Kap. 11

Zwei Tage schlief er im Hause des Königs, erwachte nur einmal, um zu essen, und ein zweitesmal, um Rendel zu sehen, die an seiner Seite saß und geduldig darauf wartete, daß er erwachen möge. Er schob seine Hand in die ihre, lächelte ein wenig, wälzte sich dann auf die andere Seite und fiel wieder in Schlaf. Am Abend schließlich erwachte er mit klarem Kopf. Er war allein. Das gedämpfte Gewirr von Stimmen und das Klirren von Geschirr, das an sein Ohr drang, verrieten ihm, daß die Menschen im Haus beim Nachtmahl saßen. Rendel war wahrscheinlich bei Danan. Er wusch sich und trank etwas Wein, noch immer lauschend. Unter den Geräuschen des Hauses hörte er das unendliche, dunkle, zeitlose Schweigen, das die Höhlen und Gänge im Inneren des Berges Isig formte.

Er blieb mit dem Schweigen verbunden, bis es in seinem Geist Adern bildete. Da stieg er aus dem Turm hinunter, eilte heimlich zum Saal, wo nur Rendel und Bere ihn bemerkten, die mitten im Gespräch abbrachen, um ihm nachzublicken. Er folgte dem Pfad eines Traums, durch die leeren oberen Schächte. Von der Mauer an der Mündung eines finsteren Tunnels nahm er eine Fackel; als er in den Tunnel eintrat, flammten die Mauern um ihn herum mit feurigen, ungeschlif-fenen Edelsteinen auf. Ohne Zögern folgte er dem Faden sei-ner Erinnerung durch ein Gewirr von Gängen, an seichten Bächen und tiefen Spalten entlang, durch unberührte Höhlen, die von Gold schimmerten. Tiefer und tiefer wanderte er in die Unendlichkeit von Finsternis und Stein hinein, bis er die Stille und die Zeitlosigkeit in seine Knochen einzusaugen schien. Schließlich witterte er etwas, das noch älter war als der mäch-tige Berg. Der Pfad, den er entlangschritt, verlor sich in verfal-lenem Stein. Der Schein der Fackel schwamm über die tiefgrüne Steinplatte einer Tür, die sich einmal dem Klang seines Namens geöffnet hatte. Und da blieb er ungläubig stehen.

Der Boden war übersät von Felssplittern. Die Tür, die in die Kammern der Toten der Erdherren hineinführte, war zersprungen; eine Hälfte war in die Höhle hineingestürzt. In der Gruft selbst türmten sich riesige Brocken edelsteinfunkelnder Steine, die aus der gewölbten Decke herabgestürzt waren; die Wände hatten sich zusammengeschoben, um zu verbergen, was noch von den seltsamen bleichen Steinen im Inneren der Kammer geblieben war.

Er bahnte sich einen Weg zur Tür, doch er konnte nicht eintreten. Abgewinkelt drückte er einen Arm gegen die Tür und lehnte sein Gesicht daran. Er ließ seinen Geist in den Stein hineinfließen, durch Marmor, Amethyst und Gold sickern, bis er die Bruchstücke einesAhalb vergessenen Traums berührte. Er forschte tiefer; er fand keinen Namen, witterte nur einen Hauch von Wesen, die einmal lebendig gewesen waren.

Lange Zeit stand er so, an die Tür gelehnt, ohne sich zu rühren. Nach einer Weile erkannte er, weshalb er in die Tiefe des Berges hinuntergestiegen war, und er spürte, wie das Blut ihm rasch und kalt durch die Adern floß wie beim erstenmal, als er diese Schwelle seiner Bestimmung betreten hatte. Er gewann eine Bewußtheit, so klar wie nie zuvor, von dem Berg, der sich über seinem Kopf erhob, und von dem König, der in ihm wohnte, dessen uralter Geist in sich das Gewirr seiner Gänge und Tunnel barg, all seinen Frieden und all seine Macht. Noch einmal glitten seine Gedanken langsam durch die Tür, bis er das Herz des Steines berührte, Danans Geist fand, der in dieses winzige Bruchstück des Berges eingebunden war. Er ließ sein Gehirn Stein werden, uralt und schwer von Erz und Edelsteinen. Er trank alles Wissen, das der Stein barg, in sich hinein, das Wissen um seine große Kraft, seine geheimsten Farben, seine verwundbarste Stelle, wo er ihn mit einem Gedanken hätte zertrümmern können. Das Wissen wurde eine Bindung, ein Teil seiner selbst, der tief in seinem eigenen Geist verankert war. Als er dann im Inneren des Steines Aforschte, fand er wieder das wortlose Wissen, das Gesetz, das König an Stein band, den Landherrscher an den winzigsten Teil seines Königreichs. Er umschlang dieses Wissen, brach es, und der Stein barg keinen anderen Namen als seinen eigenen.

Er ließ sein Wissen um die Bindung in eine finstere Höhle tief in seinem Geist versinken. Langsam richtete er sich auf, schwitzend in der kühlen Luft. Seine Fackel war ausgegangen; er berührte sie, entzündete sie von neuem. Als er sich umdrehte, sah er Danan vor sich, so massig und still wie der Berg, die Züge ausdruckslos wie Felsgestein.

