Kap. 6

Rendel schluchzte. Er versuchte, sie zu beruhigen, drückte sie an sich, während er lauschte, doch sie konnte nicht aufhören. Durch ihr Weinen hindurch hörte er das Knirschen der Räder im Staub und das Pfeifen des Fahrers, das durch die Tuchballen, die hinter ihm aufgestapelt waren, und durch die Plane, die den Wagen überspannte, nur gedämpft zu vernehmen war. Auf der Straße war es still; er hörte keine Geräusche, keinen Tumult hinter ihnen. Sein Kopf schmerzte; er lehnte sich gegen das Leinen. Seine Augen schlössen sich. Wieder donnerte Finsternis geräuschlos auf ihn zu. Ein Wagenrad rumpelte polternd durch ein Schlagloch, und er fuhr hoch. Rendel entwand sich seinen Armen und setzte sich auf. Sie schob sich das Haar aus den Augen. »Morgon, er kam in der Nacht und holte mich, und ich war barfuß — ich konnte nicht einmal rennen. Ich dachte, du wärst es. Ich habe nicht einmal Schuhe an. Was, in Hels Namen, wollte dieser Harfner nur? Ich verstehe ihn nicht. Ich —« Sie brach plötzlich ab und starrte ihn an, als wäre er ein Gestaltwandler, den sie unversehens neben sich gefunden hatte. Sie drückte eine Hand auf ihren Mund und berührte mit der anderen sein Gesicht. »Morgon...«

Er legte seine Hand auf ihre Stirn, blickte auf das Blut an seinen Fingern und stieß einen Laut der Überraschung aus. Eine Hälfte seines Gesichts brannte von der Schläfe bis zum Unterkiefer hinunter wie Feuer. Seine Schulter schmerzte; sein Kittel fiel auseinander, als er ihn berührte. Ein blutender, breiter Riß, wie von einem scharfen Pferdehuf geschlagen, pflanzte sich von seinem Gesicht über seine Schulter bis zur Mitte seiner Brust fort.

Langsam richtete er sich auf und starrte auf die Blutflecken, die er auf dem Boden des Wagens, auf dem feinen Tuch des Händlers zurückgelassen hatte. Ein heftiges Zittern überkam ihn plötzlich und drückte sein Gesicht gegen seine Knie.

»Ich bin mit offenen Augen in diese Falle hineingelaufen.« Er fing an, sich selbst nach allen Regeln der Kunst zu verwünschen, bis er sie aufstehen hörte. Er packte sie am Handgelenk und zog sie wieder herunter. »Nein!«

»Willst du mich wohl loslassen! Ich werde dem Händler sagen, daß er anhalten soll. Wenn du mich nicht sofort losläßt, schreie ich.«

»Nein. Rendel, hör mir zu. Willst du wohl zuhören! Wir befinden uns nur ein paar Meilen westlich von der Stelle, wo wir gefangen wurden. Die Gestaltwandler werden uns suchen. Und Ghisteslohm auch, wenn er nicht tot ist. Wir müssen ihnen entkommen.«

»Ich habe nicht einmal Schuhe an den Füßen! Und wenn du mir jetzt sagst, daß ich mich verwandeln soll, dann verfluche ich dich.« Dann streichelte sie wieder seine Wange und schluckte. »Morgon, kannst du nicht aufhören zu weinen?«

»Hab5 ich noch nicht aufgehört?«

»Nein.« Ihre eigenen Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Du siehst aus wie ein Gespenst aus Hel. Bitte laß dir von dem Händler helfen.«

»Nein!«

Der Wagen kam plötzlich mit einem Ruck zum Stehen. Morgon stöhnte. Unsicher stand er auf und zog sie hoch. Das verdutzte Gesicht des Händlers blickte durch einen Spalt in der Plane nach rückwärts zu ihnen.

»Bei den Augen des Wolfskönigs, was macht Ihr dort hinten?« Er zog die Plane weiter auseinander, so daß das Licht auf sie fiel. »Schaut doch, was Ihr da mit dem bestickten Stoff angestellt habt! Ist Euch eigentlich klar, wieviel das kostet? Und der weiße Samt dort.«

Morgon hörte, wie Rendel Atem holte, um etwas zu erwidern. Er umfaßte ihre Hand und schickte seinen Geist vorwärts wie einen Anker, der an seiner Kette über das Wasser geworfen wird und versinkt, um in den Wellen einen Ruheplatz zu finden. Er fand ein stilles, sonnenbeschienenes Stück Straße, wo nur ein einsamer Musikant auf dem Rücken seines Pferdes vor sich hin trällerte, während er gen Lungold ritt. Morgon bannte Rendels Geist, so daß sie mitten im Satz innehielt, und trat mitten hinein in den Gesang.

