3

Lady Jaina Proudmoore stand auf der Spitze eines der Hügel von Razor Hill und schaute über den Flecken Erde, auf dem die unwahrscheinlichste Allianz der Weltgeschichte geschmiedet worden war.

Razor Hill war selbstverständlich Orc-Territorium, aber Jaina und Thrall waren sich einig gewesen, dass es das Beste sei, ihr Treffen hier stattfinden zu lassen, in Thralls gewohnter Umgebung. Was Jaina betraf, so erlaubte die Magie ihr, ohne Zeitverlust dorthin zu reisen, wohin ihr gerade der Sinn stand.

Für sie war es eine regelrechte Erlösung gewesen, als Thralls Ruf sie erreicht hatte. Jainas ganzes Erwachsenenleben schien sich dadurch auszuzeichnen, dass stets eine Krise von der nächsten abgelöst wurde. Sie hatte Dämonen ebenso bekämpft wie Orcs und Kriegsherren und das Schicksal der Welt mehr als einmal in ihren Händen gehalten.

Einst war sie Arthas' Geliebte gewesen – als er noch als edler Krieger galt. Aber dann war er korrumpiert worden und verkörperte nun den Lich-König, den grausamen Kriegsherr einer Welt, die wahrlich genug vom Krieg gesehen hatte. Eines Tages würde sie sich ihm im Kampf stellen müssen. Medivh, der von Sargeras verfluchte Zauberer, der nicht hatte verhindern können, dass Dämonen und Orcs diese Welt überrannten, war mittlerweile zum treuen Verbündeten geworden. Er hatte Jaina und Thrall davon überzeugt, ihre beiden Völker eine Allianz mit den Nachtelfen bilden zu lassen, um gemeinsam gegen die Brennende Legion vorzugehen.

Nachdem die Menschen Theramore als ihre neue Heimat auf Kalimdor gegründet hatten, hatte Jaina gehofft, dass sich alles etwas beruhigen würde. Aber es wurde niemals wirklich ruhig, wenn man regierte. Selbst in Friedenszeiten nicht, und während sie die Tagesgeschäfte in Theramore führte, hatte sie festgestellt, dass sie sich nach den Zeiten, da sie um ihr Leben kämpfen musste, zurückzusehnen begann.

Zumindest war dies oberflächlich betrachtet so. Tatsächlich hatte sie nichts wirklich zu bedauern. Aber sie hatte die Gelegenheit für eine kurze Amtspause ergriffen, wie ein Dürstender in der Wüste einen Wasserschlauch.

Sie stand am Rand der Kuppe und blickte auf das kleine Orc-Dorf am Fuße der Hügel hinab. Gut befestigte Hütten bedeckten die harsche braune Landschaft. Selbst in Friedenszeiten sicherten die Orcs ihre Heime. Ein paar Orcs liefen zwischen den Bauten herum, grüßten einander, und einige blieben stehen, um sich zu unterhalten. Jaina musste lächeln angesichts solch alltäglicher Banalität.

Dann hörte sie das tiefe, gleichmäßige Dröhnen, das die Ankunft von Thralls Luftschiff ankündigte. Sie drehte sich um und sah, wie es eintraf. Als es sich näherte, bemerkte sie, dass Thrall allein auf der Transportplattform stand, unter der mit heißer Luft gefüllten Hülle, die die Maschine durch die Luft bewegte. Besagte Hülle war mit einer Vielzahl von Symbolen verziert. Einige erkannte Jaina als Piktogramme einer frühen Version der Orc-Sprache. Ein anderes war das Zeichen von Thralls Familie, dem Eiswolf-Clan. Darin bestand der Hauptunterschied der Orc-Luftschiffe zu denen der Menschen. Die Luftschiffe, die Theramore von den Gnomen gemietet hatte, waren unpersönlich. Jaina fragte sich, ob die Art der Orcs nicht die bessere war, den toten Transportern etwas Persönlichkeit zu verleihen, wie man sie auch lebenden Lasttieren zugestand.