Unwillkürlich spannten sich Morgons Muskeln. Die Frage durchzuckte ihn, ob es eine Sprache gab, das zu erklären, was er getan hatte, ehe die schwerfällige Urkraft von Danans Zorn Steine aus ihrem Schlaf erweckte, ihn neben der Gruft der toten Kinder zu begraben. Dann sah er, wie die schwere Faust des Königs sich löste.

»Morgon.« Seine Stimme war voller Erstaunen. »Ihr wart es also, der mich hier heruntergezogen hat. Was tut Ihr?«

Als Morgon ihm nicht antworten konnte, legte er ihm sanft die Hand auf den Arm.

»Ihr habt Angst. Was tut Ihr, daß Ihr mich fürchten müßt?«

Morgon fühlte sich so leer und schwer wie ein Stein.

»Ich lerne Euer Landrecht.« Er lehnte sich an die feuchte Wand und hob Danan sein Gesicht entgegen, offen und ungeschützt.

»Woher habt Ihr solche Macht? Von Ghisteslohm?«

»Nein.« Er wiederholte das Wort leidenschaftlich. »Nein. Eher würde ich sterben, als Euch das anzutun. Nie wieder werde ich in Euren Geist eindringen —«

»Ihr seid in ihm. Isig ist mein Herz —«

»Ich werde Eure Bindungen nicht wieder zerreißen. Ich schwöre es. Ich werde ganz einfach meine eigenen bilden.«

»Aber warum? Was wollt Ihr mit solchem Wissen um Bäume und Steine?«

»Macht. Danan, die Gestaltwandler sind Erdherren. Ich kann nicht hoffen, gegen sie zu siegen, wenn ich nicht —«

Die Finger des Königs klammerten sich wie die Wurzeln eines Baumes um sein Handgelenk.

»Nein«, sagte er, wie Ghisteslohm gesagt hatte, als er sich der gleichen Erkenntnis gegenübergesehen hatte. »Morgon, das ist nicht möglich.«

»Danan«, flüsterte er, »ich habe ihre Stimmen gehört. Die Sprachen, die sie sprachen. Ich habe die Kräfte gesehen, die hinter ihren Augen eingesperrt liegen. Es ist möglich.«

Danans Hand glitt von seinem Arm. Langsam, schwerfällig ließ sich der König auf einen Haufen gesplitterter Felsbrocken sinken. Morgon, der auf ihn hinunterblickte, fragte sich plötzlich, wie alt er war. Seine Hände, die schwielig waren von Jahrhunderten harter Arbeit in den Steinen, machten eine ratlose Bewegung.

»Was wollen sie?«

»Den Erhabenen.«

Danan starrte ihn an.

»Sie werden uns vernichten.« Wieder griff seine Hand nach Morgon. »Und Euch. Was wollen sie von Euch?«

»Ich bin ihr Bindeglied zum Erhabenen. Ich weiß nicht, wie ich an ihn gebunden bin oder warum — ich weiß nur, daß ich seinetwegen aus meinem eigenen Land vertrieben wurde, daß ich seinetwegen mit Gewalt und unter Qualen in die Macht hineingetrieben wurde, bis ich jetzt selbst die Macht an mich reiße. Die Kräfte der Erdherren scheinen durch irgend etwas gefesselt zu sein. Vielleicht hat der Erhabene ihnen diese Fesseln angelegt, vielleicht ist das der Grund, weshalb sie ihn so verzweifelt suchen. Wenn es ihnen gelingt, ihn zu finden, dann werden die Kräfte, die sie gegen ihn freisetzen, uns vielleicht alle vernichten. Mag sein, daß er auf ewig in seinem Schweigen erstarrt bleibt; es fällt mir schwer, mein Leben und Euer aller Vertrauen für jemanden aufs Spiel zu setzen, der niemals spricht. Doch wenigstens werde ich, wenn ich für ihn kämpfe, auch für Euch kämpfen.« Er machte eine Pause, den Blick auf die Lichtflecken gerichtet, die das Feuer auf die rauhen, weichen Wände rundum warf. »Ich kann von Euch nicht verlangen, mir zu vertrauen«, sagte er leise. »Wo ich mir nicht einmal selbst traue. Ich weiß nur, daß der Weg, den ich gehen muß, mir von der Logik und vom Hunger vorgegeben ist.«

Er hörte das müde Seufzen des Königs, das aus den Schatten kam.

»Das Ende eines Zeitalters. Das sagtet Ihr mir, als Ihr das letztemal hier wart. Ymris ist nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, ehe der Krieg sich nach An und nach Herun ausbreitet und dann nach Norden über das ganze Reich. Ich habe ein Heer von Bergleuten, die Morgol hat ihre Wache, der Wolfskönig — hat seine Wölfe. Aber was ist das gegen ein Heer von Erdherren, die entschlossen sind, sich ihre Macht wieder zurückzuerobern? Und wie könnt Ihr — ein einzelner — selbst mit dem Ausmaß an Wissen um das Landrecht, das Ihr die Kraft habt, Euch anzueignen, dagegen etwas ausrichten?«

»Ich werde einen Weg finden.«

»Wie?«

»Danan, ich werde einen Weg finden. Sonst müssen wir alle sterben, und ich bin zu störrisch, um zu sterben.« Er setzte sich neben dem König nieder und ließ seinen Blick über den Schutt und das Geröll rundum schweifen. »Was ist hier geschehen? Ich wollte in den Geist der toten Kinder eintreten, um ihre Erinnerungen zu sehen, aber es ist nichts von ihnen übrig.«

Danan schüttelte den Kopf.