Nur kurz standen sie auf der Straße, während der Sänger sich von ihnen entfernte, ohne sie zu bemerken. Das plötzliche Licht drehte sich in wirbelnden Kreisen um Morgon. Rendel lehnte sich mit einer überraschenden Kraft gegen die Umklammerung durch seinen Geist auf. Sie war zornig, das spürte er, und darunter voller Angst. Sie hätte seinen Bann brechen können, das wußte er plötzlich, als er den unerschöpflichen Kraftquell in ihr witterte, doch sie war zu verängstigt, um ihre Gedanken und ihre Energien zu bündeln. Formlos, weit geöffnet flog sein Geist wieder über die Straße dahin, berührte das Wesen von Pferden, eines Falken, von Krähen, die pickend um ein erloschenes Lagerfeuer hockten. Ein Bauernbursche, der sein Erbe hinter sich ließ und auf einem alten Ackergaul die Straße hinunterritt, um in Lungold sein Glück zu machen, war neuer Ankerplatz für Morgons Geist. Wieder ging Morgon vorwärts. Während sie in der Staubwolke standen, die der Ackergaul aufgewirbelt hatte, hörte Morgon sein eigenes keuchendes, erschöpftes Atmen. Irgend etwas traf mit schmerzhaften Schlägen seinen Geist, und beinahe hätte er sich gewehrt; dann aber merkte er, daß es Rendels geistiger Schrei war. Er brachte ihren Geist und den seinen zur Ruhe und blickte weit voraus, die Straße hinunter.

Ein Schmied, der von Dorf zu Dorf wanderte, Pferde beschlug und Kessel flickte, saß dösend in seinem Wagen und träumte von kühlem Bier. Morgon träumte seinen Traum mit ihm und folgte ihm durch den heißen Morgen. Rendel war seltsam still. Ein heftiges Verlangen, mit ihr zu sprechen, überkam ihn, doch er wagte nicht, seine Konzentration zu brechen.

Wieder öffnete er seinen Geist und warf ihn aus und hörte schließlich das Gelächter einer Gruppe von Händlern. Er sog es in sich ein, bis es unmittelbar neben ihm unter den Bäumen war. Und da entglitt ihm plötzlich Rendels Geist. Bestürzt suchte er nach ihm, berührte aber nur die unbestimmten Gedanken von Bäumen oder Tieren. Er konnte sie mit seinem Geist nicht finden. Als seine Konzentration zerbrach, sah er sie vor sich stehen.

Sie atmete hastig, während sie ihn anstarrte. Ihr Körper war gespannt, als wollte sie schreien oder zuschlagen.

»Noch einmal«, sagte er. »Bitte. Zum Schluß.«

Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie. Er berührte ihre Hand und ihren Geist. Er tastete im Sonnenlicht nach kühlen Wesen: Fischen, Wasservögeln, Flußbewohnern. Der Fluß tauchte vor ihnen auf; sie standen an seinem Ufer auf einer weichen, grasbewachsenen Lichtung, von hohem Farnkraut umgeben.

Er gab Rendel frei, fiel auf Hände und Knie und trank. Die Stimme des Wassers kühlte das Brennen der Sonne, deren sengende Strahlen seinen Geist blendeten. Er blickte zu Rendel auf und wollte sprechen. Er konnte sie nicht sehen. Da streckte er sich wieder aus, das Gesicht nahe am Wasser, und schlief ein.

Mitten in der Nacht erwachte er und sah Rendel neben sich sitzen. Im sanften Schein ihres Feuers wachte sie über ihn. Lange sahen sie einander an, ohne zu sprechen, wie in Erinnerungen versunken. Dann berührte Rendel sein Gesicht. Ihre Züge waren gespannt; in ihren Augen stand ein Ausdruck, den er nie zuvor gesehen hatte.

Ein merkwürdiger Schmerz lag ihm beengend in der Kehle.

»Verzeih mir«, flüsterte er. »Es war der letzte Ausweg.«

»Es ist ja gut.« Sie prüfte den Verband auf seiner Brust; er sah, daß er aus Streifen ihres Hemdes war. »Ich habe dir Kräuter aufgelegt, wie die Schweinehirtin — ich meine Nun — sie verletzten Schweinen aufzulegen pflegte. Ich hoffe, sie tun auch bei dir ihre Wirkung.«

Er nahm ihre Hände in die seinen und hielt sie fest.

»Bitte. Sag es.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Niemand hat je zuvor meinen Geist beherrscht. Ich war so wütend auf dich, daß ich mich nur noch von dir befreien und nach Anuin zurückkehren wollte. Und dann — es gelang mir, mich zu befreien. Und ich bin bei dir geblieben, weil du — weil du um das Wesen der Macht weißt. Die Gestaltwandler, die mich ihre Verwandte nannten, besitzen dieses Wissen auch, aber dir vertraue ich.«

Sie schwieg; er wartete. Er sah sie seltsam verwandelt im Feuerschein. Die wirre Masse ihres Haares war wie frischer Seetang, ihre Haut glatt schimmernd wie Perlmutt, der Ausdruck auf ihrem Gesicht ständig wechselnd wie das Spiel des Lichts auf dem Meer.

Ganz plötzlich wandte sie ihr Gesicht von ihm ab.

