Kap. 10

An einem regnerischen, windigen Herbsttag schrumpfte er wieder in seine eigene Gestalt zurück. Er stand im kalten Wind und zwinkerte sich die Regentropfen aus den Augen, während er sich einer langen, sprachlosen Zeitspanne zu erinnern versuchte. Die Öse, grau wie eine Messerklinge, rann kalt an ihm vorüber; die Felsnadeln des Passes waren halb verborgen unter schweren Wolken. Die Bäume um ihn herum ruhten tief in der Erde, in ihr eigenes Wesen versunken. Sie zogen an ihm. Sein Geist glitt durch ihre zähe, feuchte Rinde, zurück in einen beschaulichen Frieden, der von Baumringen eingeschlossen war. Doch ein Wind wehte zitternd durch seine Erinnerungen, erschütterte einen Berg, schleuderte ihn ins Wasser zurück, zurück in den Regen. Nur widerwillig löste er die Bindung mit der Erde und wandte sich zum Erlenstern-Berg, Er sah die riesige Narbe in seiner Flanke unter einem Dunstschleier. Das dunkle Wasser ergoß sich noch immer aus ihr, um sich mit der Öse zu vereinigen.

Lange blickte er auf den Berg, während er die Fetzen eines finsteren, beängstigenden Traumes zusammensetzte. Seine Bedeutung weckte ihn vollends; er begann im peitschenden Regen zu frösteln. Mit seinem Geist witterte er in den Nachmittag hinein. Er fand niemanden — weder Fallensteller noch Zauberer, noch Gestaltwandler — auf dem Paß. Eine vom Wind geschüttelte Krähe segelte an ihm vorüber; begierig haschte er nach ihrem Geist. Doch sie kannte seine Sprache nicht. Er gab sie wieder frei. Die wilden Winde tosten hohltönend durch die Wipfel; die Bäume um ihn herum ächzten. Sie rochen nach Winter. Nach einer langen Zeit wandte er sich ab und schickte sich an, den Kopf gegen den Wind zwischen die Schultern gezogen, dem Lauf der Öse zurück in die Welt zu folgen.

Doch schon nach ein paar Schritten stand er still und starrte sinnend ins Wasser, das sich schäumend nach Isig und Osterland und zu den nördlichen Handelshäfen des Reiches wälzte. Seine eigenen mächtigen Kräfte fesselten ihn. Nirgendwo im Reich gab es einen Platz für einen Menschen, der die Gesetze des Landrechts löste und die Gestalt des Windes annahm. Aus dem Fluß kam das Echo der Stimmen, die er gehört hatte, die in Zungen sprachen, die nicht einmal die Zauberer verstehen konnten. Er dachte an das dunkle, leere Gesicht des Windes, das der Erhabene war, der sich weigerte, ihm mehr zu geben als gerade sein Leben.

»Und wozu das?« flüsterte er.

Er wollte die Worte plötzlich schreiend gegen das ausdruckslose Gesicht des Erlenstern-Berges schleudern. Der Wind würde seinen Schrei einfach verschlucken. Er ging noch einen Schritt am Fluß hinunter gen Harte, wo er bei Danan Isig Zuflucht und Wärme finden würde. Doch der König konnte ihm keine Antworten geben. Die Vergangenheit hielt ihn gefangen; er war ein Spielball fremder Mächte, die einen uralten Krieg ausfochten, der nie geendet hatte. Und langsam begann er diesen Krieg zu begreifen. Das unbestimmte Verlangen, das sich in ihm rührte, seine eigenen befremdlichen, unberechenbaren Kräfte zu erproben, machten ihm Angst. Lange stand er am Ufer des Flusses, bis die Nebel über den Berggipfeln sich verdunkelten und Schatten die Felshänge des Erlenstern-Bergs überzogen.

Da erst wandte er sich ab, wanderte durch den Regen und eisige Nebelschwaden den Bergen zu, die die nördliche Einöde begrenzten.

Er behielt seine eigene Gestalt bei, als er sie überquerte, obwohl der Regen auf den hohen Gipfeln manchmal zu Schnee wurde und die Felsen unter seinen Händen wie Eis waren. In jenen ersten Tagen hing sein Leben an einem Fädchen, obwohl er sich dessen kaum bewußt war. Er aß, ohne sich zu erinnern, wie er getötet hatte; er wachte des Morgens in einer trockenen Höhle auf, ohne sich zu erinnern, wie er sie gefunden hatte. Doch als er sich allmählich seiner Weigerung bewußt wurde, aus den Kraftquellen zu schöpfen, die in seinem Inneren wohnten, begann er an sein Überleben zu denken. Er erlegte einige wilde Bergschafe, schleppte sie in eine Höhle und häutete sie. Während die Felle trockneten, lebte er von ihrem Fleisch. Er spitzte eine Rippe zu, stach Löcher in die Felle und zog Stoffstreifen, die er von seinem Kittel abgerissen hatte, durch sie hindurch. Er machte sich einen weiten, zottigen Umhang mit einer Kapuze und fütterte seine Stiefel mit Pelz. Dann brach er wieder auf, wanderte die Nordwand des Passes hinunter in die Einöden.

