, ob es sich dabei um Wahrheit oder Legende handelte.

Er wurde nicht von einem Portier eingelassen, sondern von einer älteren, ganz in Schwarz gekleideten Dame mit einem frischgestärkten weißen Schürzchen vor der Brust. Sie wirkte wie eine Gestalt aus einem anderen Jahrhundert, und sie bewegte sich auch so. In einer Eingangshalle mit schachbrettartigem Marmorboden, an deren Wänden viktorianische Gemälde von zweifelhafter Qualität hingen, trug Lynley sein Anliegen vor, woraufhin die Frau nickte und sich merkwürdig steif umdrehte. Lynley folgte ihr zu einer Tür rechts von einer eindrucksvollen Treppe, die an einem Zwischengeschoss vorbei in den ersten Stock führte.

Die Frau klopfte an eine Tür, ließ Lynley in einen mit dunklem Holz getäfelten Speisesaal eintreten und schloss die Tür hinter ihm. Zu dieser Stunde waren keine Essensgäste anwesend, aber an einem der mit weißem Damast gedeckten Tische saßen zwei Männer. Vor ihnen standen eine Kaffeekanne aus Porzellan und drei dazu passende Tassen.

Einer der beiden Herren war der Assistant Commissioner, und der andere war ein Mann mit Brille, der für die Tageszeit und für den Ort zu elegant gekleidet war, was eigentlich auch für Hillier galt. Die beiden wirkten etwa gleichaltrig, doch im Gegensatz zu Hillier hatte der andere Mann einen Glatzenansatz, den er noch dadurch betonte, dass er das verbliebene Haar mit Pomade nach hinten gekämmt trug. Sein Haar war völlig gleichmäßig in der Farbe — mausbraun traf es am ehesten —, also offenbar gefärbt. Auf seiner Nase saß eine altmodische Brille mit einem klobigen schwarzen Gestell. Zu allem Überfluss hatte er eine auffallend dicke Oberlippe, die überhaupt nicht zu seiner Unterlippe passte, so dass er aussah wie seine eigene Karikatur. Von irgendwoher kannte Lynley den Mann, auch wenn ihm jetzt sein Name nicht einfiel.

Hillier half ihm auf die Sprünge.»Bernard Fairclough«, sagte er.»Baron von Ireleth. Bernard, das ist DI Lynley.«

Fairclough nickte. Er war viel kleiner als Lynley und Hillier, vielleicht eins fünfundsechzig, und er trug einen ordentlichen Bauch vor sich her. Sein Händedruck war fest, und während des nun folgenden Gesprächs legte alles, was er tat oder sagte, den Schluss nahe, dass er willensstark und selbstbewusst war.

«David hat mir von Ihnen erzählt«, sagte Fairclough.»Ich hoffe, wir können gut zusammenarbeiten. «Sein Akzent deutete darauf hin, dass er aus dem Norden stammte, und seine Art zu sprechen überraschte Lynley. Sie ließ vermuten, dass er über seine Teenagerzeit hinaus keine weitere Schulausbildung genossen hatte. Lynley schaute kurz zu Hillier hinüber. Es passte zu seinem Chef, mit jemandem zu verkehren, der einen Titel besaß. Andererseits passte es überhaupt nicht zu ihm, mit jemandem zu verkehren, der diesen Titel nicht geerbt, sondern über die Honours List verliehen bekommen hatte.

«Lord Fairclough und ich wurden am selben Tag geadelt«, sagte Hillier, als müsste er klarstellen, warum er mit dem Mann zu tun hatte.»Fairclough Industries«, fügte er noch hinzu, als könne die Nennung der Quelle von Faircloughs Reichtum — so er denn über welchen verfügte — alles erklären.

«Ah«, sagte Lynley.

Fairclough lächelte.»Der Fairloo«, sagte er zur Erklärung.

Jetzt begriff Lynley. Bernard Fairclough hatte sich ursprünglich einen Namen gemacht mit der Erfindung einer außergewöhnlichen Toilette, die von Fairclough Industries produziert und vertrieben wurde. Aber seinen Platz am Himmel derer, die von der dankbaren Nation mit Titeln bedacht wurden, hatte er sich mit der Einrichtung einer gemeinnützigen Stiftung verdient, die sich die Erforschung von Bauchspeicheldrüsenkrebs zum Ziel gesetzt hatte. Trotzdem wurde der Name Fairclough nach wie vor mit der Toilette assoziiert, was für große Heiterkeit gesorgt hatte, als die Boulevardpresse über Faircloughs Adelung und Ernennung zum Baron berichtet hatte.

Mit einer Geste bot Hillier Lynley einen Stuhl an. Ohne zu fragen, schenkte er ihm eine Tasse Kaffee ein und schob sie samt Milchkännchen und Zuckerdose über den Tisch, während Lynley und Fairclough sich setzten.

«Bernard hat uns um einen Gefallen gebeten«, sagte Hillier.»Die Sache ist streng vertraulich.«

Daher also das Treffen im Twins Club, dachte Lynley. Und das erklärte auch, warum man ihn zu einer Tageszeit in den Club bestellt hatte, zu der die einzigen anwesenden Clubmitglieder entweder in der Bibliothek über ihren Zeitungen eingeschlafen waren oder im Fitnessraum im Kellergeschoss Squash spielten. Lynley nickte, sagte jedoch nichts. Er schaute Fairclough an, der ein weißes Taschentuch aus der Tasche zog und sich damit die Stirn betupfte, die von einem zarten Schweißfilm bedeckt war. Es war nicht besonders warm im Raum.

Er sagte:»Mein Neffe — Ian Cresswell, der Sohn meiner verstorbenen Schwester — ist vor zehn Tagen ertrunken. Am Südende des Lake Windermere, kurz nach sieben Uhr abends. Seine Leiche wurde erst am nächsten Morgen gefunden. Meine Frau hat sie entdeckt.«

«Das tut mir leid«, sagte Lynley. Es war natürlich eine automatische Reaktion auf eine solche Nachricht, und Fairclough schien sie zu überhören.