»Ich will nicht, daß du mich so ansiehst!«

»Verzeih mir«, sagte er wieder. »Du hast so schön ausgesehen. Weißt du, was für eine Macht man besitzen muß, um die Fesseln eines Banns zu zerreißen, den ich gelegt habe?«

»Ja. Die Macht eines Gestaltwandlers. Und die besitze ich.«

Stumm sah er sie an. Ein feiner Schauder von Kälte durchrann ihn.

»Und diese Macht haben sie.« Abrupt setzte er sich auf, bemerkte kaum das schmerzhafte Ziehen von seiner Schulter abwärts. »Warum wenden sie sie nicht an? Sie wenden sie niemals an. Sie hätten mich längst töten sollen. In Herun hätte der Gestaltwandler Corrig mich töten können, während ich schlief; statt dessen spielte er nur auf seiner Harfe. Er forderte mich heraus, ihn zu töten. In Isig — drei Gestaltwandler brachten es nicht fertig, einen Bauernfürsten aus Hed zu töten, der in seinem Leben nie ein Schwert in der Hand gehabt hatte! Was, in Hels Namen, sind sie? Was wollen sie von mir? Was will Ghisteslohm?«

»Glaubst du, sie haben ihn getötet?«

»Ich weiß es nicht. Er war wahrscheinlich gescheit genug zu fliehen. Es wundert mich, daß wir ihn nicht neben uns im Wagen fanden.«

»Sie werden dich in Lungold suchen.«

»Ich weiß.« Er strich sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich weiß. Vielleicht gelingt es mir mit der Hilfe der Zauberer, sie von der Stadt fortzuschicken. Ich muß schnell hin. Ich muß —«

»Ich weiß.« Sie holte einmal tief Atem und stieß müde die Luft wieder aus. »Morgon, lehre mich die Krähengestalt. Das ist wenigstens eine Maske der Könige von An. Und fliegen ist schneller als barfuß marschieren.«

Er hob den Kopf. Dann streckte er sich aus und zog sie zu sich herunter, während er versuchte, all die Gedanken in Worte zu fassen, die sich in seinem Kopf drängten.

»Ich werde lernen, auf der Harfe zu spielen«, sagte er schließlich und spürte ihr Lächeln an seiner Brust.

Seine Gedanken verdichteten sich plötzlich zu einer einzigen Erinnerung an die stockenden Klänge einer Harfe in der Finsternis. Erst als er die Hand hob, um seine Augen zu berühren, merkte er, daß er wieder weinte. Rendel war still, hielt ihn nur zärtlich umfangen.

Nach langer Zeit, als das Feuer weit heruntergebrannt war, sagte er: »Ich habe in dieser letzten Nacht nicht bei Thod gesessen, weil ich hoffte, ihn zu verstehen, sondern weil er mich dort hinzog, weil er mich dort haben wollte. Und er hielt mich nicht mit seinem Harfenspiel oder mit seinen Worten, sondern mit einer Kraft, die so mächtig war, daß sie mich über all meinen Zorn hinweg an ihn band. Ich kam, weil er es wollte. Er wollte es, deshalb kam ich. Verstehst du das?«

»Morgon, du hast ihn geliebt«, flüsterte sie. »Das war die Bindung.«

Er schwieg wieder, während er vor sich das stille, beschat-tete Gesicht jenseits der Flammen sah und dem Schweigen des Harfners lauschte, bis er den dünnen Gesang von Rätseln zu hören glaubte, die wie Spinnweben in der Dunkelheit zu einem weitverzweigten, geheimen Spiel gesponnen wurden, das seinen Tod selbst zum Rätsel machte. Schließlich benebelte eines der Kräuter, die Rendel auf seine Brust und seine Wange gelegt hatte, seinen Geist, und er schlief wieder.

Am folgenden Morgen, als sie zur Zeit der Dämmerung erwachten, lehne er sie die Krähengestalt. Er trat in ihren Geist ein, fand tief in seinem Inneren Bilder von Krähen, Geschichten von ihnen, Erinnerungen, von denen sie kaum wußte, daß sie vorhanden waren; die unergründlichen, krähenschwarzen Augen ihres Vaters, Krähen unter Eichen, die Raiths Schweineherden umringten, Krähen, die durch die Geschichte von An flogen, Totenvögel, Botenvögel, Grabwächter, und ihre Stimmen waren voll von Spott, voll grimmiger Warnung und voll Poesie.

»Woher sind die alle gekommen?« murmelte sie erstaunt.

»Sie gehören zum Landrecht von An. Sie sind ein Teil der Kraft und des Herzens von An. Nicht mehr.«

Eine schläfrige Krähe rief nach ihr von einem der Bäume herunter, die um sie herum standen; sie landete auf seinem Arm.

