Montag, 21. 5. 90


Lieber Jo!

Heute früh klingelte es bei uns Sturm. Vor der Tür standen Schwarz und Blond, zwei mir bekannte Polizisten. Ich fragte, ob sie unsere Wohnung durchsuchen wollten.263»Heute nacht«, sagten sie, ohne eine Miene zu verziehen,»wurde in Ihrer Zeitung eingebrochen!«

Schwarz und Blond durften mir keine Auskunft geben, auch nicht auf die alles entscheidende Frage, ob die Computer noch da waren.

Am liebsten hätte ich dann den großen Bildschirm geküßt und umarmt. Ich schaltete ein Gerät nach dem anderen ein, als erkundigte ich mich nach ihrem Befinden, und stand glücklich inmitten ihres Gesummes. Alles andere, dachte ich, ist zweitrangig. Der Metallschrank in meinem Zimmer war aufgebrochen, Ilonas Kassette mit den Bareinnahmen vom Freitag fehlte, nicht mehr als dreihundert Mark. Im Zimmer von Fred und Kurt hatten sie unseren Groschenvorrat erbeutet. Das alles erschien mir wie ein Bubenstreich. Schwarz und Blond verabschiedeten sich.

Wir sollten froh sein, sagte der Kripomann, daß die etwas gefunden hätten. In der oberen Etage haben sie die Schubladen herausgerissen und die Manuskripte von Jörg, Marion und Pringel über den Fußboden verstreut.

Ich fragte nach dem Käferchen und ihrem Mann. Der Kripomann verstand die Frage nicht (wir kennen uns vom Polizeireport, ein untersetzter Typ mit Schraubstock-Händedruck und Augen wie Schießscharten).

Im dunklen Treppenhaus tasteten wir uns nach oben. Der Kripomann stolperte auf den unregelmäßigen und kaputten Stufen. Im Schein seines Feuerzeugs suchte ich nach der Klingel. Die Tür war offen, ließ sich aber nur einen Spalt weit aufdrücken. Er leuchtete den Türrahmen ab.»Brechstange«, sagte er. Das Schloß hing heraus. Ich rief nach dem Käferchen, zweimal, dreimal. Als Antwort — mir gefror das Blut! Ich muß es so sagen: ein unmenschliches Geheul. Selbst der Kripomann schrak zusammen.

Ich erkannte die Stimme des Alten erst gar nicht. Ich rief meinen Namen. Der Alte brüllte.»Meuchler! Oooch duuuh veruuhchter Meuchler!«Der Alte verfluchte uns, uns Banditen!

Zusammen mit einem zweiten Kripomann gelang es, die Tür zu öffnen und den Schrank wegzuschieben. Der Alte ging mit der Axt auf uns los, das Feuerzeug verlosch. Gleichwohl glückte es den beiden Kripos, den Alten zu fassen. Ich hörte, wie die Axt die Stufen hinabschlitterte.

Der Alte stank fürchterlich. Er röchelte fast tonlos sein schauerliches» Meuchler!«und drohte, uns den Hals umzudrehen.

Frau Schorba schob mich ins Computerzimmer und bot mir eine von ihren grünen Beruhigungspillen an. Sie war um sieben gekommen und hatte sich absolut vorschriftsmäßig verhalten — noch in Lucka war sie über das Verhalten bei Einbruch belehrt worden.

Durchs Fenster sah ich das Blaulicht. Kurz darauf hörte ich wieder die Stimme des Alten, während man ihn und das Käferchen nach unten transportierte.

Wir begannen mit den Kripoleuten unseren Rundgang. Jeder mußte an seinem Platz sagen, was fehlte oder beschädigt worden war. Ich dachte erst, ich sei gänzlich verschont geblieben. Dann konnte ich es kaum glauben: Das Photo von Robert, Michaela und mir war verschwunden. Es hatte zwischen meinen Papieren gelegen. Ilonas Familienphoto hingegen, es war gerahmt gewesen, hatten die Einbrecher auf den Boden geworfen und das Glas zertreten. Darüber hatten sie den Inhalt ihrer» Operntasche «verstreut. Ich wisse ja, schluchzte sie, was das bedeute. Sie meinte den Spiegel. Ilona ist abergläubisch. Bei Spiegeln, klärte ich sie auf, folgten nur dann sieben böse Jahre, wenn man sie selbst zerbreche. Sie schüttelte ihr Köpfchen, nein, nein, so sei es eben nicht.