«Valerie angelt gern«, fuhr er fort, eine Bemerkung, die überflüssig erschien, bis er hinzufügte:»Mehrmals in der Woche fährt sie mit einem kleinen Ruderboot raus. Seltsames Hobby für eine Frau, aber nun ja. Das macht sie schon seit Jahren. Das Boot liegt zusammen mit mehreren anderen Booten in einem Bootshaus auf unserem Anwesen, und dort hat sie Ians Leiche gefunden. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser und hatte eine klaffende Wunde am Hinterkopf, die natürlich nicht mehr blutete.«

«Was ist Ihrer Meinung nach passiert?«

«Er ist ausgerutscht, als er aus seinem Skullboot gestiegen ist. So hielt er sich fit. Also mit Rudern, meine ich. Er ist ausgerutscht, mit dem Kopf auf dem Anleger aufgeschlagen — der ist gemauert — und ins Wasser gefallen.«

«Konnte er nicht schwimmen, oder war er bewusstlos?«

«Letzteres. Laut Autopsiebericht.«

«Aber Sie sehen das anders?«

Fairclough drehte sich um. Er schien ein Gemälde über dem offenen Kamin zu betrachten — eine Zirkusszene, die an Hogarths Zyklus» Werdegang eines Wüstlings «erinnerte und Figuren aus einer Monstrositätenschau zeigte. Was für die Theorie mit den siamesischen Zwillingen sprechen würde. Die wären natürlich im Zirkus aufgetreten. Fairclough betrachtete die Szene nachdenklich, dann sagte er schließlich:»Er ist gestürzt, weil zwei Steine in dem Anleger locker waren.«

«Verstehe.«

Hillier mischte sich ein.»Bernard hält es für möglich, dass die Steine sich nicht von allein gelockert haben, Tommy. Das Bootshaus steht schon seit über hundert Jahren da, und es hält noch weitere hundert. Und der Anleger ebenfalls.«

«Aber wenn der Gerichtsmediziner zu dem Schluss gekommen ist, dass es ein Unfall …«

«Ich zweifle ja nicht direkt an seinem Urteil«, sagte Fairclough hastig.»Aber …«Er schaute Hillier an, als hoffte er, der würde den Satz für ihn beenden.

Was Hillier tat.»Bernard will sich einfach vergewissern, dass es wirklich ein Unfall war, das würde jedem so gehen. Es gibt familiäre Anliegen.«

«Familiäre Anliegen welcher Art?«

Die beiden Männer schwiegen. Lynley schaute erst Hillier, dann Fairclough an.»Ich kann Ihnen keine Gewissheit in einer Sache verschaffen, über die ich im Dunkeln gelassen werde, Lord Fairclough.«

«Bitte, nennen Sie mich Bernard«, sagte Fairclough, obwohl Hilliers warnender Blick an seine Adresse andeutete, dass derlei Vertraulichkeiten nur das Übliche zur Folge haben würden.»In der Familie nennen mich alle Bernie, aber Bernard ist in Ordnung. «Fairclough nahm seine Kaffeetasse. Hillier hatte ihm gerade nachgeschenkt, aber es schien, als brauchte Fairclough die Tasse eher zur Beschäftigung seiner Hände als zum Trinken. Er drehte sie hin und her, betrachtete sie eingehend und sagte dann:»Ich möchte Gewissheit darüber haben, dass mein Sohn Nicholas nichts mit dem Tod meines Neffen zu tun hat.«

Lynley ließ die Information erst einmal sacken und fragte sich, was sie über den Vater, den Sohn und den Neffen aussagte. Er fragte:»Haben Sie Grund zu der Annahme, Ihr Sohn könnte etwas damit zu tun haben?«

«Nein.«

«Also?«

Wieder der hilfesuchende Blick zu Hillier, der sofort reagierte:»Nicholas hatte eine … na ja, sagen wir, eine schwierige Kindheit und Jugend. Er scheint das alles überwunden zu haben, aber Bernard fürchtet dennoch, der Junge …«

«Er ist inzwischen erwachsen«, fiel Fairclough ihm ins Wort.»Er ist zweiunddreißig. Verheiratet. Wenn ich ihn sehe, habe ich den Eindruck, dass sich alles geändert hat. Er scheint sich geändert zu haben. Trotzdem: Er hat Drogen genommen, alle möglichen Drogen, vor allem Methamphetamine, und zwar jahrelang, seit er ungefähr dreizehn war. Er kann von Glück reden, dass er überhaupt noch lebt, und er schwört, dass ihm das klar ist. Aber das hat er jedes Mal gesagt.«

Während Lynley sich das alles anhörte, dämmerte ihm allmählich, warum man ausgerechnet ihn um Hilfe bat. Er hatte mit Hillier nie über seinen Bruder gesprochen, doch Hillier hatte Spione in jeder Abteilung der Metropolitan Police, und warum sollte sich unter all den Informationen, die er sammelte, nicht ein Bericht über Peter Lynleys Kampf gegen die Drogensucht befunden haben?

«Dann hat er eine Argentinierin kennengelernt«, fuhr Bernard fort.»Eine echte Schönheit. Er hat sich unsterblich in sie verliebt, aber sie wollte nichts mit ihm zu tun haben, solange er an den Drogen hing. Also hat er eine Entziehungskur gemacht. Zumindest sieht es so aus.«

Für Lynley erhöhte das die Wahrscheinlichkeit, dass Nicholas nichts mit dem Tod seines Vetters zu tun hatte, aber er wartete auf mehr Informationen, die Fairclough nur häppchenweise preisgab. Offenbar war der Tote bei den Faircloughs aufgewachsen. Er hatte die Rolle des großen Bruders innegehabt und war mit so großen Schritten vorangegangen, dass der jüngere Nicholas keine Chance gehabt hatte, ihm zu folgen. Ian Cresswell hatte das Elite-Internat St. Bees in Cumbria besucht und danach die Universität. Nach Abschluss des Studiums war er nicht nur als Finanzchef bei Fairclough Industries eingestellt worden, sondern hatte auch die persönlichen Finanzgeschäfte von Bernard Fairclough verwaltet. Und dabei schien es um beträchtliche Summen gegangen zu sein.

«Bisher ist noch keine Entscheidung darüber gefällt worden, wer einmal die Leitung der Firma übernimmt, wenn ich nicht mehr da bin«, sagte Fairclough.»Aber Ian stand natürlich ganz oben auf der Liste.«

«Wusste Nicholas davon?«

«Jeder wusste das.«

«Heißt das, dass Nicholas von Ians Tod profitiert?«

«Wie gesagt, es war — und ist — noch keine Entscheidung getroffen worden.«

Wenn also jeder gewusst hatte, dass Ian die Firma übernehmen sollte, dann hatte auch so gut wie jeder — ein Mordmotiv, dachte Lynley. Falls es Mord gewesen war. Aber wenn der Gerichtsmediziner einen Unfall als Todesursache festgestellt hatte, dann hätte Fairclough eigentlich erleichtert sein müssen, was offenbar nicht der Fall war. Fairclough wollte also, dass sein Sohn am Tod seines Vetters schuld war. Es war pervers, doch in all den Jahren bei der Met hatte Lynley Perversion in allen möglichen Schattierungen erlebt.