Wenn sie sich früher auf dem Hügel getroffen hatten, war Thrall immer von ein, zwei Wachen begleitet worden. Diesmal reiste er allein, was Jaina sehr besorgte.

Als sich das Luftschiff näherte, zog Thrall an einigen Hebeln, und es wurde langsamer, bis es schließlich über der Hügelkuppe schwebte. Thrall betätigte einen weiteren Mechanismus, senkte so eine Strickleiter ab und kletterte herunter.

Wie die meisten Orcs hatte Thrall grüne Haut und schwarzes Haar, das er geflochten über der Schulter trug. Der schwarze Brustpanzer mit den bronzenen Dekorationen gehörte einst Orgrim Doomhammer, Thralls Mentor, der zugleich auch derjenige war, nach dem man Durotars Hauptstadt benannt hatte. Auf seinem Rücken trug der Kriegshäuptling Orgrimms legendäre Waffe, den Doomhammer, der beidhändig geführt wurde. Jaina hatte gesehen, wie Thrall ihn in der Schlacht benutzt hatte. Das Blut von zahllosen Dämonen war von diesem großartigen Gerät vergossen worden.

Am meisten fielen an Thrall seine blauen Augen auf. Eine Farbe, die es bei den Orcs nur selten gab. Sie verrieten gleichermaßen Intelligenz und Freundlichkeit.

Vor drei Jahren, als Theramore und die Städte von Durotar aus dem Boden emporgewachsen waren, hatte Jaina Thrall einen magischen Talisman geschenkt: einen kleinen Stein in der Form einer der alten Tirisfalen-Runen. Jaina hatte das Gegenstück in ihrem Besitz. Thrall musste ihn nur festhalten und an sie denken, und Jainas Talisman begann zu glühen. Umgekehrt funktionierte es genauso.

Wenn sie ein geheimes Treffen wünschten, um Dinge zu besprechen, die einen von ihnen oder sie beide betrafen – oder wenn sie einfach nur wie zwei alte Freunde und Kampfgefährten miteinander reden wollten –, mussten sie nur den Talisman aktivieren. Jaina teleportierte dann zu der Hügelkuppe, und Thrall kam per Luftschiff dorthin, weil die Kuppe auf keinem anderen Weg zu erreichen war.

»Es tut gut, dich zu sehen, mein Freund«, sagte Jaina mit einem warmen Lächeln. Und das meinte sie auch so. In ihrem ganzen Leben hatte sie keine ehrenhaftere und verlässlichere Person kennen gelernt als den Orc.

Einst hätte sie auch ihren Vater und Arthas dazu gezählt. Aber Admiral Proudmoore hatte darauf bestanden, die Orcs auf Kalimdor anzugreifen und sich geweigert, seiner eigenen Tochter zu glauben, als sie ihm beteuerte, dass die Orcs genauso Opfer der Brennenden Legion waren wie die Menschen und gewiss nicht böse. Wie so viele Leute, die Jaina kannte, war Admiral Proudmoore nicht in der Lage gewesen zu akzeptieren, dass sich die Welt seit seiner Jugendzeit verändert hatte und dass er gegen nichts anderes als diese Veränderung ankämpfte. Sein Denken schloss die Anwesenheit von Orcs ein. Jaina war in die schreckliche Lage geraten, ihren eigenen Vater an Thralls Volk verraten zu müssen, in der Hoffnung, dadurch das sinnlose Blutvergießen zu stoppen.

Ähnliches galt für Arthas. Aus ihm war eines der boshaftesten Wesen dieser Welt geworden. Und heute musste Jaina erkennen, dass sie dem Anführer der Orcs mehr vertraute, als dem Mann, den sie einst geliebt hatte – oder selbst ihrem Vater.

