Mittwoch, 25. 4. 90


Lieber Jo!

Wir sind umgezogen, ich lebe auf hoher See! Der über die alten Dielen genagelte Bodenbelag, ein Reststück aus Freds Schatzkammer, schlägt von Tag zu Tag höhere Wellen und macht aus dem Ölradiator ein Boot, das auf und ab tanzt, sobald ich ihn mir von den Füßen um den Schreibtisch herum in den Rücken schiebe. Das ist der Preis für meinen Mittelalter-Ausblick.

Wer zu uns will, steht häufig vor verschlossenem Tor, weil die alten Leute über uns — angeblich leben sie seit vierzig Jahren in wilder Ehe — nicht davon abzubringen sind abzuschließen, sobald sie das Haus verlassen oder wiederkommen. Besonders sie, Frau Käfer, genannt Käferchen, ist eine eifrige Schlüsselfee. Ilona hört inzwischen sogar mitten im Gespräch und bei geschlossenem Fenster, wenn jemand am Tor rüttelt. Wer sich aber einmal bis zu uns heraufgewagt hat, betritt einen hellen Empfangsraum — überall Grünpflanzen, die vom schäbigen Stasimobiliar ablenken sollen.

Fred hat die Türen mit Schildern versehen,»Vertriebsbüro «zum Beispiel, und für jeden Raum Vorschriften verfaßt. In meinem Zimmer ist folgendes zu beachten:»Nicht mehr als zwei Personen gleichzeitig! Nicht springen oder stampfen! Ölradiator maximal Stufe 2! Beim Verlassen des Zimmers: Licht aus, Stecker raus! Fenster verschließen!«Seine letzte Anweisung,»Nicht rauchen, Brandgefahr!«, hat er handschriftlich durch» möglichst «ergänzt.

Als ich gestern mit Fred den Haushaltswarenmann besuchte — wir müssen eine neue Stromleitung in mein Zimmer legen — und darum bat, uns die hinteren Räume zu zeigen, sahen sie in meiner Bitte den läppischen Vorwand eines Spions.»Wir haben nichts zu verbergen«, rief der Chef,»wenn Sie es sehen wollen … na bitte … machen Sie, was Sie wollen …«Und eilte voran. Gegen sein Mißtrauen vermochte meine Verbindlichkeit nichts. Im Gegenteil! Jede meiner Fragen erschien mir selbst höchst mißverständlich. Auf dem Rückweg aus dem Lager vertrat uns schließlich seine Frau den Weg. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie ankündigte,»jetzt mal etwas geradezurücken«, weil ich wohl nicht wisse, wie lange sie schon ihr Geschäft hier hätten, wie mühsam es gewesen sei, all das herbeizuschaffen, aufzubauen und zu erhalten.»Es gab doch nichts! Die Gesundheit hat er sich ruiniert, seine Gesundheit!«Ihr Mann begleitete jedes Wort mit einem Laut wie aus einer gestopften Tuba. Gegen Ende fügte er ihrer verzweifelten Arie eine Zweitstimme hinzu, die aus nichts weiter bestand als» Da könn wir gar nüscht machen, gar nüscht! Da könn wir gar nüscht machen«.

«Und jetzt können Sie gehen!«sagte seine Frau und blieb vor mir stehen. Ihre Tränen waren versiegt. Ich lud sie ein, unsere Räume zu besichtigen, erzählte von der Zeitung —»Ja«, antwortete sie, und es klang bitter,»die kennen wir!«— und bot ihnen an, kostenlos bei uns zu inserieren.»Worum solln wir das machen?«fragte er.»Die kenn uns doch hier olle, worum denn, worum solln wir das machen?«Die Tochter, eine Bohnenstange, erwiderte nicht mal unseren Gruß, doch sie schnaubte unglaublich laut in ihr Taschentuch, als wir den Laden verließen.

