Kap. 5

Morgon flüsterte: »Thod!«

Die Hände des Harfners wurden still. Sein Gesicht war so abgezehrt und verfallen, daß kaum noch etwas Vertrautes in ihm war. Nur der edle Schnitt der Züge und der Ausdruck in den Augen waren geblieben. Er hatte kein Pferd und kein Bündel, keinerlei Habe, soweit Morgon sehen konnte, außer einer dunklen Harfe, deren einziger Schmuck ihre schlanken, feinen Linien waren. Die zerstörten Hände ruhten einen Moment lang auf den Saiten, dann glitten sie abwärts, um die Harfe zu Boden zu stellen.

»Morgon.« Seine Stimme war rauh vor Müdigkeit und Verwunderung. Mit einer Sanftheit, die Morgon zum sprachlosen Gefangenen seines eigenen inneren Aufruhrs machte, fügte er hinzu: »Ich wollte Euch nicht stören.«

Morgon stand reglos. Selbst die Flamme in seiner Hand stach still in die windlose Nacht. Das tödliche, makellose Spiel der Harfe, das immer irgendwo im Dunklen hinter seinen Gedanken perlte, verwirrte sich plötzlich mit den mühsamen, stockenden Klängen, die er in den vergangenen Nächten gehört hatte. Er stand am Rande des Lichtscheins seiner eigenen Fackel und wollte schreien vor Wut, wollte kehrtmachen und gehen, ohne ein Wort zu sagen, und fühlte sich dennoch viel stärker getrieben, noch einen Schritt vorwärts zu gehen und eine Frage zu stellen. Und schließlich ging er diesen Schritt, so lautlos, daß er sich selbst kaum bewußt war, wie er sich bewegte.

»Was ist Euch geschehen?«

Seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren, als zuckte sie ein wenig zurück vor ihrer eigenen Ruhe.

Der Harfner blickte auf seine Hände hinunter, die wie Gewichte zu beiden Seiten seines Körpers lagen.

»Ich hatte einen Streit«, sagte er, »mit Ghisteslohm.«

»Ihr verliert nie einen Streit.«

Er war noch einen Schritt vorwärts gegangen, noch immer so angespannt und lautlos wie ein Tier.

»Ich habe auch diesen nicht verloren. Hätte ich ihn verloren, so gäbe es im Reich einen Harfner weniger.«

»Ihr sterbt nicht leicht.«

»Nein.«

Er beobachtete Morgon, der noch einen Schritt machte, und Morgon, der es merkte, erstarrte. Klaren Blicks sah ihm der Harfner in die Augen, bekannte alles, fragte nichts. Morgon schob die Fackel in seiner Hand höher. Sie brannte dicht über seiner Haut; er ließ sie fallen und entfachte im toten Laub ein kleines Feuer. In der veränderten Beleuchtung lag Thods Gesicht im Schatten; Morgon sah es so, wie er es in früheren Tagen hinter anderen Feuern gesehen hatte. Er schwieg still, eingeschlossen wieder in das Schweigen des Harfners. Und dieses Schweigen zog ihn vorwärts, wie über eine Brücke, die schmal war wie eine Schwertklinge und die Schlucht seines Zorns und seiner Verwirrung überspannte. Er kauerte schließlich neben dem Feuer nieder, zog einen Kreis darum und hielt es klein mit seinem Geist.

Nach einer Weile fragte er: »Wohin wollt Ihr?«

»Dorthin zurück, wo ich geboren wurde. Nach Lungold. Es gibt sonst keinen Ort, wohin ich mich wenden könnte.«

»Ihr wandert zu Fuß nach Lungold?«

Der Harfner zuckte leicht die Achseln. »Ich kann nicht reiten.«

»Was wollt Ihr in Lungold tun? Ihr könnt nicht auf der Harfe spielen.«

»Ich weiß es nicht. Betteln.«

Morgon schwieg wieder, während er ihn ansah. Seine Finger, die im welken Laub gruben, fanden eine Eichel und schnippten sie ins Feuer.

»Ihr habt Ghisteslohm sechshundert Jahre lang gedient. Ihr habt mich ihm ausgeliefert. Ist er so undankbar?«

»Nein«, antwortete Thod ohne alle Leidenschaft. »Er war argwöhnisch. Ihr ließt mich lebendigen Leibs aus Anuin fortgehen.«

Morgons Hand erstarrte unter den dürren Blättern. Irgend etwas durchrann ihn in diesem Moment, wie ein schwacher, wilder Hauch eines Windes, der über die nördlichen Einöden und über das ganze Reich hinweggefegt war, um dieser stillen Sommernacht eine Ahnung seines Wesens mitzuteilen. Nach einer Weile regte er seine Hand wieder; ein Zweig knickte zwischen seinen Fingern. Er warf die zerbrochenen Teile ins Feuer und tastete sich seinen Weg zu seinen Fragen, als begänne er einen Rätselkampf mit einem, über dessen Fähigkeiten er nichts wußte.