Als ihr Vater angegriffen hatte, hatte Thrall Wort gehalten. Er hatte den Schmerz in Janias Augen gesehen, als sie ihm verriet, wie man den Admiral schlagen konnte. Und er war niemand, der die Welt so hinnahm, wie sie war. Er war als Kind in Gefangenschaft geraten und wurde von einem Menschen namens Aedelas Blackmoore groß gezogen, um der perfekte Sklave zu werden. Was selbst durch den Namen dokumentiert wurde, den man ihm verliehen hatte. Aber Thrall sprengte seine Ketten und führte die Orcs zuerst in die Freiheit und dann zu der alten Lebensweise seines Volkes zurück, die es durch die dämonischen Horden verloren hatte, als sie es auf diese Welt gebracht hatten.

Jetzt sah Jaina einen anderen Ausdruck in Thralls ungewöhnlich blauen Augen. Ihr lieber Freund war wütend.

»Wir haben nie ein Abkommen unterzeichnet, du und ich«, begann Thrall sofort und ohne Gruß. »Wir haben keine Regeln für unser Bündnis festgelegt. Wir haben auf unser mit Blut geschmiedetes Band vertraut, dass wir einander nie betrügen würden.«

»Ich habe dich nie betrogen, Thrall.« Jaina verspannte sich kurz, schaffte es aber, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Die Andeutung des Verrats ohne den Austausch auch nur der geringsten Höflichkeiten verärgerte sie. Neben dieser völlig unbegründeten Anschuldigung wäre zumindest eine Anerkennung ihres Bundes angebracht gewesen. Aber das Erste, was eine angehende Magierin lernte, war, dass starke Gefühle und Zauberei sich nicht miteinander vertrugen. Sie verstärkte den Griff um den verzierten Holzstab, den sie bei sich führte, ein Vermächtnis ihres Mentors, des Erzmagiers Antonidas.

»Ich glaube auch nicht, dass du das getan hast.« Thralls Tonfall war immer noch aggressiv. Anders als bei anderen Angehörigen seines Volks gehörte Schroffheit nicht zu Thralls normalem Naturell, was man zweifellos auf seine menschliche Erziehung zurückführen konnte. »Doch es scheint, dass deine Leute unseren Bund nicht so hoch schätzen wie du.«

Mit gepresster Stimme fragte Jaina: »Thrall, wovon redest du?«

»Eins von unseren Handelsschiffen, die Orgath'ar, wurde von Piraten aufgebracht.«

Jaina runzelte die Stirn. So sehr sie sich auch bemühten, es zu unterbinden, blieb Freibeuterei doch ein Problem auf See. »Wir haben die Zahl der Patrouillen so stark erhöht wie eben möglich, aber...«

»Patrouillen sind nutzlos, wenn sie einfach nur zusehen! Der Ausguck der Orgath'ar sah eines von euren Patrouillenbooten in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Es war nah genug, um selbst im herrschenden Nebel zu erkennen, was da vorging. Trotzdem taten sie nichts, um Kapitän Bolik und seiner Mannschaft zu helfen. Bolik ließ sogar das Nebelhorn blasen, doch deine Leute rührten sich nicht

Im Kontrast zu Thralls Wut völlig ruhig sagte Jaina: »Du sagst, euer Ausguck konnte sie sehen. Das heißt nicht unbedingt, dass sie auch die Orgath'ar sehen konnten.«

Thrall schnaubte.

Jaina fuhr fort: »Deine Männer können besser sehen als wir. Und als unsere Leute das Nebelhorn gehört haben, haben sie es vielleicht für eine Warnung gehalten, einer drohenden Kollision aus dem Weg zu gehen.«

»Wenn sie in Sichtweite meiner Leute waren, dann waren sie auch nah genug, um die Enterer zu hören. Meine Leute können besser sehen, das stimmt, aber auch wir kämpfen nicht lautlos. Ich glaube einfach nicht, dass deine Patrouille nicht bemerkt hat, was passiert ist.«

»Thrall...«

Der Orc drehte sich um und warf die Hände in die Luft. »Ich habe gedacht, die Dinge wären hier anders! Ich habe geglaubt, dass dein Volk das meine endlich als gleichwertig betrachtet. Ich hätte erkennen müssen, dass uns die Menschen verraten, sobald es gegen die eigene Art geht.«

Jetzt fiel es Jaina deutlich schwerer, ihr Temperament zu zügeln. »Wie kannst du so was nur sagen? Ich meinerseits habe geglaubt, dass du meinem Volk, nach allem, was wir gemeinsam durchmachten, wenigstens etwas vertrauen würdest.«

»Die Beweise...«

»Welche Beweise? Mit wem außer mit Kapitän Bolik und seiner Mannschaft hast du gesprochen?«

Thralls Schweigen beantwortete Jainas Frage.

