Kap. 13

Das war das einzige, was der Wolfskönig ihm sagte. Doch etwas anderes verbarg sich hinter seinen Augen, wovon er nicht sprach. Morgon spürte es, und auch Yrth, der an dem Abend, ehe sie Yrye verließen, fragte: »Har, was denkt Ihr? Ich höre etwas unter all Euren Worten.«

Sie saßen am Feuer. Die Winde heulten pfeifend über das Dach, rissen Rauchfetzen durch den Abzug. Durch flackernde Flammen blickte Har den Zauberer an. Sein Gesicht trug noch immer einen harten Abglanz dessen, was er gesehen hatte. Doch seine Stimme hatte den vertrauten Klang rauher Zuneigung, als er mit dem Zauberer sprach.

»Es ist nichts, was Euch kümmern müßte.«

»Wie kommt es, daß ich das nicht glauben kann?« murmelte Yrth. »Hier in diesem Saal, wo Ihr Euch jahrhundertelang mit Rätseln Euren Weg zur Wahrheit gebahnt habt?«

»Vertraut mir«, gab Har zurück.

Die Augen des Zauberers, blind und geheimnisvoll, wandten sich ihm zu.

»Ihr reist nach Ymris.«

»Nein!« rief Morgon scharf.

Er hatte es aufgegeben, sich gegen Yrth aufzulehnen; er verhielt sich vorsichtig in der Gegenwart des Zauberers, als hätte er es mit einem mächtigen, unberechenbaren Tier zu tun. Doch die Worte des Zauberers, die dem Tonfall nach halb eine Feststellung einer Tatsache, halb ein Befehl zu sein schienen, trieben ihn zum Protest.

»Har, was könnt Ihr denn in Ymris ausrichten? Ihr werdet höchstens getötet werden!«

»Ich habe nicht die geringste Absicht«, entgegnete Har, »in Ymris zu sterben.«

Er hielt eine Hand geöffnet ans Feuer, so daß die halb verblichenen Male seiner Macht und seiner geistigen Kraft zu sehen waren; die wortlose Geste traf Morgon tief.

»Was habt Ihr dann für Absichten?«

»Ich gebe Antwort für Antwort.«

»Har, dies ist kein Spiel!«

»Nein? Was befindet sich auf der Spitze des Turmes der Winde?«

»Ich weiß es nicht. Wenn ich es weiß, dann komme ich hierher zurück und sage es Euch. Wenn Ihr geduldig sein wollt.«

»Ich bin mit meiner Geduld am Ende«, erwiderte Har. Er stand auf und wanderte rastlos auf und nieder; seine Schritte führten ihn zum Stuhl des Zauberers. Er hob zwei kleine Scheite Holz auf und kniete nieder, sie ins Feuer zu legen. »Wenn Ihr sterbt«, sagte er, »dann wird es wohl kaum von Wichtigkeit sein, wo ich bin. Richtig?«

Morgon schwieg. Yrth beugte sich vor, stützte eine Hand auf Hars Schulter, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und fing einen glühenden Span ein, der ihnen über den Boden entgegenrollte. Er warf ihn wieder ins Feuer.

»Es wird schwierig werden, zum Turm der Winde vorzustoßen. Aber ich glaube, Astrins Heer wird es uns ermöglichen.«

Er ließ Har los und wischte sich Asche von den Händen. Der König stand auf. Morgon, der sein grimmiges Gesicht betrachtete, schluckte alle Widerreden hinunter, bis nichts mehr in seinem Geist war als eine grimmige, geheime Entschlossenheit.

Beim Morgengrauen am folgenden Tag bot er Har Lebewohl; und die drei Krähen brachen zu der langen Reise nach Süden auf, die sie nach Herun, ins Reich der Morgol, führen sollte. Die Luft war grau und schwer von Regen. Der Zauberer führte sie mit erstaunlicher Kundigkeit über das eintönige, flache Weideland von Osterland und die Wälder an den Ufern der Öse. Erst nachdem sie den Winter überquert hatten und das weite Niemandsland zwischen Osterland und Ymris sich vor ihnen dehnte, wechselten sie wieder die Gestalt.

Am Abend des dritten Tages ihrer Reise versiegte der Regen endlich, und in nahezu stummem Einverständnis ließen sie sich zur Erde herabfallen, um in ihrer natürlichen Gestalt Rast zu machen.

»Wie«, fragte Morgon Yrth, noch ehe der Zauberer einen Haufen regennassen Holzes zu Feuer angefacht hatte, »in Hels Namen, könnt Ihr uns auf diese Weise führen? Ihr habt uns in gerader Linie zum Winter gelotst. Und wie seid Ihr innerhalb von zwei Tagen von Isig nach Hed und wieder zurück gekommen?«

Yrth wandte seine Augen Morgons Stimme zu. Als die Flammen am Holz emporzüngelten, leckten sie an seinen Händen, und er wich zurück.

»Instinkt«, erwiderte er. »Ihr denkt zuviel beim Fliegen.«

»Vielleicht.«

Er ließ sich am Feuer niedersinken. Rendel sog tief die feuchte, nach Fichten duftende Luft ein und blickte sehnsüchtig zum Fluß.

»Morgon, kannst du nicht einen Fisch fangen? Ich bin so hungrig, und ich will mich nicht erst wieder in eine Krähe verwandeln, um zu essen — ich weiß nicht einmal genau, was Krähen eigentlich fressen. Wenn du uns einen Fisch fängst, dann suche ich ein paar Pilze.«

»Ich rieche Äpfel«, verkündete Yrth und stand auf, dem Geruch nachzugehen. Morgon blickte ihm mit leichter Ungläubigkeit nach.

»Ich rieche keine Äpfel«, murmelte er. »Und ich denke kaum, wenn ich fliege.« Auch er stand auf, beugte sich nieder, um Rendel zu küssen. »Riechst du Äpfel?«

»Ich rieche Fisch. Und Reh. Morgon.« Sie drückte plötzlich ihren Arm auf seine Schulter, so daß er sich nicht aufrichten konnte. Er sah, daß sie nach Worten suchte.

»Was ist?«

»Ach, ich weiß auch nicht.« Sie strich sich mit der freien Hand über das Haar. In ihren Augen lag eine tiefe Verwirrung. »Er bewegt sich über die Erde wie ein Herr.«

»Ich weiß.«

»Ich möchte ihm so gern — ich möchte ihm so gern vertrauen. Bis mir einfällt, wie weh er dir getan hat. Dann bekomme ich Angst vor ihm und vor dem Weg, den er uns führt, und vor seiner Geschicklichkeit. Aber ich vergesse meine Angst zu leicht.« Ihre Finger zupften zerstreut in seinem feuchten Haar. »Morgon.«

»Was?«

»Ich weiß nicht.« Mit einer heftigen Bewegung sprang sie auf, ungeduldig mit sich selbst. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich denke.«

Sie lief über die Lichtung zu einem Stand bleicher Pilze, während Morgon zum breiten Fluß hinunterschritt. Er watete in das seichte Wasser und stand so still wie ein alter Baumstumpf, während er nach Fischen Ausschau hielt und sich bemühte, nicht zu denken. Zweimal bespritzte er sich über und über mit Wasser, während die Forellen, die er fangen wollte, ihm zwischen den Fingern hindurchschlüpften. Schließlich machte er seinen Geist zu einem Schleier aus Grau, der das Wasser und den Himmel spiegelte, und begann zu denken wie ein Fisch.