»Ghisteslohm war in An?«

»Er war im Hinterland gewesen, um seine Kräfte aufzubauen, nachdem Ihr Euch von ihm befreit hattet. Er wußte nicht, wo Ihr wart, doch da mein Geist ihm immer offen ist, war es ihm ein leichtes, mich in Hel zu finden.«

Morgon hob den Bjick. »Euer Geist ist noch immer mit dem seinen verbunden?«

»Ich vermute es. Mich braucht er jetzt nicht mehr, aber es kann sein, daß Ihr in Gefahr seid.«

»Er kam aber nicht nach Anuin, um mich dort zu suchen.«

»Er begegnete mir sieben Tage nachdem ich Anuin verlassen hatte. Es schien unwahrscheinlich, daß Ihr noch dort sein würdet.«

»Ich war dort.« Er legte eine Handvoll Äste ins Feuer, sah zu, wie sie aufloderten, sich dann in der Hitze verbogen und krümmten. Seine Augen glitten plötzlich zu den verkrüppelten Fingern des Harfners. »Was, in Hels Namen, hat er Euch angetan?«

»Er machte mir eine Harfe, da Ihr die meine zerstört hattet und ich keine hatte.« Ein Licht flackerte in den Augen des Harfners, wie eine Erinnerung an Schmerz oder wie distanzierte, kalte Erheiterung. Das Licht trübte sich, und er neigte leicht den Kopf, so daß sein Gesicht im Schatten war. Gelassen fuhr er fort: »Die Harfe war aus schwarzem Feuer. Auf ihrer Front waren drei brennende, weißglühende Sterne.«

Morgons Kehle zog sich zusammen. »Ihr habt darauf gespielt«, flüsterte er.

»Er befahl es mir. Solange ich noch bei Bewußtsein war, spürte ich, wie sein Geist aus dem meinen die Erinnerungen an die Ereignisse in Anuin heraussog, Erinnerungen an die Monate meiner Wanderschaft mit Euch, an die Jahre und Jahrhunderte meines Dienstes für ihn, und an die Zeit davor. Die Harfe hatte eine befremdende, gequälte Stimme wie die Stimmen, die ich des Nachts hörte, als ich durch Hel ritt.«

»Er ließ Euch das Leben.«

Der Harfner lehnte seinen Kopf an den Baumstamm und erwiderte Morgons Blick.

»Er fand keinen Grund, es mir nicht zu lassen.«

Morgon schwieg. Die Flammen des Feuers vor ihm brachen knisternd dürres Holz wie kleine Knochen. Ihm war plötzlich kalt, selbst in der warmen Sommernacht, und er rückte näher ans Feuer. Ein Tier, vom Licht aus den Bäumen gelockt, richtete glühende Augen auf ihn, zwinkerte und verschwand wieder. Das Schweigen um ihn herum war beladen mit tausend Rätselfragen, die er hätte stellen sollen, und er wußte, daß der Harfner sie nur mit neuen Rätselfragen beantworten würde. Einen Moment lang rastete er in der Schwerelosigkeit der Stille.

»Ein trauriger Lohn für sechs Jahrhunderte«, sagte er schließlich. »Was habt Ihr eigentlich von ihm erwartet, als Ihr in seinen Dienst tratet?«

»Ich sagte ihm, daß ich einen Herrn brauchte, und daß kein König, der sich durch seine Lügen täuschen ließ, mir genügen könne. Wir entsprachen einander. Er schuf eine Täuschung; ich erhielt sie aufrecht.«

»Das war eine gefährliche Täuschung. Hat er nie den Erhabenen gefürchtet?«

»Hat ihm der Erhabene denn Anlaß gegeben, ihnAzu fürchten?«

Morgon schob ein Blatt ins Feuer.

»Nein.«

Er ließ seine Hand flach im Feuer liegen, ließ sie im Herzen der Flammen brennen, während Erinnerungen auf ihn einstürmten. »Nein«, flüsterte er wieder. Das Feuer loderte plötzlich unter seiner Hand auf, als er es einen Moment lang aus seiner Bewußtheit entließ. Er fuhr zurück, und Tränen sprangen ihm in die Augen. Wie durch einen Schleier sah er die knorrigen, flammenlodernden Hände des Harfners, der selbst in höchster Qual an seinem Schweigen festhielt. Er krümmte sich über seine eigene Hand und schluckte die Flüche hinunter.