»Kannst du in meinen Geist eintreten? Hinter meine Augen in meine Gedanken sehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Versuch es. Es wird dir nicht schwerfallen.«

Er öffnete seinen Geist dem der Krähe, sog ihn in sich hinein, bis er sein eigenes verwischtes, namenloses Gesicht aus ihren Augen sah. Unter welkem Laub, unter Eichenwurzeln hörte er das Rascheln und Knistern von Bewegung, so klar und präzise wie die Töne einer Flöte. Er fing an, die Sprache der Krähe zu verstehen. Sie krächzte einmal kurz, mehr neugierig als ungeduldig. Dann füllte sich sein Geist mit einer Bewußtheit von Rendel, so als wäre sie in ihm, berührte ihn sanft, durchflutete ihn wie Licht. Einen Moment lang nährten sich die drei Wesen furchtlos, suchend voneinander. Dann schrie die Krähe auf; ihre Schwingen rauschten schwarz an Morgons Augen vorüber. Er war allein in seinem Geist, suchte tastend nach etwas, das aus ihm entwichen war. Eine Krähe flatterte auf und landete auf seiner Schulter. Er sah ihr in die Augen.

Er lächelte langsam. Mit ungeschickt flatternden Schwingen schwang sich die Krähe zu einem hohen Ast hinauf. Sie verfehlte ihn, als sie landen wollte. Dann fing sie sich, und die feine Ausgewogenheit von Instinkt und Verstand in ihr geriet ins Schwanken. Aus der Krähe wurde Rendel.

Atemlos und verdutzt blickte sie auf Morgon hinunter.

»Hör auf zu lachen. Morgon, ich bin geflogen. Und wie, in Hels Namen, komm ich da jetzt wieder hinunter?«

»Flieg.«

»Ich weiß nicht mehr, wie das geht.«

Er flog zu ihr hinauf. Die Schwinge über der nur halb verheilten Wunde war steif. Er verwandelte sich wieder in seine natürliche Gestalt. Warnend ächzte der Ast unter seinem Gewicht.

»Gleich fallen wir in den Fluß!« schrie sie auf. »Morgon, der Ast bricht —«

Mit einem Krächzen flatterte sie wieder auf. Morgon folgte ihr. Sie zogen schwarze Linien durch das Licht des Sonnenaufgangs, erhoben sich hoch über die Wälder, unter sich endloses dunkles Grün und das helle Band der Straße, die es auf ihrem Weg quer durch das ganze Reich durchschnitt. Sie stiegen so weit in die Lüfte, daß die Wagen der Händler nur noch winzige, mühsam dahinkriechende Insekten waren. Sie ließen sich langsam abwärts fallen, kreisten miteinander, während ihre Flügel im gleichen gemächlichen Rhythmus schlugen und sie immer kleiner werdende Ringe in das Sonnenlicht schnitten, bis sie schließlich dicht über dem Fluß einen letzten schwarzen Kreis zogen. Sie landeten im Farnkraut am Ufer und wechselten die Gestalt. Wortlos blickten sie einander an.

»Deine Augen sind voll des Flugs«, flüsterte Rendel.

»Deine Augen sind voll der Sonne.«

Zwei Wochen lang flogen sie in Krähengestalt. Die stillen, goldenen Eichenwälder wichen am Rand des Hinterlands unter ihnen zurück. Die Straße machte einen Knick, wandte sich nordwärts durch üppige, dunkle Fichtenwälder, deren Schweigen unberührt schien vom Lauf der Jahrhunderte. Sie wand sich kahle, steinige Hügel hinauf, die in der Mittagssonne wie heißes Messing schimmerten, überspannte Schluchten, auf deren Grund silbernes Wasser aus den Lungoldseen blitzte und schäumend gegen steile Felswände schlug. Die Bäume verschmolzen unter den Augen der Krähen zu einem dunkelgrünen Schleier, der sanft wogend dem schwachen blauen Dunst der Berge entgegenwehte, die die fernen westlichen Ränder des Hinterlandes begrenzten. Bei Tag erhitzte die Sonne den Himmel zu einem harten, metallischen Blau. Die Nacht bestreute ihn von einem Horizont zum anderen, bis hinunter zum Rand der Welt mit glitzernden Sternen. Die Stimmen des Hinterlands, die Stimmen von Erde und Stein und uralten, ungezähmten Winden waren wie die Ewigkeit. Unter ihnen lag eine Stille, die so unerbittlich war wie Granit. Morgon fühlte sie, während er flog; er sog sie mit seinem Atem in seine Knochen ein, spürte ihre fremde, kalte Berührung an seinem Herzen. Zu Beginn versuchte er, ihr zu entrinnen, versuchte, Rendels Geist zu erreichen, um die unbestimmte, unartikulierte Sprache teilen zu können. Dann aber verwob sich die Stille langsam mit dem Rhythmus seines Flugs und wurde ihm schließlich zum Gesang. Endlich, als er sich kaum noch seiner eigenen Sprache erinnerte und Rendel nur noch als einen dunklen, vom Wind gemeißelten Schatten kannte, sah er, daß sich die Bäume vor ihnen teilten. In der Ferne leuchtete an den Gestaden des ersten der Lungoldseen die wunderbare Stadt, die Ghisteslohm gegründet hatte. Kupfer und Bronze und Gold erglänzten in den letzten Strahlen der Sonne.