Es regnete kaum, nur die peitschenden, beißenden Winde begleiteten ihn. Nachts gab es Frost, der das flache, eintönige Land bei Sonnenaufgang in weißglühendes Feuer verwandelte. Wie der Geist eines Toten strich er durch das Land, tötete, wenn er hungrig war, schlief im Freien, denn er spürte nur selten die Kälte, so als verschmelze sein Körper ohne sein Wissen mit den Winden. Eines Tages gewahrte er, daß er nicht mehr unter dem Bogen der Sonne hindurchwanderte; er hatte sich nordwärts gewandt, zog gegen Morgen. In der Ferne konnte er eine Hügelkette erkennen, aus deren Mitte schroff, stahlblau der Grimberg emporragte. Doch er war so fern, daß er ihm fremd blieb.

Er wanderte in den Spätherbst hinein und hörte nichts als das Singen der Winde. Eines Abends, als er an seinem Feuer saß und verschwommen wahrnahm, wie die Winde an seiner Gestalt rissen, blickte er nieder und sah die gestirnte Harfe in seinen Händen.

Er konnte sich nicht erinnern, nach ihr gegriffen zu haben. Er betrachtete sie, ließ seinen Blick dem lautlosen Flackern des Feuers folgen, das an ihren Saiten hinunterhuschte. Erst nach einer langen Weile regte er sich und nahm das Instrument auf seine Knie. Seine Finger strichen ziellos, beinahe unhörbar über die Saiten, folgten dem rauhen, wilden Gesang der Winde.

Er verspürte keinen Drang mehr weiterzuziehen. Er blieb an diesem einsamen, abgelegenen Ort in der Einöde, wo es nur ein paar Steine gab, einen vom Wind gebeugten Busch, einen Spalt in der harten Erde, wo ein sickernder Bach emportauchte, nur um wenige Schritte weiter wieder unter der Erde zu verschwinden. Er verließ diesen Platz nur, um zu jagen; und immer fand er seinen Weg zurück zu ihm, als wäre er das Echo seines eigenen Harfenspiels. Er entlockte seiner Harfe die Klänge des Windes, die vom Morgen bis zur Nacht bliesen, manchmal, wenn er den schlanken, wimmernden Ostwind hörte, spielte er nur auf einer einzigen hohen Saite; manchmal spielte er auf allen, während der tiefe Ton grollend das Tosen des Nordwinds wiedergab. Wenn er aufblickte, kam es vor, daß er einen Schneehasen sitzen sah, der ihm lauschte, oder den verwunderten Blick eines weißen Falken auffing. Doch als es tiefer und tiefer in den Herbst hineinging, kamen kaum noch Tiere. Sie zogen sich in die Berge zurück, um dort Nahrung und Zuflucht zu finden. Und so saß er allein und spielte auf seiner Harfe, ein seltsames, pelzbehangenes, namenloses Geschöpf, das keine andere Stimme hatte als die der Harfe zwischen seinen Händen. Sein Körper wurde von den rauhen Winden geschliffen; sein Geist schlief wie die Einöde. Wie lange er dort geblieben wäre, sollte er nie erfahren, eines Abends nämlich, als ein Umspringen des Windes über seinem Feuer ihn aufblicken ließ, sah er Rendel.

Sie war in kostbares, silbernschimmerndes Pelzwerk ge-hüllt; ihr Haar, das der Wind aus der Kapuze gezupft hatte, flatterte wie Feuer in der Dunkelheit. Er saß ganz still. Seine Hände, die auf den Saiten der Harfe lagen, hielten inne. Sie kniete an seinem Feuer nieder, und er sah ihr Gesicht klarer, ein müdes, winterbleiches Gesicht, zu zeitloser Schönheit ge-meißelt. Er fürchtete, sie wäre ein Traum wie das Gesicht, das er im schwarzen Seewasser zwischen seinen Händen gesehen hatte. Dann aber gewahrte er, daß sie heftig zitterte. Sie streifte ihre Handschuhe ab und spann sein im Wind flackern-des Feuer mit ihren Händen zu stillen, hellen Flammen. Schlagartig wurde ihm bewußt, wie lange es her war, seit sie miteinander gesprochen hatten.

»Lungold«, flüsterte er.

Das Wort schien ohne Sinn in der Stille der Einöde. Doch sie hatte die belebte Welt verlassen und sich aufgemacht, ihn hier draußen zu suchen. Er streckte seinen Arm durch das Feuer hindurch und legte seine Hand auf ihre Wange. Stumm sah sie ihn an, als er sich wieder zurücklehnte. Sie zog die Knie an und kuschelte sich zum Schutz gegen den Wind in ihren Pelz.

»Ich habe dein Harfenspiel gehört«, sagte sie.

Lautlos berührten seine Finger die Saiten.

»Ich habe dir versprochen, daß ich es lernen würde.« Seine Stimme war rauh und rostig. »Wo warst du?« fügte er neugierig hinzu. »Du bist mir durch das Hinterland gefolgt; du warst im Erlenstern-Berg bei mir. Dann bist du verschwunden.«

Sie hob wieder den Blick zu ihm auf.

»Ich bin nicht verschwunden. Du bist verschwunden.« Ihre Stimme zitterte plötzlich. »Vom Gesicht des Reiches verschwunden. Die Zauberer haben dich überall gesucht. Und auch die Gestalt —, die Gestaltwandler. Und ich auch. Ich glaubte schon, du wärst tot. Aber hier bist du, allein mit deiner Harfe in diesem Wind, der töten kann, und dir ist nicht einmal kalt.«

Er schwieg. Die Harfe, die mit den Winden gesungen hatte, fühlte sich plötzlich kalt an unter seinen Händen. Er stellte sie neben sich auf den Boden.