»Das war unvorsichtig.«

»Morgon, ich habe kein Wasser —«

»Das ist mir schon aufgefallen.« Seine Stimme war hart vor Schmerz. »Ihr habt nichts zu essen, und Ihr habt nichts zu trinken, Ihr habt keine Gesetzesgewalt und keinen Reichtum, Ihr seid nicht einmal Zauberer genug, Euch selbst vor dem Verbranntwerden zu schützen. Ihr könnt kaum noch das eine, das Ihr besitzt, gebrauchen. Für einen Mann, der innerhalb von sieben Tagen zweimal dem Tod entronnen ist, erzeugt Ihr eine großartige Täuschung von Machtlosigkeit.«

Er zog seine Knie hoch und ließ seinen Kopf auf sie niedersinken. Eine Zeitlang war er still, er wartete nicht, daß der Harfner sprechen würde. Es kümmerte ihn nicht mehr. Das Feuer sprach zwischen ihnen in einer uralten Sprache, die keine Rätsel brauchte. Er dachte an Rendel und wußte, daß er hätte gehen sollen, doch er rührte sich nicht. Der Harfner saß in gelassener Ruhe, so still wie uralte Wurzeln oder verwitterter Stein. Das Feuer, das Morgon aus seiner Gewalt entlassen hatte, erstarb. Durch die Bögen seiner Arme hindurch sah er zu, wie das Licht immer schwächer wurde. Schließlich hob er den Kopf. Die Flamme lag zuckend in ihrer Asche; das Gesicht des Harfners war dunkel.

Er stand auf, die verbrannte Hand mit der anderen umschlössen. Er hörte das schwache Rascheln, als der Harfner sich bewegte, und wußte, daß der Harfner, schweigend und schlaflos, auch bei Morgengrauen noch dagewesen wäre, wenn er die ganze Nacht an diesem Feuer geblieben wäre. Er schüttelte den Kopf, sprachlos über die Verwirrung seiner eigenen Impulse.

»Ihr reißt mich mit Eurem Harfenspiel aus meinen Träumen, und ich komme und kauere wie ein Hund in Eurer Stille. Ich wünschte, ich wüßte, ob ich Euch trauen soll oder ob ich Euch töten soll, oder ob ich vor Euch fliehen soll, weil Ihr ein Spiel treibt, das tödlich ist. Braucht Ihr Nahrung? Wir können etwas von unserem Proviant entbehren.«

Es dauerte lange, ehe Thod ihm antwortete; die Antwort selbst war beinahe unhörbar.

»Nein.«

»Gut.« Immer noch verharrte er, beide Hände zu Fäusten geballt, immer noch hoffte er auf ein einziges markloses Knöchelchen der Wahrheit. Schließlich jedoch drehte er sich mit einer heftigen Bewegung um. Der Rauch, der vom verkohlten Holz aufstieg, brannte ihm in den Augen. Er ging drei Schritt in die Dunkelheit hinein, und beim vierten trat er in blauen Feuerschein, der aus dem Nichts hervorsprang und heller und heller wurde, ihn einhüllte und durchdrang, bis er aufschrie und stürzte.

Beim Morgengrauen erwachte er, an jener Stelle auf dem Boden liegend, wo er gestürzt war. Sein Gesicht war verklebt von Schmutz und zerfetzten dürren Blättern. Jemand schob ihm einen Fuß unter die Schulter und wälzte ihn auf den Rücken. Er sah wieder den Harfner, der noch immer unter dem Baum saß, vor sich einen Kreis von Asche. Und dann sah er, wer sich da über ihn beugte, um ihn beim Kragen seines Kittels zu packen und emporzureißen.

Er sog Luft ein, um aufzuschreien in Qual und Wut; Ghisteslohms Hand schlug ihm scharf auf den Mund und brachte ihn zum Schweigen. Im selben Augenblick sah er die Augen des Harfners, nachtfinster, still wie das schwarze, unbewegte Wasser auf dem Grund des Erlenstern-Bergs, und irgend etwas in ihnen war ihm eine Herausforderung, die Bitterkeit, die in ihm aufstieg, hinunterzuschlucken. Mit steifen, ungelenken Bewegungen, die Morgon verrieten, daß er die ganze Nacht dort gesessen hatte, stand der Harfner auf. Mit einer merkwürdigen Bedachtsamkeit legte er seine Harfe über die Asche ihres Feuers. Dann wandte er den Kopf, und Morgon folgte seinem Blick und sah Rendel, die weiß und stumm im Auge der aufgehenden Sonne stand.