Mit müdem Flügelschlag näherten sich die Krähen ihrem Ziel. Rund um die Stadt waren die Wälder meilenweit zurückgedrängt, um Feldern, Weiden und Obstpflanzungen Raum zu geben. Der kühle Duft der Fichten wich dem Geruch frisch gepflügter Erde und reifenden Getreides. Von Schatten gefleckt war das letzte Stück zerfurchter Straße, das in die Stadt hineinführte. Das Stadttor war ein anmutiger, sich hoch emporwölbender Bogen aus glänzendem, dunklem Holz und weißem Stein. Die Stadtmauern waren gewaltig und von ungeheurer Dicke, von Strebepfeilern aus Holz und Stein getragen, die sich hoch über die Gebäude jenseits der alten Grenzen der Stadt emporschwangen. Neuere Straßen hatten Breschen in die alten Mauern geschlagen; kleinere Tore waren in sie eingelassen; Häuser und Läden waren an den Mauern gewachsen und sogar auf ihnen, als hätten ihre Erbauer die Angst und das Entsetzen längst vergessen, das sieben Jahrhunderte zuvor die Mauern errichtet hatte.

Die Krähen erreichten das Haupttor, rasteten unter den Bögen. Die Torflügel sahen aus, als wären sie seit Jahrhunderten nicht mehr geschlossen worden. Sie waren aus massiver Eiche, mit Bronze beschlagen, in bronzenen Angeln aufgehängt. Vögel nisteten auf den Angeln. Innerhalb der Mauern verzweigte sich ein Gewirr kopfsteingepflasterter Straßen in alle Richtungen; leuchtend bemalte Gasthäuser wechselten ab mit Zunfthäusern, Kaufläden und Werkstätten von Handwerkern, Wohnhäusern, deren Fenster mit Blumen geschmückt waren. Morgon schwang seinen Blick über seine Krähenaugen hinaus und spähte über Dächer und Kamine hinweg zum Nordrand der Stadt. Die untergehende Sonne lag leuchtend auf dem Weg, entzündete ihn in rotgoldenem Feuer, bis die Fischerboote, die an den Docks vertäut lagen, auf dem Wasser zu brennen schienen.

In der Nische zwischen dem offenen Torflügel und der Stadtmauer flatterte er zu Boden und wechselte die Gestalt. Rendel folgte ihm. Sie standen da und sahen einander an. Ihre Gesichter waren schmal und mager, geprägt von der Wildnis und der Stille des Hinterlandes. Ihre eigenen Körper waren ihnen selbst halb fremd. Dann fiel Morgon ein, daß er einen Arm hatte, und er legte ihn um Rendels Schultern und küßte sie beinahe zaghaft. Langsam kam wieder Ausdruck in ihre Züge.

»Was, in Hels Namen, haben wir getan?« flüsterte sie. »Morgon, mir ist, als hätte ich hundert Jahre lang geträumt.«

»Nur zwei Wochen. Wir sind in Lungold.«

»Laß uns nach Hause zurückkehren.« Dann trat ein seltsamer Ausdruck in ihre Augen. »Was haben wir gegessen?«

»Denk nicht daran.«

Er lauschte. Durch das offene Tor kamen kaum noch Wagen; er hörte nur einen gemächlich trottenden Reiter, der wie eine Vorhut des Zwielichts in die Stadt kam. Morgon nahm Rendels Hand.

»Komm, gehen wir.«

»Wohin?«

»Riechst du es nicht? Es ist da, an den Rändern meiner Wahrnehmung. Ein Gestank nach Macht.«

Er zog ihn durch die gewundenen Straßen. Die Stadt war ruhig, die Menschen saßen beim Essen; die verlockenden Düfte, die aus den Gasthäusern drangen, machten ihnen den Mund wäßrig. Aber sie hatten kein Geld, sahen beinahe aus wie Bettler in ihren abgerissenen Kleidern. Der giftige Hauch verfallener, mißbrauchter Macht zog Morgon zum Herzen der Stadt, durch breite Straßen, die von eleganten Läden und den Häusern wohlhabender Händler gesäumt waren. In der Mitte der Stadt stiegen die Straßen an. Auf dem Gipfelpunkt der Anhöhe verloren sich die prächtigen Häuser. Die Straßen endeten abrupt. Auf einer weiten, verwüsteten Fläche Landes erhob sich die steinerne Hülle der uralten Schule, einstmals aus der Macht und der Kunst der Zauberer erschaffen. Ihre verfallenen, leeren Mauern leuchteten im letzten Licht.

Morgon blieb stehen. Eine seltsame Sehnsucht regte sich schmerzhaft in ihm, als hätte er einen Blick auf etwas getan, das er niemals besitzen konnte und von dem er nie zuvor gewußt hatte, daß er es würde besitzen wollen. Ungläubig sagte er: »Kein Wunder, daß sie kamen. Er hat ihr eine solche Schönheit gegeben.«