Vorgestern hatte ich gerade die richtige Überschrift für einen Artikel gefunden (»Kapitäne retten sich zuerst«), als Ilona drei Gießener Journalisten ankündigte. Mit zwei von ihnen hatten wir den Wahlsonntag verbracht. Sie hoben vor Wiedersehensfreude die Arme, als wollten sie mich an sich drücken. Hinter ihnen erschien der Chef vom Dienst, bei dem ich mir das» Spiegeln «abgeschaut habe. Er wirkte ernst und verschlossen. Ich führte sie durch die Redaktion bis an meine Tür und stieg mit ihnen hinauf zu Jörg, Marion und Pringel, die sich zwei große Zimmer teilen. Wieder fanden die Gießener alles» spannend«, als erwarteten sie jeden Augenblick eine dramatische Wendung. Ich fragte nach ihrem Wahlartikel. Sie gaben sich erstaunt und waren untröstlich, weil der uns nicht erreicht hatte. Beim Kaffeetrinken belogen wir sie über die Höhe der Auflage, ließen uns bewundern — für Jörgs Artikel und unsere Skandalnummer — und lauschten ihren Betrachtungen über den» starken Anzeigenmarkt«, der hier heranwachse. Nach einer halben Stunde verabschiedeten sie sich mit dem Versprechen, den Artikel zu schicken.

Gegen sechs tauchte der Chef vom Dienst erneut auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Ich saß auf Ilonas Stuhl, telephonierte und wartete auf den Baron, der uns versprochen hatte, seinen Rechtsanwalt und eine Überraschung mitzubringen.»Da haben Sie ja Glück«, sagte ich,»daß unser Tor offen war.«

Es sei wohl eher so, erwiderte er, daß das Glück auf unserer Seite liege, wir hätten Glück, daß er sich die Mühe gemacht habe, noch mal hereinzuschauen. Er nahm auf dem Stuhl für Anzeigenkunden Platz.

Er wolle ganz offen mit mir sprechen, er hoffe, wir wüßten das zu schätzen und würden die Gunst der Stunde erkennen. Seine Zeitung habe beschlossen, in Altenburg ein Blatt zu gründen, beste Drucktechnik, professionelle Journalistik, den Mantelteil (also alles Überregionale) übernehme man von Gießen. Allerdings sei zu überlegen, ob wir mit ihnen zusammenarbeiten wollten, was hieße, daß sie uns aufkauften, es aber durchaus im Bereich des Vorstellbaren liege, daß»einer von Ihnen die Leitung hier übernimmt …«

Ich unterbrach ihn und ging hinauf. Ich sprach ganz ruhig, weshalb Jörg zuerst gar nicht reagierte.»Nein«, sagte ich,»ich spinne nicht. Er sitzt da unten und wartet.«

Der Chef vom Dienst mußte alles wiederholen, was seine Stimmung spürbar verschlechterte. Er könne uns, nur damit wir Bescheid wüßten, keine Bedenkzeit geben, morgen Punkt neun Uhr sei die Sitzung, auf der die Entscheidung gelte, die er heute abend von hier mitnehme.

Jörg fuhr auf. So überlegen er mit Georg verhandelt hatte, so unbeherrscht benahm er sich jetzt.

«Und ob wir das können«, gurrte der Gießener, wobei man spürte, wie wohlig ihm war, als er die Beine ausstreckte und die Füße an den Knöcheln übereinanderlegte. Was er, Jörg, denn glaube? Ein paar Räume, Strom, Telephon, das wüßten wir doch. Wäre es mit rechten Dingen zugegangen, säßen jetzt ohnehin nicht wir in diesem Palast, sondern ganz andere Leute, wobei der Chef vom Dienst auf sich zeigte. Wenn man den Einheimischen einmal den Vortritt gelassen habe, so bedeute das nicht, daß man das immer so zu machen gedenke.