»Ich fühlte es gegen Ende des Sommers; eine Unruhe irgendwo im Mittelpunkt meiner Welt. Es geschah kurz bevor die Gestalt —, die Erdherren hierher kamen, um Euch zu suchen. Ich weiß nicht, wie oder von wem dieser Ort zerstört wurde.«

»Ich weiß es«, gab er flüsternd zurück. »Vom Wind. Von dem tief singenden Wind, der Gestein zertrümmert. Der Erhabene hat diesen Ort zerstört.«

»Aber warum? Er war ihr letzter Ruheplatz, der einzige Ort, wo sie Frieden hatten.«

»Ich weiß es nicht. Es sei denn — es sei denn, er fand eine andere Ruhestätte für sie, weil er selbst hier um ihren Frieden fürchtete. Ich weiß es nicht. Vielleicht wird es mir irgendwie gelingen, ihn zu finden, ihn in einer Gestalt festzuhalten, die ich begreifen kann, und ihn zu fragen, warum.«

»Wenn Ihr auch nur das fertigbringt — nur das —, dann ist das den Landherren Bezahlung genug für die Kraft, die Ihr dem Reich entzieht. Wenigstens werden wir dann wissen, warum wir sterben.« Er hievte sich hoch und legte seine Hand auf Morgons Schulter. »Ich begreife, was Ihr tut. Ihr braucht die Kräfte eines Erdherren, um die Erdherren zu bekämpfen. Wenn Ihr einen Berg auf Eure Schultern nehmen wollt, so gebe ich Euch Isig. Der Erhabene gibt uns Schweigen; Ihr gebt uns Hoffnung.«

Der König ließ ihn allein. Morgon ließ die Fackel auf den Boden fallen und sah zu, wie sie in der Dunkelheit verlosch. Er stand auf, ohne gegen seine Blindheit anzukämpfen; er sog vielmehr die Bergesschwärze in sich hinein, bis sie seinen Geist und seine Knochen auszufüllen schien. Seine Gedanken tasteten sich suchend in das Gestein rundum, glitten durch steinerne Tunnel, durch Luftschächte, durch Bäche und Rinnsale langsam fließenden, schwarzen Wassers. Er meißelte den Berg aus der Finsternis seiner ewigen Nacht heraus und nahm ihn in seinen Geist auf. Sein Geist stieß in harten Fels vor, dehnte sich nach außen durch Stein, durch Spalten der Stille und tiefe Seen, bis er auf Erdreich stieß. Da spürte Morgon die geduldige, immer weiter in die Tiefe gehende Bewegung von Baumwurzeln. Sein Bewußtsein erfüllte den Grund des Berges und stieg langsam und unerbittlich aufwärts. Er berührte den Geist blinder Fische, fremder Insekten, die in einer immer gleichbleibenden Welt lebten. Er wurde zum Topas, der in Stein eingeschlossen war; er hing mit dem Kopf nach unten blicklos im Gehirn der Fledermaus. Seine eigene Gestalt hatte sich aufgelöst; sein Fleisch verschmolz mit einer uralten Stille, stieg unaufhörlich aufwärts, schwer von Erz und Edelsteinen. Er konnte sein Herz nicht finden. Als er es in den Steinmassen suchte, erfühlte er den Namen eines anderen, das Herz eines anderen.

Er störte diesen Namen nicht, der in jeden Splitter des Berges eingebunden war. Während Stunden vergingen, die er nicht zählte, durcheilte sein Geist den ganzen Berg, tastete sich stetig durch Schächte, durch Granitgestein, durch Höhlen aufwärts, die in ihrer eigenen Schönheit leuchteten wie Danans geheime Gedanken. Die Stunden wurden zu Tagen, die er nicht zählte. Sein Geist, der auf dem Grund des Berges Isig verwurzelt war, erforschte alle Spalten und Risse im Berg, brach schließlich zum Gipfel durch, der schon mit dem ersten winterlichen Schnee bedeckt war.

Er fühlte die schwere Last des Berges. Sein Bewußtsein umspannte ihn in seiner ganzen Höhe und Masse. In einem winzigen Winkel der Dunkelheit weit unter ihm lag sein Körper wie ein Felssplitter auf dem Grund des Berges. Ihm war, als blickte er auf ihn herunter, nicht wissend, wie er die ungeheuren Massen seines geblähten Geistes wieder in ihn hineinzwängen sollte. Müde schließlich schloß sich ganz einfach eine Art inneres Auge in ihm, und sein Geist schmolz in die Dunkelheit.

Er erwachte unter der Berührung von Händen, die aus der Finsternis kamen, um ihn umzudrehen. Noch ehe er die Augen aufschlug, sagte er: »Ja, ja. Ich habe das Landrecht von Isig gelernt. Es braucht nur einen Gedankensprung, und ich könnte die Landherrschaft an mich reißen. Ist es das, was Ihr als nächstes von mir verlangen werdet?«

»Morgon!«

Er öffnete die Augen. Im ersten Moment glaubte er, die Morgendämmerung wäre in den Berg eingedrungen; die Mauern um ihn herum und Yrths verbrauchtes Gesicht mit den blinden Augen hoben sich schwachleuchtend aus dem Dunkel.