In riesigen, halbzerstörten Sälen enthüllte sich ihnen der Reichtum des Reiches. Geborstene Fenster mit zackig gebrochenen Scheiben, die in den Farben von Edelsteinen leuchteten, waren in Gold gerahmt. An den inneren Wänden, die von Feuer geschwärzt* waren, erinnerten halbverkohlte Balken aus heller Esche und Ebenholz, aus Eiche und Zeder noch an kostbare Täfelungen. Hier und dort blitzten an einem vom Feuer angefressenen, umgestürzten Pfeiler noch Beschläge aus Kupfer und Bronze. Hohe Bogenfenster, durch die die Regenbogenstrahlen gebrochenen Lichts fielen, ließen die Illusion von Frieden und Beschaulichkeit ahnen, die die rastlosen, getriebenen Geister, die in der Schule Zuflucht gesucht hatten, eingelullt hatte. Über sieben Jahrhunderte hinweg spürte Morgon ihren Trug und ihre Verheißung — hier hatten sich die begabtesten und mächtigsten Männer und Frauen des Reiches eingefunden, um ihr Wissen miteinander zu teilen, um ihre geistigen Kräfte zu erforschen und beherrschen zu lernen. Wieder bedrängte jene unbestimmte Sehnsucht sein Herz; er konnte ihr keinen Namen geben. Schweigend stand er da und blickte auf die tote Schule, bis Rendel ihn berührte.

»Was ist?«

»Ich weiß nicht. Ich wünschte — ich wünschte, ich hätte hier studieren können. Die einzige Kraft, die ich je kennengelernt habe, ist die Ghisteslohms.«

»Die Zauberer werden dir helfen«, sagte sie, aber darin fand er keinen Trost.

Er sah sie an.

»Würdest du mir einen Gefallen tun? Nimm wieder Krähengestalt an. Ich trage dich auf meiner Schulter, während ich sie suche. Ich weiß nicht, was für Fallen oder Bannsprüche hier noch verwurzelt sind.«

Sie nickte müde, ohne etwas zu sagen, und verwandelte sich. Sie hockte sich auf seine Schulter, dicht an sein Ohr, und er trat auf das Gelände der Schule. Nirgends wuchsen Bäume; Gras wucherte nur stellenweise in den weißen Furchen versengter Erde. Zertrümmerte Steine lagen noch dort, wo sie niedergefallen waren, bargen tief in ihrem Inneren noch immer eine brennende Erinnerung der Macht. Seit Jahrhunderten war hier nichts berührt worden. Morgon fühlte es, als er sich dem Schulgebäude selbst näherte. Der schreckliche Hauch der Zerstörung hing wie eine Warnung über all der Pracht. Er schritt leise vorwärts, öffnete seinen Geist, um ihn in die stillen Hallen vorauseilen zu lassen.

Zimmer und Säle stanken nach einem vertrauten Namen. In vielen fand er Skelette, die unter den Trümmern eingestürzter Wände begraben waren. Erinnerungen an Hoffnung und Kraft und Verzweiflung sammelten sich um ihn wie Gespenster. Er begann leicht zu schwitzen, während Schatten einer alles verheerenden, hoffnungslosen Schlacht sich fein und leicht wie Staub über ihn senkten. Als er den großen, runden Saal im Herzen des Gebäudes betrat, spürte er im Inneren seiner Mauern noch immer den donnernden Widerhall einer entsetzlichen Explosion von Haß und Verzweiflung. Er hörte, wie die Krähe auf seiner Schulter einen rauhen, kehligen Laut ausstieß; ihre Krallen bissen in seine Schulter. Er stieg über die Zimmerdecke hinweg, die in unzählige Teile zerschmettert auf dem Boden lag, und gelangte zu einer Tür im Hintergrund des Saales. Die Tür, die nur noch in Splittern in ihren Angeln hing, führte in eine weiträumige Bibliothek. Ein unermeßlicher Schatz an Büchern lag zerfetzt und verkohlt auf dem Boden. Unerbittlich hatte das Feuer in den Regalen gewütet und wenig mehr zurückgelassen als die Rücken und Skelette der Zauberbücher, die so alt waren wie das Reich oder älter. Der Geruch von verbranntem Leder hing noch immer im Raum, als hätte in sieben Jahrhunderten nichts die Luft bewegt.

Er wanderte von Gemach zu Gemach. In einem fand er geschmolzene Pfützen von Gold und Silber, wertvolle Metalle und geborstene Edelsteine, mit denen die Schüler gearbeitet hatten; in einem anderen die Gebeine kleiner Tiere. In einem dritten fand er Betten. Das Skelett eines Kindes lag zusammengekrümmt unter den Decken eines dieser Betten. Da drehte er um und suchte sich seinen Weg durch die geborstene Mauer zurück in den Abend. Doch die Luft war erfüllt von stummen Schreien, und die Erde unter seinen Füßen war tot.

