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Dienstag, 3. 7. 90


Verotschka!

Gestern erschien Michaela in der Redaktion, sie brachte Barristas dicken Taschenkalender. Zum ersten Mal sah ich, wie sie Barrista küßte. Sie trug wieder ihre edlen roten Turnschuhe. In die Augen schauen konnte sie mir nicht.

Später hörte ich zufällig, wie sich Mona und Evi über Michaela unterhielten. Ihr Verdacht, daß sich Barrista» eine Hübsche von hier «nehme, hat sich nun bestätigt. Wenig später rief Robert an und fragte, wann ich denn Schluß hätte. Wir verabredeten uns zum Mittagessen.

Ich habe ihn kaum wiedererkannt. Nicht wegen der neuen Sachen — auch er trägt jetzt Turnschuhe, dazu eine Jacke mit dick gepolsterten Schultern. Seine Haare sind viel kürzer. Vielleicht bin ich in letzter Zeit unaufmerksam gewesen — aus Robert ist ein junger Mann geworden. Er umarmte mich trotzdem.

Ich ließ alles stehen und liegen und ging mit ihm hinaus. Draußen trafen wir Pringel, der für seine Reportage über den Tag Null, über das neue Geld recherchierte. (Johann wird sich anstrengen müssen, neben Pringel zu bestehen.)

Auf dem Markt stellte ich mich bei einem Obsthändler an. Wir kamen schnell dran, weil die anderen offenbar nur das Angebot besichtigen wollten. Ich fühlte mich wie ein Aufschneider, wie jemand, der sich ans Buffet wagt, bevor es eröffnet ist. Ich verlangte vier Kiwis, die ich mir selbst aussuchen durfte — und erkannte in dem Moment unseren alten Bekannten, den D-Mark-Obsthändler, der Robert geholfen hatte, die ersten Zeitungen zu verkaufen. Er kam mir vor wie eine Märchenfigur, so lang her erschien mir unsere letzte Begegnung. Er begrüßte uns freundlich, doch seine Stimmung war miserabel. Er habe heute noch keine hundert Mark Umsatz gemacht. Nicht einmal die Standgebühr werde er verdienen. Es sei hoffnungslos, aussichtslos! Unter den Blicken der Umstehenden griff ich überhastet, ja wahllos zu, als müßte ich jede einmal berührte Frucht auch nehmen. Ich zahlte mit einem Zehnmarkschein und hielt ihm die flache Hand hin, auf die er mir das Wechselgeld legte. Robert bekam eine Banane geschenkt, die er mir gleich zusteckte, weil es ihn genierte.

Die ganze Stadt war eine soeben eröffnete Ausstellung, durch die wir als Besucher schlenderten. Meine Obsttüte wurde bemerkt, so wie auch ich jedes gefüllte Netz, jeden halbwegs vollen Beutel registrierte. Die Luft über dem Markt schien von der Erwartung und Nervosität der Leute zu flimmern.

Der Ratskeller war vollkommen leer. Nicht viel hatte gefehlt und ich hätte mich unter Hinweis auf die offene Tür für unser Eindringen entschuldigt, als uns die Kellnerin bat, Platz zu nehmen, wo immer wir wollten, und jedem von uns eine Speisekarte reichte.

Robert und ich hatten kaum miteinander gesprochen. Gedankenverloren war er neben mir hergelaufen. Er kaute auf seiner Unterlippe und verzog die Mundwinkel. Ich fragte, wo sie denn in den Ferien gewesen seien. Er antwortete einsilbig. Ich vermutete Ärger zu Hause, irgend etwas mit Barrista, und argwöhnte schon, Robert wolle bei uns einziehen. Ich fragte ihn schließlich, was denn passiert sei. Da hob er den Kopf und sah mich an. Im selben Augenblick kam sein Bauernfrühstück. Als die Kellnerin gegangen war, rann ihm eine Träne über die Wange.

Ich weiß nicht, was ich von der Sache halten soll. Selbst wenn ich das, was offensichtlich Einbildung ist, wegstreiche, bleibt seine Erzählung phantastisch genug.