«Wer genau ist jeder?«, fragte Lynley.»Ich vermute, es gibt noch andere außer Nicholas, die ein persönliches Interesse an Fairclough Industries haben.«

Mit seiner Vermutung lag er richtig: Es gab zwei ältere Schwestern und einen ehemaligen Schwiegersohn, aber einzig wegen seines Sohnes war Fairclough beunruhigt. Über die anderen brauche Lynley sich keine Gedanken zu machen, die seien alle keine Mörder. Zu einem Mord wären die nicht fähig, Nicholas dagegen durchaus. Außerdem, bei seiner Vergangenheit … Man wolle sich nur vergewissern, dass er mit der Sache nichts zu tun hatte. Man wolle lediglich Klarheit schaffen.

«Ich möchte, dass Sie das übernehmen«, sagte Hillier zu Lynley.»Dazu werden Sie sich nach Cumbria begeben müssen, und die ganze Sache muss mit äußerster Diskretion behandelt werden.«

Polizeiliche Ermittlungen und äußerste Diskretion, dachte Lynley. Er fragte sich, wie er das bewerkstelligen sollte.

Hillier klärte ihn auf.»Niemand wird erfahren, dass Sie nach Cumbria gefahren sind. Und die Polizei vor Ort wird nicht informiert. Wir wollen nicht den Eindruck erwecken, dass sich die IPCC für die Angelegenheit interessiert. Wir wollen niemandem auf die Füße treten, aber auch nichts unversucht lassen. Sie wissen doch, wie man so was macht.«

Er wusste es nicht. Und es gab noch etwas, weswegen er Bedenken hatte.»Superintendent Ardery wird wissen wollen …«

«Superintendent Ardery können Sie getrost mir überlassen. Und auch alle anderen.«

«Ich soll das also ganz allein durchziehen?«

«Niemand von Scotland Yard darf davon erfahren«, sagte Hillier.

Lynley verstand die Welt nicht mehr, denn falls sich herausstellen sollte, dass Nicholas ein Mörder war, sollte er anscheinend überhaupt nichts unternehmen. Er sollte Nicholas seinem Vater überlassen oder vielleicht auch dem lieben Gott. Mit dieser Art von Ermittlung wollte Lynley nichts zu tun haben. Aber es handelte sich nicht um einen Gefallen, um den Hillier ihn bat, sondern um eine dienstliche Anweisung.

FLEET STREET — LONDON

Rodney Aronson hatte sich mit fairen und unfairen Methoden bis zu seiner derzeitigen Position bei der Source hochgearbeitet, und eine der unfairen Methoden bestand im Heranzüchten einer beeindruckenden Schar von Spitzeln und Informanten. Er befand sich genau da, wo er hingewollt hatte, nämlich in einem imposanten, wenn auch etwas chaotischen Büro, von dem aus er uneingeschränkte Macht ausüben konnte. Was jedoch nicht hieß, dass es nichts mehr gab, worüber er sich beklagen könnte. Er hasste Arroganz, er hasste Heuchelei, er hasste Dummheit. Und ganz besonders und vor allen Dingen hasste er Inkompetenz.

Um an einer Story dranzubleiben, brauchte man kein Genie zu sein. Auch nicht, um sie ein bisschen aufzupeppen. Um an einer Story dranzubleiben, brauchte man drei Dinge: einen guten Riecher, gute Schuhsohlen und Hartnäckigkeit. Um eine Story aufzupeppen, musste man bereit sein, seinen Mitmenschen zuzusetzen, bis sie winselten, und sie notfalls zu zerquetschen. Und wenn Letzteres voraussetzte, dass der Reporter sich ein bisschen aufs Glatteis begab, wo war das Problem? Es ging um die Story, die dabei herauskam, und wenn die groß und sensationell genug war, schnellten die Verkaufszahlen in die Höhe. Hohe Verkaufszahlen bedeuteten hohe Werbeeinnahmen, die wiederum hohe Gewinne bedeuteten, was den scheintoten Peter Ogilvie, den Verleger der Source, in Verzückung versetzte. Und Ogilvie musste unter allen Umständen bei Laune gehalten werden. Wenn das einem Kollegen den Ruf oder den Kopf kostete, spielte das keine Rolle.

Zugegeben, bei der Geschichte über Nicholas Faircloughs wundersame Heilung von der Drogensucht waren einem die Füße eingeschlafen. Sie war so sterbenslangweilig, dass man sie anstelle von Betäubungsmitteln in OPs hätte einsetzen können. Aber jetzt sah die Sache auf einmal ganz anders aus. Anscheinend würde Rodney die Kosten für Zed Benjamins erste Fahrt nach Cumbria gar nicht rechtfertigen müssen, egal wie viel Geld der da aus dem Fenster geworfen hatte.

Dieser Gedanke brachte ihn wiederum auf ein ganz anderes Thema: journalistische Dummheit. Rodney konnte nicht begreifen, wie dieser Idiot es zum zweiten Mal geschafft hatte, eine Geschichte zu übersehen, die direkt vor seiner Nase lag. Nach fünf weiteren Tagen in Cumbria hatte er nichts weiter zu bieten als zusätzliche Ausschmückungen seines Rührstücks über Nicholas Fairclough — über seine Vergangenheit im Drogensumpf, seine wundersame Rettung und seine Zukunft als Heiliger. Abgesehen davon enthielt die Story überhaupt nichts, was den typischen Source-Leser interessierte. Nichts und wieder nichts.

Benjamin hatte ihm zerknirscht erklärt, es gebe einfach nichts, was er seinem Text noch hinzufügen könne, und Rodney wusste, dass er diesen Hornochsen hätte auf der Stelle rauswerfen sollen. Hochkant. Er wusste selbst nicht, warum er es nicht getan hatte, und anfangs hatte er schon befürchtet, er würde allmählich weichherzig. Doch dann hatte einer seiner Spione angerufen und ihm einen wahrhaft pikanten Tipp gegeben, und jetzt dachte Rodney, dass er Benjamin vielleicht gar nicht zu feuern brauchte.

Was der Spion ihm erzählt hatte, war eine Offenbarung gewesen, und da Rodney Aronson Offenbarungen beinahe genauso liebte wie alles, was Kakao enthielt, zitierte er den rothaarigen Hünen in sein Zimmer und genehmigte sich einen Kitkat-Riegel, den er mit einem Espresso aus seiner persönlichen Maschine hinunterspülte. Die Espressomaschine war ein Geschenk von Butterball Betsy, einer verheirateten Fau, die sehr fantasievoll war, wenn es darum ging, ihm eine Freude zu bereiten. Dass die meisten Freuden kulinarischer Natur waren, tat nichts zur Sache.