»Wie hast du mich gefunden?«

»Ich habe gesucht. In jeder Gestalt, die ich mir denken konnte. Ich dachte, du wärst vielleicht bei den Vestas. Deshalb reiste ich zu Har und bat ihn, mich die Vesta-Gestalt zu lehren. Er fing auch an, aber als er meinen Geist berührte, hielt er inne und sagte mir, er glaubte nicht, daß er mich das lehren müßte. Da mußte ich ihm das natürlich erklären. Und dann mußte ich ihm alles erzählen, was im Erlenstern-Berg geschehen war. Er sagte nichts, nur daß du gefunden werden mußt. Schließlich führte er mich über den Grimberg zu den Vesta-Herden. Und während ich mit ihnen zog, hörte ich von weit her, von fernen Winden getragen dein Harfenspiel. Morgon, wenn ich dich finden kann, dann können es auch andere. Bist du hier herausgezogen, um das Harfenspiel zu erlernen? Oder bist du einfach geflohen?«

»Ich bin einfach geflohen.«

»Und — hast du — hast du vor, zurückzukehren?«

»Wozu?«

Sie blieb stumm. Das Feuer vor ihr flackerte unstet, verwob sich mit dem Wind. Sie machte es wieder still, während ihre Augen unverwandt auf sein Gesicht gerichtet waren. Mit einer heftigen Bewegung sprang sie auf und ging zu ihm und umschlang ihn mit beiden Armen, ihr Gesicht an den zottigen Pelz an seiner Schulter gedrückt.

»Ich könnte mich wohl daran gewöhnen, in der Einöde zu leben«, flüsterte sie. »Es ist so kalt hier, und nichts wächst hier — aber die Winde und dein Harfenspiel sind wunderbar.«

Er senkte den Kopf. Er legte seine Arme um sie und zog ihre Kapuze ein Stück nach hinten, so daß er ihre Wange an der seinen fühlen konnte. Etwas berührte sein Herz, schmerzhafte Kälte, die er erst jetzt endlich spürte, oder vielleicht ein schmerzhaftes Erwachen von Wärme.

»Du hörtest die Stimmen der Gestaltwandler im Erlenstern-Berg«, sagte er stockend. »Du weißt, was sie sind. Sie kennen alle Sprachen. Sie sind Erdherren, die nach Jahrtausenden noch immer mit dem Erhabenen im Krieg liegen. Und ich bin der Köder für ihre Fallen. Das ist der Grund, weshalb sie mich niemals töten. Sie wollen ihn haben. Wenn sie ihn zerstören, dann werden sie das Reich zerstören. Wenn sie mich nicht finden, dann werden sie vielleicht auch ihn nicht finden.«

Sie wollte etwas sagen, doch er ließ sie nicht zu Wort kommen. Seine Stimme, die langsam wieder in Gang kam, klang jetzt härter.

»Du weißt, was ich in dem Berg getan habe. Ich war so erfüllt von Zorn, daß ich hätte morden können, und ich verwandelte mich in Wind, um es zu tun. Einer, der solche Kräfte besitzt, hat nirgends im Reich einen Platz. Was soll ich mit diesen Kräften anfangen? Ich bin der Sternenträger. Ich bin das Versprechen, das von den Toten gegeben wurde, einen Krieg zu führen, der älter ist als die Namen der Königreiche. Mir wurden bei meiner Geburt Kräfte mitgegeben, die mich in meiner eigenen Welt namenlos machen. Und mir wurde auch das ganze schreckliche Verlangen mitgegeben, diese Kräfte zu gebrauchen.«

»Und deshalb kamst du hierher in die Einöde, wo du keinen Grund hattest, sie zu gebrauchen.«

»Ja.«

Sie schob eine Hand unter seine Kapuze, und ihre Finger streichelten seine Stirn und seine vernarbte Wange.

»Morgon«, sagte sie leise, »ich glaube, wenn du sie anwenden wolltest, würdest du es tun. Wenn ich dir einen Grund dafür fände. Du hast mir Grund gegeben, in Lungold und in den Weiten des Hinterlands meine eigenen Kräfte zu gebrauchen. Ich liebe dich, und ich werde für dich kämpfen. Oder mit dir hier in der Einöde sitzen, bis du zu Schnee wirst. Wenn der Ruf der Landherrscher, all jener, die dich lieben, dich nicht dazu bewegen kann, diesen Ort zu verlassen, was dann? Was hat dich in der Dunkelheit des Erlenstern-Bergs verletzt?«

Er schwieg. Die Winde stürzten tosend aus der Nacht und stießen auf das Feuer herab. Sie hatten keine Gesichter, keine Sprache, die er verstehen konnte.