Er hockte sich auf einem Haufen Steine nieder, die aus einer Ecke des Gebäudes herausgerissen waren. Von der kahlen Höhe des Hügels abwärts dehnte sich das Gewirr von Dächern zu den verfallenden Mauern hin. Sie waren alle aus Holz. Lebhaft sah er vor sich ein Meer von Feuer, das sich über die ganze Stadt ausbreitete, Felder und Obstpflanzungen niederbrannte, am Seeufer entlang in die Wälder hineinwogte, über denen sich ein heißer Sommerhimmel spannte, ohne Hoffnung auf Regen, der das Feuer hätte ersticken können. Er ließ sein Gesicht in die Hände sinken und flüsterte: »Was, in Hels Namen, tue ich hier? Er hat Lungold einmal zerstört; und jetzt werden er und ich es wieder zerstören. Die Zauberer sind nicht hierher zurückgekehrt, um ihm den Kampf anzusagen; sie sind hierher zurückgekehrt, um zu sterben.«

Die Krähe murmelte etwas. Er stand wieder auf, blickte auf die massige Ruine des Hauses, die sich dunkel vor dem leuchtenden Abglanz der untergehenden Sonne abhob. Er warf seinen Geist aus und berührte nur Erinnerungen. Er lauschte und hörte nur das Echo eines Namens, der seit Jahrhunderten verflucht wurde. Entmutigt ließ er die Schultern sinken.

»Wenn sie hier sind, dann hüten sie sich wohl... Ich weiß nicht, wie ich sie suchen soll.«

Rendels Stimme brach mit einer kurzen, nur im Geist gesprochenen Bemerkung durch das Wesen der Krähe. Er drehte den Kopf und blickte in die schwarzen, forschenden Augen.

»Ja, gut. Ich weiß, daß ich sie finden kann. Ich kann ihre Trugbilder durchschauen und ihre geistigen Fesseln durchbrechen. Aber, Rendel — sie sind große Zauberer. Sie gelangten durch Neugier, Disziplin, Integrität — vielleicht sogar Freude an ihre Macht. Sie eroberten sie sich nicht, indem sie schreiend auf dem Grund des Erlenstern-Bergs lagen. Niemals haben sie in das Landrecht eingegriffen oder einen Harfner von einem Ende des Reichs zum anderen gehetzt, um ihn zu töten. Mag sein, daß sie mich hier brauchen, um mit ihnen zu kämpfen, aber ich frage mich, ob sie mir vertrauen werden.« Die Krähe schwieg; er streichelte mit einem Finger ihre Brust. »Ich weiß. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.«

Er wanderte wieder zurück in die Ruine. Diesmal öffnete er sich ganz und gar all der Qual der Zerstörung und den noch umherirrenden Erinnerungen an einen vergessenen Frieden. Wie ein facettenreicher Edelstein reflektierte sein Geist alle Farben und Tönungen verbliebener geistiger Macht, wie sie aus geborstenen Steinen, aus der unberührten Seite eines Zauberbuchs, aus vielen uralten Geräten aufstieg, die er bei den Toten fand — aus Ringen, seltsam geschnitzten Stäben, Kristallen, in denen erstarrtes Licht eingeschlossen war, Skelette geflügelter Tiere, denen er keinen Namen geben konnte. Er tastete all die verschiedenen Nuancen der Macht ab, fand all ihre Quellen. Einmal, als er ein schwelendes Feuer zu seinem Ursprung tief in einem Tümpel geschmolzenen Eisens verfolgte, sprengte er das Becken versehentlich und erkannte, daß das Eisen selbst ein Schmelztiegel des Wissens gewesen war. Die Druckwelle warf die Krähe hoch in die Luft und riß Steine aus der Decke. Er selbst war wie in einem Reflex mit dem Kraftstoß verschmolzen, hatte sich nicht gegen ihn aufgelehnt; die Krähe, die ängstlich krächzend umherflatterte, sah, wie er aus starrem Stein wieder zum Menschen wurde. Er hielt sie in seinen Händen, um sie zu beruhigen, während er voll Verwunderung und Staunen über die Geheimnisse der alten Zauberkunst nachdachte. Alles, was sein Geist berührte — Holz, Glas, Gold, Pergament, Knochen —, barg in sich ein Aschestäubchen von geistiger Kraft. Er forschte geduldig, nichts auslassend, entzündete einen Holzspan, den er von einem Dachbalken abriß, als es so dunkel wurde, daß er nichts mehr sehen konnte. Gegen Mitternacht schließlich, als die Krähe auf seiner Schulter schlummerte, wanderte sein Geist durch eine Tür, die es nicht gab.

Es war ein machtvoller Trug; er hatte zuvor schon auf die Tür geblickt und nicht durch sie hindurchgesehen, keinen Drang verspürt, sie zu öffnen. Sie war aus Eichenholz und aus Eisen, vergittert und verriegelt. Er mußte über einen Haufen zertrümmerter Steine und verkohlten Holzes hinwegsteigen, wenn er sie öffnen wollte. Rund um die Tür herum waren die Mauern fast bis zum Boden abgebröckelt; nichts schien hinter ihr zu liegen als die von der Schlacht verwüstete Erde zwischen zwei verfallenen Gebäuden. Doch sie war zu einem ganz bestimmten Zweck von einer lebenden Kraft geschaffen worden. Er kletterte über die Trümmer, um zu ihr zu gelangen, und legte seine Hand flach gegen sie. Ein fremder Geist versperrte ihm den Zutritt, ließ ihn Holzmaserung unter seinen Fingern fühlen. Er hielt inne, ehe er sie durchbrach, verwirrt, wie schon früher, durch das Ungewisse Ausmaß seiner eigenen Kräfte. Dann schritt er vorwärts, wurde einen Herzschlag lang zu wurmstichiger Eiche und verrosteten Schlössern, faßte in sich die Kraft, die all dies dort festhielt.