Rodney hatte den Kitkat-Riegel aufgegessen und war gerade dabei, sich eine zweite Tasse Espresso zu machen, als er hörte, wie Zed ins Zimmer getrampelt kam. Nicht zu fassen, dass der Mann immer noch mit dieser Mütze rumlief, dachte Rodney und seufzte. Wahrscheinlich hatte dieser Trottel schon das zweite Mal mit seinem Kepi auf dem Kopf ganz Cumbria unsicher gemacht und jeden potentiellen Informanten abgeschreckt, dachte Rodney. Er schüttelte resigniert den Kopf. Mit welchem Blödsinn er sich als Chefredakteur der Source herumschlagen musste, das ging einfach auf keine Kuhhaut. Rodney beschloss, kein Wort mehr über die Kopfbedeckung zu verlieren. Er hatte Zed Benjamin einmal auf das Problem aufmerksam gemacht, und wenn der Typ nicht auf ihn hören wollte, dann sollte er doch mit seinen spinnerten Marotten untergehen. Entweder er lernte aus seinen Fehlern oder nicht, und Rodney konnte sich sowieso schon denken, was wahrscheinlicher war. Ende der Geschichte.

«Machen Sie die Tür zu«, sagte er zu Benjamin.»Setzen Sie sich. Einen Moment noch. «Er bewunderte den Schaum auf seinem Espresso und schaltete die Maschine aus. Dann ging er mit der Tasse an seinen Schreibtisch und setzte sich.»Der Tod ist sexy«, sagte er.»Ich hatte angenommen, dass Sie da selbst drauf kommen würden, aber anscheinend war das zu viel verlangt. So leid es mit tut, Zedekiah, aber offenbar sind Sie für diesen Job nicht geeignet.«

Zed schaute ihn an. Er betrachtete die Wand. Er blickte zu Boden. Schließlich sagte er:»Der Tod ist sexy. «Er sagte es so langsam, dass Rodney sich fragte, ob sein Verstand sich in einem ähnlichen Zustand befand wie seine Fußbekleidung, denn der Mann trug nicht etwa anständige Schuhe, sondern seltsame Sandalen mit Sohlen aus alten Autoreifen und dazu gestreifte, offenbar aus bunten Wollresten handgestrickte Socken.

«Ich habe Ihnen gesagt, die Story ist nicht sexy genug. Sie sind ein zweites Mal nach Cumbria gefahren, um dafür zu sorgen, dass sie sexy wird. Dass Ihnen das nicht gelungen ist, kann ich mehr oder weniger verstehen. Aber ich kann nicht verstehen, wie Sie das Ereignis verpennen konnten, das Ihre Story hätte retten können. Sie hätten wie ein geölter Blitz zurückkommen und rufen müssen Heureka! oder Jupiduh! oder Jesus, Maria und Josef, ich bin gerettet! Na ja, Letzteres wohl eher nicht, aber die Sache ist die: Man hat Ihnen die Rettung Ihrer Geschichte auf einem silbernen Tablett serviert — und damit auch gleich die Rechtfertigung für die horrenden Spesen, die Sie gemacht haben —, und Sie kriegen noch nicht mal mit, wenn etwas passiert. Dass ich das alles selbst rausfinden musste, gibt mir schwer zu denken, Zed.«

«Sie wollte immer noch nicht mit mir reden, Rodney. Ich meine, sie hat geredet, aber sie hat mir nichts gesagt. Sie findet, sie ist nicht wichtig. Sie ist seine Frau. Sie haben sich kennengelernt, haben sich verliebt, haben geheiratet, sind nach England gekommen, und mehr gibt’s zu ihr nicht zu sagen. Mehr war einfach nicht …«

«Ich weiß, dass Sie nicht blöd sind«, fiel Rodney ihm ins Wort,»aber allmählich habe ich den Eindruck, dass Sie taub sind. Der Tod ist sexy, habe ich gesagt. Das haben Sie doch gehört, oder?«

«Äh, ja, hab ich. Und sie ist sehr sexy. Die Ehefrau. Da müsste man schon blind sein …«

«Vergessen Sie die Frau, verdammt. Die ist doch nicht tot, oder?«

«Tot? Äh, nein. Ich meine, ich dachte, das wäre eine Metapher gewesen, Rodney.«

Rodney leerte seine Tasse, um dem jungen Mann nicht den Hals umzudrehen, was er am liebsten getan hätte. Dann sagte er:»Glauben Sie mir, wenn ich anfange, in Scheißmetaphern zu reden, dann werden Sie das merken. Ist Ihnen bekannt, dass der Vetter Ihres Helden das Zeitliche gesegnet hat? Und zwar erst kürzlich? Dass er vor einem Bootshaus ins Wasser gefallen und ertrunken ist? Und dass das Bootshaus dem Vater Ihres Helden gehört?«

«Ertrunken? Während ich da oben war? Unmöglich«, entgegnete Zed.»Sie mögen mich ja für blind halten, Rodney …«

«Da will ich Ihnen nicht widersprechen.«

«… aber das wäre mir mit Sicherheit nicht entgangen. Wann ist er denn gestorben? Und von welchem Vetter ist hier die Rede?«

«Gibt es denn mehr als einen?«

Zed rutschte auf seinem Stuhl herum.»Na ja, nicht dass ich wüsste. Ian Cresswell ist ertrunken?«

«So ist es.«

«War es Mord?«

«Ein Unfall, laut Untersuchungsbericht. Aber darum geht es nicht, denn dieser Todesfall ist hübsch verdächtig, und der Verdacht ist unser täglich Brot. Das war übrigens eine Metapher, falls Ihnen das entgangen sein sollte. Und wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist — noch eine Metapher, ich habe gerade einen Höhenflug —, und sehen, was ans Licht kommt, wenn wir auf den Busch klopfen.«

«Das ist ein schiefes Bild«, murmelte Zed.

«Was?«

«Schon gut. Sie wollen also, dass ich das tue? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll ich andeuten, dass Grund zu der Annahme besteht, dass da jemand nachgeholfen hat. Und dass es sich bei diesem Jemand um Nicholas Fairclough handelt. Ich sehe schon, wie das zusammenpasst: Der ehemalige Junkie wird rückfällig und bringt aus irgendeinem rätselhaften Grund seinen Vetter um die Ecke, und, man höre und staune, liebe Leser, er kommt damit auch noch ungeschoren davon. «Zed schlug sich mit den Händen auf die Schenkel, als wollte er aufstehen und Rodneys Befehl sofort ausführen. Doch stattdessen sagte er:»Die beiden sind aufgewachsen wie Brüder, Rodney. Das steht in meinem ursprünglichen Artikel. Und sie haben sich nicht gehasst. Aber wenn Sie das wünschen, kann ich es natürlich so darstellen wie eine Kain-und-Abel-Geschichte.«

«Reden Sie nicht in diesem Ton mit mir«, sagte Rodney.