»Ich werde herausfinden, welches Patrouillenboot es war. Wo genau wurde die Orgath'ar angegriffen?«

»Eine halbe Meile vor der Küste nahe Ratchet, eine Stunde vom Hafen entfernt.«

Jaina nickte. »Ich lasse das untersuchen. Diese Patrouillen werden von Northwatch aus koordiniert.«

Thrall spannte sich an.

»Was ist?«

Der Orc drehte wandte sich ihr zu, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Ich werde von vielen Seiten dazu gedrängt, Northwatch mit Gewalt zurückzuerobern.«

»Auch ich werde von vielen Seiten gedrängt, und zwar, es unter allen Umständen zu halten.«

Thrall und Jaina schauten einander an. Jetzt, da er sie erneut ansah, bemerkte Jaina etwas anderes in den blauen Augen des Orcs: nicht länger Wut, sondern Verwirrung.

»Wie konnte es so weit kommen?« Thrall stellte die Frage mit ruhigerer Stimme, alle Streitlust schien aus ihm verschwunden zu sein. »Wie konnte es so weit kommen, dass wir uns über so etwas Närrisches streiten?«

Jaina musste lachen. »Wir sind Anführer, Thrall. Wir haben große Verantwortung.«

»Anführer führen ihre Krieger in die Schlacht.«

»Im Krieg, ja«, sagte Jaina. »In Friedenszeiten führen sie sie anders. Krieg ist eine große Mühsal, die das tägliche Dasein bestimmt. Aber wenn er vorbei ist, bleibt der Alltag übrig.« Sie ging zu ihrem alten Kampfgefährten und legte ihre kleine Hand auf seinen massigen Arm. »Ich werde den Vorfall untersuchen, Thrall, und die Wahrheit herausfinden. Und wenn meine Soldaten ihre Pflicht verletzt haben, dann, das schwöre ich dir, werden sie bestraft.«

Thrall nickte. »Danke, Jaina. Ich entschuldige mich für die Vorwürfe. Aber mein Volk hat so viel erduldet. Ich habe so viel erduldet, und ich will meinesgleichen nicht noch einmal schlecht behandelt sehen.«

»Das will ich auch nicht«, sagte Jaina sanft. »Und vielleicht...« Sie zögerte.

»Was?«

»Vielleicht sollten wir einen formellen Vertrag schließen. Weil du vorhin Recht hattest. Du und ich, wir trauen einander. Aber nicht alle Menschen und Orcs sehen das genauso. Und so sehr wir es uns ja auch wünschen mögen, wir werden nicht ewig leben.«

Thrall nickte. »Es ist oft so... schwierig, meine Leute daran zu erinnern, dass ihr nicht länger unsere Sklavenhalter seid. Sie wollen die Rebellion fortsetzen, obwohl die Zeit der Unterdrückung lange vorbei ist. Manchmal lasse ich mich auch mitreißen, besonders weil ich in Gefangenschaft von einer Kreatur aufgezogen wurde, die so bösartig wie irgendein Mitglied der Brennenden Legion war. Manchmal glaube ich das Schlechteste, und das wird auch mein Volk tun, wenn ich nicht mehr bin und sich niemand mehr an mich erinnert. Vielleicht hast du ja Recht.«

»Lass uns erst diese Krise lösen«, sagte Jaina und lächelte Thrall an. »Dann reden wir über Verträge.«

»Danke.« Plötzlich schüttelte Thrall den Kopf und lachte.