Er fing drei Forellen und nahm sie, da er kein anderes Gerät hatte, ungeschickt mit seinem Schwert aus. Als er sie zum Feuer zurücktrug, hatten sich auch Yrth und Rendel wieder eingefunden und blickten ihm entgegen. Rendel lächelte. Der Gesichtsausdruck des Zauberers war unergründlich. Morgon gesellte sich zu ihnen. Er legte die Fische auf einen flachen Stein und säuberte die Klinge seines Schwertes im Gras. Nachdem er es wieder in einer Scheide, die es gar nicht gab, hatte verschwinden lassen, hockte er sich am Feuer nieder.

»Also gut«, sagte er. »Instinkt.« Er nahm Rendels Pilze und machte sich daran, den Fisch zu füllen. »Aber das erklärt nicht Eure Reise nach Hed.«

»Wie weit könnt Ihr an einem Tag reisen?«

»Vielleicht quer durch Ymris. Ich weiß es nicht. Ich bewege mich nicht gern von einem Moment zum anderen über lange Entfernungen. Das macht müde, und man weiß nie, wessen Geist man versehentlich berührt.«

»Nun«, meinte der Zauberer ruhig, »ich hatte keine Wahl. Ich wollte vermeiden, daß Ihr Euch aus dem geistigen Bann herauskämpft, ehe ich zurückkehrte.«

»Das hätte ich gar nicht gekonnt —« »Doch, Ihr besitzt die Kräfte dazu. Ihr könnt im Dunkeln sehen.«

Morgon starrte ihn wortlos an. Ein Schauder kroch über seine Haut.

»Das war es also?« flüsterte er. »Eine Erinnerung?«

»Die Finsternis von Isig.«

»Oder vom Erlenstern-Berg.«

»Ja. So einfach war es.«

»Einfach.« Hars Bitte fiel ihm ein, und er atmete lautlos, bis der Schmerz und der wirre Knoten von Worten in seiner Brust sich lösten. Er wickelte den Fisch in feuchte Blätter, schob den Stein ins Feuer. »Nichts ist einfach.«

Die Finger des Zauberers zeichneten die gebogenen Linien eines Grashalms bis zu seiner Spitze nach.

»Doch, manche Dinge sind es. Die Nacht. Das Feuer. Ein Grashalm. Wenn man seine Hand in eine Flamme hält und an den Schmerz denkt, dann verbrennt man sich. Wenn man aber nur an die Flamme denkt oder an die Nacht, sie annimmt, ohne sich zu erinnern. Dann wird es sehr einfach.«

»Ich kann nicht vergessen.«

Der Zauberer schwieg.

Als der Fisch langsam zu brutzeln begann, setzte der Regen wieder ein. Sie aßen hastig und verwandelten sich wieder, flogen durch den strömenden Regen, um’ in den Bäumen Schutz zu suchen.

Zwei Tage später überquerten sie die Öse und nahmen am Ufer des unbändigen Flusses wieder ihre natürliche Gestalt an. Es war später Nachmittag. Licht und Schatten jagten sich unter dem regennassen, hellen Himmel auf ihren Gesichtern. Ein wenig verwundert blickten sie einander an, als wären sie überrascht, sich in Menschengestalt zu sehen.

Rendel ließ sich mit einem Seufzer auf einen umgestürzten Baumstamm fallen.

»Ich kann mich überhaupt riicht mehr bewegen«, stöhnte sie. »Ich bin es so müde, eine Krähe zu sein. Bald werde ich auch noch das Reden vergessen.« »Ich gehe auf Jagd«, sagte Morgon, doch auch er machte keine Bewegung. Müdigkeit überschwemmte ihn wie Wasser.

»Ich gehe auf Jagd«, erklärte Yrth, und ehe einer von ihnen etwas darauf erwidern konnte, hatte er sich wieder verwandelt.

Ein Falke stieg in die Luft hinauf, höher und höher, durch den Regen der trüben Sonne entgegen. Weit, weit über ihnen richtete er seinen Flug endlich in die Horizontale aus und begann zu kreisen.

»Wie macht er das?« flüsterte Morgon. »Wie kann erjagen, wenn er blind ist?«

Er unterdrückte einen plötzlichen Impuls, an die Seite des Falken emporzuschießen. Noch während er zusah, stieß der Falke in raschem, tödlichem Flug in die Schatten hinunter.

»Er ist wie ein Erdherr«, sagte Rendel, und ein merkwürdiger Schauder durchzuckte Morgon. Ihre Stimme klang so, als schmerzten sie die Worte, die sie ausgesprochen hatte. »Sie besitzen alle diese schreckliche Schönheit.«

Sie beobachtete den Vogel, wie er sich vom Boden emporschwang, schwarz und düster im plötzlich sich verdunkelnden Licht. Er hielt etwas in seinen Klauen. Schwerfällig stand sie auf und machte sich daran, Holz zu sammeln.

»Er braucht sicher einen Spieß.«

Morgon schälte die Rinde von einem jungen, dünnen Ast, während der Vogel zu ihnen zurückgeflogen kam. Er legte einen toten Hasen an Rendels Feuer ab.

Dann stand Yrth wieder vor ihnen. Einen Moment lang schienen seine Augen fremd, voller Klarheit und Wildheit des Raubvogels. Dann aber wurden sie wieder vertraut.

Morgon stellte seine Fragen tonlos, gedämpft.

»Ich witterte seine Furcht«, erklärte der Zauberer. Er zog ein Messer aus seinem Stiefel, ehe er sich setzte. »Wollt Ihr ihn häuten? Das würde mir Schwierigkeiten bereiten.«

Wortlos machte sich Morgon an die Arbeit. Rendel nahm den Spieß, um den Rest der Rinde abzuschälen.

»Könnt Ihr die Sprache der Falken sprechen?« fragte sie unvermittelt, beinahe scheu.

Das blinde Gesicht wandte sich ihr zu. Die plötzliche Weichheit seiner Züge beim Klang ihrer Stimme ließ Morgon beim Häuten innehalten.