»Der Erhabene kann meinen Namen so wenig sprechen«, flüsterte er, die Augen in die Winde gerichtet, »wie ein Brocken Granit. Wir sind in irgendeiner Weise aneinander gebunden, das weiß ich. Mein Leben ist ihm wert, aber er weiß nicht einmal, was es ist. Ich bin der Sternenträger. Ich will ihm mein Leben geben. Aber nichts sonst. Keine Hoffnung, keine Gerechtigkeit, keine Teilnahme. Diese Worte sind die Worte von Menschen. Hier in der Einöde bin ich für niemanden eine Bedrohung. So bin ich sicher, und so ist der Erhabene sicher, und so bleibt das Reich unerschüttert von Kräften, die zu gebrauchen zu gefährlich ist.«

»Das Reich ist schon erschüttert. Die Landherrscher setzen mehr Hoffnung in dich als in den Erhabenen. Mit dir können sie sprechen.«

»Wenn ich mich in eine Waffe verwandelte, die für die Erdherren kämpft, würdest nicht einmal du mich wiedererkennen.«

»Vielleicht. Du hast mir einmal eine Rätselgeschichte erzählt, als ich vor meinen eigenen Kräften Angst hattql. Über die Frau aus Herun, die ein dunkles, erschreckendes Tip r, dem sie keinen Namen geben konnte, in ihr Haus brachte. Du hast mir nie gesagt, wie die Geschichte endet.«

Er blickte auf. »Sie ist vor Angst gestorben.«

»Und das Tier? Was war es?«

»Das weiß niemand. Es klagte sieben Tage und sieben Nächte lang an ihrem Grab. Seine Stimme war so voll von Liebe und Schmerz, daß keiner, der sie hörte, schlafen oder essen konnte. Und dann starb es auch.«

Sie hob den Kopf. Ihre Lippen waren leicht geöffnet. Ihm fiel plötzlich ein Augenblick aus einer toten Vergangenheit ein: Er saß in einer kleinen steinernen Kammer in Caithnard und studierte Rätselgeschichten und spürte, wie sein Herz bei den unerwarteten Wendungen, die sie nahmen, vor Freude sprang oder vor Entsetzen oder Schmerz kalt wurde.

»Diese Geschichte hat mit mir nichts zu tun«, fügte er hinzu.

»Nein, wahrscheinlich nicht. Du mußt es wissen.«

Er hüllte sich wieder in Schweigen. Sie drückte ihren Kopf in die Höhle seiner Schulter, und sein Arm umschlang sie. Er legte seine Wange auf ihr Haar.

»Ich bin müde«, sagte er einfach. »Ich habe zu viele Rätsel gelöst. Die Erdherren begannen vor den Ursprüngen unserer Geschichte einen Krieg, einen Krieg, der ihre eigenen Kinder tötete. Wenn ich gegen sie kämpfen und siegen könnte, dann würde ich das tun, um des Reiches willen; aber ich glaube, ich würde nur mich selbst und den Erhabenen töten. Und deshalb tue ich das einzige, was mir vernünftig erscheint. Nichts.«

Lange antwortete sie ihm nicht. Er hielt sie ruhig im Arm, während das Feuer ihren Umhang mit silbernem Schimmer überspülte.

»Morgon«, sagte sie schließlich leise, »ein Rätsel gibt es noch, das du vielleicht lösen solltest. Du hast allen Trug von Ghisteslohm abgestreift; du hast den Gestaltwandlern ihren Namen gegeben; du hast den Erhabenen aus seinem Schweigen erweckt. Aber eines gibt es, dem du noch keinen Namen gegeben hast, und es will nicht sterben.«

Ihre Stimme zitterte. Er spürte plötzlich durch den dicken Pelz hindurch den Schlag ihres Herzens.

»Was?« Das Wort war ein Flüstern, das sie nicht gehört haben konnte, aber sie antwortete ihm.

»In Lungold, als ich die Gestalt einer Krähe angenommen hatte, sprach ich mit Yrth. Ich wußte damals noch nicht, daß er blind ist. Auf meiner Suche nach dir war ich in Isig, und dort fand ich ihn wieder. Seine Augen haben die Farbe von lichtgetränktem Wasser. Er sagte mir, daß Ghisteslohm ihn während der Zerstörung von Lungold blendete. Und ich stellte das nicht in Frage. Er ist ein großer, sanfter, steinalter Mann, und Danans Enkelkinder folgten ihm durch den ganzen Berg, wäh-rend er unter den Steinen und zwischen den Bäumen nach dir suchte. Eines Abends brachte Bere eine Harfe, die er selbst ge-macht hatte, in den Saal und bat Yrth, auf ihr zu spielen. Er lachte ein wenig und sagte, wenn er auch einst als der Harfner von Lungold bekannt gewesen wäre, so hätte er doch seit sie-ben Jahrhunderten keine Harfe mehr angerührt. Doch er spielte ein wenig. Und, Morgon, ich kannte dieses Harfen-spiel. Es war das gleiche stockende, zaghafte Zupfen, das dich verfolgte, als wir auf der Handelsstraße reisten, und das dich in Ghisteslohms Gewalt lockte.«

Er hob ihr Gesicht zwischen seinen Händen. Jetzt auf einmal spürte er den Wind, der eisige Kälte in all seine Knochen fegte.

»Was sagst du mir da?«

»Ich weiß es nicht. Aber wie viele blinde Harfner, die nicht auf einer Harfe spielen können, kann es auf der Welt geben?«

Er sog einen Hauch Windes ein; wie eisiges Feuer rann er durch ihn hindurch.