Die Einbrecher sind vom Hof aus durch das einzige Fenster in den Haushaltsladen gestiegen. Die Kasse war leer und stand offen. Offenbar haben sie nur nach Geld gesucht und außer einem Mixer nichts mitgehen lassen. Auch bei uns fanden sich Spuren der Brechstange. Keine saubere Arbeit, wie der kleine Kripomann abschätzig meinte. Ich mußte immer auf seine Hände sehen. In zwei Fingern hat er mehr Kraft als ich im ganzen Arm. Obwohl die Tasse heiß war, hielt er sie wie einen Becher, spreizte jedoch den kleinen Finger ab. Er ist der Ältere, steht im Dienstrang aber offenbar tiefer. Er läßt seinen Kompagnon immer zuerst durch die Tür. Selbst als ich ihnen Kaffee anbot, wartete er erst das Ja des anderen ab. Sein Chef wirkt unsicher, ist sofort bereit, uns zuzustimmen oder über Gesagtes zu lachen, während der Kleine keine Miene verzieht. Er nickte allerdings, als sein Chef meinte, es gehöre nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie mit den beiden Alten umgegangen seien. Das Käferchen habe wimmernd und in ein Laken gewickelt dagelegen.»Da oben ist alles verwüstet«, sagte der Kleine,»nur Scherben und Splitter. «Die Standuhr wurde umgeworfen, die Bettdecke aufgeschlitzt. Wie es die Alten geschafft haben, den Schrank vor die Tür zu schieben, bleibt ein Rätsel.

Als Jörg kam, waren die beiden Kripomänner gerade dabei, sich zu verabschieden. Sie reichten auch ihm die Hand. Er aber wich vor ihnen zurück. Der Kleine sagte etwas in der Art, daß wir es in der Bruchbude hier ja gemütlich hätten, eine belanglose Bemerkung, wie ich fand.

Solche Beurteilungen solle er sich besser sparen, erwiderte Jörg mit eisiger Miene und hüllte sich in Schweigen, bis die beiden gegangen waren.

Er sei nicht gewillt, platzte er dann heraus, solche Anzüglichkeiten hinzunehmen. Und wieso ich mich mit solchen Typen überhaupt an einen Tisch setzte. Ich sagte, daß ich schon oft mit ihnen an einem Tisch gesessen habe und mir gar nichts anderes übrigbleibe, weil ich sonst den Polizeibericht im Stehen mitschreiben müsse, den sie eigens für uns ins Leben gerufen haben.

Anzüglich fand Jörg die Bemerkung über die Redaktion deshalb, weil er sie auf unser Mobiliar bezog. Er hatte die beiden Kripomänner während der Stasibesetzung kennengelernt und für Stasileute gehalten. Alle dort hätten sich geduzt. Erst nach und nach sei ihm klargeworden, daß er sich mit Staatsanwalt und Kriminalpolizei herumstritt, und nur diejenigen, die nie etwas sagten, zur Stasi gehörten.»Das heißt«, berichtigte er sich,»offiziell dazugehörten. «Gerade der Kleine, die Eisenhand, habe ihm, Jörg, Aggressivität vorgeworfen. Jörg wollte sich nicht beruhigen.

Er steht unter Marions Fuchtel. Letzte Woche hat er mir verraten, daß er seit der Redaktionsbesichtigung mit Piatkowski versuche, einen Artikel über ihn zu schreiben.264»Die Unerträglichkeit des Wahlsiegers «laute die Überschrift. Sobald er aber diese Überschrift vor sich sehe, sei er vollkommen vernagelt. Keinen Satz, keine Zeile, die er nicht sofort wieder gestrichen habe. Er fühle sich wie eine Fliege, die wieder und wieder gegen eine Scheibe knalle, und das ausgerechnet bei einem Artikel, der für ihn eine Frage der Selbstachtung sei, der Selbstachtung und der Unabhängigkeit.

Dann hätten wir dem Hauskauf nicht zustimmen dürfen, sagte ich. Ja, sagte Jörg, das sei nicht in Ordnung gewesen, und er habe dem auch nicht zugestimmt. Was das denn heißen solle, fragte ich. Das könne er auch nicht sagen, er mache mir keinen Vorwurf, und er habe sich ja selbst darüber gefreut, das habe ich ja gesehen, und auf den Baron wolle er sich auch nicht herausreden.»Aber es ist nicht recht, es ist nicht recht.«

«Die Leute haben Piatkowski gewählt«, sagte ich,»zumindest kann er das mit Recht von sich behaupten.«

Das wisse er selbst. Aber er ertrage es nicht, wenn jemand wie Piatkowski wieder oben schwimme, das entwerte doch alles! Diese Frage wolle er stellen, wenigstens das, eine Frage!