»Ein wenig.«

»Könnt Ihr es mich lehren? Müssen wir denn den ganzen Weg nach Herun als Krähen fliegen?«

»Wenn Ihr es wollt. Ich glaubte, da Ihr aus An stammt, würdet Ihr Euch als Krähe am wohlsten fühlen.«

»Nein«, widersprach sie. »Ich bin jetzt in vielen Gestalten zu Hause. Aber es war gut von Euch, daran zu denken.«

»Was für Gestalten sind Euch vertraut?«

»Oh — Vögel, ein Baum, ein Lachs, ein Dachs, ein Reh, eine Fledermaus, eine Vesta — ich habe über meiner Suche nach Morgon längst aufgehört zu zählen.«

»Ihr habt ihn stets gefunden.«

»Ihr auch.«

Zerstreut suchte Yrth auf der Erde um sich herum nach Astgabeln, die den Spieß halten sollten.

»Ja.«

»Ich habe mich auch schon in einen Hasen verwandelt.«

»Der Hase ist ein Beutetier des Falken und des Habichts. Für den, der die Gestalt wandelt, gelten die Gesetze der Erde.«

Morgon warf Haut und Abfälle ins Farnkraut und griff nach dem Spieß.

»Und die Gesetze des Reiches?« fragte er unvermittelt. »Sind sie einem Erdherrn ohne Bedeutung?«

Der Zauberer saß ganz still. Etwas von der erbarmungslosen Kraft des Falken schien sich hinter seinen Augen zu rühren, und Morgon wurde sich der Leichtfertigkeit seiner Herausforderung bewußt. Er wandte sich ab.

»Nicht allen«, antwortete Yrth rätselhaft.

Morgon hängte den Spieß über das Feuer und drehte probeweise den Hasen. Dann ging ihm plötzlich die Zweideutigkeit der Worte des Zauberers auf. Er hockte sich auf seine Fersen und starrte Yrth an. Doch Rendel sprach jetzt mit ihm, und der Ton des Schmerzes, der in ihrer Stimme lag, ließ ihn schweigen.

»Warum denn, glaubt Ihr, kämpfen meine Verwandten auf der Ebene der Winde gegen den Erhabenen? Ich meine, wenn Macht eine einfache Angelegenheit des Wissens um Regen und Feuer ist, und wenn die Gesetze, denen sie verbunden sind, die Gesetze der Erde sind?«

Yrth schwieg wieder. Die Sonne war jetzt endgültig hinter dicken Wolken im Westen verschwunden. Ein Schleier aus Abend und Dunst sank langsam auf sie herab. Yrth streckte den Arm aus, tastete nach dem Spieß und drehte ihn langsam.

»Ich würde annehmen«, meinte er, »daß Morgon recht hat, wenn er vermutet, daß der Erhabene die Kräfte der Erdherren gefesselt hat. Das allein ist Grund genug für sie, gegen ihn zu kämpfen. Doch viele andere Rätsel scheinen mir unter diesem einen Rätsel zu liegen. Vor Jahrhunderten zogen mich die steinernen Kinder in Isig durch die Ausstrahlung ihres Schmerzes, den ich spürte, in ihre Gruft hinunter. Man hatte ihnen ihre Macht genommen. Kinder sind Erben der Macht; vielleicht ist das der Grund, weshalb sie zerstört wurden.«

»Wartet!« Morgons Stimme zitterte. »Wollt Ihr sagen — wollt Ihr sagen, daß der Erbe des Erhabenen in jener Gruft begraben wurde?«

»Es scheint möglich, findet Ihr nicht?« Fett spritzte knisternd im Feuer, und er drehte den Spieß wieder. »Vielleicht war es der Knabe, der mir von den Sternen sprach, die ich auf eine Harfe setzen sollte, und von einem Schwert für einen, der irgendwann in ferner Zukunft kommen würde, es für sich zu beanspruchen.«

»Aber warum?« flüsterte Rendel, noch immer in ihrer Frage gefangen. »Warum?«

»Ihr habt den Flug des Falken gesehen — seine Schönheit und seine todbringende Erbarmungslosigkeit. Wenn solche Macht an kein Gesetz gebunden wäre, dann würden diese Macht und das Gelüst danach so schrecklich werden —«

»Ich verlange nach ihr. Nach dieser Macht.«

Das harte, alte Gesicht schmolz wieder zu überraschender Weichheit. Yrth berührte sie so, wie er den Grashalm berührt hatte.

»Dann nehmt sie Euch.«

Er ließ seine Hand fallen. Rendel senkte den Kopf. Morgon konnte ihre Züge nicht sehen. Er hob den Arm, um ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen. Mit einer heftigen Bewegung stand sie auf und wandte sich von ihm ab. Er blickte ihr nach, als sie durch die Bäume lief, die Arme über ihrer Brust gekreuzt, als wäre ihr kalt. Ein tiefer Schmerz brannte plötzlich in ihm, weil der Zauberer sie berührt hatte und sie ihn verlassen hatte.

»Ihr habt mir nichts gelassen.« flüsterte er.

»Morgon —«

Er stand auf und folgte Rendel in das dichter werdende Wogen des abendlichen Nebels, ließ den Falken mit seiner Beute allein.

In den folgenden Tagen flogen sie manchmal als Krähen, manchmal, wenn der Himmel aufklarte, als Falken. Zwei der Falken sprachen miteinander in schrillen Stimmen; der dritte, der sie hörte, blieb stumm. In Falkengestalt machten sie Jagd; schliefen und erwachten und blickten mit klaren, wilden Augen zur Sonne auf. Wenn es regnete, flogen sie als Krähen, kämpften sich mit stetigem Flügelschlag durch den strömenden Regen. Endlos trieben die Bäume unter ihnen dahin; es war, als flögen sie wieder und wieder über dasselbe Gelände. Doch während Regen auf sie hinunterprasselte und wieder versiegte, während die Sonne geisterhaft bleich durch die Wolken spähte, verdichtete sich ein bläulicher Schleier vor ihnen am Horizont langsam zu einer fernen Kette von Hügeln. Für ein paar Augenblicke kam unversehens die Sonne hervor, ehe sie in Nacht versank. Lichtstrahlen fielen über das weite Land, spiegelten sich in den silbernen Bändern von Flüssen und funkelten auf Seen, die wie kleine Münzen auf der grünen Erde lagen. Die Falken flogen müde, in einer gestaffelten Linie, die sich über eine halbe Meile erstreckte. Der zweite, verzaubert, wie es schien, vom Licht, schoß plötzlich aufwärts, mitten in die Sonne hinein und jagte dann in geradem, überschwenglichem Flug durch Licht und Schatten ihrem Ziel zu. Sein Überschwang riß Morgon aus seinem eintönigen Rhythmus. Er flog schneller, schoß vorbei an dem führenden Falken, um den dunklen Blitz einzuholen, der durch die Himmel raste. Er hatte nicht gewußt, daß Rendel so schnell fliegen konnte. Auf den Strömungen des Nordwindes jagte er dahin, doch noch immer hielt der Falke seinen Abstand. Mit aller Kraft setzte er ihm nach, bis er das Gefühl hatte, seine Gestalt hinter sich gelassen zu haben und nur noch Geschwindigkeit zu sein, die auf einer Welle von Licht durch die Luft getragen wurde. Langsam näherte er sich dem Falken und sah die Spannweite seiner Schwingen und erkannte, daß es Yrth war.