»Er ist tot.«

»Dann ruft er dich aus seinem Grab zum Kampf. Yrth hat an jenem Abend auf der Harfe gespielt, damit ich das Rätsel seines Harfenspiels zu dir bringen würde, ganz gleich, wo im Reich du dich aufhieltest.«

»Weißt du das mit Sicherheit?«

»Nein. Aber ich weiß, daß er dich finden möchte. Und noch etwas weiß ich: Wenn es ein Harfner namens Thod war, der mit dir, wie Yrth es tat, auf der Handelsstraße reiste, dann waren seine Rätsel so fein gesponnen, daß sie selbst Ghisteslohm blendeten. Und selbst dich — den Rätselmeister von Hed. Ich denke, du solltest ihm einen Namen geben. Denn er spielt sein eigenes, geheimes, tödliches Spiel, und es mag sein, daß er der einzige in diesem Reich ist, der wirklich weiß, was er tut.«

»Wer, in Hels Namen, ist er?« Er fröstelte plötzlich unkontrollierbar. »Thod erwarb sich in Caithnard das schwarze Gewand der Meisterschaft. Er war ein Rätselmeister. Er kannte meinen Namen, noch ehe ich ihn kannte. Ich hatte einmal den Verdacht, er könnte ein Zauberer von Lungold sein. Ich fragte ihn danach.«

»Was sagte er?«

»Er sagte, er wäre der Harfner des Erhabenen. Darauf fragte ich ihn, was er in Isig getan hätte, als Yrth meine Harfe machte, hundert Jahre vor seiner Geburt. Und er antwortete, ich sollte ihm vertrauen. Blind vertrauen, tiefer als alle Logik, alle Vernunft und alle Hoffnung. Und dann verriet er mich.« Er zog sie an sich, doch der Wind zwängte sich zwischen sie wie eine Messerklinge. »Es ist kalt. Nie zuvor war es so kalt.«

»Was willst du tun?«

»Was will er? Ist er ein Erdherr, der sein eigenes geheimes Spiel um die Macht treibt? Will er mich lebend oder tot? Will er den Erhabenen lebend oder tot?«

»Ich weiß es nicht. Du bist der Rätsellöser. Er hat dich herausgefordert. Frage ihn.«

Er blieb stumm, während seine Gedanken zu dem Harfner auf der Handelsstraße zurückwanderten, der ihn ohne ein Wort, nur mit den stockenden, verkrüppelten Klängen seiner Harfe aus dem Dunkel der Nacht in Ghisteslohms Hände gelockt hatte.

»Er kennt mich zu genau«, flüsterte er. »Ganz gleich, was er haben will, er wird es bekommen, glaube ich.«

Ein Windstoß fegte über sie hinweg, der nach Schnee roch. Mit eisigen Zähnen nagte er an seinem Gesicht und an seinen Händen, er nahm ihm den Atem, blendete ihn. Er sprang auf, und eine heftige Sehnsucht nach Hoffnung erfüllte ihn plötzlich. Als er wieder sehen konnte, gewahrte er, daß Rendel schon die Gestalt gewechselt hatte. Eine Vesta mit goldenen Hufen und goldenen Hörnern blickte ihn aus tief violetten Augen an. Er streichelte sie; ihr warmer Atem strich über seine Hände. Er drückte seine Stirn gegen den Knochen zwischen ihren Augen.

»Gut«, sagte er mit einem sehr winzigen Funken von Ironie, »ich werde mit Thod einen Rätselkampf austragen. In welcher Richtung liegt Isig?«

Sie führte ihn mit Hilfe der Sonne und der Sterne, zuerst südlich durch die Einöde, dann in östlicher Richtung, die Berghänge des Passes hinunter, bis sie am zweiten Morgen das grüne Antlitz des Berges Isig sahen, das sie jenseits der Öse erwartete. Bei Abenddämmerung an einem grauen, wilden Herbsttag erreichten sie das Haus des Königs. Auf den hohen Gipfeln glänzte schpn Schnee; die mächtigen Fichten rund um Harte sangen im Nordwind. In Kyrth nahmen die Wanderer wieder ihre eigene Gestalt an und stiegen die gewundene Bergstraße hinauf nach Harte. Die Tore waren verriegelt und bewacht, doch die Bergleute, mit breiten Schwertern bewaffnet, die in Danans Öfen geschmiedet waren, erkannten sie und ließen sie ein.

Danan und Veit und ein halbes Dutzend Kinder ließen ihr Nachtmahl stehen, um ihnen entgegenzugehen, als sie das Haus betraten. Danan, in wallendem Pelz, hieß sie beide mit einer bärenhaften Umarmung willkommen und trieb Kinder wie Bedienstete an, für ihr Wohl zu sorgen. Doch da er ihre Erschöpfung sah, stellte er nur eine einzige Frage.

»Ich war in der Einöde«, antwortete Morgon. »Ich habe auf meiner Harfe gespielt. Rendel fand mich.« Ihm fiel nicht auf, wie seltsam diese Antwort war. Sich erinnernd fügte er hinzu: »Davor war ich ein Baum an der Öse.«

Er sah, wie ein Lächeln in den Augen des Königs aufleuchtete.

»Was hab ich Euch gesagt?« murmelte Danan. »Ich habe Euch gesagt, daß Euch in dieser Gestalt keiner finden würde.« Er zog sie zur Treppe, die in den Ostturm hinaufführte. »Ich habe tausend Fragen, aber ich bin ein geduldiger alter Baum, sie können bis morgen warten. Yrth wohnt hier in diesem Turm; bei ihm werdet ihr sicher sein.«

Eine Frage nagte an Morgon, als sie die gewundene Treppe hinaufstiegen, doch es dauerte einen Moment, ehe ihm klarwurde, was ihn bewegte.