«In welchem Ton?«

«Sie wissen verdammt genau, was ich meine. Ich sollte Ihnen eigentlich einen Arschtritt verpassen, aber ich werde Ihnen stattdessen einen Gefallen tun. Ich werde drei kleine Worte aussprechen, die Sie hoffentlich aufhorchen lassen. Hören Sie zu, Zed? Ich möchte nicht, dass Ihnen das entgeht. Jetzt geht’s los: New Scotland Yard.«

Das, so stellte Rodney voller Befriedigung fest, holte Zed Benjamin von seinem hohen Ross. Der Reporter runzelte die Stirn und überlegte. Schließlich sagte er:»Was ist mit New Scotland Yard?«

«Die ermitteln.«

«Die ermitteln wegen eines Ertrunkenen?«

«Ich sage noch etwas viel Besseres. Die schicken einen da rauf, einen mit ganz leisen Sohlen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und es ist keiner, der die Arbeit der örtlichen Polizei unter die Lupe nehmen soll.«

«Es handelt sich also nicht um interne Ermittlungen? Was ist es dann?«

«Ein Sonderauftrag. Streng geheim und unter der Hand. Offenbar soll er sich da oben ein Bild machen, alles doppelt und dreifach überprüfen und anschließend Bericht erstatten.«

«Wieso?«

«Das ist die Story, Zed. Das ist es, was den Tod sexy macht. «Am liebsten hätte Rodney hinzugefügt, dass Zed das selbst hätte herausfinden können, wenn er sich in die Sache reingehängt hätte. Jedenfalls hätte er, Rodney Aronson, das getan, wenn sein Chef ihm eine Geschichte in der Luft zerrissen und sein Job auf dem Spiel gestanden hätte.

«Ich soll also nichts erfinden, um die Story sexy zu machen«, sagte Zed, als müsste das noch klargestellt werden.»Sie meinen also, es ist alles schon da.«

«Bei der Source«, psalmodierte Rodney,»brauchen wir nichts zu erfinden. Wir brauchen die Informationen nur zu finden

«Darf ich fragen … woher Sie das alles wissen? Das mit Scotland Yard, meine ich. Woher wissen Sie, dass die ermitteln, wenn die Sache streng geheim ist?«

Dies war einer der Momente, in denen väterliche Überlegenheit gefragt war, und Rodney liebte diese Momente. Er stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und platzierte eine ausladende Gesäßhälfte auf der Tischkante. Das war nicht unbedingt bequem, doch Rodney fand, dass diese Position ihn als alten Hasen ausweisen und das, was er Zed zu sagen hatte, unterstreichen würde.»Zedekiah, ich bin in diesem Geschäft, seit ich ein Teenager war. Ich habe da gesessen, wo Sie jetzt sitzen, und ich habe eins gelernt: Wir sind nichts ohne die Informanten, die wir pflegen, und ich habe sie von Edinburgh bis London gepflegt, an jedem Ort gepflegt, an den es mich je verschlagen hat. Vor allem in London, mein Freund. Ich habe Spione an Orten, die von manchen Menschen nicht einmal als Orte wahrgenommen werden. Ich tue ihnen allen immer wieder einen Gefallen, und sie zeigen sich erkenntlich, wann immer sie können.«

Benjamin wirkte angemessen beeindruckt. Ja, er war von Ehrfurcht ergriffen. Er sah sich einem erfahrenen Journalisten gegenüber, dem er nicht das Wasser reichen konnte, und das schien er endlich begriffen zu haben.

Rodney war in seinem Element.»Nicholas Faircloughs Vater hat Beziehungen zur Met. Er ist derjenige, der um die Ermittlung gebeten hat. Kann ich davon ausgehen, dass Sie kapieren, was das bedeutet, Zed?«

«Er glaubt also nicht, dass Ian Cresswell durch einen Unfall ertrunken ist. Und wenn es kein Unfall war, dann haben wir eine Story. Wir haben so oder so eine Story, weil Scotland Yard da oben rumschnüffelt, was die Vermutung nahelegt, dass es da oben nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Und Vermutungen sind das, was wir für eine Story brauchen.«

CHALK FARM — LONDON

Detective Sergeant Barbara Havers hatte ziemlich schlechte Laune, über deren Ursache sie lieber nicht nachdenken wollte. Eigentlich hätte sie dankbar sein sollen, denn immerhin hatte sie ganz in der Nähe von Eton Villas einen Parkplatz gefunden, aber irgendwie konnte sie sich gar nicht darüber freuen, dass sie nicht so einen weiten Fußweg bis zu ihrer Haustür zurücklegen musste. Wie üblich stotterte der Mini noch ein paarmal, nachdem Barbara den Zündschlüssel umgedreht hatte, was sie jedoch nicht einmal registrierte. Regentropfen begannen auf die Windschutzscheibe zu pladdern, doch auch davon nahm sie kaum Notiz. Sie konnte an nichts anderes denken als an das, was sie schon auf der ganzen Fahrt vom Yard bis hierher — bis auf eine kurze Ablenkung — beschäftigt hatte. Zwar sagte ihr eine innere Stimme, dass sie sich ziemlich kindisch aufführte, aber die Stimme war leider nicht laut genug, um die Gedanken zu verscheuchen.

Niemand hatte es bemerkt, dachte Barbara, absolut niemand. Na ja, Detective Superintendent Ardery hatte es bemerkt, doch die zählte nicht, denn die hatte es schließlich angeordnet — auch wenn sie behauptete, es sei lediglich ein Vorschlag gewesen. Nach vier Monaten Dienst unter der neuen Chefin wusste Barbara allerdings, dass die alles registrierte. Schon allein aus Gewohnheit. Sie schien geradezu eine hohe Kunst daraus gemacht zu haben. Alle anderen jedoch waren, als Barbara von ihrem letzten Zahnarzttermin zurück in den Yard gekommen war, weiter ihrer Arbeit nachgegangen, ohne eine Bemerkung zu machen, ohne eine Braue zu heben oder sonst irgendwie zu reagieren.