Jörg, der aus unerfindlichen Gründen seine Baskenmütze in Händen hielt und mit ihr herumwedelte, versuchte zu lachen.»Und wer schreibt?«

Das liege noch in unserer Hand. Sie jedenfalls hätten genug Profis,»junge, ehrgeizige, gut ausgebildete Leute«, die auf eine Chance warteten, sich zu beweisen. Und an Einheimischen mangele es ebensowenig. Auf ihre winzige Anzeige in der LVZ, die Winzigkeit schrumpfte zwischen seinem Daumen und Zeigefinger gegen null, hätten sich über dreißig Bewerber gemeldet, von denen sie sieben zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen hätten. Das bereite ihm kein Kopfzerbrechen. Und seine jungen Freunde, die übrigens immer und überall, das könnten wir ihm glauben, voller Hochachtung und Bewunderung von uns sprächen, seien ja längst dabei, die ersten Ausgaben vorzubereiten.»Die haben bereits Quartier bezogen.«

Jörg schwieg und blinzelte. Ich wartete darauf, in Panik zu geraten, und fragte, wozu sie uns überhaupt brauchten. Der Chef vom Dienst zog ein Schnäuzchen und ließ seinen Kopf auf die Brust fallen.

Er erkenne unsere Leistung an, begann er — sobald er den Mund öffnet, löst sich seine Zunge mit einem Schmatzlaut vom Gaumen —, er habe Respekt vor jungen Leuten, die etwas für sich und die Gesellschaft tun wollten, die die Ärmel hochkrempelten und mit Engagement zur Sache gingen. Wir seien die neuen Kräfte, auf die man setzen könne und auch müsse, denn von außen ließe sich viel machen, aber eben nicht alles. Das sei ein Vorsprung, den er uns gern gutschreibe. Er sei der erste, der unseren Einsatz für Demokratie und Marktwirtschaft anerkenne. Allerdings, bei Licht betrachtet, fehle es uns an Professionalität, woher sollte die in einer Diktatur auch kommen, aber das könnten wir Schritt um Schritt erlernen, da zähle er auf unseren guten Willen. Kurzum, es sei eine Frage der Sympathie und der Fairneß. Wir sollten es einmal so sehen: Wir würden genau das schreiben, wonach uns der Sinn stünde, und sie würden uns mit ihrer geballten Kraft, mit Erfahrung und Kapital, mit ihren Verbindungen und Tricks — ja, er rede offen, auch Tricks gehörten zum Geschäft, haha —, sie würden uns zu Hilfe kommen — gegen die LVZ, die alte Parteizeitung. Und so entstünde gemeinsamund unter Anstrengung aller etwas wirklich Neues, ein Zeichen, ja ein Vorbild für das ganze Land.

Er war von Satz zu Satz auf seinem Stuhl emporgewachsen und schwang nun wie ein Prophet sein haariges Fäustchen.»Ein Vorbild für das ganze Land!«wiederholte er.

Allein, fuhr er fort, hätten wir sowieso keine Chance gegen die Großen, die früher oder später hier auftauchen würden. Insofern wären sie, die Gießener, regelrecht ein Glücksfall für uns, auch wenn wir das jetzt noch nicht so sehen würden. Und mit einem seligen Lächeln fügte er hinzu:»Wenn die Großen hier einreiten, fragt Sie«— und damit stieß er seinen Finger über den Tisch —»niemand mehr!«Etwas verspätet begann sein Finger wie ein Metronom hin- und herzuwackeln.»Dann fragt Sie niemand mehr!«wiederholte er und lehnte sich zurück, als hätte ihn dieser Satz erschöpft.

Vielleicht blieb ich deshalb so ruhig, weil nur noch diese Rolle frei war, vielleicht aber auch, weil ich spürte, daß irgend etwas nicht stimmte. Als Anfangsverdacht reichte mir die Unfähigkeit des Chefs vom Dienst, eine plausible Sitzhaltung zu finden. Seine Gesten wirkten vorgetäuscht.