»Danan, ich habe Euer Haus nie bewacht erlebt. Waren die Gestaltwandler hier, um mich zu suchen?«

»Ja, sie waren hier«, antwortete der König grimmig. »Ich habe mehrere meiner Bergleute verloren. Ich hätte noch mehr verloren, wenn Yrth nicht hier gewesen wäre, um mit uns zu kämpfen.«

Morgon war stehengeblieben. Der König nahm ihn beim Arm und zog ihn vorwärts.

»Wir haben genug um sie getrauert. Wenn wir nur wüßten, was die Gestaltwandler sind, was sie wollen.« Er witterte etwas in Morgon. Seine grüblerischen Augen zupften erbarmungslos an der Wahrheit. »Ihr wißt es.«

Morgon antwortete nicht. Danan drängte ihn nicht, doch die Furchen in seinem Gesicht vertieften sich.

Er ließ sie in einem Turmzimmer zurück, dessen Wände und Boden und Möbelstücke mit Pelz behangen waren. Die Luft war kühl, Rendel entzündete ein Feuer, und bald danach kamen die Bediensteten mit Speisen und Wein und kostbaren warmen Kleidern. Bere folgte mit einem Kessel dampfenden Wassers. Als er ihn an einem Haken über dem Feuer aufhängte, lächelte er Morgon an, die Augen voller Fragen. Doch er schluckte sie alle mit heldenhafter Anstrengung hinunter. Morgon schlüpfte aus dem verfilzten Schafspelz und aus dem abgetragenen Kittel, um sich den Schmutz vom Körper zu waschen. Als er dann sauber, satt und in Samt und weichen Pelz gekleidet am Feuer saß, dachte er mit ungläubigem Staunen daran zurück, was er getan hatte.

»Ich habe dich verlassen«, sagte er zu Rendel. »Ich kann beinahe alles verstehen, aber das nicht. Ich bin einfach aus der Welt fortgegangen und ließ dich zurück.«

»Du warst müde«, meinte sie schläfrig. »Du hast es selbst gesagt. Vielleicht mußtest du einfach allein sein, um nachzudenken.«

Sie lag ausgestreckt neben ihm in knöcheltiefen Fellen; in ihrer Stimme lag die Wärme von Feuer und Wein, und sie war nahe daran, einzuschlafen.

»Oder vielleicht brauchtest du einfach einen Ort, um anzufangen, auf deiner Harfe zu spielen.«

Ihre Stimme verklang in einem Traum; sie ließ ihn zurück. Er zog Decken über sie, saß eine Weile da, ohne sich zu bewe-gen, während er zusah, wie Licht und Schatten einander auf ih-rem entspannten Gesicht jagten. Die Winde tosten wie Meereswellen um den Turm. In ihnen schwang das Echo eines Tons, der ständig durch seine Erinnerungen geisterte. Automatisch griff er zu seiner Harfe. Dann fiel ihm ein, daß er die-sen Ton in des Königs Haus nicht spielen konnte, ohne seinen Frieden zu stören.

Er spielte andere Töne, Balladen, die in den Gesang des Windes übergingen, der weder Form noch Muster hatte. Nach einer Weile wurden seine Finger still. Immer wieder zupfte er lautlos ein und dieselbe Saite, während sich in den Flammen immer von neuem ein Gesicht bildete und wieder zerfiel. Schließlich stand er auf und lauschte. Das Haus schien still, nur hier und dort war ein fernes Murmeln im Inneren seiner Mauern zu hören. Leise schlich er an Rendel vorbei, an den Wachen vor der Tür, deren Geist er blendete, so daß sie ihn nicht bemerkten. Er stieg die Treppe hinauf zu einer Tür, vor der weiße Felle hingen. Ein dünner Lichtstreifen fiel unter den Behängen nach draußen. Er teilte den Vorhang mit sachter Hand, trat ins Halbdunkel und blieb stehen.

Der Zauberer schlummerte, ein alter Mann, der in einem Sessel am Feuer eingenickt war. Seine von Narben gezeichneten Hände lagen offen auf seinen Knien. Er sah größer aus, als Morgon ihn in Erinnerung hatte, mit breiten Schultern und doch mager und sehnig unter dem langen dunklen Gewand, das er anhatte. Noch während Morgon ihn betrachtete, erwachte er, schlug helle Augen auf, in denen keine Überraschung stand. Seufzend beugte er sich zum Boden nieder, tastete nach Holz und schob es sorgsam in den Kamin, während seine Finger durch die müden Flammen strichen. Das Feuer loderte auf, erhellte ein Gesicht wie aus Granit, so verwittert wie ein Baumstumpf, der undenkliche Zeiten in Sonne, Wind und Regen gestanden hatte. Der Zauberer schien plötzlich zu merken, daß er nicht allein war; einen Herzschlag lang war sein Körper reglos wie Stein. Morgon spürte eine beinahe unmerkliche Berührung in seinem Geist. Der Zauberer regte sich wieder, zwinkerte mit den hellen Augen.

»Morgon?« Seine Stimme war tief und volltönend, gleichzeitig rauh, voll von Geheimnissen wie die Stimme eines tiefen Brunnens. »Tretet ein. Oder seid Ihr schon drinnen?«

Morgon trat näher. »Ich wollte Euch nicht stören«, sagte er leise.

Yrth schüttelte den Kopf.