»Was ist los?«

»Du bist eigentlich gar nicht mit ihr vergleichbar, aber... als du gerade gelächelt hast, nur für einen kurzen Augenblick, hast du mich an Tari erinnert.«

Jaina wusste, dass Taretha Foxton, die er meist Tari nannte, die Tochter eines Mitglieds von Aedelas Blackmoores Haushalt gewesen war. Sie war der Schlüssel zu Thralls Flucht aus Blackmoores Klauen und hatte dafür mit ihrem Leben bezahlen müssen.

Die Orcs machten sie unsterblich, indem sie ein Lied über sie dichteten – ein Lok'amon chronologisierte die Gründung einer Familie, ein Lok'tra eine Schlacht, ein Lok'vadnod das Leben eines Helden. Seit Orc-Gedenken war der einzige Mensch, dem jemals ein Lok'vadnod gewidmet wurde, jene Tari.

Deshalb neigte Jaina ihr Haupt und sagte: »Ich fühle mich tief geehrt, mit ihr verglichen zu werden. Ich werde Oberst Lorena nach Northwatch entsenden, und sobald ich Antwort habe, werde ich dich informieren.«

Thrall schüttelte den Kopf. »Noch so eine Frau in deinem Militär. Ihr Menschen erstaunt mich manchmal.«

Jainas Tonfall wurde frostig, und sie umfasste ihren Stab wieder fester. »Was soll das heißen? Können Männer und Frauen nicht gleich sein in deiner Welt?«

»Natürlich nicht. Ich würde jedoch auch nicht sagen«, ergänzte er schnell, bevor Jaina ihn unterbrechen konnte »dass sie ungleich sind. Genauso wenig, wie ich sagen würde, dass ein Insekt und eine Blume gleich sein könnten. Das sind zwei komplett verschiedene Dinge.«

Dankbar für die Vorlage erzählte Jaina Thrall das selbe, was sie Antonidas gesagt hatte, damals, als sie als junge Frau frech darauf bestanden hatte, seine Schülerin zu werden. Der Zaubermeister hatte ihr zur Antwort gegeben: »Es liegt genauso wenig in der Natur der Frau, Magierin zu werden, wie es in der Natur des Hundes liegt, eine Arie zu komponieren.«

Und wie sie damals ihm erwidert hatte, sagte sie jetzt zu Thrall: »Ist nicht der Hauptunterschied, der uns von den Tieren trennt, der, dass wir unsere Natur ändern können? Immerhin gibt es Leute, die darüber diskutieren, ob die Natur der Orcs nicht das Sklavendasein ist...« Dann schüttelte Jaina den Kopf. »Wie auch immer, es gibt viele, die so denken wie du. Aber genau deshalb müssen Frauen auch immer doppelt so hart arbeiten wie Männer, um dieselbe Position zu erreichen. Und deshalb vertraue ich Lorena mehr als jedem anderen meiner Offiziere. Sie wird die Wahrheit herausfinden.«

Darauf warf Thrall seinen massigen Kopf zurück und lachte herzhaft. »Du bist eine unglaubliche Frau, Jaina Proudmoore. Du erinnerst mich daran, wie viel ich immer noch über die Menschen lernen muss, obwohl ich von ihnen aufgezogen wurde.«

»Wenn man bedenkt, wer dich aufgezogen hat, würde ich eher sagen, trotzdem du von ihnen aufgezogen wurdest.«

Thrall nickte. »Gut gekontert. Lass deinen weiblichen Oberst die Sache untersuchen. Wir reden wieder, wenn sie Ergebnisse vorzuweisen hat.« Er ging zur Strickleiter, die immer noch von dem schwebenden Luftschiff herabhing.

»Thrall.«

Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. Sie warf ihm den aufmunterndsten Blick zu, den sie überhaupt zu Stande brachte. »Wir werden dieses Bündnis nicht scheitern lassen, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das werden wir nicht.« Dann erklomm er die Strickleiter.