Dann flüsterte er: »Ich kann sehen.«

»Ihr habt einen Berg verschlungen. Könnt Ihr stehen?« Die großen, kräftigen Hände zogen ihn auf die Beine, noch ehe er antworten konnte. »Vielleicht könnt Ihr versuchen, mir ein wenig zu trauen. Ihr habt ja sonst alles versucht. Macht einen Schritt.«

Er wollte sprechen, doch der Geist des Zauberers erfüllte den seinen mit Bildern von einer kleinen Turmkammer, in der ein warmes Feuer loderte. Er trat in das Bild hinein und sah Rendel aufstehen, von Feuer umflossen, als sie auf ihn zukam. Er streckte die Arme nach ihr aus; ihr Weg zu ihm schien endlos, und als er sie endlich berührte, löste sie sich in Feuer auf.

Er erwachte und hörte sie zart auf einer Flöte spielen, die einer der Handwerker ihr geschenkt hatte. Sie brach ab und lächelte, als er sie ansah; doch sie sah matt und blaß aus. Er setzte sich auf und küßte sie.

»Du mußt müde sein, ständig darauf warten zu müssen, daß ich aufwache.«

»Es wäre schön, mit dir zu reden«, gab sie sehnsüchtig zurück. »Entweder schläfst du oder du verschwindest. Yrth war fast den ganzen Tag hier. Ich habe ihm aus alten Zauberbüchern vorgelesen.«

»Das war gut von dir.«

»Morgon, er bat mich darum. Ich hatte so viele Fragen an ihn, aber ich konnte sie ihm nicht stellen. Plötzlich waren sie wie weggeblasen — bis er ging. Ich glaube, ich studiere die Zauberkunst. Die Zauberer wissen mehr kleine Verwünschungen und Bannsprüche als selbst die Hexen. Bist du dir eigentlich darüber im klaren, was du tust? Abgesehen davon, daß du dich halb umbringst?«

»Ich tue das, was du mir geraten hast. Ich trage einen Rätselkampf aus.«

Er stand auf, ganz plötzlich von einem überwältigenden Hungergefühl gepackt. Doch er fand nur Wein. Er spülte einen Becher voll hinunter, während Rendel zur Tür ging, mit einem der Bergleute sprach, die dort Wache standen.

Er goß sich noch einen Becher Wein ein und sagte, als sie zurückkehrte: »Ich habe dir ja gesagt, daß ich alles tun würde, was er von mir verlangt. Das war immer so.« Schweigend blickte er sie an und fügte dann hinzu: »Ich weiß nicht, vielleicht habe ich schon verloren. Ich werde nach Osterland reisen und Har um das gleiche bitten. Das Wissen um sein Landrecht. Und dann nach Herun, wenn ich noch am Leben bin. Und dann nach Ymris.«

»In ganz Ymris wimmelt es von Erdherren.«

»Bis dahin werde ich auch denken wie ein Erdherr. Und bis dahin wird vielleicht der Erhabene endlich sein Schweigen brechen und mich entweder dafür verdammen, daß ich nach seiner Macht gegriffen habe, oder mir erklären, was, in Hels Namen, ich eigentlich tue.« Er leerte den zweiten Becher Wein und sagte dann heftig zu ihr: »Ich kann allein auf die Lehrsätze der Rätselkunst vertrauen. Der Weise kennt seinen eigenen Namen. Mein Name ist der Name der Macht. Und so suche ich, ihn zu erlangen. Erscheint dir das falsch? Es macht mir Angst. Aber dennoch strecke ich die Arme aus.«

Sie schien so unsicher, wie er sich fühlte, doch sie erwiderte nur ruhig: »Wenn es jemals falsch erscheint, dann bin ich da, es dir zu sagen.«

Spät am Abend saß er mit Yrth und Danan allein im Saal des Königs. Alle anderen Mitglieder des Haushalts waren zu Bett gegangen. Sie saßen nah dem Feuer; Morgon, der die alten, verwitterten Gesichter des Königs und des Zauberers betrachtete, spürte die Liebe beider zu dem mächtigen Berg. Auf Yrths Bitte hatte er seine Harfe aus der Luft genommen. Die Hände des Zauberers glitten von Saite zu Saite und lauschten jedem einzelnen Ton nach. Doch er spielte nicht auf dem Instrument.

»Ich muß bald nach Osterland aufbrechen«, bemerkte Morgon zu Danan, »um von Har zu erbitten, was ich von Euch erbat.«

Danan sah Yrth an. »Werdet Ihr ihn begleiten?«

Der Zauberer nickte. Seine hellen Augen trafen die von Morgon wie durch Zufall.

»Wie wollt Ihr dorthin reisen?« fragte er.

»Wir werden wahrscheinlich fliegen. Ihr versteht die Krähengestalt.«

»Drei Krähen über den toten Feldern von Osterland.« Er zupfte sachte eine Saite. »Nun ist in Yrye beim Wolfskönig. Sie war hier, während Ihr schlieft, um uns Nachricht zu bringen. Sie war in den Drei Teilen gewesen, um Talies bei der Suche nach Euch zu helfen. Mathom von An versammelt ein gewaltiges Heer von Lebendigen und Toten, um den Streitkräften von Ymris zu Hilfe zu eilen. Er sagt, er hätte keine Lust, zu Hause zu sitzen und auf das Unvermeidliche zu warten.«

Danan richtete sich auf.