Ein lautloser, verzweifelter Schrei schwoll in Morgons Brust an und zerschellte. Sie hörte ihn; sie erwiderte seinen Blick mit der gleichen Verzweiflung. Ihr Haar war zerzaust, und sie sah sehr müde aus, doch es schien ihr nichts geschehen zu sein.

Ghisteslohm sagte brüsk: »Wenn Ihr meinen Geist berührt, werde ich sie töten. Versteht Ihr mich?« Er schüttelte Morgon grob, um seinen Blick von Rendel zu lösen. »Habt Ihr verstanden?«

»Ja«, antwortete Morgon.

Und sogleich griff er den Gründer mit den Fäusten an. Ein weißes Feuer schlug ihm entgegen, fraß sich sengend durch seine Knochen, und er rutschte über den Boden, während er den Schweiß der Anstrengung aus seinen Augen zwinkerte, sich an Steinen und Ästen festklammerte, um nur ja keinen Laut aus seinem Inneren herauszulassen, Rendel war zu ihm gelaufen; er spürte ihren Arm um seinen Körper. Sie half ihm auf die Füße.

Er schüttelte den Kopf, versuchte, sie aus dem Feuerstrahl des Zauberers hinauszustoßen, doch sie hielt ihn nur noch fester und sagte: »Hör auf.«

»Ein vernünftiger Rat«, bemerkte der Gründer. »Nehmt ihn Euch zu Herzen.«

Er sah matt und abgekämpft aus im plötzlichen heißen Licht. Morgon sah dunkle Schatten und scharfe Kanten in der Maske heiterer Gelassenheit, die er jahrhundertelang getragen hatte. Er war ärmlich gekleidet in eine grobes, formloses Gewand, das ihn trügerisch gebrechlich erscheinen ließ. Das Gewand war sehr staubig, als wäre auch er zu Fuß die Handelsstraße hinuntergewandert.

Morgon, der sich abmühte, an der Wut und dem Schmerz, die in ihm tobten, Worte vorbeizuzwängen, sagte: »Konntet Ihr das SpielEures Harfners nicht hören, daß Ihr raten mußtet, wo Ihr mich an dieser Straße finden würdet?«

»Ein Blinder hätte der Spur folgen können, die Ihr quer durch das Reich gezogen habt. Ich ahnte, daß Ihr nach Hed reisen würdet, und ich verfolgte Euch sogar dorthin, aber —«

Seine erhobene Hand gebot Morgons plötzlicher Bewegung Einhalt. »Ihr wart dort gewesen und schon wieder fort. Ich habe keinen Krieg mit Bauern und Kühen; ich habe dort alles so gelassen, wie es war.« Schweigend betrachtete er Morgon einen Moment lang. »Ihr habt die Geister der Toten von An nach Hed gebracht. Wie?«

»Wie, glaubt Ihr wohl? Ihr habt mich die Macht des Landrechts gelehrt.«

»Aber nicht in diesem Ausmaß.«

Morgon spürte plötzlich, wie sein Geist durchforscht wurde. Die Berührung blendete ihn, ließ Erinnerungen an Entsetzen und Hilflosigkeit wach werden. Wieder war er hilflos mit Rendel an seiner Seite, und Tränen der Verzweiflung und der Wut verschlossen ihm die Kehle. Der Zauberer, der das geistige Band abtastete, das Morgon in Anuin zu den Toten hergestellt hatte, brummte leise vor sich hin und ließ ihn wieder frei. Das Licht der Morgensonne überflutete wieder den Boden; er sah den Schatten des Harfners, der über den verkohlten Blättern lag. Er starrte auf ihn hinunter; seine Reglosigkeit nagte an ihm, und seine Bestürzung wandelte sich in Erstarrung. Dann fielen ihm Ghisteslohms Worte wieder ein, und er hob den Blick.

»Was meint Ihr damit? Alles, was ich weiß, habe ich von Euch gelernt.«

Der Zauberer blickte ihn zweifelnd an, als wäre er ein Rätsel auf einer staubigen Rolle Pergament. Er antwortete nicht; statt dessen sagte er abrupt zu Rendel: »Könnt Ihr die Gestalt wechseln?«

Sie trat einen Schritt näher an Morgon heran und schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Fast sämtliche Könige in der Geschichte von An haben zu irgendeiner Zeit einmal die Gestalt der Krähe angenommen, und ich habe von Thod gehört, daß Ihr die geistigen Kräfte eines Gestaltwandlers geerbt habt. Ihr werdet schnell lernen.«

Blut schoß ihr in das bleiche Gesicht, doch sie sah den Harfner nicht an.