Er behielt seine Geschwindigkeit bei, getrieben von dem Verlangen, den Falken in der ganzen stolzen Herrlichkeit seiner Macht und seiner Kraft einzuholen und zu übertrumpfen. Er warf alle seine Energien in seinen pfeilschnellen Flug, und ihm war, als pfeife der Wind durch ihn hindurch. Die Wälder wogten wie ein Meer unter ihm. Schnabellänge um Schnabellänge schloß er zu dem anderen Falken auf, bis er wie sein Schatten im goldenen Licht hinter ihm herflog. Und dann war er neben ihm, hielt seine Geschwindigkeit, während seine Schwingen seinem Rhythmus folgten. Er konnte ihn nicht überholen. Er raste durch Luft und Licht, bis er selbst sein wütendes Verlangen abwerfen mußte wie Ballast, um seine Geschwindigkeit zu halten. Der Falke ließ ihn nicht vorbei, doch er trieb ihn zu immer schnellerem Flug an, bis all seine Gedanken und ein Schatten über seinem Herzen von ihm abgestreift wurden und er das Gefühl hatte, daß er im Wind verbrennen müßte, wenn er noch einen Herzschlag schneller flog.

Er stieß einen Schrei aus, als er von der Seite des Falken wich und abwärts glitt, den sanften Hügelketten unter sich entgegen. Er konnte kaum noch seine Schwingen bewegen; er ließ sich von den Luftströmungen abwärts tragen, bis er die Erde berührte. Dort wechselte er die Gestalt. Das hohe Gras fing ihn auf. Mit ausgestreckten Armen blieb er liegen, die Hände in die Erde gekrallt, bis das schreckliche Dröhnen seines Herzens nachließ und er wieder Luft statt Feuer zu atmen begann. Langsam rollte er sich auf den Rücken und stand auf. Der Falke schwebte über ihm. Reglos betrachtete er ihn, bis das wilde Gefühl seiner eigenen Kraft wieder über ihn hereinbrach. Sehnsüchtig hob sich seine Hand dem Falken entgegen. Wie ein Stein fiel der Vogel zu ihm hinunter. Er ließ ihn kommen. Er landete auf seiner Schulter, blieb dort sitzen, die blinden Augen verhüllt. Er war noch immer in seiner grimmigen Umklammerung, in seiner Macht und in seinem Stolz gefangen.

Drei Falken schliefen in dieser Nacht in den Hügeln von Herun. Drei Krähen flogen beim Morgengrauen nach Westen, über Dörfer und steiniges Weideland, wo wirbelnde Winde hier und dort einen knorrigen Baum oder eine einsame Felsspitze enthüllten. Die Dunstschleier verschmolzen zu sanftem Regen, der sie bis nach Kronstadt begleitete.

Die Morgol, deren Augen sonst alles sahen, hatte sie nicht kommen sehen. Doch der Zauberer Iff stand in geduldiger Erwartung im Hof, und die Morgol gesellte sich dort zu ihm. Neugierig blickte sie auf die drei schwarzen, regennassen Vögel, die vor ihrem Haus landeten. Und die Neugier wandelte sich in ungläubiges Staunen, nachdem die drei ihre natürliche Gestalt angenommen hatten.

»Morgon!« Als sie sein schmales Gesicht sanft mit ihren Händen umschloß, erkannte er, wer jener war, den er mit in ihr Haus gebracht hatte.

Yrth stand ruhig und schweigend da. Er schien in seine eigenen Gedanken vertieft, als sähe er durch ihrer aller Augen und müßte das Gewirr von Bildern ordnen.

Die Morgol strich Rendel das nasse Haar aus dem Gesicht.

»Ihr seid das große Rätsel von An geworden«, sagte sie, und Rendel wandte rasch den Blick von ihr ab, senkte die Augen zu Boden. Doch die Morgol hob ihren Kopf und küßte sie lächelnd. Dann wandte sie sich den Zauberern zu.

Iff legte seine Hand auf Yrths Schulter und sagte mit ruhiger Stimme: »El, das ist Yrth; ich glaube, Ihr kennt Euch noch nicht.«

»Nein.« Sie neigte den Kopf. »Euer Besuch ist meinem Haus eine Ehre, Sternenbildner. Tretet ein, drinnen ist es trocken und warm. Im allgemeinen kann ich sehen, wer meine Hügel überquert, und kann mich auf den Empfang meiner Gäste vorbereiten; aber drei müden Krähen schenkte ich keine Beachtung.« Sie legte ihre Hand leicht auf Yrths Arm, um ihn zu führen. »Woher kommt Ihr?«

»Aus Isig und Osterland«, antwortete der Zauberer. Seine Stimme klang rauher als sonst. Die Wachen im Gewirr der Gänge blickten auf die Besucher, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, doch in ihren Augen spiegelten sich Verwunderung und Nachdenklichkeit.

Morgon, der Yrth beobachtete, wie er neben der Morgol herging, den Kopf leicht ihrer Stimme zugeneigt, merkte erst nach einiger Zeit, daß Iff zurückgeblieben war und mit ihm sprach.

»Die Nachricht von dem Angriff auf Hed erreichte uns wenige Tage, nachdem er sich zugetragen hatte — so schnell verbreitete sich der Vorfall im Reich. Er löste Angst und großen Schrecken aus. Die meisten Menschen sind aus Caithnard geflohen, aber wohin können sie sich wenden? Nach Ymris? Nach An, das Mathom beinahe ohne Verteidigung zurückläßt, wenn er sein Heer nach Norden führt? Nach Lungold? Diese Stadt muß sich selbst erst noch von den entsetzlichen Kämpfen erholen. Nirgends mehr im Reich können die Menschen Zuflucht finden.«

»Haben die Rätselmeister Caithnard verlassen?« fragte Rendel.