»Sagt er das?« Er lehnte sich vor, die bärenstarken Hände verschränkt. »Ich habe vor, meine Bergleute mit Schwertern, Äxten und Pickeln zu rüsten — mit allen Waffen, die wir haben — und sie nach Süden zu führen. In Kyrth und Kraal liegen Schiffe von mir, die Waffen und Rüstungen nach Ymris bringen sollen. Ich könnte auch ein Heer auf ihnen befördern.«

»Ihr —« begann Morgon, und die Stimme versagte ihm. »Ihr könnt Isig nicht verlassen.«

»Ich habe es noch nie getan«, bekannte der König, »aber ich werde Euch nicht allein kämpfen lassen. Und wenn Ymris fällt, so wird auch Isig früher oder später fallen. Ymris ist das Bollwerk des Reiches.«

»Aber, Danan, Ihr seid kein Krieger.«

»Ihr auch nicht«, entgegnete Danan unwiderlegbar.

»Wie wollt Ihr mit Pickeln gegen die Erdherren antreten?«

»Wir haben es hier auch getan. Und wir werden es in Ymris tun. Ihr habt nur eine Aufgabe, so scheint es. Den Erhabenen zu finden, ehe es ihnen gelingt.«

»Ich versuche es mit allen Kräften. Ich habe jede Bindung des Landrechts in Isig erforscht, und es schien ihn überhaupt nicht zu kümmern. Es ist beinahe so, als täte ich genau das, was er will.«

Seine Worte vibrierten auf eine seltsame Art und Weise durch seinen Geist. Doch Yrth riß ihn aus seinen Gedanken, indem er ein wenig unsicher nach seinem Weinbecher griff. Morgon reichte ihn ihm, ehe er ihn umstoßen konnte.

»Ihr gebraucht gar nicht unsere Augen.«

»Nein. Manchmal sehe ich im Dunkeln klarer. Mein Geist greift aus, der Welt um mich herum Gestalt zu geben, aber geringe Entfernungen zu schätzen, ist nicht so einfach.« Er reichte Morgon die gestirnte Harfe zurück. »Selbst nach all den Jahren weiß ich noch genau, welchen Gebirgsbach, welches Wispern von Feuer, welchen Vogelruf ich in jede Saite band.«

»Ich würde Euch gern auf ihr spielen hören«, sagte Morgon.

Der Zauberer schüttelte ruhig den Kopf.

»Nein, Ihr würdet das gewiß nicht gern hören. Ich spiele dieser Tage sehr schlecht, wie Danan Euch sagen könnte.« Er wandte sich Danan Isig zu. »Wenn Ihr wirklich nach Ymris wollt, dann solltet Ihr bald aufbrechen. Wir befinden uns an der Schwelle des Winters, und gerade zu einer solchen Zeit wird man Euch vielleicht dringend brauchen. Die Krieger von Ymris mögen den Schnee nicht, doch den Erdherren würde er überhaupt nichts ausmachen. Sie und das Wetter werden erbarmungslose Gegner sein.«

»Nun«, meinte Danan nach kurzem Schweigen, »entweder bekämpfe ich sie im Winter von Ymris, oder ich bekämpfe sie in meinem eigenen Haus. Ich werde gleich morgen anfangen, Leute und Schiffe zusammenzuholen. Ash lasse ich hier. Das wird ihm nicht passen, aber er ist mein Landerbe, und es wäre unsinnig, unserer beider Leben in Ymris aufs Spiel zu setzen.«

»Er wird an Eurer Stelle gehen wollen«, bemerkte Yrth.

»Ja, ich weiß.« Seine Stimme war ruhig, doch Morgon spürte die Kraft, die sich in ihr ausdrückte, die unbeugsame Kraft von Stein, der vielleicht ein einziges Mal während seines Daseins donnernd in Bewegung geraten würde. »Er wird bleiben. Ich bin alt, und wenn ich sterbe. Die mächtigen, verwitterten, alten Bäume richten den schwersten Schaden an, wenn sie fallen.«

Morgons Hände schlössen sich fest um die Armlehnen seines Sessels.

»Danan«, bat er, »geht nicht. Es ist nicht notwendig, daß Ihr Euer Leben aufs Spiel setzt. In unserem Geist seid Ihr mit den ersten Jahren des Reiches verbunden. Wenn Ihr umkommt, wird in uns allen ein Stückchen Hoffnung sterben.«

»Doch, es ist notwendig, daß ich an diesem Kampf teilnehme. Ich kämpfe für all jene Dinge, die mir kostbar sind. Isig. Die Menschen, die in ihm wohnen und an das Leben dieses Berges gebunden sind. Und ich kämpfe auch für Euch.«

»Gut«, erwiderte er leise. »Gut. Ich werde den Erhabenen finden, und wenn ich so lange mit aller Gewalt an seiner Macht rütteln muß, bis er sich aus seinem Versteck hervorwagt, um mir Einhalt zu gebieten.«

Als er wieder in die Turmstube hinaufkam, sprach er noch lange mit Rendel. Er lag neben ihr auf den weichen Fellen am Feuer. Sie hörte ihm schweigend zu, während er ihr von seinen Absichten und Danans Kriegsplänen erzählte und ihr die Neuigkeiten mitteilte, die Nun über Rendels Vater nach Isig gebracht hatte.