»Ich weigere mich, die Gestalt zu wechseln«, sagte sie leise und fügte in so wenig verändertem Ton hinzu, daß sowohl Morgon als auch der Zauberer überrascht waren: »Ich verfluche Euch in meinem Namen und in Madirs Namen. Augen sollt Ihr haben klein und feurig, die nicht höher sehen als bis zum Knie eines Menschen und nicht tiefer als bis zum Schlamm unter —«

Der Zauberer drückte ihr seine Hand auf den Mund, und sie brach ab. Er zwinkerte, als hätte er einen Moment lang einen Schleier vor den Augen gehabt. Seine Hand glitt zu ihrem Hals hinunter, und in Morgon spannte sich etwas bis zum gefährlichen Äußersten, wie die Saite einer Harfe, die gleich reißt.

Doch der Zauberer sagte nur trocken: »Erspart mir die nächsten achtundneunzig Flüche.«

Er hob die Hand, und sie räusperte sich. Morgon spürte, daß sie zitterte.

Sie sagte nochmals: »Ich werde nicht meine Gestalt wechseln. Eher will ich sterben. Das schwöre ich bei meinem —«

Wieder verschloß der Zauberer ihr den Mund. Er betrachtete sie mit mildem Interesse, sagte dann über seine Schulter hinweg zu Thod: »Nimm sie durch das Hinterland mit dir zum Erlenstern-Berg. Ich habe für derlei keine Zeit. Ich werde ihren Geist bannen; sie wird nicht versuchen zu fliehen. Der Sternenträger wird mir nach Lungold folgen und dann zum Erlenstern-Berg.« Er schien etwas zu wittern, das von dem starren, schwarzen Schatten ausging, der auf dem Farnkraut lag; er drehte den Kopf. »Ich werde Männer besorgen, die für Euch jagen und die sie bewachen.«

»Nein!«

Der Zauberer trat mit einer raschen, fließenden Bewegung neben Morgon, so daß dieser nichts tun konnte, ohne daß Ghisteslohm es gewahrte. Seine Brauen waren zusammengezogen; er hielt die Augen des Harfners fest, bis Thod wieder zu sprechen anfing.

»Ich stehe in ihrer Schuld. In Anuin hätte sie mich frei davongehen lassen, noch ehe Morgon je kam. Sie schützte mich unwissentlich vor ihm, indem sie mich mit einem kleinen Heer von Geistern umgab. Ich stehe nicht mehr in Euren Diensten, und Ihr schuldet mir den Dienst von sechshundert Jahren. Laßt sie ziehen.«

»Ich brauche sie.«

»Ihr könntet jeden der Zauberer von Lungold nehmen und Morgon auf diese Weise entmachten.«

»Die Zauberer von Lungold sind unberechenbar und allzu mächtig. Weiterhin haben sie eine Neigung dazu, wegen sehr merkwürdiger Anwandlungen zu sterben. Das hat Suth bewiesen. Gewiß, du hast recht, ich stehe in deiner Schuld, wenn für nichts anderes, so doch zumindest für dein verkrüppeltes Harfenspiel, das den Sternenträger lockte, sich dir zu Füßen zu knien. Aber verlange etwas anderes von mir.«

»Ich will nichts anderes. Höchstens vielleicht eine Harfe, die mit Wind besaitet ist, für einen, der keine Hände hat, zu spielen.«

Ghisteslohm schwieg. Morgon, in dessen Erinnerung sich das schwache Echo irgendeines Rätsels rührte, hob langsam den Kopf und sah den Harfner an. Seine Stimme klang nüchtern und leidenschaftslos wie immer, doch in seinen Augen lag eine Härte, die Morgon nie zuvor gesehen hatte. Ghisteslohm schien einen Augenblick lang auf einen Unterton zu lauschen: auf eine Stimme, die er durch das Rauschen des Morgenwindes hindurch nicht recht auffangen konnte.

Er sagte schließlich beinahe interessiert: »So. Selbst deine Geduld hat ihre Grenzen. Ich kann deine Hände heilen.«

»Nein.«

»Thod, du bist starrköpfig. Du weißt so gut wie ich, um welchen Preis es in diesem Spiel geht, Morgon stolpert wie ein Blinder in seine Macht hinein. Ich will ihn im Erlenstern-Berg haben, und ich will nicht mit ihm kämpfen müssen, um ihn dort hinzubringen.«

»Ich gehe nie wieder zum Erlenstern-Berg zurück«, sagte Morgon unwillkürlich.