«Was sollen wir denn mit Leuten wie den Kripomännern machen? ›Stasi in den Tagebau‹ funktioniert nur im Sozialismus«,265 sagte ich, worauf Jörg nichts erwiderte. Ich half ihm beim Aufräumen.

Jörg ist voller Skrupel. Nach dem Erscheinen der Skandalnummer hatte er Angst, daß sich Meurer, der Schuldirektor, den er in seinem Lehrerartikel attackiert, etwas antut. Deshalb war Jörg jetzt froh, als er ihn auf der Straße sah. Meurer weiß ja nicht, wie Jörg aussieht. Vor Jörg haben sie hier in der Stadt richtig Angst. Auch ich profitiere von seinem Ruf.

Es war eine Überwindung, sich wieder auf den eigenen Platz zu setzen und weiterzumachen. Am liebsten hätte ich den katholischen Pfarrer gebeten — der war mit dem Baron gekommen, um uns einen Artikel über das Altenburger Handreliquiar» anzuvertrauen«—, Zimmer für Zimmer mit seinem Weihrauchfaß einer reinigenden Prozedur zu unterziehen. Ilona war unter den Trostworten des Pfarrers erneut in Tränen ausgebrochen. Von Stunde zu Stunde steigerte sie sich mehr in etwas hinein, wovon sie nicht einmal selbst hätte sagen können, was es eigentlich war. Frau Schorba hatte ihren Posten übernommen und sie nach hinten geschickt, wo ich Ilonas Geheul aus der Küche hörte. Astrid, der Wolf, lief aufgeregt schnüffelnd von Zimmer zu Zimmer, als verfolge er eine Spur. Ich fuhr Ilona nach Hause. In ihrer Küche tranken wir noch Kaffee. Sie erzählte mir unentwegt von sich, zum Beispiel, daß sie sich mit achtzehn, ein paar Monate nach ihrer Heirat, vor den Zug habe werfen wollen.

Als ich zurückkam, fragte Kurt, der sonst nie etwas sagt, ob es denn schön gewesen sei mit Ilona, wobei er mir, durchaus anerkennend, zunickte.

An Kurt sah ich sie zuerst, eine jener bombastischen Uhren, von denen der Baron einen ganzen Karton mitgebracht hat. In ihrer Originalversion sollen sie mehrere Hunderte, wenn nicht gar Tausende kosten, er aber bezieht sie für neun DM das Stück. Sie sind gedacht als Prämien für ein neues Abonnement: Wer das» Altenburger Wochenblatt «bis zum 1. Juli bestellt und die 45,90 Mark im voraus bezahlt, bekommt eine Uhr — solange der Vorrat reicht.

Es geht darum, uns ein kleines Polster anzulegen, damit wir über den Juli kommen. Wenn nur tausend Leute dieses Angebot annehmen, wären das immerhin 45 900 Mark, abzüglich der 9000 DM für die Uhren.

Bis zum Abend hat der Schlosser alle Türen wieder halbwegs in Ordnung gebracht. Wir haben auch gleich die Tür der Alten mitmachen lassen.

Sei umarmt, Dein Enrico


PS: Ich habe gestern zwei Stunden lang gerechnet und ein Papier verfaßt, meine zehn Thesen, die ich morgen verteilen werde. Wir müssen handeln. Wenn wir einfach nur so weitermachen wie bisher, sind wir erledigt. Marion — die mir vorwirft, eine Anzeige aus Südafrika angenommen zu haben266 — meinte, diese Klinkenputzerei um Anzeigen sei entwürdigend, ja menschenverachtend, insbesondere für Frauen. Das grenze schon an Prostitution. Gerade ich müsse doch die Diskrepanz spüren zwischen dem, was uns wichtig sei, weshalb wir überhaupt eine Zeitung machten, und dem, was ich da plane. Als ich schwieg, setzte sie nach, ob ich mir solche Hausierer in Sachen Reklame auf dem Theater oder in der Literatur anders denn als unglückliche Gestalten vorstellen könne. Ich weiß nicht, ob sie, als sie es aussprach, ihren Fehler bemerkte267 oder ob sie verstummte, weil Manuela268 in der Tür erschien, strahlend.

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