Barbara redete sich ein, dass ihr das nichts ausmachte, und das stimmte sogar, denn eigentlich war es ihr bei den meisten Kollegen egal, ob sie sie beachteten. Von einem bestimmten Kollegen allerdings wünschte sie durchaus beachtet zu werden, und der Frust darüber, dass er sie nicht beachtet hatte, machte ihr zu schaffen und wollte besänftigt werden, am besten mit etwas Süßem. Ein Schoko-Croissant wäre nicht schlecht, aber die bekam man nur vormittags. Für eine komplette Sachertorte dagegen war es nicht zu spät. Andererseits wusste Barbara, dass sie Wochen brauchen würde, um die Unmengen an Kalorien wieder abzubauen, und deswegen hatte sie auf dem Heimweg nicht an einer Bäckerei gehalten, sondern an einer Boutique auf der Camden High Street. Dort hatte sie sich ein Halstuch und eine Bluse gekauft und darüber jubiliert, dass das überhaupt nicht dem entsprach, wie sie normalerweise auf Stress, Frust oder Angstzustände reagierte. Aber dieses Hochgefühl hatte nur angehalten, bis sie ihren Mini geparkt hatte, denn da war ihr ihre letzte Begegnung mit Thomas Lynley wieder eingefallen.

Nachdem sie am Morgen ihre Aussagen vor Gericht gemacht hatten, war Lynley zurück in den Yard gefahren, und Barbara war zum Zahnarzt gegangen. Erst am späten Nachmittag waren sie sich im Aufzug wieder begegnet. Barbara kam gerade aus der Tiefgarage, und Lynley stieg im Erdgeschoss zu. Sie sah ihm sofort an, dass er in Gedanken versunken war. Als sie am Vormittag vor dem Gerichtssaal Nr. 1 gewartet hatten, war er ebenfalls in sich gekehrt gewesen, aber sie hatte vermutet, dass das mit seiner bevorstehenden Aussage zu tun hatte — vor ein paar Monaten erst war er mit knapper Not in dem Tatfahrzeug dem Tod entronnen. Aber diesmal schien ihn etwas ganz anderes zu beunruhigen, und als er, kaum dass die Aufzugtüren sich geöffnet hatten, im Zimmer von Superintendent Ardery verschwunden war, glaubte Barbara auch zu wissen, was es war.

Lynley glaubte, sie wüsste nicht, was zwischen ihm und Ardery ablief, und sie konnte sich denken, wie er zu dieser Annahme kam. Keiner im Yard ahnte, dass Lynley und Ardery es zwei-, manchmal dreimal pro Woche miteinander trieben, aber keiner im Yard kannte Lynley so gut wie Barbara. Eigentlich konnte sie sich sowieso nicht vorstellen, dass irgendjemand Lust haben könnte, mit Superintendent Ardery zu vögeln — das musste ja sein, als würde man mit einer Kobra ins Bett gehen. Andererseits versuchte sie seit vier Monaten sich einzureden, dass Lynley es zumindest verdient hatte, etwas Schönes zu erleben. Seine Frau war vor ihrer eigenen Haustür von einem Zwölfjährigen erschossen worden, danach war er fünf Monate lang allein wie von Sinnen an der Küste von Cornwall entlanggewandert und ziemlich neben der Spur gewesen, als er nach London zurückgekommen war … Wenn er das fragliche Vergnügen brauchte, seine Chefin eine Zeitlang flachzulegen, bitte sehr. Sie konnten beide in große Schwierigkeiten geraten, wenn irgendjemand Wind von der Affäre bekam. Doch es würde ohnehin niemand davon erfahren, weil die beiden sehr diskret vorgingen und Barbara schweigen würde wie ein Grab. Zudem würde Lynley sich garantiert nicht auf Dauer an eine wie Isabelle Ardery binden. Der Mann konnte auf dreihundert Jahre Familiengeschichte zurückblicken, er kannte seine Pflichten, und die hatten nichts zu tun mit einer zeitweiligen Affäre mit einer Frau, an der der Titel Countess of Asherton hängen würde wie ein Mühlstein. Von einem Mann wie ihm wurde erwartet, dass er standesgemäße Nachkommen produzierte, die den Familiennamen in die Zukunft trugen. Das wusste er, und er würde sich entsprechend verhalten.

Trotzdem konnte Barbara sich nicht so recht damit abfinden, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Das Wissen darum stand jedes Mal unausgesprochen im Raum, wenn sie mit Lynley zu tun hatte. Sie fand das unerträglich. Nicht die Affäre selbst, sondern die Tatsache, dass er nicht mir ihr darüber redete. Nicht dass sie das von ihm erwartet hätte. Nicht dass sie das wirklich wollte. Nicht dass sie gewusst hätte, was sie sagen sollte, falls er tatsächlich eine Bemerkung darüber machte. Aber sie waren Partner, sie und Lynley, oder zumindest waren sie Partner gewesen, und Partner sollten doch — ja was eigentlich? fragte sie sich. Doch das war eine Frage, die sie sich lieber nicht beantwortete.

Sie öffnete die Fahrertür. Es regnete nicht so stark, dass es sich gelohnt hätte, einen Schirm zu benutzen. Sie schlug ihren Kragen hoch, nahm die Tüte mit ihren neuen Errungenschaften vom Beifahrersitz und eilte nach Hause.

Wie immer warf sie einen Blick zu den Fenstern der Parterrewohnung in dem edwardianischen Haus, hinter dem sie wohnte. Es wurde schon dunkel, und es brannte Licht. Sie sah ihre Nachbarin an der Terrassentür vorbeigehen.

Also gut, dachte sie, sie war bereit, es sich einzugestehen. Sie wollte, dass jemand es bemerkte. Sie hatte stundenlang im Zahnarztstuhl ausgeharrt, und ihre einzige Belohnung war ein knappes Nicken von Isabelle Ardery gewesen, begleitet von der Bemerkung:»Als Nächstes kümmern Sie sich um Ihre Frisur, Sergeant. «Anstatt also dem Weg hinters Haus zu folgen, wo unter einer riesigen Robinie der Bungalow stand, in dem sie wohnte, klopfte Barbara an die Tür der Erdgeschosswohnung. Die Anerkennung einer Neunjährigen war besser als nichts.

Hadiyyah öffnete, obwohl ihre Mutter sie schalt:»Liebes, das sollst du doch nicht tun! Man kann nie wissen, wer draußen steht!«

«Ich bin’s nur!«, rief Barbara.