Der Zauberer ignorierte ihn; seine Augen ruhten gespannt, ein klein wenig zusammengezogen auf Thods Gesicht.

Thod sagte leise: »Ich bin alt und verkrüppelt und sehr müde. Ihr habt mir in Hel wenig mehr gelassen als mein Leben. Wißt Ihr, was ich danach getan habe? Ich habe mein Pferd nach Caithnard geführt und einen Händler gefunden, der mir nicht ins Gesicht spie, als ich ihn ansprach. Bei ihm tauschte ich mein Pferd gegen die letzte Harfe, die ich je besitzen werde. Und ich versuchte, auf ihr zu spielen.«

»Ich habe gesagt, daß ich —«

»In diesem ganzen Reich steht mir nicht ein Hof offen, an dem ich spielen könnte, selbst wenn Ihr meine Hände heiltet.«

»Dieses Risiko hast du vor sechs Jahrhunderten angenommen«, entgegnete Ghisteslohm. Seine Stimme war dünn geworden. »Du hättest einen geringeren Hof als den meinen wählen können, um dort auf deiner Harfe zu spielen, irgendeinen unschuldigen, machtlosen Hof, dessen Unschuld diesen letzten Kampf nicht überleben wird. Du weißt das. Du bist zu weise, um zu Vorwürfen zu greifen, und du mußtest niemals verlorener Unschuld nachtrauern. Du kannst hierbleiben und verhungern oder Rendel von An zum Erlenstern-Berg bringen und mir helfen, diesen Kampf zu beenden. Dann kannst du dir jede Belohnung nehmen, die du für deine Dienste haben willst.« Er machte eine Pause, dann fügte er unwirsch hinzu: »Oder bist du mit einem geheimen, verborgenen Teil deines Wesens, den ich nicht erreichen kann, an den Sternenträger gebunden?«

»Ich schulde dem Sternenträger nichts.«

»Das war nicht meine Frage.«

»Ihr habt mir diese Frage schon einmal gestellt. In Hel. Wollt Ihr noch einmal eine Antwort?« Er hielt inne, als wäre ihm der plötzliche Zorn in seiner Stimme selbst unvertraut, und ruhiger fuhr er dann fort: »Der Sternenträger ist der Dreh- und Angelpunkt eines Spiels. Ich wußte so wenig wie Ihr, daß er in Gestalt eines jungen Fürsten von Hed erscheinen würde, der in mir eine Zuneigung erwecken sollte, die der Liebe gefährlich nahe kam. Eine andere Bindung besteht nicht, und dies ist kaum von Bedeutung. Ich habe ihn Euch zweimal verraten. Aber Ihr müßt Euch einen anderen suchen, Rendel von An zu verraten. Ich stehe in ihrer Schuld. Auch dies ist eine Sache von geringer Bedeutung. Sie ist keine Bedrohung für Euch, und jeder Landherrscher im Reich kann an ihrer Stelle —«

»Die Morgol?«

Thod war ganz still, atmete nicht, zuckte mit keinem Muskel. Er stand wie von Wind und Wetter aus Stein gemeißelt. Morgon wischte sich mit dem Handrücken etwas aus dem Gesicht; erstaunt sah er, daß er weinte.

Schließlich sagte Thod sehr leise: »Nein.«

»So.« Der Zauberer betrachtete ihn, und um seine Mundwinkel bildeten sich haarfeine Linien der Ungeduld und der Gewalt. »Hier haben wir also etwas, das keine so bedeutungslose Angelegenheit ist. Ich habe mich schon gewundert. Wenn ich dich nicht wieder in meine Dienste aufnehmen kann, dann kann ich dich vielleicht überreden. Die Morgol von Herun hat mit zweihundert ihrer Wachen vor Lungold ihr Lager aufgeschlagen. Die Wachen sind da, vermute ich, um die Stadt zu schützen; die Morgol wartet, einem Gefühl folgend, das mir unverständlich ist, auf dich. Ich gebe dir die Wahl. Wenn du dich dafür entscheidest, Rendel hier zurückzulassen, werde ich die Morgol mit mir zum Erlenstern-Berg nehmen, sobald ich mit Morgons Hilfe die letzten der Zauberer von Lungold bezwungen habe. Wähle!«

Er wartete. Der Harfner stand wieder reglos; selbst die verkrüppelten Knochen seiner Hände schienen spröde. Die Stimme des Zauberers peitschte ihm ins Gesicht, und er zuckte zusammen. »Wähle!«

Rendel drückte beide Hände auf ihren Mund.