Abrupt ging es abwärts in schwarze Finsternis. Stufen, die unter einem Trugbild versengter Erde verborgen waren, führten in die Tiefe. Seine Flamme flackerte, wurde kleiner und kleiner, bis er gewahr wurde, was das für eine Kraft war, die gegen das Feuer kämpfte. Er speiste die Flamme mit einem Feuer, das tief im Verborgenen seines Geistes loderte, und sie brannte ruhig und klar.

Die ausgetretenen Stufen führten steil abwärts durch einen schmalen Gang. Allmählich wurden sie flacher, und schließlich hatte Morgon ebenen Boden unter den Füßen. Ein schwarzes, undurchdringliches Gesicht von Dunkelheit blickte ihm entgegen. Es roch nach verfaulendem Holz und feuchtem Stein. Er ließ seine Fackel heller brennen; mit zaghaften Fingern erforschte die Flamme die Finsternis. Eisige Kälte, wie hoch oben auf einem Berggipfel, machte ihn frösteln. Die Krähe stieß wieder ein heiseres Krächzen aus. Er spürte, daß sie die Gestalt wechseln wollte, und hastig schüttelte er den Kopf. Sie kroch wieder unter sein Haar. Während er sein Feuer heller und heller aufflammen ließ und nach einer Grenze der Dunkelheit suchte, kroch langsam etwas in seine Gedanken. Er spürte sehr nahe eine Kraft, die mit einem unendlich weiten, unterirdischen Gewölbe nichts zu tun hatte. Verwundert fragte er sich, ob der Schacht selbst Blendwerk war.

Lautlos holte er Atem und hielt die Luft an. Nur eine Möglichkeit der Erklärung bot sich ihm dar: ein Paradox der Zauberei. Er hatte keine andere Wahl, als kehrtzumachen und zu gehen. Er ließ seine Fackel zu Boden fallen und sah zu, wie sie in Schwärze erlosch. Wie lange er so stand und mit der Dunkelheit rang, wußte er nicht. Je mehr er sich anstrengte zu sehen, desto mehr wurde er sich seiner Blindheit bewußt. Schließlich hob er die Hände und drückte sie über seine Augen. Er fröstelte wieder; die Finsternis schien über ihm zu kauern wie ein unermeßlich großes, erdrückendes Geschöpf. Doch er konnte nicht gehen; stumm, starrsinnig stand er da und hoffte auf Hilfe.

Eine Stimme beinahe direkt neben ihm sagte: »Die Nacht ist nicht etwas, das man bis Tagesanbruch erträgt. Sie ist ein Element wie der Wind oder das Feuer. Die Finsternis ist ihr eigenes Königreich; sie richtet sich nach ihren eigenen Gesetzen, und viele lebende Dinge wohnen in ihr. Ihr versucht, Euren Geist von ihr zu trennen. Das ist fruchtlos. Nehmt die Gesetze der Finsternis an.«

»Das kann ich nicht.«

Er ließ die Hände sinken und ballte sie zu Fäusten. Reglos wartete er.

»Versucht es.«

Seine Hände verkrampften sich; Schweiß brannte in seinen Augen.

»Ich kann gegen den Gründer kämpfen, aber ich habe nie von ihm gelernt, wie ich gegen das hier kämpfen soll.«

»Ihr habt den Zauber meiner Täuschung durchbrochen, als existierte er kaum.« Die Stimme war ruhig, und doch klirrte sie wie Stahl. »Ich habe ihn mit all der Kraft, die ich noch besitze, aufrechtzuerhalten versucht. Es gibt nur zwei andere, die ihn hätten durchbrechen können. Und Ihr seid machtvoller als jeder dieser beiden. Sternenträger, ich bin Iff.« Darauf sprach er seinen ganzen Namen, eine Reihe klirrender Silben, die dennoch einen fließenden, melodischen Klang hatten. »Ihr habt mich aus der Macht des Gründers befreit, und ich stelle mich in Eure Dienste bis an mein Lebensende. Könnt Ihr mich sehen?«

»Nein«, flüsterte Morgon. »Aber ich möchte gern.«

Sterne aus Fackellicht ergossen sich in einem Lichtbogen über ihn. Das Gefühl unendlicher Weite schmolz dahin. Die sachte, stumme Erkenntnis von etwas, das nicht wirklich war, das wie eine Erinnerung war, die an den Rändern seines Bewußtseins zupfte, war sehr intensiv. Dann sah er einen Totenkopf, der ihn mit rätselhaftem Blick ansah, und dann noch einen, mitten in einem Haufen von Gebeinen. Die unterirdische Kammer, in der er sich befand, war kreisrund; die feuchten Wände aus lebendiger Erde waren gespickt mit tiefen Spalten. Das Haar in seinem Nacken stellte sich auf. Er befand sich in einer Gruft, die unter der großen, alten Schule verborgen war, und er hatte die letzten lebenden Zauberer von Lungold beim Begräbnis ihrer Toten gestört.

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