«Barbara, Barbara!«, jauchzte Hadiyyah.»Mummy, es ist Barbara! Sollen wir ihr zeigen, was wir gemacht haben?«

«Natürlich, Liebes. Bitte sie herein.«

Es roch nach frischer Farbe in der Wohnung, und Barbara sah sofort, was Mutter und Tochter vollbracht hatten. Das Wohnzimmer war frisch gestrichen. Angelina Upman war dabei, der Wohnung ihren Stempel aufzudrücken. Auf dem Sofa lagen neue Kissen, und es gab zwei Vasen mit frischen Schnittblumen: einen kurzen, künstlerisch arrangierten Strauß auf dem Sofatisch und einen großen bunten auf dem Kaminsims.

«Ist das nicht hübsch?«Hadiyyah schaute ihre Mutter so bewundernd an, dass es Barbara die Kehle zuschnürte.»Mummy kennt sich mit so was aus, und es ist gar nicht schwer, stimmt’s, Mummy?«

Angelina drückte ihrer Tochter einen Kuss auf den Kopf, dann hob sie zärtlich mit einem Finger ihr Kinn an und sagte:»Du, mein Schatz, bist meine größte Bewunderin, und dafür danke ich dir. Aber ich möchte eine objektivere Meinung hören. «Sie lächelte Barbara an.»Was meinen Sie, Barbara? Ist unsere Arbeit von Erfolg gekrönt?«

«Es soll eine Überraschung sein«, sagte Hadiyyah.»Dad weiß gar nichts davon.«

Sie hatten die ehemals schmutzig weißen Wände hellgrün gestrichen. Es war eine Farbe, die sehr gut zu Angelina passte, was ihr natürlich bewusst war. Gute Wahl, dachte Barbara. Das frühlingshafte Grün ließ die Frau noch attraktiver wirken, als sie es ohnehin schon war: blond, blauäugig, feenhaft.

«Schöne Farbe«, sagte Barbara zu Hadiyyah.»Hast du geholfen, sie auszusuchen?«

«Na ja …«Hadiyyah trat von einem Fuß auf den anderen. Sie schaute zu ihrer Mutter hoch und biss sich auf die Lippe.

«Selbstverständlich«, log Angelina.»Ich habe ihr die endgültige Entscheidung überlassen. Sie würde eine gute Innenarchitektin abgeben, aber da wird ihr Vater noch ein Wörtchen mitzureden haben. Er möchte, dass du mal etwas Naturwissenschaftliches studierst, meine Kleine.«

«Bäh«, machte Hadiyyah.»Ich will Tänzerin werden, so, jetzt wisst ihr’s.«

Das war Barbara neu, doch es wunderte sie nicht. Sie wusste, dass Angelina angeblich versucht hatte, sich während der vierzehn Monate, die sie aus dem Leben ihrer Tochter verschwunden war, als Profitänzerin zu etablieren. Dass sie nicht allein verschwunden war, hatte man Hadiyyah nicht erzählt.

Angelina lachte.»Tänzerin? Das bleibt aber am besten unter uns. «Zu Barbara sagte sie:»Möchten Sie eine Tasse Tee mit uns trinken, Barbara? Hadiyyah, setz schon mal Wasser auf. Nach der vielen Arbeit müssen wir uns ein bisschen ausruhen.«

«Danke, ich kann nicht bleiben«, sagte Barbara.»Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um …«

Barbara wurde bewusst, dass die beiden es auch nicht bemerkt hatten. Endlose Stunden in dem verdammten Zahnarztstuhl und niemandem fiel etwas auf … und das bedeutete … Sie riss sich zusammen. Gott, was war bloß mit ihr los?

Ihr fiel die Tüte ein, die sie in der Hand hielt.»Ich hab mir auf der High Street ein paar Sachen gekauft und wollte mal sehen, ob sie Hadiyyah gefallen, damit ich sie morgen anziehen kann.«

«Au ja!«, rief Hadiyyah.»Zeig mal her! Mummy, Barbara macht sich neuerdings richtig schick. Sie hat sich neue Sachen gekauft und alles. Zuerst wollte sie zu Marks & Spencer gehen, aber das hab ich ihr ausgeredet. Na ja, einen Rock haben wir da gekauft, nicht wahr, Barbara. Das war dann auch alles, weil ich ihr nämlich gesagt hab, dass da nur alte Frauen einkaufen …«

«Das stimmt nicht ganz, mein Schatz«, sagte Angelina.

«Also, du sagst doch immer …«

«Ich rede viel dummes Zeug, das du gar nicht beachten solltest. Zeigen Sie mal her, Barbara. Oder ziehen Sie die Sachen doch mal kurz über.«

«Ja, ja, zieh sie an!«, sagte Hadiyyah.»Du musst sie anziehen. Du kannst in mein Zimmer gehen …«

«Da herrscht das totale Chaos«, sagte Angelina.»Gehen Sie lieber in unser Schlafzimmer, Barbara. Ich mache inzwischen Tee.«

Und so fand Barbara sich in dem Zimmer wieder, das sie freiwillig nie aufgesucht hätte: im Schlafzimmer von Angelina Upman und Hadiyyahs Vater Taymullah Azhar. Sie machte die Tür zu und atmete tief durch. Sie schloss die Augen. Sie würde das überstehen. Sie brauchte nur die Bluse aus der Tüte zu nehmen, die auszuziehen, die sie anhatte … Sie brauchte ihren Blick nur auf das zu richten, was sich direkt vor ihrer Nase befand.

Was ihr natürlich nicht gelang, auch wenn sie über die Gründe dafür lieber nicht nachdachte. Und sie sah genau das, was zu erwarten war: Spuren von einem Mann und einer Frau, die ein Paar waren und ein gemeinsames Kind hatten. Nicht dass sie versuchten, ein weiteres zu zeugen, dagegen sprach der Streifen Antibabypillen, der auf Angelinas Nachttisch neben einem Radiowecker lag. Aber was die Anwesenheit der Pillen bedeutete, war klar.

Na und? fragte sich Barbara entnervt. Was zum Teufel hatte sie denn erwartet, und was ging sie das alles überhaupt an? Taymullah Azhar und Angelina Upman schliefen miteinander. Oder besser, sie schliefen wieder miteinander, nachdem Angelina plötzlich in Azhars Leben zurückgekehrt war. Dass sie ihn wegen eines anderen verlassen hatte, war offenbar vergeben und vergessen. Und jetzt waren sie alle glücklich und zufrieden. Was sie eigentlich auch sein sollte, dachte Barbara.

Sie knöpfte die Bluse zu und versuchte, ein paar Knitterfalten glattzustreichen. Dann nahm sie das Halstuch aus der Tüte, das sie passend zu der Bluse gekauft hatte, und band es sich ungeschickt um den Hals. Sie trat vor den Spiegel an der Zimmertür und betrachtete sich darin. Es sah grässlich aus. Sie hätte sich doch für die Torte entscheiden sollen, dachte sie. Das wäre billiger und unendlich viel befriedigender gewesen.