»Ich hörte vorhin Euer Harfenspiel. Aber ich dachte, ich würde erst morgen mit Euch sprechen können. Danan sagte mir, daß Rendel Euch in der nördlichen Einöde gefunden hat. Wurdet Ihr verfolgt? War das der Grund, weshalb Ihr Euch dort verborgen hieltet?«

»Nein. Ich wanderte ganz einfach dorthin und blieb, weil mir kein Grund einfiel, in die Welt zurückzukehren. Aber dann kam Rendel und gab mir einen Grund.«

Der Zauberer blickte schweigend in die Richtung, aus der seine Stimme kam.

»Ihr seid ein erstaunlicher Mann«, bemerkte er. »Wollt Ihr Euch nicht setzen?«

»Woher wißt Ihr, daß ich nicht sitze?« fragte Morgon neugierig.

»Ich kann den Sessel vor Euch sehen. Spürt Ihr die geistige Verbindung? Ich sehe durch Eure Augen.«

»Ich spüre sie kaum.«

»Das kommt daher, daß ich nicht Eurem Denken und Fühlen verbunden bin, sondern nur Eurem Gesichtssinn. Ich sah die Handelsstraße auf meiner Wanderung durch die Augen fremder Menschen. In der Nacht, als Ihr von Pferdedieben überfallen wurdet, erkannte ich, daß einer von ihnen ein Gestaltwandler war, weil ich durch seine Augen die Sterne sah, die Ihr vor den Menschen verborgen haltet. Ich suchte ihn, um ihn zu töten, doch er entzog sich mir.«

»Und in der Nacht, als ich Thods Harfenspiel folgte? Habt Ihr auch da hinter das Trugbild gesehen?«

Der Zauberer schwieg wieder. Er senkte den Kopf, wandte ihn von Morgon ab; die harten Linien seines Gesichts verzogen sich mit solcher Scham und Bitterkeit, daß Morgon hastig auf ihn zutrat, entsetzt über seine eigene Frage.

»Morgon, verzeiht mir. Mit Ghisteslohm kann ich es nicht aufnehmen.«

»Ihr hättet nichts tun können, um mir zu helfen.« Seine Hände umklammerten den Rücken des Sessels. »Nicht, ohne Rendel in Gefahr zu bringen.«

»Ich tat das wenige, was ich tun konnte. Ich verdichtete die Schleier Eures Trugbildes, als Ihr verschwandet, aber — das war herzlich wenig.«

»Ihr habt uns das Leben gerettet.«

Eine plötzliche, schmerzhafte Erinnerung an das Gesicht des Harfners stieg vor ihm auf, an die Augen, die bleich und ausgebrannt waren vom Feuer und ins Leere starrten. Seine Hände ließen den Rücken des Sessels los und hoben sich über seine Augen. Er hörte, wie Yrth sich bewegte.

»Ich kann nicht sehen.«

Er senkte die Hände. Todmüde ließ er sich in den Sessel fallen. In einem Gewirr von Stimmen strichen die Winde klagend um den Turm. Yrth war still und lauschte seinem Schweigen.

Als Morgon es nicht brach, sagte er sachte: »Rendel hat mir alles, was sie wußte, von den Ereignissen im Erlenstern-Berg erzählt. Ich bin nicht in ihren Geist eingedrungen. Wollt Ihr mich in Eure Erinnerungen blicken lassen? Oder ist es Euch lieber, mir zu berichten? Wie dem auch sei, ich muß es wissen.«

»Nehmt es aus meinem Geist.«

»Seid Ihr jetzt zu müde?«

Er schüttelte ein wenig den Kopf.

»Es spielt keine Rolle. Nehmt Euch, was Ihr wollt.«

Das Feuer schrumpfte vor ihm, zersprang in leuchtende, Fragmente der Erinnerung. Noch einmal machte er seine wilde, einsame Flucht durch das Hinterland durch, stürzte aus dem Himmel in die Tiefen des Erlenstern-Bergs. Der Turm umhüllte sich mit schwarzer Nacht; er schluckte Bitterkeit wie Seewasser. Das Feuer jenseits seiner Augen flüsterte und wisperte in Sprachen, die er nicht verstand. Ein Wind fegte durch die Stimmen und wirbelte sie aus seinem Geist hinaus. Die Steinquader des Turmes erzitterten, vom tiefen Singen eines Windes erschüttert. Dann folgte eine lange Stille, in der er vor sich hindämmerte, erwärmt von sommerlichem Licht. Danach erwachte er wieder, eine seltsame, wilde Gestalt in einem Schafspelz, der dem Wind geöffnet war. Tiefer und tiefer glitt er in die reinen, tödlichen Stimmen des Winters.

Er saß an einem Feuer und lauschte den Winden. Doch sie waren jenseits eines Kreises aus Steinen; sie berührten weder ihn noch das Feuer. Er regte sich, zwinkerte mit den Augen, rückte Nacht und Feuer und das Gesicht des Zauberers wieder ins Licht der Gegenwart. Seine Gedanken sammelten sich wieder im Turm. Er sank vornüber, so müde, daß er am liebsten mit dem verlöschenden Feuer verloschen wäre. Der Zauberer stand auf, ging ein Weilchen lautlos durch das Gemach, bis eine Kommode ihn aufhielt.