Sie waren in Dänemark an der Ostsee gewesen. Roberts Beschreibungen nach muß das Hotel ein kleines Schloß gewesen sein. Vom Flugplatz — Barrista reist nur noch durch die Lüfte — ging es mit der Kutsche weiter, Autos dürfen nicht in das Naturschutzgebiet.

An der Schloßtreppe waren sie von einer Schar livrierter Diener in Empfang genommen worden, die ihnen jedes Gepäckstück, selbst Roberts alten Campingbeutel, auf die Zimmer getragen hatten, Zimmer mit Terrasse und Blick aufs Meer. Er könne sich gar nicht entscheiden, was das Schönste gewesen sei: auf der Terrasse zu sitzen oder am Strand zu liegen, mit der Kutsche oder mit dem Boot zu fahren, auf dem Zimmer zu frühstücken oder in den prächtigen Speisesaal zu gehen. Er hat auch Tennisstunden genommen und mit Barrista und Michaela Minigolf gespielt. Beim Frühstück hätten Kellner ihm jeden Teller, kaum daß er ein Brötchen davon gegessen hatte, wieder entführt und ihm einen neuen hingestellt. Ihm sei es allerdings unangenehm gewesen, daß Mädchen und Jungen, von denen er glaubte, sie seien kaum älter als er gewesen, sich sogar nachts für die Gäste bereit zu halten hatten und auf den roten Samtpolstern im Foyer einnickten, um bleich aus dem Schlaf aufzuschrecken, sobald sie Schritte hörten. Am Strand habe er sich mit einigen Gleichaltrigen angefreundet, sei einmal sogar auf ein Segelboot eingeladen worden.

In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag habe es ein Feuerwerk gegeben, prächtiger als zu Silvester, wie er sagte. Er habe ein paar seiner Strandbekanntschaften dazu eingeladen. Sie hätten ein bißchen viel getrunken. Michaela habe die anderen schnell verabschiedet und ihn aufs Zimmer geschickt.

Müde sei er nicht gewesen. Er habe auf der Terrasse gestanden und dem» Meer zugehört«, wie er sagte.

Plötzlich leuchtete die Lampe auf seinem Nachttisch auf. Er habe sich einem jungen Zimmerkellner gegenübergesehen. Seine Verwunderung aber sei noch größer geworden, als dieser sein Käppchen abgenommen und sein Haar über die Schultern habe fallen lassen. Er bzw. sie habe ihn nur angesehen. Flehentlich sei ihr Blick gewesen, das Lächeln müde. Dann habe sie das Licht gelöscht, sich mit wenigen Handgriffen ihrer Montur entledigt und sei in sein Bett gestiegen.

«Ich machte wieder Licht. Ich fragte, wer sie sei und was sie wolle. Aber sie schloß einfach die Augen. Erst als ich ihre Hand nahm, hat sie die Augen wieder aufgeschlagen. «Sowenig er gewußt habe, was zu tun sei, so genau habe er doch verstanden, daß es sinnlos gewesen wäre, sie weiter auszufragen. Er habe sich dann zu ihr unter die Decke gelegt.

Er habe das alles genossen und wiederum auch nicht, weil er immer an Aids habe denken müssen und voller Angst gewesen sei, sich anzustecken. Die wenigen Worte, die ihr entschlüpft seien, habe er für Ungarisch gehalten. Sicher könne er das nicht sagen. Plötzlich habe er geglaubt, sie zu kennen. Und im selben Augenblick sei sie auch schon verschwunden. Er sei ihr nachgelaufen und habe früh um fünf das gesamte Hotelpersonal aufgeschreckt und befragt. Immer freundlich, immer lächelnd, immer bedauernd habe man ihn abgewiesen. Am Strand sei er dann bis zum Frühstück auf und ab gelaufen, und da erst, beim Rauschen der Wellen, habe er schlagartig wieder gewußt, wo er ihr bereits begegnet sei. Robert schwört, es handle sich um jenes Mädchen oder jene Frau, die in Paris, als unser Bus durch die Hurenstraße geschaukelt sei, ihm einen Kuß gegen die Scheibe gehaucht habe. Da sei er sich sicher, ganz sicher.

Wir stocherten in unseren Essen herum und machten anschließend einen Spaziergang um den Teich. Ich sagte ihm, er solle glücklich sein, so etwas Schönes erlebt zu haben, und sich keine Sorgen machen.

