Liebe Nicoletta!
Mit meiner Versetzung in eine Kompanie aus lauter Neulingen avancierte ich als Jüngster zum Stubenältesten,187 dem das beste Bett (unten, am Fenster) und der neueste Spind zustanden, dem morgens und abends das Essen gebracht wurde und dessen Wort mehr galt als das eines Unteroffiziers.
Die Auftragsbriefe hatten sich so gut wie erledigt. Auch sonst hatte ich nicht viel zu tun. Gelegentlich fuhren wir mit den SPWs durchs Gelände, was eine willkommene Abwechslung war, ich mochte diese Fahrten — nur gestand ich mir das nicht ein. Selbst die Feldlager und kleinen Manöver hatten ihre Schrecken verloren, der Sommer 82 war außerordentlich warm.
Zum Schreiben verzog ich mich in Nikolais Malerwerkstatt188, in der wochenlang dieselben Transparente auf Waschböcken lagen. Morgens rührte Nikolai die Farbdosen um, tauchte immer mal einen Pinsel ein und verzog sich danach in sein Atelier-Kabinett, ein kleines, mit den Fenstern zum Exerzierplatz gelegenes Zimmer, das er mit unglaublichem Komfort ausgestattet hatte. Er verfügte sogar über einen Schallplattenspieler und ein abgewetztes Ledersofa. Von den wenigen, die bei ihm Zutritt hatten, dienten ihm die meisten als Modell.
Sie werden mir meine Naivität kaum abnehmen189, aber ich wunderte mich tatsächlich, daß alle, die ihm Modell saßen, sehr knabenhaft wirkten und einander oft zum Verwechseln ähnelten.
Angeregt von Baudelaires Prosagedichten, die mir Nikolai aus einem Inselband vorlas, schrieb ich täglich eine oder mehrere Skizzen. Diese Idylle unterbrach nur die Parade zum siebenten Oktober, deren Vorbereitung ein zermürbender, krank machender Stumpfsinn war. Aber das gehört nicht hierher.
Als wieder der Winter kam, ich war EK geworden, fürchtete ich, die Zeit könnte mir allmählich knapp werden.
Vieles, das zu erfahren ich als selbstverständlich vorausgesetzt oder mir vorgenommen hatte, drohte in der noch verbleibenden Zeit bis Ende April keinen Platz mehr zu finden. So war ich davon ausgegangen, früher oder später die Arrestzelle kennenzulernen. Ich hätte es auch einmal ganz ohne mein Zutun geschafft, als das Radio auf unserem Zimmer, für das ich als Stubenältester verantwortlich war, von einem Bataillonsoffizier kontrolliert und der rote Strich der Senderwahl nicht hinter einem der aufgeklebten Papierstreifen verschwunden war, mit denen man die Ostsender markieren mußte. Man hatte mir sogar drei Tage angedroht, aber damit war die Sache erledigt. Alle, selbst die Offiziere, hörten Neue Deutsche Welle, und RIAS, SFB oder AFN empfingen wir auf UKW in bester Qualität.
Ich arbeitete an einer Geschichte, die auf Wache spielte, und brauchte dringend mehr Beobachtungen. Als ich erfuhr, daß meine Kompanie drei Tage vor Weihnachten auf Doppelwache190 ziehen würde, setzte ich alles daran dabeizusein. Doch als einer von vier Fahrern im dritten Diensthalbjahr gab es kaum eine Chance, dafür eingeteilt zu werden. Mir half nur eine Samaritertat. In heuchlerischer Aufopferung schenkte ich einem lamentierenden Familienvater meinen Urlaubsschein und übernahm seinen Wachdienst. Um den Dank des zu Tränen Gerührten in Grenzen zu halten, verlangte ich von ihm etliche Flaschen Wodka, die er, Kopf und Kragen riskierend, in die Kaserne schmuggelte.
Selten lohnt bei bewußt herbeigeführten Arrangements der Aufwand,191 diesmal aber schienen sich meine Hoffnungen zu erfüllen. In der zweiten Nacht, der Nacht zum 24., es schneite, war ich gerade abgelöst worden, als die Streife einen sturzbetrunkenen und brüllenden Matrosen einlieferte. Sie hielten ihn an Armen und Beinen und schwenkten ihn hin und her wie einen Sack. Sie hatten viel zu tun, deshalb luden sie ihn in der Wachstube ab und gingen wieder auf Jagd.
Der Matrose wohnte in Oranienburg, war also vor der Haustür geschnappt worden. Allein kam er nicht mehr auf die Beine, seine Flüche und Verwünschungen erstickten bisweilen in einem Gurgeln. Schließlich schaffte er es auf die Knie, rutschte wieder zur Seite und erhob einen Arm. Wir sollten ihn laufenlassen. Selbst im Flehen schwang noch etwas von der Verachtung mit, die er als Matrose für unsere grauen Uniformen empfand. Er beteuerte, nicht zu einem Mädchen zu wollen, sondern zu seiner Mutter, er wolle nicht ficken, sondern einfach nur Weihnachten zu Hause sein, das müßten doch selbst» Mucker «kapieren. Er fingerte sich die Uhr vom Arm — die sollte uns gehören, wenn wir ihn freiließen.
Als ein Unteroffizier und ich versuchten, ihn auf die Beine zu stellen, machte er bereitwillig mit, weil er wohl glaubte, wir brächten ihn ans Tor, und pries weiter seine Glashütter Uhr an, die ihn noch nie enttäuscht habe.