Der Zauberer schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie weigern sich fortzugehen.« Seine Stimme klang leicht gereizt. »Die Morgol bat mich, zu ihnen zu reisen und zu fragen, ob sie Hilfe, Schiffe für sich selbst und ihre Bücher brauchen. Sie sagten, die Lehrsätze der Zauberei enthielten vielleicht das Geheimnis, dem Tod auszuweichen. Die Lehrsätze der Rätselkunst jedoch besagen, daß es vergeblich ist, dem Tod den Rücken zu kehren, da man ihn, sobald man sich umdreht, nur wieder vor Augen haben wird. Ich flehte sie an, ausnahmsweise einmal praktisch zu denken. Sie meinten, Lösungen auf unbeantwortete Fragen wären ihnen jetzt eine größere Hilfe als Schiffe. Ich hielt ihnen vor, daß sie vielleicht in ihrer Schule umkommen würden. Darauf fragten sie mich, ob der Tod denn das Schrecklichste sei. Und da begann ich, die Rätselkunst ein klein wenig zu verstehen. Aber mir fehlte die Fertigkeit, mit ihnen zu rätseln.«

»Der Weise«, meinte Morgon, »geht einem Rätsel so hartnäckig nach wie ein Geizkragen einer Münze, die einem Spalt in den Dielenbrettern zurollt.«

»Offenbar. Hätte ich etwas tun können? Sie scheinen mir sehr verwundbar zu sein und sehr kostbar für das Reich.«

Das schwache Lächeln in Morgons Augen erlosch.

»Es gibt nur ein Mittel, ihnen zu helfen: Wir müssen ihnen das geben, was sie wünschen.«

Die Morgol blieb vor einem großen, hellen Raum stehen. Auf dem Boden lagen dicke, braune Teppiche, die Wände waren mit kostbaren, golddurchwirkten Stoffen bespannt.

»Meine Bediensteten werden Euch alles bringen, was Ihr braucht«, sagte sie zu Morgon und Rendel. »Im ganzen Haus stehen Wachen. Wir erwarten Euch in Iffs Studierzimmer. Dort können wir miteinander sprechen.«

»El«, erwiderte Morgon leise. »Ich kann nicht bleiben. Ich bin nicht gekommen, um mit Euch zu sprechen.«

Sie schwieg still, dachte wohl über seine Worte nach, wenn auch ihr Gesicht kaum eine Regung zeigte. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Ich habe alle Wachen aus den Städten und an den Grenzen abgezogen. Goh bildet sie hier aus, damit sie nach Süden abreisen können, falls es das ist, was Ihr braucht.«

»Nein«, entgegnete er leidenschaftlich. »Ich habe in Lungold schon zu viele von Euren Wachen sterben sehen.«

»Morgon, wir müssen alle unsere Kräfte einsetzen.«

»Herun birgt weit größere Kräfte als ein Heer von Wachen.«

Da erst sah er eine Veränderung in ihrem Gesicht. Still wie ein Schatten stand der Zauberer hinter ihr, und Morgon fragte sich, ohne Hoffnung auf eine Antwort, ob er die Kräfte aus eigenem Antrieb sammelte oder auf Geheiß des Falken.

»Die zu holen bin ich gekommen. Ich brauche sie.«

Ihre Finger schlössen sich sehr fest um seinen Arm.

»Die Kräfte des Landrechts?« flüsterte sie ungläubig. Er nickte stumm, wohl wissend, daß das erste Anzeichen von Mißtrauen in ihr in seinem Herzen eine ewige Wunde zurücklassen würde. »Über solche Kräfte verfügt Ihr? Euch das Landrecht anzueignen?«

»Ja. Ich brauche das Wissen um das Landrecht. Ich werde Euren Geist nicht berühren. Ich schwöre es. Ich bin mit Hars Erlaubnis in seinen Geist eingetreten, aber Ihr — in Eurem Geist gibt es Orte, wo ich nicht hingehöre.«

Ein Gedanke wuchs hinter ihren Augen. Sie stand ganz still, noch immer seinen Arm umfassend, und konnte nicht sprechen. Er hatte das Gefühl, als wandelte er vor ihren Augen seine Gestalt in etwas, das so alt war wie die Welt, um das sich Rätsel und Legenden und die Farben der Nacht und der Morgenröte woben wie kostbare, vergessene Schätze. Er verspürte das Verlangen, in ihren Geist einzudringen, um jenem Teil seiner wirren Vergangenheit nachzuspüren, der sie ihn in diesem Licht sehen ließ.

Doch sie gab ihn frei und sagte: »Nehmt von meinem Land und von mir, was Ihr braucht.«

Er blieb stehen, während sie durch den Gang schritt, ihre Hand unter dem Ellenbogen Yrths. Bedienstete kamen, rissen ihn aus seinen Gedanken. Während sie Feuer machten und Wasser erhitzten, unterhielt er sich mit gesenkter Stimme mit Rendel.

»Ich werde mich jetzt von dir trennen. Ich weiß nicht, wie lange ich fortbleiben werde. Keiner von uns kann sich in Sicherheit wiegen, doch wenigstens sind Yrth und Iff hier; und Yrth — er will mich lebend. Das wenigstens weiß ich.«

Ihre Hand glitt auf seine Schulter, und sie sah in voller Unruhe und Sorge an.

»Morgon, du hast dich an ihn gebunden, als ihr flogt. Ich spüre es.«

»Ich weiß.« Er hob ihre Hand hoch und drückte sie gegen seine Brust. »Ich weiß«, wiederholte er. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Er lockt mich mit meinen eigenen Kräften. Ich habe dir ja gesagt, wenn ich mit ihm spielte, würde ich verlieren.«

»Vielleicht.«

»Wache über die Morgol. Ich weiß nicht, was ich ihr ins Haus gebracht habe.«

»Er würde ihr niemals weh tun.«

»Er hat sie belegen, und er hat sie schon einmal verraten. Einmal ist genug. Wenn du mich brauchst, dann frag die Morgol, wo ich bin. Sie wird es wissen.«

»Gut. Morgon —«

»Was?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie wie schon häufig in den letzten Tagen. »Nur, weißt du, manchmal fällt mir ein, was Yrth darüber sagte, daß das Feuer und die Nacht so einfache Dinge sind, wenn man sie nur klar sieht. Ich muß dauernd denken, daß du nur deshalb nicht weißt, was Yrth ist, weil du ihn niemals siehst. Du siehst nur die dunklen Erinnerungen.«

»Was, in Hels Namen, erwartest du denn, daß ich sehe? Er ist mehr als ein Harfner, mehr als ein Zauberer. Rendel, ich versuche ja zu sehen. Ich —«

Sie legte ihm eine Hand auf den Mund, als die Bediensteten neugierige Blicke auf sie warfen.