Ich habe Barrista noch nicht fragen können, aber wie ich ihn kenne, steckt er dahinter, allerdings kann ich das Robert schlecht sagen. Ganz sicher hat Barrista das Mädchen geschickt.

Rechts, über den Feldern, glüht es noch rot, der ganze Himmel glänzt und schimmert davon in einem Rosaviolett, das nach Osten immer blasser und matter wird, der gleiche Himmel, den wir in Waldau über den Kiefern gesehen haben. Verotschka, auf dieser Veranda wird es uns nie wieder schlechtgehen, glaub mir, Verotschka, nie wieder!351


PS: Verotschka,352 noch sechzehn Stunden! Ich sitze auf unserer Holzveranda und sehe auf das Schloß, das wie eine angestrahlte Märchenkulisse vor einem lilafarbenen Hintergrund aufragt. Ich will diese 16 Stunden nicht, ich habe Angst, Du könntest Deine Abfahrt verschieben.

Wenn Du dies liest, werden wir schon alles gemeinsam haben, das Klingelschild, das Konto, das Kopfkissen. Dann soll die Zeit stillstehen. Es ist so seltsam, daß sich nun alles erfüllen soll, was wir uns immer gewünscht und uns immer verboten haben, fast immer. Wir, die merkwürdig stillen Geschwister, die nicht wußten, was sie miteinander anfangen sollten, wenn sie allein waren. Bis Du, die Siebzehnjährige, dem Dreizehnjährigen erlaubtest, in Dein Bett zu kommen und dort zu bleiben. Wenn ich etwas bedauere, dann nur, daß es so selten gewesen ist. Dabei habe ich nie etwas anderes gewollt, nie jemand anderen lieben können. Immer mußte ich Deine Freunde und Männer übertrumpfen und etwas Besonderes vollbringen. Von allen, die Du kanntest, wollte ich der Berühmteste, der Begehrteste werden. Dir, Dir allein wollte ich die Welt zu Füßen legen.

Warum haben wir immer so gegen uns gewütet? Du mit Deinen Liebschaften, ich mit meinen. Nadja, die in mir Dich liebte so wie auch ich Dich in ihr. Und wie Du mich von Dir befreien wolltest, mit Deiner Ausreise, und wie ich mir in jener Nacht, nachdem ich Dich zum Bahnhof gebracht hatte, endlich eingestand, daß ich Dich liebte, daß ich niemanden anderen als Dich im Herzen trug. Ich fühlte mich rein dabei, rein, weil es nur diese eine einzige Regung gab.

Und wie ich mich mit Bleiben bestrafte und Michaela Deine Schuhe trug und wie die Weltgeschichte uns überrumpelte und Du Dich verstecktest und ich darüber fast den Verstand verlor, weil ich nicht wußte, wie es weitergehen sollte. Und ich plötzlich begriff, daß ich kein Geld hatte, zum ersten Mal machte es mir etwas aus, keine Kröten, keinen Zaster, keine Moneten, kein Moos, keine Kohle, keine Knete, kein Heu zu haben.353 Sonst wäre ich Dir nach Beirut gefolgt und hätte Dich nach Rom oder New York oder Altenburg entführt. Ach, Verotschka, bis in den Orient bist Du vor mir geflohen und hast mich brav ermutigt, weiterzuschreiben und fremde Frauen zu lieben, so wie man Jungen rät, sich viel zu bewegen und kalt zu duschen. Dabei wollte ich doch nichts anderes als Dich! Mit Dir will ich leben, Verotschka, nur mit Dir kann ein neues Leben beginnen.


Hier gibt es nichts mehr aufzuräumen. Der Geruch der frischen Farbe mischt sich mit dem der neuen Matratze. Die Bilder hängen, hier haben sie Platz und sehen viel schöner aus. Das schönste aber ist, daß wir alles, was wir sonst noch brauchen und wünschen, gemeinsam kaufen werden. Während Du das liest, werde ich neben Dir liegen und Deinen Rücken streicheln und die schönsten Schulterblätter der Welt küssen!

Verotschka, keine sechzehn Stunden mehr.

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