«Bist du schon umgezogen, Barbara?«, fragte Hadiyyah durch die geschlossene Tür.»Mummy will wissen, ob du Hilfe brauchst.«

«Nein, nein, schon fertig«, rief Barbara.»Ich komme jetzt raus. Hast du deine Sonnenbrille auf? Mach dich darauf gefasst, dass du geblendet wirst.«

Schweigen empfing sie. Dann sagten Hadiyyah und ihre Mutter wie aus einem Mund:»Gute Wahl, Barbara!«(Angelina)»O nein! Du hast vergessen, was wir über die Gesichtsform und den Halsausschnitt gelernt haben!«(Hadiyyah). Im Ton schierer Verzweiflung fügte Hadiyyah noch hinzu:»Die sollen sich entsprechen, Barbara, hast du das denn schon ganz vergessen?«

Wieder ein Fehlkauf, dachte Barbara. Es hatte durchaus seinen Grund, warum sie die letzten fünfzehn Jahre nichts als bedruckte T-Shirts und Hosen mit Gummizug getragen hatte.

«Hadiyyah!«, ermahnte Angelina ihre Tochter.

«Aber sie sollte Sachen mit rundem Halsausschnitt tragen, und sie hat …«

«Liebes, sie hat nur das Halstuch nicht richtig gebunden. Man kann denselben Effekt erzielen, indem man das Halstuch rund bindet … Kommen Sie, Barbara, lassen Sie mich mal machen.«

«Aber die Farbe, Mummy …«

«… ist perfekt, und es freut mich, dass du das erkannt hast«, sagte Angelina bestimmt. Dann nahm sie Barbara das Halstuch ab und band es ihr mit ein paar unerträglich geschickten Handbewegungen neu. Dabei kam sie Barbara so nah, dass sie ihren Duft wahrnahm: Er erinnerte sie an eine tropische Blume. Und sie hatte die makelloseste Haut, die Barbara je gesehen hatte.»So«, sagte Angelina.»Schauen Sie mal in den Spiegel, Barbara. Sagen Sie mir, was Sie davon halten. Es geht ganz einfach. Ich zeige es Ihnen.«

Barbara ging zurück ins Schlafzimmer, wo immer noch die Pillen lagen, doch diesmal weigerte sie sich hinzusehen. Sie hätte Angelina gern verabscheut — eine Frau, die Mann und Tochter hatte sitzen lassen, um sich über ein Jahr lang mit einem anderen zu amüsieren, was ihr dann auch noch verziehen wurde —, aber es gelang ihr nicht. Wahrscheinlich erklärte das, wie und warum Azhar ihr verziehen hatte.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild und musste zugeben: Die Frau wusste, wie man ein Halstuch band. Und jetzt, wo das Halstuch ordentlich saß, erkannte sie, dass es gar nicht zu der Bluse passte. Verflixt und zugenäht, dachte sie, wann würde sie das endlich lernen?

Sie wollte gerade das Schlafzimmer verlassen, als sie hörte, wie die Wohnungstür sich öffnete und Taymullah Azhar hereinkam. Auf keinen Fall wollte sie von ihm in seinem Eheschlafzimmer erwischt werden. Hastig riss sie sich das Halstuch herunter, zog die Bluse aus, stopfte beides in die Plastiktüte und streifte den Pullover über, den sie zur Arbeit angehabt hatte.

Als sie ins Wohnzimmer trat, stand Azhar mit Hadiyyah an der Hand und Angelina im Arm da und bewunderte die frisch gestrichenen Wände. Er drehte sich um, und an seinem verblüfften Gesicht erkannte Barbara, dass weder Hadiyyah noch Angelina ihn über ihre Anwesenheit informiert hatten.

«Hallo Barbara!«, sagte er.»Und? Wie gefällt Ihnen das Gemeinschaftswerk?«

«Ich werde die beiden anheuern, damit sie meine Bude streichen«, sagte sie.»Was die Farben angeht, hatte ich an Lila und Orange gedacht. Glaubst du, das passt zu mir, Hadiyyah?«

«Nein, nein, nein!«, rief Hadiyyah entsetzt.

Ihre Eltern lachten. Barbara lächelte. Sind wir nicht eine glückliche Familie? dachte sie. Zeit, von der Bühne abzutreten. Sie sagte:»Ich lasse Sie dann mal in Ruhe zu Abend essen. «Und zu Angelina:»Danke für die Hilfe mit dem Halstuch. Ein Riesenunterschied. Wenn Sie mir jeden Morgen beim Anziehen helfen würden, wäre ich alle Probleme los.«

«Jederzeit«, sagte Angelina.»Wirklich.«

Und das meinte sie tatsächlich ernst, verflucht noch mal, dachte Barbara. Diese Frau brachte sie um den Verstand. Wenn sie sich wie ein Miststück verhalten würde, wäre alles viel einfacher.

Sie verabschiedete sich und ging. Sie wunderte sich, als Azhar ihr folgte, begriff jedoch, dass er sich draußen nur eine Zigarette anstecken wollte.

Er sagte:»Glückwunsch, Barbara.«

Sie blieb stehen, drehte sich um und fragte:»Wozu?«

«Zu Ihren Zähnen. Wie ich sehe, haben Sie sie richten lassen, und das sieht hervorragend aus. Aber ich nehme an, das hören Sie schon den ganzen Tag.«

«Ach so. Ja. Danke. Befehl von meiner Chefin. Na ja, nicht direkt, aber sie hat’s mir dringend nahegelegt. Jetzt will sie, dass ich zum Frisör gehe. Keine Ahnung, was danach kommt, wahrscheinlich irgendwas mit Fettabsaugen und Schönheitschirurgie. Wenn die mit mir fertig ist, werd ich mich vor Männern nicht mehr retten können.«

«Sie machen sich darüber lustig, das sollten Sie nicht tun«, sagte Azhar.»Bestimmt haben Angelina und Hadiyyah Ihnen schon gesagt …«

«Nein, haben sie nicht«, fiel Barbara ihm ins Wort.»Aber danke für das Kompliment, Azhar.«

Ironie des Schicksals, dachte sie: ein Kompliment ausgerechnet von dem Mann, von dem sie am allerwenigsten erwartet hätte, dass er ihre Zähne bemerkte, und von dem Mann, von dem sie sich eigentlich keine Aufmerksamkeit erhoffen sollte. Na ja, so oder so, es war nicht so wichtig.

Sie wünschte Taymullah Azhar eine gute Nacht und machte sich mit diesem Selbstbetrug auf den Weg zu ihrem Bungalow.

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