«Und wozu«, fragte ich,»brauchen Sie uns wirklich?«

«Nicht schlecht, nicht schlecht«, sagte er nach einem besonders lauten Schmatzer.»Also gut, spielen wir mit offenen Karten. «Er vollführte eine Art Bocksprung mit dem Stuhl, der am Teppich hängengeblieben war.»Was ich Ihnen gesagt habe, stimmt, ohne Abstriche. Wir kommen, so oder so. Der entscheidende Faktor jedoch ist wie immer — die Zeit! Jede Woche, die wir eher als die LVZ fünf Seiten Altenburg haben, bringt uns Abonnenten, die später nicht mehr oder nur sehr teuer zu bekommen sind. Wir müssen schnell sein!«

Seine haarigen Finger tremolierten auf der Tischplatte.»Halten Sie nur mal die Zeitungen nebeneinander, nach welcher greifen Sie ganz automatisch? Und was passiert, wenn Altenburg nach Thüringen kommt, was so sicher ist wie das Amen in der Kirche? Wer will dann die Leipziger noch, was interessiert uns Sachsen?«

«Und wo lassen Sie drucken?«fragte Jörg tonlos.

«Ich bin in Gera gewesen«, sagte er in einem Tonfall leutseliger Fachsimpelei.»In Gera haben sie Lichtsatz, die lecken sich jetzt schon die Finger, so ein Geschäft bringen wir denen. Aber nur nach unseren Konditionen. Sonst fliegen wir alles aus Gießen ein. Dann kommt die Zeitung eben erst um sieben. Wann kommt sie hier?«fragte er.»Um elf, um zwölf, um zwei?«

«Und wir?«fragte ich.»Wieviel sind wir Ihnen wert?«

«Enrico!«rief Jörg und schwieg.

Ein Lächeln beseelte den Chef vom Dienst, das so verräterisch war, daß ich das Matchbox-Auto erst bemerkte, als es meine Hand berührte.

«Für jeden einen, hier vor die Tür«, sagte er. Ich schob den kleinen BMW weiter zu Jörg, der ihn mit einer Handbewegung abwehrte, als verscheuchte er eine Fliege.»Und zwanzigtausend auf die Hand, bar, in einer Woche, D-Mark, zwanzigtausend, für jeden zehn.«

Er könne seine Glasperlen wieder einstecken, sagte Jörg und sah mich an.»Das ist doch unglaublich, nicht? Völlig unglaublich!«

Am liebsten hätte ich dem Gießener — Offenheit gegen Offenheit — ein Märchen erzählt. Dieselben Argumente, die er so eindrucksvoll vorgetragen habe, hätten uns bereits dazu bewogen, nach einem starken Partner Ausschau zu halten, nach einem, der in ganz Thüringen präsent sei und der über eine Druckerei in der Region verfügte. Doch Jörgs Empörung ließ für Bluffs keinen Spielraum.

Die Peripetie kündigte sich durch Schläge gegen das Hoftor und die gleichzeitig aufspringende Tür zum Vorraum an, aus dem das» Anybody home?«des Barons erklang, eine Frage, mit der er sich selbst ständig zum Lachen bringt, obwohl niemand kapiert, was daran witzig sein soll.

Mehrmals bewegte sich die Klinke vergeblich, bevor die Tür langsam aufschwang. Vom Baron sah man nur Beine und Stiefel, alles andere war ein Karton.

Der Baron war glänzender Laune, begrüßte den Chef vom Dienst mit Herzlichkeit und schüttete sich dann aus vor Lachen, weil das» Käferchen«, die ihm auf der Treppe begegnet war, die anderen ausgesperrt hatte. Jörg lief nach unten.

Ich half dem Baron, den Karton in den Nebenraum zu tragen. Er fragte, ob er die Sachen für ein paar Tage bei uns lassen dürfe, bis sein Büro fertig sei.

Der Chef vom Dienst hatte sich erhoben, magisch angezogen von dem Markenzeichen auf dem Karton, einem angebissenen Apfel. Inzwischen war auch Jörg wieder heraufgekommen und mit ihm zwei Männer, ebenfalls schwer beladen.

Der eine, Andy, ein Ami fast ohne Deutschkenntnisse, der andere unser Rechtsanwalt Bodo von Recklewitz-Münzner.