»Es würde mich interessieren«, sagte sie, während ihre Finger die Haare des Schaffells zwirbelten, »ob in Anuin das Dach eingestürzt ist von dem Gebrüll, das es bei dieser Entscheidung gegeben hat.«

»Er hätte die Entscheidung nicht getroffen, wenn er den Krieg nicht für unvermeidbar hielte.«

»Na ja. Er hat den Krieg schon vor langer Zeit kommen sehen mit seinen Krähenaugen.« Sie seufzte. »Da reiten sie nun nach Ymris, Rood auf der einen Seite, Duac auf der anderen, und den ganzen Weg werden sie sich unentwegt in den Haaren liegen.«

Sie brach ab, ihre Augen ins Feuer gerichtet, und er sah die Sehnsucht in ihrem Gesicht. Er streichelte ihre Wange.

»Rendel, willst du für eine Weile nach Hause zurückkehren, und sie zu sehen? Du könntest in ein paar Tagen dort sein, wenn du fliegst, und mich dann irgendwo treffen — in Herun vielleicht.«

»Nein.«

»Ich hab’ dich in Staub und Hitze die Handelsstraße hinuntergeschleppt; ich hab’ dir zugesetzt, bis du endlich bereit warst, die Gestalt zu wandeln; ich habe dich Ghisteslohm in die Hände geliefert; und dann ließ ich dich allein zurück, den Erdherren preisgegeben, während ich floh —«

»Morgon.«

»Und danach, nachdem du dich deiner eigenen Kräfte bemächtigt hattest und mir durch das ganze Hinterland bis zum Erlenstern-Berg gefolgt warst, floh ich wiederum und verkroch mich in der Einöde, ohne dir auch nur ein Wort zu sagen, so daß du den ganzen Norden nach mir absuchen mußtest. Dann bringst du mich zurück, und ich rede kaum ein Wort mit dir. Wie, in Hels Namen, kannst du mich überhaupt noch ertragen?«

Sie lächelte. »Ich weiß nicht. Manchmal frage ich mich das auch. Dann streichelst du mein Gesicht und liest meine Gedanken. Deine Augen kennen mich. Das ist der Grund, weshalb ich dir über das ganze Reich folge, barfuß oder halb erfroren, bald die Sonne verfluchend oder den Wind, oder auch mich selbst, weil ich so töricht bin, einen Mann zu lieben, der nicht einmal ein Bett besitzt, in das ich mich des Nachts verkriechen kann. Und manchmal verfluche ich auch dich, weil du meinen Namen auf eine Weise ausgesprochen hast, wie nie ein anderer Mann im Reich ihn aussprechen wird, und immer werde ich ihn so hören wollen bis zum Tag, an dem ich sterbe. Wie«, fügte sie hinzu, während er sie stumm anblickte, »kann ich dich also verlassen?«

Er legte sein Gesicht an das ihre, so daß ihre Stirnen und Wangenknochen einander berührten, und blickte ihr tief in die goldenen Bernsteinaugen. Er sah das Lächeln, das sich in ihnen spiegelte. Sie legte ihre Arme um ihn, küßte das Grübchen an seinem Halsansatz, dann sein Herz. Danach schob sie ihre Hand zwischen ihre Münder. Er murmelte einen Protest gegen ihre Handfläche.

»Ich möchte reden«, sagte sie.

Mit einem tiefen Atemzug setzte er sich auf und warf noch ein Holzscheit ins Feuer.

»Gut.«

»Morgon, was willst du tun, wenn dieser Zauberer mit seinen Harfenhänden dich wieder verrät? Wenn du ihm den Erhabenen findest und dann zu spät erkennst, daß er einen Geist hat, der noch geheimnisvollere Wege geht als der Ghisteslohms?«

»Ich weiß bereits, daß das so ist.« Grüblerisch starrte er vor sich hin, die Arme um seine angezogenen Knie gelegt. »Genau über diese Frage habe ich unaufhörlich nachgedacht. Hast du in Lungold gesehen, ob er geistige Kräfte einsetzte?«

»Ja. Er schützte die Händler, während sie kämpften.«

»Dann ist er kein Erdherr; ihre Kräfte sind gefesselt.«

»Er ist ein Zauberer.«

»Oder etwas anderes, wofür wir keinen Namen haben — das ist es, was ich fürchte.« Er hob den Kopf. »Er hat nicht einmal versucht, Danan davon abzubringen, seine Bergleute nach Ymris zu führen. Sie sind keine Krieger; sie werden niedergemetzelt werden. Und Danan verdient es nicht, auf einem Schlachtfeld zu sterben. Er sagte mir einmal, wenn es für ihn Zeit wäre, die Welt zu verlassen, dann wollte er ein Baum werden, im Angesicht der Sonne und der Sterne. Aber er und Yrth kennen einander seit Jahrhunderten. Vielleicht wußte Yrth, daß es sinnlos gewesen wäre, mit einem Stein zu streiten.«

»Wenn es Yrth ist. Können wir uns denn selbst dessen sicher sein?«

»Ja. Er trug Sorge, es mich wissen zu lassen. Er spielte meine Harfe.«

Still ließ sie ihre Finger seinen Rücken hinauf- und hinuntergleiten.