»Thod, ich gehe mit«, flüsterte sie. »Ich werde Morgon sowieso folgen. Ich werde nicht eidbrüchig werden.«

Der Harfner sprach nicht. Sehr langsam schließlich ging er auf sie zu, die Augen auf Ghisteslohms Gesicht geheftet. Einen Schritt vor ihr blieb er stehen und holte Atem, um zu sprechen.

Mit einer blitzartigen Bewegung dann schlug er dem Gründer mit dem Rücken seiner verkrüppelten Hand ins Gesicht.

Ghisteslohm wich zurück. Seine Finger bohrten sich bis auf den Knochen in Morgons Arm, aber der hätte sowieso keinen Schritt tun können. Der Harfner fiel auf die Knie, über den frisch gebrochenen Knochen seiner Hand zusammengekrümmt. Er hob das Gesicht, das weiß war, verzerrt von Schmerz und Qual, und das um nichts bat.

Einen Moment lang blickte Ghisteslohm stumm auf ihn hinunter, und Morgon sah in seinen Augen ein Flimmern, das der Widerschein zusammengebrochener Erinnerungen vieler Jahrhunderte hätte sein können. Dann hob der Zauberer selbst die Hand. Eine Feuergarbe traf den Harfner über den Augen, schleuderte ihn nach rückwärts ins Farnkraut, wo er reglos liegenblieb, blind zur Sonne emporstarrend.

Der Zauberer hielt Morgon mit seiner Hand und mit seinen Augen fest, bis dieser langsam merkte, daß er von einem trockenen, tränenlosen Schluchzen geschüttelt wurde, daß seine Muskeln zum Angriff gespannt waren. Der Zauberer berührte flüchtig seine Augen, als hätte der Feuerstrahl, den sein Geist entzündet und abgeschleudert hatte, ihm Kopfschmerzen verursacht.

»Warum, in Hels Namen«, fragte er, »vergeudet Ihr Euren Gram an ihm? Seht mich an. Seht mich an!«

»Ich weiß es nicht!« schrie Morgon ihn an.

Er sah neue Feuerzungen durch die Luft schießen und über den Körper des Harfners lecken. Sie berührten die dunkle Harfe, und das Instrument ging in Flammen auf. Die Luft war erfüllt vom Wimmern zerreißender Saiten. Rendel schimmerte plötzlich in reinem Feuer; der Zauberer riß sie erbarmungslos mit seinem Geist in ihre natürliche Gestalt zurück. Sie war noch immer halb Feuer, und Morgon kämpfte gegen eine plötzliche Aufwallung unbändiger Kraft, die ihr zum Verhängnis geworden wäre, als etwas in ihm gefror. Er wirbelte herum.

Ein Dutzend Reiter standen unter den Bäumen und blickten neugierig herüber. Ihre Pferde hatten die Farbe der Nacht, ihre Gewänder die feuchtglänzenden, schillernden Farben des Meeres.

»Die Welt«, sagte einer der Männer in die plötzliche Stille hinein, »ist für Harfner kein sicherer Ort.« Er neigte seinen Kopf in Richtung zu Morgon. »Sternenträger.« Sein bleiches, ausdrucksloses Gesicht schien im leichten Wind ein wenig zu wabern. Ein Geruch nach Salzwasser strömte von ihm aus. »Ylons Tochter.« Der Blick seiner schimmernden Augen wanderte zu Ghisteslohm. »Erhabener.«

Fassungslos starrte Morgon die Reiter an. Sein Geist, der in rasender Geschwindigkeit Möglichkeiten des Handelns abspulte, wurde plötzlich leer. Sie hatten keine Waffen; ihre schwarzen Rosse standen unbewegt wie Stein, doch jeder Hauch einer Bewegung, spürte er, ein Wechsel im Licht, ein Vogelruf im falschen Ton, konnte einen erbarmungslosen Angriff auslösen. Sie schienen von absoluter Reglosigkeit befangen, wie gebannt in jenem Moment, bevor die Woge, nachdem sie ihren höchsten Stand erreicht hat, sich bricht; ob aus Neugier oder einfach aus Unsicherheit, das wußte er nicht. Er spürte, wie Ghisteslohms Hand seine Schulter umklammerte, und seltsamerweise war es ihm eine Beruhigung zu wissen, daß der Zauberer ihn lebend sehen wollte.

Der Gestaltwandler, der gesprochen hatte, beantwortete seine Frage mit feinem, zweideutigem Spott.

»Seid Jahrtausenden warten wir darauf, dem Erhabenen zu begegnen.«

Morgon hörte, wie der Zauberer Luft holte.