»Ich weiß.« Sie drückte ihn plötzlich sehr fest an sich, und er spürte, daß er zitterte. »Ich wollte dich nicht beunruhigen. Aber — sei still und hör zu. Ich versuche nachzudenken. Man versteht das Feuer erst dann, wenn man sich selbst vergißt und zu Feuer wird. Du hast gelernt, im Dunkeln zu sehen, als du zu einem mächtigen Berg wurdest, dessen Herz aus Dunkelheit bestand. Du bekamst dein Wissen um Ghisteslohm, indem du seine Macht und seine Kräfte in dich aufnahmst. Deshalb wirst du den Harfner vielleicht nur dann verstehen, wenn du ihm erlaubst, dich so weit in den Bannkreis seiner Macht zu ziehen, bis du ein Teil seines Herzens bist und anfängst, die Welt aus seinen Augen zu sehen.«

»Es kann sein, daß ich auf diese Weise das Reich zerstöre.«

»Vielleicht. Aber wenn er gefährlich ist, wie kannst du dann gegen ihn kämpfen, ohne ihn zu Aerstehen? Und wenn er nicht gefährlich ist?«

»Wenn er nicht —« Er brach ab. Es war, als veränderte sich die Welt um ihn herum, als rückten ganz Herun, die Königreiche in den Bergen, die südlichen Regionen, das gesamte Reich unter dem Blick von Falkenaugen an den ihnen gebührenden Platz. Er sah den Schatten des Falken in kraftvollem, lautlosem Flug das Reich überspannen und spürte, wie dieser Schatten über seinen Rücken glitt. Die Vision erlosch. Der Schatten wurde zu einer Erinnerung an die Nacht, und seine Hände verkrampften sich. »Er ist gefährlich«, flüsterte er. »Er war es immer. Warum bin ich so unentrinnbar an ihn gebunden?«

Am selben Abend verließ er die Stadt der Kreise und hielt sich Tage und Nächte, die er nicht zählte, von der Welt und beinah vor sich selbst verborgen, versunken in die Gesetze des Landrechts von Herun. Gestaltlos glitt er in die Nebelschwaden hinein, versank in den stillen, gefährlichen Sümpfen und spürte, wie der Morgenfrost sein Gesicht versilberte, als er über Schlamm und Binsen und zähem Sumpfgras erhärtete. Er schrie den schrillen, einsamen Schrei der Sumpfvögel und blickte aus starrem Stein zum Himmel und den Sternen auf. Er schweifte durch das flache Hügelland und senkte seinen Geist in Felsen, Bäume, Bäche, erkundete die von Eisen und Kupfer und ungeschliffenen Edelsteinen schweren Berge. Er spann ein riesiges Netz über die schlafenden Felder und die üppigen Weiden, von denen Nebelschleier aufstiegen, kroch in die Stoppeln des toten Wurzelwerks, in frosterstarrte Ackerfurchen und in die Halme des Grases ein, das die Schafe nährte. Die sanfte Anmut des Landes erinnerte ihn an Hed, doch in seinem Inneren wohnte eine dunkle, rastlose Gestalt, die hier und dort in Gestalt von einsam stehenden Felsnadeln hervorgebrochen war. Er flog dem Geist der Morgol sehr nahe, wäh-rend er dieses Land erkundete; er spürte, daß ihre Wachsamkeit und ihre Intelligenz aus Notwendigkeit geboren waren, daß das Erbe eines Landes, dessen Sümpfe und plötzlich einfallende Nebel jenen, die es besiedelt hatten, immer gefährlich werden konnten. Sein seltsames Gestein barg Geheimnisse, seine Hügel bargen Reichtum; auch diese Dinge waren im Geist der Morgol verankert. Während Morgon sich tief in die Gesetze des Landes versenkte, fühlte er, wie sein eigener Geist beinahe Frieden fand, von der Notwendigkeit zu klarem Sehen und Erkennen gezwungen. Als er schließlich soweit war, daß er wie die Morgol in die Dinge hinein- und durch sie hindurchsehen konnte, kehrte er in die Stadt der Kreise zurück.

Er kam so, wie er gegangen war — eine Nebelschwade, die aus der stillen, kalten Nacht von Herun hereinwehte. Nachdem er wieder seine natürliche Gestalt angenommen hatte, folgte er dem Klang der Stimme der Morgol, und schließlich stand er im feurigen Spiel von Licht und Schatten in ihrem kleinen, kostbaren Herrschersaal.

Die Morgol sprach mit Yrth, als er auftauchte; er fühlte sich der ruhigen Gelassenheit ihres Geistes noch immer verbunden. Er bemühte sich nicht, die Verbundenheit zu brechen. Er fühlte sich geborgen und ruhig in diesem Frieden. Lyra saß neben ihr; Rendel hatte sich näher ans Feuer gesetzt. Sie hatten zu Abend gegessen. Nur ihre Weinbecher und die Karaffen standen noch auf der Tafel.

Rendel drehte den Kopf und sah Morgon; sie lächelte über einen Ausdruck in seinen Augen und ließ ihn ungestört. Dann zog Lyra seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie trug ein leichtes, fließendes, feuerfarbenes Gewand; ihr Haar war geflochten und unter einem Netz aus Goldfäden zu einem kunstvollen Knoten gedreht. Nichts mehr von der vertrauten stolzen Selbstsicherheit war in ihrem Gesicht; ihre Augen wirkten älter, so als wäre sie verletzlicher geworden, als wollten die Erinnerungen an die schrecklichen Tage in Lungold, als sie hatte zusehen müssen, wie die Wachen unter ihrem Befehl gefallen waren, sie nie wieder loslassen. Sie sagte etwas zu Morgol, das Morgon nicht hörte.

»Nein«, antwortete ihr die Morgol kurz und einfach.

»Ich reise nach Ymris.« Eigensinnig starrten ihre dunklen Augen die Morgol an, doch ihre Stimme war ruhig. »Wenn nicht mit den Wachen, dann an deiner Seite.«

»Nein.«

»Mutter, ich gehöre nicht mehr deiner Wache an. Ich schied aus, als ich aus Lungold heimkehrte, du kannst also von mir nicht erwarten, daß ich dir ohne Überlegung gehorche. Ymris ist ein schreckliches Schlachtfeld — schrecklicher noch als Lungold. Ich gehe hin —«

»Du bist meine Landerbin«, fiel ihr die Morgol ins Wort. Ihr Gesicht war noch immer ruhig, doch Morgon spürte die Furcht, die erbarmungslos und kalt wie die Nebel von Herun tief in ihrem Geist wirbelte. »Ich führe die gesamte Wache aus Herun heraus und zur Ebene der Winde. Goh wird sie befehligen. Du hast selbst gesagt, du wolltest nie wieder einen Speer in die Hand nehmen, und ich war froh, daß du diese Entscheidung getroffen hattest. Es besteht keine Notwendigkeit für dich, in Ymris zu kämpfen; es besteht hingegen jede Notwendigkeit für dich, hierzubleiben.«

»Für den Fall, daß du getötet werden solltest«, sagte Lyra scharf. »Ich verstehe nicht, weshalb du überhaupt dorthin willst, aber ich werde an deiner Seite reiten —«

»Lyra —«

»Mutter, das ist meine Entscheidung. Dir zu gehorchen, ist für mich nicht mehr Ehrensache. Ich werde tun, was ich beliebe, und es beliebt mir, mit dir zu reiten.«

Die Finger der Morgol verkrampften sich um ihren Weinbecher. Sie schien selbst überrascht davon.