»Was habt Ihr in der Einöde getan?«

»Ich habe auf meiner Harfe gespielt. Dort konnte ich jenen tiefen Ton anschlagen, den, der Stein zertrümmert.«

Er hörte seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne und war erstaunt, daß er vernünftig sprechen konnte.

»Wie habt Ihr Euch am Leben erhalten?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich eine Zeitlang halb Wind. Ich hatte Angst zurückzukommen. Was soll ich mit solchen Kräften anfangen?«

»Sie gebrauchen.«

»Das wage ich nicht. Ich habe Macht über das Landrecht. Ich begehre diese Macht. Ich möchte sie gebrauchen. Aber ich habe kein Recht dazu. Das Landrecht ist das Erbe der Könige, das vom Erhabenen mit ihnen verbunden worden ist. Ich würde alles Recht und Gesetz zerstören.«

»Vielleicht. Aber das Landrecht ist auch die reichste Quelle von Kraft im Reich. Wer anders als Ihr kann dem Erhabenen helfen?«

»Er hat nicht um Hilfe gebeten. Bittet ein Berg um Hilfe? Oder ein Fluß? Sie existieren einfach. Wenn ich seine Macht anrühre, wird er mir vielleicht genug Aufmerksamkeit schenken, mich zu vernichten, oder aber —«

»Morgon, setzt Ihr denn gar keine Hoffnung in die Sterne, die ich für Euch gemacht habe?«

»Nein.« Seine Augen schlössen sich; gewaltsam riß er sie wieder auf, hätte weinen mögen vor Anstrengung. »Ich spreche nicht die Sprache des Steins«, flüsterte er. »Für ihn bin ich einfach irgendein lebendes Wesen. Er sieht nichts als drei Sterne, die emporsteigen aus zahllosen Jahrhunderten der Finsternis, in denen macht- und kraftlose Wesen, die Menschen genannt werden, der Ehre ihren Stempel aufzudrücken suchten, so oberflächlich, daß es ihn in seiner Ruhe kaum erschüttern konnte.«

»Er gab Euch das Landrecht.«

»Ich war ein Wesen, dem das Landrecht gegeben war. Jetzt bin ich ganz einfach ein Wesen, das nur noch in der Vergangenheit ein Schicksal hat. Nie wieder werde ich die Macht eines anderen Landherrschers anrühren.«

Der Zauberer schwieg, die Augen ins Feuer gerichtet, das immer wieder vor Morgons Blicken verschwamm.

»Seid Ihr so zornig mit dem Erhabenen?«

»Wie kann ich mit einem Stein zornig sein?«

»Die Erdherren haben alle Gestalten angenommen. Was macht Euch so sicher, daß der Erhabene die Gestalt aller Dinge angenommen hat, außer der der Menschen?«

»Warum —« Er brach ab und starrte in die Flammen, bis sie die Schatten des Schlafes aus seinem Geist brannten und er wieder denken konnte. »Ihr wollt, daß ich meine eigenen Kräfte freisetze und auf das Reich loslasse.«

Yrth antwortete nicht. Morgon blickte zu ihm auf und gab ihm das Bild seines eigenen schroffen, uralten, mächtigen Gesichts zurück. Wieder spülte das Feuer über seine Gedanken. Zum erstenmal sah er plötzlich nicht das finstere Gesicht des Windes, der die Sprache der Steine sprach und den er für den Erhabenen gehalten hatte, sondern etwas Verfolgtes, Angreifbares, Gefährdetes, dessen Schweigen die einzige Waffe war, die es besaß. Der Gedanke bannte ihn in staunende Verwunderung. Langsam wurde er der Stille gewahr, die sich zwischen seiner Frage und der Antwort auf sie aufbaute.

Er hielt den Atem an und lauschte der Stille, die ihn auf seltsame Art bedrängte wie eine Erinnerung an etwas, das ihm einmal lieb und teuer gewesen war. Die Hände des Zauberers wandten sich ein wenig zum Licht und schlössen sich dann, ihre Narben verbergend.

»Über dem ganzen Reich«, sagte der Alte, »sind Kräfte entfesselt, den Erhabenen zu finden. Die Euren werden nicht die schlechtesten sein. Seltsame Bande fesseln Euch. Das beste und das am wenigsten Verständliche von ihnen scheint die Liebe zu sein. Ihr könntet die Landherrscher um ihre Erlaubnis bitten. Sie vertrauen Euch. Und sie waren in tiefer Verzweiflung, als weder Ihr noch der Erhabene irgendwo auf dem Antlitz des Reiches zu finden wart.«

Morgon senkte den Kopf. »An sie habe ich nicht gedacht.«

Er hörte Yrth nicht, merkte erst, daß der Zauberer aufgestanden war, als sein dunkles Gewand das Holz seines Sessels streifte. Die Hand des Zauberers berührte sehr behutsam seine Schulter, so als streichelte er ein wildes, ungezähmtes Wesen, das sich furchtsam und zaghaft in seine Stille hineingewagt hatte.

Bei der Berührung wichen Verwirrung, Zorn und Widerspruch aus Morgon, ja selbst die Kraft und der Wille, gegen die ganze Geistesschärfe des Zauberers zu kämpfen. Nur die Stille blieb und ein hilfloses, unbegreifliches Verlangen.

»Ich werde den Erhabenen finden«, sagte er. Und warnend oder verheißend fügte er hinzu: »Nichts wird ihn zerstören. Ich schwöre es. Nichts.«

Загрузка...