»So. Ihr seid also die Brut der Meere von Ymris und An —«

»Nein. Wir sind nicht des Meeres. Wir haben unsere Gestalt nach seinem Gesang geformt, der wie Harfenspiel ist. Ihr geht achtlos um mit Eurem Harfner.«

»Der Harfner ist meine Sache.«

»Er hat Euch treu gedient. Wir haben ihn über die Jahrhunderte beobachtet, wie er Eure Befehle ausführte, Eure Maske trug, wartete. So, wie wir warteten, lange schon, ehe Ihr den Fuß auf diese Erde des Erhabenen setztet, Ghisteslohm. Wo ist der Erhabene?«

Lautlos und fließend wie ein Schatten ging sein Pferd vorwärts, blieb drei Schritte vor Morgon stehen. Er widerstand einem Impuls, zurückzuweichen. Die Stimme des Gründers, die verdrossen und ungeduldig klang, verwunderte ihn.

»Ich habe kein Interesse an Rätselspielen. Auch nicht an einem Kampf. Ihr nehmt Eure Gestalt von Toten und von Tang; Ihr atmet, Ihr spielt auf Euren Harfen und Ihr sterbt — das ist alles, was ich weiß, das ist alles, was mich interessiert. Zurück mit Eurem Pferd, sonst reitet Ihr auf einem Haufen Seetangasche.«

Der Gestaltwandler zog sein Pferd einen Schritt zurück, ohne eine Miene zu verziehen. In seinen Augen fing sich das Licht wie in Wasser; einen Moment lang war es, als lächelten sie.

»Meister Ohm«, sagte er, »kennt Ihr das Rätsel von dem Mann, der um Mitternacht die Tür seines Hauses öffnete und vor sich nicht den schwarzen Himmel erblickte, sondern das pechschwarze Auge irgendeines unbekannten Geschöpfes, das sich weit über sein Blickfeld hinaus bis in unmeßbare Dimensionen erstreckte? Schaut uns noch einmal an. Und dann geht, ruhig und friedlich, und laßt den Sternenträger und unsere Verwandte zurück.«

»Schaut doch Ihr!« entgegnete der Gründer brüsk.

Morgon, der noch immer unter seinem Bann stand, wurde unter der Kraft, die aus ihm herausfloß, nach rückwärts geschleudert; eine überwältigende Kraft, die den Gestaltwandlern entgegenbrandete, eine Eiche fällte und verängstigte Vögel kreischend in die Lüfte trieb. Das lautlose Donnern des Feuers rollte ihnen mit rasender Geschwindigkeit entgegen; Morgon fühlte es, doch wie aus weiter Ferne, da der Zauberer seinen Geist dagegen abgeschirmt hatte. Als die geborstenen Bäume ruhig lagen, tauchten die Gestaltwandler langsam wieder aus der Schar der Vögel auf, die erschreckt in die Luft geflattert waren. Ihre Anzahl hatte sich verdoppelt; auch die reglosen Pferde waren Gestaltwandler gewesen. Ganz allmählich nahmen sie wieder ihre früheren Gestalten an, während Ghisteslohm, das spürte Morgon, darüber rätselte, wie weit ihre Macht und ihre Kraft reichten. Seine Hand, die immer noch Morgons Schulter umfaßt hielt, war schlaff geworden. Ein Zweig in einem Busch knackte leise, und da griffen die Gestaltwandler an.

Eine Woge schimmernder Schwärze, von lautlosen, muschelschwarzen Hufen getragen, wälzte sich ihnen so schnell entgegen, daß Morgon kaum Zeit hatte zu reagieren. Er warf ein Trugbild von Nichts über sich selbst, das, so vermutete er, nur Rendel bemerkte; sie stieß einen unterdrückten Schrei aus, als er sie am Handgelenk packte. Etwas traf ihn — ein Pferde-huf oder das Heft eines Schwertes, und er spürte, wie seine Muskeln sich spannten, den Todesstoß zu empfangen. Doch nichts berührte ihn, nur ein flüchtiger Wind streifte über ihn hin. Er schickte seinen Geist voraus, meilenweit die Straße hin-unter, wo ein Händler auf dem Kutschbock eines Wagens, der mit Tuchballen beladen war, sich seine Langeweile mit Pfeifen vertrieb. Er füllte Rendels Geist mit demselben lebendigen Bild, packte sie fest und zog sie mit sich in diese andere Wirklichkeit hinein.

Einen Augenblick später lag er neben ihr auf dem Boden des großen, überdachten Wagens, und sein Blut floß auf einen Ballen bestickten Leinens.

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