»Nun«, entgegnete sie ruhig, »wenn du glaubst, in dieser Angelegenheit nach eigenem Belieben handeln zu können, so kann auch ich das tun. Du bleibst hier. So oder so.«

Lyras Augen flackerten ein wenig.

»Mutter«, protestierte sie unsicher.

»Ja«, gab die Morgol zurück. »Und ich bin außerdem die Morgol. Herun schwebt in großer Gefahr. Wenn Ymris fällt, dann möchte ich, daß du hier bist, um das Land zu beschützen, soweit es in deiner Macht steht. Wenn wir beide in Ymris fielen, wäre das für Herun eine Katastrophe.«

»Aber warum wollt Ihr überhaupt reisen?«

»Weil Har sich nach Ymris begibt«, antwortete die Morgol ruhig, »und ebenso Danan und Mathom — die Landherrscher des Reiches, sie alle fühlen sich getrieben, in Ymris für das Überleben des Reiches zu kämpfen —, vielleicht treibt sie auch ein anderer, noch zwingenderer Grund. Im Herzen des Reiches liegt ein Gewirr von Rätseln verborgen; ich möchte es entwirrt sehen. Selbst unter Gefahr für mein Leben. Ich will endlich Lösungen.«

Lyra schwieg. Die Gesichter von Mutter und Tochter waren im weißen Schein des Feuers beinahe nicht voneinander zu unterscheiden in ihrer feinen, ebenmäßigen Schönheit. Doch die goldenen Augen der Morgol verbargen ihre Gedanken, während Lyras Augen jedem Flackern von Feuer und Schmerz weit offen waren.

»Der Harfner ist tot«, flüsterte sie. »Wenn das das Rätsel sein sollte, das du gelöst sehen möchtest.«

Die Morgol senkte die Lider. Doch dann hob sie die Hand und berührte mit einer flüchtigen Bewegung Lyras Wange.

»Es gibt noch andere ungelöste Fragen im Reich«, bemerkte sie, »und fast alle sind, glaube ich, wichtiger.« Doch ihre Brauen waren zusammengezogen wie von einem plötzlichen, unerklärlichen Schmerz. »Rätsel ohne Lösungen können schrecklich sein«, fügte sie nach einem Moment des Schweigens hinzu. »Aber es gibt einige, mit denen man leben kann. Andere. Yrth meint, daß das, was der Sternenträger auf der Ebene der Winde tun wird, für uns alle von lebenswichtiger Bedeutung sein wird.«

»Und ist er der Meinung, daß auch du dort sein mußt? Wenn die Ebene der Winde von so entscheidender Bedeutung ist, wo ist dann der Erhabene? Warum ignoriert er den Sternenträger und das ganze Reich?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht kann Morgon —«

Abrupt hob sie den Kopf und sah ihn ruhig im Schatten stehen, wo langsam seine eigenen Gedanken wieder in seinem Geist erwachten.

Sie lächelte und streckte ihm willkommenheißend die Hand entgegen. Yrth drehte sich ein wenig und blickte, vielleicht durch ihre Augen, Morgon entgegen, als dieser sich langsamen Schrittes der Tafel näherte. Morgon sah ihn einen Moment lang auf seltsame „Weise, wie etwas, das den Nebeln und den Felsnadeln von Herun verwandt war, die sein Geist erkunden und verstehen konnte. Als er sich setzte, schien es, als wende der Zauberer sein Gesicht von ihm ab. Wortlos neigte Morgon den Kopf vor der Morgol.

»Habt Ihr gefunden, was Ihr hier suchtet?« fragte sie.

»Ja. Alles, was ich in mich aufnehmen konnte. Wie lange war ich fort?«

»Beinahe zwei Wochen.«

»Zwei.« Er formte das Wort lautlos. »So lange? Gibt es Neues?«

»Sehr wenig. Es waren Händler aus Hlurle da, um alle Waffen, die wir entbehren können, nach Caerweddin zu bringen. Seit Tagen beobachte ich eine Nebelwolke, die sich von Osterland südwärts wälzt, und heute weiß ich endlich, was es ist.«

»Eine Nebelwolke?« Er erinnerte sich, wie Har vor dem rotflackernden Licht des Feuers seine gezeichnete Hand geöffnet hatte. »Vesta? Bringt Har die Vesta nach Ymris?«

»Hunderte. Sie ziehen im Schatten der Wälder nach Süden.«

»Die Vesta sind großartige Kämpfer«, bemerkte Yrth. Er wirkte müde, nicht geneigt, sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, doch seine Stimme war voll von Langmut und Geduld. »Und sie werden den Winter in Ymris nicht fürchten.«

»Ihr habt es gewußt!« Mit einem Ruck wurden seine Gedanken aus ihrer Ruhe gerissen. »Ihr hättet ihn hindern können. Die Bergleute, die Vesta, die Wachen der Morgol — warum zieht Ihr sein solches Heer kriegsunkundiger und praktisch wehrloser Kämpfer zusammen? Ihr mögt blind sein, aber wir anderen werden zusehen müssen, wie diese Tiere und Menschen auf dem Schlachtfeld niedergemetzelt werden —«

»Morgon«, unterbrach die Morgol sanft, »Yrth trifft nicht meine Entscheidungen für mich.«

»Yrth —« Er brach ab und senkte den Kopf in die Hände, nicht willens, die sinnlose Auseinandersetzung fortzuführen.

Yrth stand auf und zog wieder Morgons Augenmerk auf sich. Ein wenig ungeschickt ging der Zauberer zwischen den Sitzkissen hindurch zum Feuer. Vor den Flammen blieb er mit gesenktem Kopf stehen. Morgon sah, wie seine zerschundenen Hände sich plötzlich zusammenkrampften unter Worten, die er nicht aussprechen konnte, und er dachte an Thods Hände, wie er sie damals gesehen hatte, gekrümmt vor Schmerz im Feuerschein. Und aus der Stille der Nacht von Herun kam ihm ein Echo des seltsamen, flüchtigen Friedens, den er, eingehüllt in das Schweigen des Harfners, an seinem Feuer gefunden hatte. Alle jene Empfindungen, die ihn an den Harfner banden und an den Falken, seine Sehnsucht und seine unbegreifliche Liebe, überwältigten ihn plötzlich. Während er zusah, wie Licht und Schatten dem harten, blinden Gesicht immer wieder neuen Ausdruck gaben, wurde ihm klar, daß er alles preisge-ben würde: die Vesta, die Wache der Morgol, die Landherr-scher, das ganze Reich. All dies war er bereit, für einen Platz im Schatten des Falken in die zerschundenen, schmerzgequälten Hände zu legen.