Recklewitz haben wir es zu verdanken, daß wir in Sachen Pipping-Fenster ruhig schlafen können. Recklewitz’ Gesicht, aus dem die Nase spitz und schief hervorsticht, hat tatsächlich etwas Aristokratisches, sein Lachen ähnelt dem des Barons. Auch er verzieht jeweils nur die linke Mundhälfte. Andy, groß, breitschultrig, rotblond und blauäugig, lacht gern und laut. Seine Augen suchen ständig den Baron, weil der ihm hin und wieder etwas übersetzt.»Wie geht’s?«sagte Andy, drückte mir die Hand und schien in meinen Augen zu forschen. Der Chef vom Dienst sagte» How do you do?«und fragte mich leise:»Sie rüsten um?«Ich nickte.

Jörg mußte auf der Treppe etwas gesagt haben, denn von Recklewitz trat, sich die Hände reibend, vor den Chef vom Dienst und fragte, als erkundige er sich nach der Uhrzeit:»Sie wollen uns also brotlos machen?«

Und Jörg, dankbar, sich beklagen zu können, petzte:»Entweder mit oder gegen uns. So ist es doch, das haben Sie gesagt!?«

«So einfach ist es nun nicht«, verteidigte sich der Chef vom Dienst und zog seine Visitenkarte hervor. Während er die Geschichte unserer Freundschaft vortrug, waren Andy und der Baron nebenan damit beschäftigt, die Apparate aus den Kisten zu holen.

«Und was wird aus unseren Investitionen?«blaffte Recklewitz und hackte mit der Nase in meine Richtung. Er war großartig.184

Der Baron bat uns herüber.»Das ist das Beste«, schwärmte er,»es gibt nichts Besseres … Sie sind aus der Branche?«Und als auch er eine Gießener Visitenkarte erhalten hatte, rief er:»Dann werden Sie das bestätigen?«Und der Chef vom Dienst bestätigte es umgehend. Sie selbst überlegten, ein paar» Apple «einzusetzen, in einigen Bereichen jedenfalls» mache das wohl Sinn«. Und allmählich wurde der Chef vom Dienst wieder zu jenem begeisterten Besucher, als der er sich im Februar über unsere Spiegel gebeugt hatte. Er hielt den Karton fest, als Andy den Bildschirm aus dem Kasten zog, räumte das Styropor zusammen, ließ sich keinen Kabelanschluß entgehen und betrachtete ebenso sorgenvoll wie Andy unsere Steckdosen.

Sogar an Verlängerungsschnüre und eine Verteilerdose hatte der Baron gedacht. Nur Recklewitz drängelte, er hatte Hunger. Wir verzogen uns mit ihm nach oben. Kurt bot Recklewitz etwas aus seiner Brotkapsel an. Recklewitz dankte irritiert. Er habe so viel vom hiesigen Mutzbraten gehört (auch er sprach es falsch aus), daß er sich lieber noch etwas beherrschen wolle. Kurt klappte die obere Scheibe zurück, zeigte eine dicke Schicht Landleberwurst vor und biß dann selbst hinein.

Solltest Du jemals Bodo von Recklewitz-Münzner kennenlernen, so wirst Du sehen, daß er seinem Namen alle Ehre macht. Zuerst ist er ganz der Herr von Recklewitz, der nur über den Wassergraben seiner Burg hinweg Befehle erteilt. Ja, man merkt seinen Augen und Schläfen die Kopfschmerzen an, die es ihm bereitet, wenn sich jemand zu ihm setzt, statt in einigen Metern Abstand auf seinen Wink zu warten. Hat er sich dann erst einmal geordnet, den Blick von einem fernen Horizont zurückgeholt und den inneren Widerstand, den jede neue Berührung mit der Welt in ihm hervorruft, überwunden, wird aus dem Herrn von Recklewitz mit jedem Wort, mit jeder Erläuterung und Anmerkung mehr und mehr der hilfsbereite Herr Münzner, der uns zukünftig mit Rat und Tat zur Seite stehen wird. Wir zahlen ihm sechshundert Mark pro Monat und können ihn dafür jederzeit und mit allem in Anspruch nehmen — nur Fahrtkosten sind extra. Damit sei er, vor allem aber seien seine Klienten mit dieser Regelung stets gut gefahren. Nur sollten wir nicht den folgenschweren Fehler begehen, Recht und Gerechtigkeit miteinander zu verwechseln. Er sei für das Recht zuständig, dafür, recht zu bekommen.