»Nun«, meinte sie leise, »dann können wir ihm vielleicht trauen.«

»Ich habe es versucht«, flüsterte er. Ihre Hand wurde ruhig. Sie streckte sich wieder neben ihm aus und lauschte dem Knistern des brennenden Fichtenholzes. Er legte einen Arm über seine Augen. »Ich werde scheitern. Ich konnte nie einen Streit mit ihm gewinnen. Ich konnte ihn nicht einmal töten. Alles, was ich tun kann, ist warten, bis er sich zu erkennen gibt, und da ist es dann vielleicht schon zu spät.«

Sie erwiderte etwas darauf. Doch er hörte nicht, was es war, denn im Dunkel seines Geistes regte sich etwas, das er noch nicht bestimmen konnte. Zunächst fühlte es sich an wie eine geistige Berührung, der er keinen Einhalt gebieten konnte. Da ließ er sie zu und suchte sie zu erforschen, und es wurde ein verschwommenes Geräusch daraus. Seine Lippen öffneten sich; die Luft kam hastig aus seinen Lungen. Das verschwommene Geräusch schwoll zu einem Heulen an wie das Heulen des Meeres, das Piers und Boote und Fischerhäuser zertrümmert, sich dann zu einer riesigen Flutwelle auftürmt, die über Felsen hinwegspült, um das Getreide auf den Feldern auszureißen, Bäume umzustürzen, während es tosend durch die Nacht tobt und die Schreie von Menschen und Tieren ertränkt. Ohne sich dessen bewußt zu sein, sprang er auf und gab den Schrei zurück, den er im Geist des Landherrschers von Hed hörte.

»Nein!«

Er hörte Stimmengewirr. Er konnte nichts sehen in der wirbelnden schwarzen Flut. Sein Körper schien von den Adern des Landrechts durchpulst. Er spürte, wie die grausame Flutwelle zurückwich, aufgeplatzte Getreidesäcke, Schafe und Schweine, Bierfässer, die zerschmetterten Mauern von Scheunen und Häusern, Zaunpfosten, Suppentöpfe, Eggen und schreiende Kinder mit sich riß. Jemand packte ihn und rief wieder und wieder seinen Namen. Entsetzen, Verzweiflung, hilfloser Zorn schüttelten ihn. Ein Geist suchte den seinen zu fassen, doch er war in Hed, tausend Meilen entfernt. Dann schlug ihm eine Hand schmerzhaft ins Gesicht, so daß er nach rückwärts taumelte, heraus aus den grauenvollen Bildern.

Yrths blinde Augen blickten ihn an. Eine glühende Welle der Wut auf die unverständliche Ungerechtigkeit des Zauberers schoß mit solcher Heftigkeit in ihm auf, daß er nicht einmal sprechen konnte. Er ballte die Faust und holte aus. Yrth war weit kräftiger, als er erwartet hatte; der Schlag riß ihm selbst fast den Arm aus der Schulter und ließ die Haut über seinen Knöcheln aufplatzen. Es war, als hätte er gegen Stein oder gegen Holz geschlagen. Yrth machte ein leicht erstauntes Gesicht, waberte in der Luft, ehe er vielleicht gestürzt wäre, und löste sich auf. Einen Augenblick später erschien er wieder und hockte sich am Feuer nieder, die Hand auf eine blutende Wange gedrückt.

Zwei Wächter an der Tür und Rendel hatten denselben Ausdruck auf ihren Gesichtern. Und sie schienen wie in Eis erstarrt.

Morgon schnappte nach Luft. Die plötzliche Wut war verraucht.

»Sie greifen Hed an. Ich muß hin«, sagte er.

»Nein.«

»Das Meer stieg bis über die Felsen. Ich hörte — ich hörte ihre Stimmen, Eliards Stimme. Wenn er tot ist — ich schwöre es, wenn er tot ist —, wenn Ihr mich nicht geschlagen hättet, dann wüßte ich es jetzt! Ich war in seinem Geist. Tol — Tol ist zerstört worden. Alles. Alle.« Er sah Rendel an. »Ich bin zurück, sobald ich kann.«

»Ich komme mit«, flüsterte sie.

»Nein.«

»Doch.«

»Morgon«, mischte sich Yrth ein. »Sie werden Euch töten.«

»Tristan!« Seine Hände verkrampften sich. Er schluckte einen Kloß hinunter, der ihm die Kehle zuschnürte. »Ich weiß nicht, ob sie lebt!«

Er schloß die Augen und ließ seinen Geist durch die dunkle, regennasse Nacht fliegen, über die weiten Wälder, so weit die Kraft seines Geistes reichte. Doch ein Bild formte sich in seinem Geist, zog ihn zurück, und Morgon öffnete die Augen und starrte auf die feurig schimmernden Wände des Turms.

»Es ist eine Falle«, sagte Yrth.

Seine Stimme klang dumpf von Schmerz, aber sie war voller Geduld. Morgon antwortete nicht. Er zeichnete mit seinem Geist das Bild eines Falken, doch noch ehe er auch nur angefangen hatte, seine Gestalt zu wandeln, versank das Bild in einem Paar heller, ausgebrannter Augen, die in seinen Geist blickten. Sie holten ihn zu sich selbst zurück.

