Sonntag, 1. 7. 90


Lieber Jo!

Übermorgen kann ich einziehen, sofern der Baron keine Beanstandungen hat. Ich habe eine neue Matratze bestellt, dank Monte Carlo das Beste vom Besten.348 Alles andere hat Zeit.

Vera kommt mit dem Zug, zwei Koffer hat sie angekündigt.

Die neue Familie ist an die Ostsee geflogen, nach Dänemark, das erleichtert manches. Keiner weiß, wie sich der Baron die Genehmigungen für seine Fliegerei verschafft und wie er die Russen herumbekommen hat.349 Mich würde es nicht mal mehr wundern, wenn er bald eine MiG-29 fliegt. Für DM ist alles zu haben. Der Baron macht schon große Pläne für die Zeit, wenn die Russen einmal weg sein werden: Von Altenburg-Nobitz mit Sonderangebot nach London und Paris! Ihm ist alles zuzutrauen.

Als ich am Freitag aus dem Auto stieg, glaubte ich, Möwen gesehen zu haben, Möwen in der Stadt! Leider war es nur Papier, aller möglicher Zettelkram wirbelte herum und trieb mir auf dem Fußweg und der Straße entgegen. Ich blieb für einen Moment stehen und sah den Blättern nach, die auf die Parkplatzbrache, den Hang hinunterflatterten, über die Autodächer tänzelten, dann an der Ziegelmauer oder im Maschendraht landeten. Auf eins war ich sogar getreten und hatte überlegt, ob es lohne, sich wegen der Büroklammer daran zu bücken. Ich war weitergelaufen — um einen Augenblick später auf dem Absatz kehrtzumachen und verzweifelt wie ein Kind den weißen Vögeln nachzujagen. Marions aus dem Fenster gellende Stimme hatte mich aus meinem Traum gerissen. Schreiend stürzten Evi, Mona und Frau Schorba aus unserem Eingangstor.

Frau Schorba versuchte die auf der Straße treibenden Blätter zu fangen. Sie schrie in regelmäßigen Abständen auf, wenn das verfolgte Papier in letzter Sekunde ihrem Zugriff entkam. Inzwischen beteiligten sich auch Ilona und Fred an der Jagd. Wie Treiber durchkämmten wir den Parkplatz. Den Großteil der entfleuchten Anzeigenvorlagen konnten wir an Mauer und Zaun auflesen. Evi erklomm und übersprang den Zaun, um Rüdiger-Bajohr-Finanzen und Noëlle’s Bücherstube aus den Büschen zu pflücken. Mona kroch unter jeden Wagen und zog hinter meinem Vorderrad den Kopierservice hervor.

Ilona und Fred inspizierten Jüdengasse und Markt, während wir anderen Frau Schorba zu Hilfe eilten. Die hatte ihre Taktik geändert, trippelte nun den Blättern hinterher und knallte mit dem Ausruf» Miststück!«ihre Hacken aufs Pflaster. Spätestens nach dem zweiten oder dritten» Miststück!«war die Anzeige gerettet. Die Autos, zum Anhalten gezwungen, schalteten ihre Warnblinkanlagen ein.

Fred präsentierte uns stolz seine verdreckte Hose, Ilona schien glücklich, einen Absatz verloren zu haben, und humpelte ostentativ. Von Pringel, dem wir wohl die Unversehrtheit der Computer zu verdanken haben, erfuhren wir, daß Marion von Jörg bereits ins Auto verfrachtet und weggefahren worden war.

Sie, Marion, war in den Computerraum gestürmt, hatte sich, ohne ein Wort zu sagen, den Anzeigenstapel gegriffen und aus dem Fenster geworfen. Danach hatte sie wieder die anderen als Schatten beschimpft, während das Seewetter die Vorlagen auseinanderstob. Ich bat alle, den Vorfall diskret zu behandeln. Jörg werde ich nahelegen, Marion einem Psychiater vorzustellen. Kaum haben wir einen Verrückten aus dem Haus — der Alte muß in ein Pflegeheim —, droht schon der nächste Fall.

Gestern ist Marion sogar mit dem Messer auf mich losgegangen. Die Situation war völlig harmlos. Weil Schorba unterwegs war, gab Fred zwei neuen Austrägern von uns ein paar Auskünfte. Marion hatte das zufällig mitbekommen und Fred auf der Stelle abgekanzelt. Ihr Geschrei rief Jörg und mich herbei.

Da Jörg nichts unternahm, um Marions Gezeter zu unterbinden, ließ ich mich zu ein paar Worten hinreißen; es sei jetzt genug und sie solle uns bitte allein lassen. Plötzlich sah ich die vor Schrecken geweiteten Augen der Austräger, denen ich mich zugewandt hatte.

Marion hielt Freds Messer mit beiden Händen umklammert, Klinge und Pupillen bedrohlich auf mich gerichtet. Ihr Gesicht war entstellt, als hätte der Wahnsinn alle vertrauten Züge mit einem Mal aufgelöst. […] Ich solle nur versuchen, sie aus diesen Räumen zu vertreiben, drohte sie.

«Sie denken wohl, ich trau mich nicht?«Marion verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln, als ich zurückwich.

«Nein«, sagte ich,»dir traue ich alles zu.«

«Dann haben wir uns ja verstanden«, stellte sie befriedigt fest, ließ das Messer sinken und machte kehrt. Wir verharrten alle wie erstarrt. Im Hinausgehen rief Marion dem zurückkehrenden Schorba ein heiteres» Mahlzeit!«zu, was dieser freudig erwiderte. Uns dagegen sah Schorba an, als wären wir eine Ansammlung von Gespenstern.

Von Fred weiß ich, daß die Auflage des» Wochenblattes «unter zehntausend gefallen ist, obwohl Jörg reißerisch titelt:»Gift im Grundwasser?«oder letzte Woche:»Massengräber in Altenburg?«Er weiß nicht mehr, was er schreiben soll. Gerade jetzt, da von Tag zu Tag der Festtagsjubel lauter wird, hockt Jörg in seinem Zimmer und wird immer fahler und kleiner. Der Baron läßt ihm freie Hand. Fragt sich nur, wie lange noch. Habe ich Dir von Ralf erzählt?350 Ich habe seine Frau als Akquisiteurin eingestellt, er und seine Tochter werden in Nord unser Sonntagsblatt austragen, das ist kein schlechter Nebenverdienst.

Die Abende verbringe ich in der Schiedsrichterklause. Bei jedem deutschen Tor läßt Friedrich, der kahlköpfige Wirt, eine Rakete steigen und spendiert eine Runde Korn. Schade, daß wir heute nicht spielen.

Sei umarmt,

Dein Enrico

Загрузка...