Und plötzlich, nachdem der Vertrag unterschrieben war, lachte uns linksseitig unser alter Schulfreund Bodo an, mit dem zusammen wir jetzt was Gutes essen würden.

«Wir müssen da schleunigst runter«, rief er,»von allein werden die nicht rauskommen. «Bodo von Recklewitz-Münzner erwartete sich Sagenhaftes von der hiesigen Küche.

Ich lud den Chef vom Dienst ein, mit uns zu essen.»Glauben Sie mir«, sagte er und ergriff mit beiden Händen meine Rechte,»wenn ich nicht morgen früh diese Beratung hätte, ich würde es tun! Ja, ich würde es tun, und dann würde ich Sie, Sie alle hier, einladen!«

Wir geleiteten ihn zum Wagen, zu ebenjenem BMW, dessen Modell ich als Corpus delicti in der Hosentasche trug.»Ein schönes Auto«, rief ich, als der Chef vom Dienst das Fenster herabsurren ließ. Er setzte zurück und streckte den Kopf heraus, als wollte er sehen, ob wir noch alle da wären. Beim Anfahren reckte er seinen Arm bis übers Dach und winkte mit seiner Fliegenhand, wobei er, wie ein neues Versprechen, ein Goldarmband entblößte.

«Der Sauhund!«rief Jörg, der noch vor Recklewitz seinen Arm hatte sinken lassen.»Dieser Sauhund!«

«Seien Sie froh«, lachte der Baron,»daß Sie an so einen geraten sind, und seien Sie stolz! Kaum daß Sie auf dem Markt sind, umwirbt man Sie. Was wollen Sie mehr?«

«Sitzt die ganze Zeit mit so einem Spielzeug im Jackett da und wartet auf seinen Einsatz, pfui Teufel!«rief Jörg.

Der Baron schwieg, wie um sicherzugehen, daß Jörg tatsächlich zu Ende gesprochen hatte, und sagte dann:»Bauen Sie die Mauer wieder auf, aber beeilen Sie sich damit!«

Wir sollten ihm, diesem Chef vom Dienst, dankbar sein, ja, wirklich dankbar. Der habe unsere Schwächen aufgedeckt,»Ihre Stärken und Schwächen«, ergänzte der Baron. Er mache sich selbst Vorwürfe, in der Vergangenheit nicht härter zu uns gewesen zu sein. Denn wie sich nun zeige, sei es wohl eher unwahrscheinlich, daß man uns weiterhin Zeit lasse, schmerzlos zu lernen,»wenn es das überhaupt gibt, schmerzloses Lernen!«.

Jörg solle ihm einen Satz des Chefs vom Dienst nennen, der falsch gewesen wäre. Wir müßten uns ändern, ganz schnell ändern, sonst hätten wir keine Chance.»Und wenn Sie wenigstens«, sagte er,»den Umfang überdenken und Ihre Druckqualität. Sie brauchen Platz für Anzeigen, und für D-Mark kauft Ihnen niemand solche schemenhaften Photos ab.«

Noch im» Ratskeller «stritten sie. Der Tonfall blieb freundlich, aber unerbittlich.»Sie wollen keine Tageszeitung werden? Dann müssen Sie sich eben was anderes überlegen.«

Jedesmal wenn ich Jörg beispringen wollte, stand er bereits auf verlorenem Posten. Deshalb wohl zielte Recklewitz mit seiner Nase auf mich. Was ich denn dächte? Mir fiel nichts ein. Und ich war verärgert, weil Jörg sich so kindisch gebärdete, daß sie glauben mußten, wir hätten vergessen, die Spielregeln zu lesen.

