Sonnabend, 13. 1. 90


Liebste Verotschka!

Ich war jeden Tag draußen, nie weniger als eine Stunde. Zudem bin ich fürs Einkaufen und Kochen zuständig und habe Roberts Schulspeisung den Rang abgelaufen, was kein Kunststück ist. Robert darf sich jeden Abend wünschen, was es mittags geben soll. Heute habe ich mich in Eierkuchen versucht. Und siehe da, Michaela hat sogar aufgegessen, was wir übrigließen. Ihre Kochbücher sind zur Zeit meine einzige Lektüre.

Diese Woche habe ich gleich zweimal an Mamus3 schreiben müssen. Der zweite Brief war notwendig geworden, weil Michaela sie angerufen4 und gefragt hatte, ob sie denn schon von meiner Entscheidung5 gehört habe.

Wir geben uns hier nicht mit Kleinigkeiten ab, es geht um den Verrat an der Kunst, Verrat an ihr, also an Michaela, an unseren Freunden, überhaupt am Leben, worauf ich ihr immer entgegenhalte, nicht ich sei desertiert, sondern die Kunst. Das akzeptiert sie natürlich nicht.6

Gestern nachmittag war ich nun zum ersten Mal in der» Redaktion«. Das Haus, das Georg, einem der beiden Zeitungsgründer gehört, liegt etwa dreihundert Meter hinter der Post in der Frauengasse. Man glaubt, am Ende der Welt zu sein. Hat man aber das Nadelöhr aus einstöckigen Ruinen und einer schiefen Mauer passiert, wird die Welt wieder freundlicher. Georgs Haus steht in einem Garten, ein Landhaus en miniature. Die Gartenpforte wird von einer maroden Holzkonstruktion, einem Rosengitter, überwölbt. Die Klingel erweckt Tote.

«Du kommst ja wirklich«, sagte er. Im Hausflur standen alle möglichen Gartengeräte und viele Fahrräder.

Links, der Treppe gegenüber, gelangt man durch einen fensterlosen Vorraum in eine kleine Stube mit breiten Dielen und Balkendecke, an die ich mit ausgestreckten Armen heranreiche. Tisch und Stühle nehmen fast den ganzen Raum ein. Es roch nach Möbelpolitur und Kaffee. Im Sitzen bin ich größer als Georg, dessen Oberkörper kurz und krumm auf seinen endlosen Beinen hockt. Solange er über die Pläne für die Zeitung sprach, sah er auf seine gefalteten Hände. Machte er eine Pause, verschwand sein Mund inmitten des Bartes. Dann blickte er mich von unten her an, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen. Ich war unsicher, wie ich ihn anreden sollte — wir hatten uns bei unserer ersten Begegnung gesiezt.

Auf den Fensterbrettern stehen Briefwaagen. Die Scheiben sind alt und geben einen verzerrten Blick auf den Garten frei. Es reicht, den Kopf ein wenig zu bewegen, und die Bäume schrumpfen zu Sträuchern oder wachsen in den Himmel.

Später stiegen wir hinterm Haus empor, der Garten erhebt sich in mehreren Terrassen. Als ich glaubte, wir müßten umkehren, teilte Georg das Dickicht und begann einen steilen Trampelpfad hinaufzulaufen. Ich hatte Mühe zu folgen. Dann eine traumhafte Aussicht: unter einem lila Himmel lag die Stadt zu unseren Füßen, rechts der Schloßberg, links Barbarossas Rote Spitzen!7 Alles wirkte wohltuend fremd, sogar das Theater sah ich wie zum ersten Mal.

Ich inhalierte den Modergeruch und die kalte Luft und war sehr froh, diesen Blick von nun an genießen zu können, wann immer ich will.

Jörg, mein zweiter Chef, war inzwischen eingetroffen und hatte Tee gekocht. Er ist genau um das Stück kleiner, um das mich Georg überragt. Jörg formuliert druckreif. Was mich betrifft, scheint er seine Zweifel zu haben. Er ließ mich nicht aus den Augen und lächelte leicht spöttisch bei allem, was ich sagte. Aber das kann mich nicht abschrecken.

Georg und Jörg wollen mir dasselbe zahlen wie sich selbst, das heißt, ich werde zweitausend netto verdienen, fast das Dreifache meiner Gage als Dramaturg. Sie haben die Hoffnung aufgegeben, vom Neuen Forum Geld zu bekommen.8 Hauptsache, ich muß nicht mehr ins Theater. Dort ginge ich vor die Hunde. Es gibt keinen langweiligeren Ort!

Kurz vor sechs lud uns Georg zum Abendbrot ein. Franka, seine Frau, und die drei Söhne hatten sich schon um den Tisch versammelt. Als wir uns setzten, wurde es plötzlich still, unwillkürlich erwartete ich ein Tischgebet. Doch das blieb aus.

Ich lese jetzt Zeitungen. Auf der ersten Seite vom ND9 ein Photo von Havel.10 Da hat er gerade noch rechtzeitig die Profession gewechselt. Dafür sieht Noriega jetzt aus, wie von der Kripo photographiert.11 In Gleina verweigerten vor ein paar Tagen die Soldaten den Dienst.12 Sie forderten ein neues Wehrgesetz. Sogar der Militärstaatsanwalt rückte an. Aber sie ließen sich nicht einschüchtern. Und nun, lese ich, gibt es tatsächlich schon ein neues Wehrgesetz!

Ich denke die ganze Zeit an Dich!

Dein Heinrich

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