Diese Erkenntnis senkte eine merkwürdige, unbehagliche Ruhe in ihn. Er neigte den Kopf und starrte auf sein eigenes dunkles Spiegelbild im glänzenden Stein, bis Lyra, deren Blick auf ihn gerichtet war, plötzlich sagte: »Ihr müßt hungrig sein.« Sie schenkte ihm Wein ein. »Ich bringe Euch etwas Warmes zu essen.«

Mit geschmeidigem, anmutigem Schritt eilte sie aus dem Saal, und die Morgol blickte ihr nach. Sie sah müde aus, müder, als Morgon sie je gesehen hatte.

»Bergleute und Vesta und meine Wache«, sagte sie zu Morgon, »mögen in Ymris nutzlos erscheinen, aber, Morgon, die Landherrscher geben alle Kraft, die sie besitzen. Anderes können wir nicht tun.«

»Ich weiß.« Sein Blick wanderte zu ihr. Er wußte um ihre eigene Liebe zu einer alten Erinnerung. Und weil er ihr, für alles was sie ihm gegeben hatte, ein wenig Frieden zurückgeben wollte, sagte er unvermittelt: »Ghisteslohm berichtete mir, daß Ihr bei Lungold auf Thod gewartet habt. Ist das wahr?«

Sie schien ein wenig bestürzt über seine brüske Art, doch sie nickte.

»Ich dachte, er würde vielleicht nach Lungold kommen. Es war der einzige Ort, wohin er sich noch wenden konnte, und ich hätte ihn fragen können. Morgon, wir sind beide müde, Ihr und ich, und der Harfner ist tot. Vielleicht sollten wir —«

»Er starb — er starb für Euch.«

Über den Tisch hinweg starrte sie ihn an. »Morgon«, flüsterte sie warnend, doch er schüttelte den Kopf.

»Es ist wahr. Rendel hätte es Euch sagen können. Oder Yrth — er war dabei.«

Der Zauberer richtete helle, ausgebrannte Augen auf ihn, und Morgons Stimme begann zu zittern. Doch er fuhr fort zu sprechen, gab dem Harfner das Rätsel seines Lebens ungelöst zurück.

»Ghisteslohm ließ Thod wählen. Er sollte entweder Rendel oder Euch als Geisel festhalten, um Ghisteslohm die Möglichkeit zu geben, mich gewaltsam in den Erlenstern-Berg zurückzubringen. Doch Thod wählte statt dessen den Tod. Er zwang Ghisteslohm, ihn zu töten. Er hatte kein Mitleid mit mir. Vielleicht weil ich es auch ohne aushaken konnte. Doch Euch und Rendel hat er geliebt.« Er hielt inne und erschrak ein wenig, als sie die Hände vor ihr Gesicht schlug. »Habe ich Euch weh getan? Das wollte ich nicht —«

»Nein.«

Doch sie weinte, er sah es, und er verfluchte sich selbst. Yrth blickte ihn noch immer an; er fragte sich, wie der Zauberer jetzt sehen konnte, da Rendels Gesicht hinter ihrem Haar verborgen war. Der Zauberer machte eine seltsame Bewegung. Er hob eine weitgeöffnete Hand zum Licht, als lieferte er Morgon etwas aus. Er streckte den Arm aus, berührte die Luft hinter Morgon, und die gestirnte Harfe sprang aus dem Nichts in seine Hände.

Die Augen der Morgol schweiften zu Morgon, als die ersten süßen Töne erklangen, doch seine Hände waren leer. Er starrte auf Yrth, und alle Worte, die er hätte sprechen wollen, erstarrten in seiner Kehle zu Eis. Die kräftigen Hände des Zauberers glitten mit makelloser Exaktheit über die Saiten, die er gestimmt hatte; die Gesänge der Winde und des Wassers antworteten ihm. Es war das Harfenspiel jener endlosen, schwarzen Nacht im Erlenstern-Berg, mit all seiner tödlichen Schönheit; das Harfenspiel, das die Könige im ganzen Reich jahrhundertelang gehört hatten. Es war das Harfenspiel eines großen Zauberers, den man früher einmal den Harfner von Lungold genannt hatte, und die Morgol lauschte versunken, ergriffen und ein wenig überrascht. Dann wechselte der Harfner zu einer anderen Weise, und alles Blut wich aus den Wangen.

Es war ein tieftönendes, inniges Lied ohne Worte, das in Morgon Erinnerungen an einen dunklen, nebelgrauen Abend über den Sümpfen von Herun weckte, an ein Feuer, das auf den Gesichtern der Wachen der Morgol flackerte, an Lyra, die geräuschlos aus der Nacht trat und etwas sagte. Er lauschte angespannt, um ihre Worte zu hören. Als er dann auf das weiße, stille Gesicht der Morgol blickte, die Yrth unverwandt anstarrte, fiel ihm ein, daß dies das Lied war, das Thod allein für sie komponiert hatte.

Ein Schauder durchrann Morgon. Während die weichen Klänge durch die Stille tropften, fragte er sich, wie der Harfner sich ihr gegenüber jemals würde rechtfertigen können. Yrths Hände entlockten der Harfe einen letzten, sanften Akkord, dann legten die Finger sich flach auf die Saiten, um sie zum Verstummen zu bringen. Den Kopf leicht über die Harfe geneigt, saß er da, die Hände auf den Sternen. Feuerschein spülte zuckend über ihn hin, wob Muster aus Licht und Schatten in die Luft. Morgon wartete darauf, daß er sprechen würde. Er sagte nichts; er regte sich nicht. Augenblicke verstrichen; immer noch saß er in tiefer Stille, und Morgon, der ihr lauschte, erkannte, daß diese Stille nicht eine Ausflucht war, sondern die eigentliche Antwort.

Er schloß die Augen. Sein Herz schlug plötzlich schmerzhaft bis zum Hals hinauf. Er wollte sprechen, aber er konnte nicht. Das Schweigen des Harfners umhüllte ihn mit dem Frieden, den er tief in allem Lebendigen überall im Reich gefunden hatte. Der Friede durchdrang seine Gedanken, sein Herz und seinen Geist, so daß er nicht einmal denken konnte. Er wußte nur, daß etwas, nach dem er so lange und so hoffnungslos gesucht hatte, niemals, selbst in seinen verzweifeltsten Augenblicken nicht, weit von ihm entfernt gewesen war.

Der Harfner stand auf, sein müdes, uraltes Gesicht war das verwitterte Gesicht eines Berges, das zerschundene Gesicht des Reiches. Lange hielten seine Augen die der Morgol fest, bis ihr Gesicht, das von einer durchscheinenden Blässe war, zu zucken begann und sie mit tränenblinden Augen zu Boden starrte. Dann trat er zu Morgon und streifte ihm die Harfe wieder über die Schulter. Wie in einem Traum spürte Morgon die leichten, raschen Bewegungen. Er schien einen Moment lang zu verharren; seine Hand berührte sehr sanft Morgons Gesicht. Dann trat er zum Feuer und verschmolz im Spiel seiner Flammen.

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