»Morgon, ich gehe nach Hed. Euch erwarten sie; mich kennen sie kaum. Ich kann schnell reisen; ich werde sehr bald zurück sein.«

Mit einer ruckartigen Bewegung stand er auf, als Morgon seinen Geist mit Trugbildern von Feuern und Schatten füllte und sich in ihnen auflöste. Er hatte schon fast die Tür des Gemachs erreicht, als die Augen des Zauberers stechend seine Gedanken durchdrangen und seine Konzentration zerrissen.

Der Zorn flammte wieder in ihm auf. Er ging weiter, und das Trugbild massiven Steines in der Türöffnung versperrte ihm den Weg.

»Morgon«, sagte der Zauberer, und Morgon wirbelte herum. Er schleuderte einen Schrei in Yrths Geist, der die Aufmerksamkeit des Zauberers von dem Trugbild, das er geschah fen hatte, hätte abdrängen müssen. Doch der Schrei verklang mit ödem Echo in seinem Geist, der ein bodenloser Abgrund von Dunkelheit zu sein schien.

Morgon stand still, die Hände gegen den Stein gedrückt, der gar kein Stein war, einen dünnen Schweißfilm von Furcht und Erschöpfung auf seinem Gesicht. Die Dunkelheit war wie eine Warnung. Doch wieder schickte er seinen Geist in sie hinein, sie zu erforschen, den Trug zu durchdringen, um den wahren Geist des Zauberers zu entdecken. Er stolperte nur immer tiefer in Finsternis, während er gleichzeitig das Gefühl hatte, daß ungeheure Kräfte vor seinem Tasten ständig zurückwichen. Er folgte ihnen, bis er den Rückweg nicht mehr fand.

Langsam tauchte er aus der Dunkelheit auf. Er sah, daß er reglos am Feuer saß. Rendel war neben ihm, ihre Finger um seine schlaffe Hand geschlossen. Yrth stand vor ihnen. Sein Gesicht war grau vor Ermattung; seine Augen waren blutunterlaufen. Seine Stiefel und der Saum seines langen Gewandes waren von verkrustetem Schmutz und eingetrocknetem Salz gefleckt. Die Wunde auf seiner Wange hatte sich geschlossen.

Morgon fuhr hoch. Danan, der auf seiner anderen Seite war, beugte sich zu ihm nieder und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Morgon«, sagte er leise und behutsam, »Yrth ist eben aus Hed zurückgekommen. Es ist später Vormittag. Er war zwei Nächte und einen Tag weg.«

»Was habt Ihr —?« Allzu heftig sprang er in die Höhe. Danan hielt ihn, stützte ihn, während der Blutschwall hinter seinen Augen langsam zurückwich. »Wie habt Ihr mir das angetan?« flüsterte er.

»Morgon, verzeiht mir.« In der müden, gespannten Stimme schienen Untertöne einer anderen Stimme zu geistern. »Die Erdherren erwarteten Euch in Hed. Wärt Ihr dort hingegangen, so wärt Ihr dort gestorben, und noch mehr Menschen wären im Kampf für Euch gefallen. Sie konnten Euch nirgendwo finden; sie wollten Euch aus Eurem Versteck locken.«

»Eliard —«

»Er ist in Sicherheit und gesund. Als ich kam, stand er inmitten der Trümmer von Akren. Die Flut zerstörte Tol, Akren und die meisten Höfe an der Westküste. Ich habe mit den Bauern gesprochen; sie erzählten mir, sie hätten bewaffnete Fremde gesehen, sonderbare Gestalten, die nicht in Hed zu Hause wären. Ich fragte einen der Toten; er erklärte mir, gegen die Gestalt des Wassers wäre wenig auszurichten. Ich habe mich Eliard zu erkennen gegeben und sagte ihm, wo Ihr seid. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Er sagte, er wüßte, daß Ihr die Zerstörung gefühlt hättet, aber er wäre froh, daß Ihr vernünftig gewesen wärt, nicht zu kommen.«

Morgon holte tief Atem.

»Und Tristan?«

»Soweit Eliard unterrichtet ist, ist ihr nichts geschehen. Irgendein schwachsinniger Händler erzählte ihr, daß Ihr verschwunden wärt. Daraufhin machte sie sich auf, Euch zu suchen, doch ein Seemann erkannte sie in Caithnard und hielt sie fest. Sie ist jetzt auf der Fahrt nach Hause.«

Morgon legte seine Hand über die Augen. Der Zauberer hob die Hand, um ihn zu berühren, doch er wich zurück.

»Morgon.« Die Worte schienen aus der Tiefe der Erschöpfung des Zauberers zu kommen. »Es war kein komplizierter Bann. Ihr konntet nur nicht klar genug denken, ihn zu brechen.«

Er hielt inne, als er merkte, wie verwirrt Danan war, der ihnen doch beiden traute. Das dunkle Rätsel von den Kräften des Zauberers beschattete wieder seine Gedanken und das ganze Reich von Isig und Hed. Ein Entkommen schien es nicht zu geben. Hoffnungslos begann er zu schluchzen, da er keine andere Lösung wußte. Der Zauberer saß zusammengesunken da, als trüge er die Last des ganzen Reiches auf seinen Schultern, und gab ihm nichts als Schweigen.

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