«Enrico!«rief Jörg.»Laß dich nicht so einfach ins Loch jagen!«Und dann machte Jörg erneut seine traurige Rechnung auf. Natürlich weiß niemand, was nach dem ersten Juli185 wird, natürlich ist der Osten nicht der Westen, natürlich haben wir von der letzten Nummer fast tausend Exemplare mehr verkauft, natürlich kommt es auf uns an, auf das, was wir wollen, und auf unsere Kraft, natürlich sind wir nicht irgendeine Zeitung. Und wenn Jörgs Leute gewählt werden, sitzen wir näher an der Quelle als alle anderen. Aber ob das reichen wird?

Danach fiel niemandem etwas Unverfängliches ein, um das Schweigen zu beenden. Zum Glück kam das Essen. Wir stießen an, und ich begriff nicht mehr, was an der Vision des Barons eigentlich so schrecklich sein sollte und was Jörg dazu trieb, immerfort den Kopf zu schütteln. Wenn Jörg sich weiter weigere, hatte der Baron gesagt (und offengelassen, wie ernst es ihm damit war), werde er eben selbst ein Anzeigenblatt gründen. Man dürfe doch das Geld nicht auf der Straße liegen lassen. Außerdem mache ihm das Spaß, Geldverdienen mache immer Spaß. Und in diesem Fall sei es ein Kinderspiel, wenn man von Beginn an alles richtig anpacke. Hatte der Chef vom Dienst nicht gesagt, in Gera drucke man mit Lichtsatz? Dann könnten so viele Gießener kommen wie wollten. Für das» Wochenblatt «jedoch sei das tödlich.»Wenn Sie jetzt nicht reagieren«, sagte er und richtete seine Tiefseebrille auf mich,»sind Sie erledigt.«

«Nein«, sagte Jörg, in diese Falle tappe er nicht. Er werde nicht zulassen, daß wir unsere Kräfte verschwendeten. Wir würden das Ruder fest in der Hand halten.

«Dann rudern Sie mal«, rief Recklewitz, der, weil es keinen Mutzbraten mehr gegeben hatte, ein enormes Eisbein vor sich zerlegte und von erfreulicheren Dingen reden wollte, zum Beispiel vom Fußball, obwohl er wissen mußte, wie lächerlich der Baron Sport fand.

Heute früh Punkt neun stand Andy in der Redaktion. Er setzte sich an den Computer und reichte mir drei Minuten später die fertige Anzeige: eine halbe Seite! In weißer Schrift stand auf schwarzem Grund nichts weiter als» Andy kommt!«. Er fragte nach» Discount«, den ich natürlich gewährte. Mit meinem Englisch ging es besser als erwartet, ich hatte ja keine Wahl. Trotzdem zweifelte ich dann, ob ich ihn richtig verstanden hatte, obwohl twenty ganz sicher zwanzig hieß und twenty thousand eben zwanzigtausend. Wieder tippte ich auf den Bildschirm, den Computer, den Drucker: All together twenty thousand?

«Jaa«, rief Andy immer wieder,»jaa!«Ich fragte, ob das nicht auch etwas für uns wäre!» Jaa, absolutely!«

Es ist alles so einfach! Wir haben siebeneinhalb für den VW-Bus ausgegeben, tausendfünfhundert für den Photoapparat. Auf die Habenseite kommen die Tausendfünfhundert186 von der Videotheksanzeige, die uns der Baron verschafft hat, plus ein paar andere D-Mark-Einnahmen, macht zusammen dreizehntausend und ein paar Hunderter. Wir brauchen noch sechstausend und ein bißchen D-Mark!

Ich habe bereits Steen geschrieben und wegen eines Termins mit der Druckerei in Gera telephoniert. So schnell werden wir also nicht untergehen!

Dein E.


PS: Michaela sagt gerade, eine Frau habe versucht, Lafontaine umzubringen, mit einem Messer oder Dolch. Michaela glaubt, das erhöhe seine Wahlchancen.

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