Wir beeilten uns, ihn in Richtung Arrestzelle zu expedieren, stimmten ihm zu, wenn er seine Häscher Kettenhunde und rote Wichser nannte. Die Abdrücke seiner Halbschuhe im Schnee wirkten gegen die unserer Stiefel geradezu mädchenhaft. Er sah auf, als bemerke er erst jetzt, wohin wir ihn führten. Ich griff fester zu. Ob deshalb oder weil er den Gefreitenbalken auf meinen Schulterstücken gesehen hatte192 — seine Wut entlud sich gegen mich. Er trat nach mir, seine Fußspitze traf mein Schienbein. Ich schlug zurück, ein Reflex, seine Nase blutete. Er hatte sich losgerissen und ging auf mich los, er raste und trommelte mit blutigen Fäusten auf mich ein. Ich bekam ihn irgendwie zu fassen, umklammerte ihn von hinten, er strampelte und trat, so daß ich mir nicht anders zu helfen wußte, als ihn anzuheben und in den Schnee zu werfen. Aus der Wachstube kam Hilfe. Auf allen vieren drehte sich der Matrose um und suchte im Kreis seiner Peiniger nach mir.
Zu viert überwältigten wir ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken, rissen seinen Kopf an den Haaren zurück, weil er anfing zu spucken, und stießen ihn vorwärts. Er ließ sich fallen, weshalb wir ihn die Treppe zum Arrest hinunterschleifen mußten. So gelangte ich nun in eine jener Zellen, deren Insasse ich gern gewesen wäre. Am nächsten Abend, dem Weihnachtsabend, saß ich in Nikolais Atelier, trank Glühwein, aß Stollen und hörte das Weihnachtsoratorium. Nikolai schenkte mir Malapartes» Haut«, ein zerlesenes Westtaschenbuch.
Ich lebte bereits in dem euphorischen Zustand eines Zurückgekehrten, als wir Mitte April, knapp zwei Wochen vor dem 28., dem Tag meiner Entlassung, zu einer Übung fuhren. Wir setzten über die Elbe und verkrochen uns im Kiefernwald.
In der letzten Nacht, wir warteten auf den Befehl zur Rückkehr in die Kaserne, schliefen wir in den SPWs. Sobald das Innere ausgekühlt war, ließen die Fahrer den Motor kurz an. Das war verboten, aber die Offiziere wollten es nicht bemerken.
Ich aber war beim zweiten oder dritten Mal eingeschlafen. Mich weckte ein Schmerz in der Schulter. Udo, ein Unteroffizier, kniete förmlich auf mir, um an die Kurbel heranzukommen, mit der die Jalousien am Heck des SPW zu öffnen waren, die einzige Möglichkeit, um die Motoren zu kühlen. Den Zeiger des Thermostats sah ich nicht, er war schon jenseits der roten Zone. Jeden Augenblick drohten die Motoren festzufahren. Ein solcher Vorfall konnte als Akt der Sabotage mit Schwedt, mit Militärgefängnis, bestraft werden. Udos Kinn verharrte über meiner Schulter, wir starrten auf den Thermostat. Ich roch seinen Schlafatem und erwartete mein Urteil. Aus Blödheit nach Schwedt, das wäre nicht zu ertragen!
Als sich der Zeiger zu bewegen begann, spürte ich Udos Hand in meinem Nacken, er schien mit aller Kraft zuzudrücken. Dann öffnete er die Luke und kletterte hinaus. Ich wartete, bis ich die Motoren abstellen konnte, und folgte ihm. Ich dachte, er stünde irgendwo in der Nähe und rauchte. Aber ich fand ihn nicht. Es war noch dunkel und vollkommen still, als ich zu einem Spaziergang aufbrach. Von einem Augenblick auf den anderen gab es nichts mehr, was an Armee erinnerte. Keine Wachen, kein Stacheldraht, keine Scheinwerfer, nur der weiche Boden und die Stille. Die Fahrzeuge waren genauso unwirklich wie die Bäume, verzauberte Reptilien, die im Schlaf murmelten.
Je weiter ich ging, desto größer wurde meine Erregung. Ich weiß nicht, wie lange ich so lief. An einem Feld blieb ich stehen, ließ die Hosen herunter und hockte mich hin. Es war gewaltig, was ich da alles aus mir herausbeförderte. Mir schien, daß ich mich nicht nur von dem entleerte, was ich in den letzten Tagen in mich hineingestopft hatte, sondern daß ich all das los wurde, was ich je an Bedrückung, an Angst und Qual geschluckt hatte. Mit dem nackten Hintern überm Waldboden in der ersten Morgendämmerung war ich der glücklichste und freieste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Mit der Morgenröte sah ich auch meine Sonne aufgehen. Ich hatte es hinter mir, ich kehrte zurück aus der Hölle, es war nur eine Frage der Zeit, wann ich mein Buch vollenden würde. Diese Minuten waren der Urmeter meines Glücks.
Noch am Abend begannen meine Versuche, dieses Erlebnis zu beschreiben. Und bei allem, was ich später änderte, verwarf oder umstellte, immer sollte das Buch mit diesem unerwarteten Glück und der Morgenröte enden.
Am Tag der Entlassung, als ich am späten Nachmittag mit meiner schwarzen Tasche von der Straßenbahnhaltestelle kam, lief ich meiner Mutter in die Arme. Sie setzte die Einkaufstaschen mit den leeren Flaschen ab, fiel mir um den Hals und ließ mich auch dann nicht los, als ich sie darum bat.