Jaina murmelte eine Beschwörung in einer Sprache, die nur Magiern bekannt war. Dann atmete sie tief ein und aus. Ihr Magen fühlte sich an, als würde er durch ihre Nase herausgesaugt, als die Hügelkuppe, das Luftschiff, Thrall und Razor Hill sich verschoben und die Landschaft um sie herum sich veränderte, alles undeutlich und diesig wurde. Einen Moment später verschmolz alles zur gewohnten Umgebung ihrer Räume im obersten Stockwerk der Burg von Theramore.

Meist bevorzugte sie es, die Regierungsarbeit in diesem kleinen Raum mit einem Tisch und Tausenden von Schriftrollen zu erledigen, der Thronsaal war ihr dafür nicht halb so lieb. Jaina saß ungern auf dem Symbol ihrer Herrschaft. Selbst während der wöchentlichen Termine, wenn sie Bittsteller empfing, ging sie normalerweise vor dem peinlich großen Ding auf und ab, anstatt sich darauf zu setzen; sie benutzte den Raum insgesamt sehr selten. Diese Kammer hingegen war mehr wie Antonidas Studierzimmer, wo sie ihre besondere Kunst perfektioniert hatte, geprägt von einem unaufgeräumten Schreibtisch und schlecht sortierten Schriftrollen. Die Ähnlichkeit zu jener Stube von einst machte es zu einem Zuhause.

Etwas anderes, was es in der Kammer nicht gab, dafür aber im Thronsaal, war ein Fenster mit Aussicht. Jaina wusste, dass sie niemals ihre Arbeit mit Blick auf Theramore hätte erledigen können. Sie würde abwechselnd von den Wundern, die dort entstanden und der Furcht, für all das verantwortlich zu sein, abgelenkt werden.

Teleportieren war immer ein sehr intensiver, kräftezehrender Prozess. Und obwohl Jainas Training ihr inzwischen ermöglichte, unmittelbar nach Beendigung eines Sprungs kampfbereit zu sein, bevorzugte sie es doch, ein wenig Zeit zu haben, um sich zu erholen. Einen dieser Momente gönnte sie sich jetzt, Sekunden bevor sie nach ihrer Zofe rief.

»Duree!«

Die alte Witwe kam durch den Haupteingang. Die Kammer hatte drei Zugänge. Zwei kannte ein jeder, den, den Duree gerade benutzt hatte und den, der zu Gang und Treppe und Jainas Privaträumen führte. Der dritte war ein Geheimnis, gedacht als Fluchtweg. Nur sechs Personen wussten davon, und fünf davon waren jene Arbeiter, die ihn gebaut hatten.

Duree schaute wütend durch die Gläser ihrer Brille auf Jaina. »Kein Grund, so zu brüllen. Ich sitze direkt vor der Tür – wie immer. Wie ist Euer Treffen mit dem Orc verlaufen?«

Seufzend erinnerte Jaina sie nicht zum ersten Mal: »Sein Name ist Thrall.«

Duree fuchtelte so wild mit den Armen, dass die zierliche Frau fast das Gleichgewicht verloren hätte. Ihre Brille rutschte von ihrer Nase und baumelte an einem Band um ihren Hals. »Ich weiß, aber es ist ein so dummer Name. Ich meine, Orcs haben Namen wie Hellscream und Doomhammer und Drek'Than und Burx oder so was. Und er nennt sich Thrall? Welcher Orc mit etwas Selbstachtung würde sich denn so rufen lassen?«

Jaina erklärte nicht, dass Thrall mehr Selbstachtung hatte als jeder andere Orc, den sie kannte, weil dieser Hinweis die vorherigen hundert Male auch nicht in Durees Gedächtnis haften geblieben war. Stattdessen verbesserte sie: »Es heißt Drek'Thar, nicht Drek'Than.«

»Wie auch immer.« Duree pflanzte ihre Brille wieder auf die Nase. »Das sind gute Orc-Namen. Nicht Thrall. Doch egal, wie ist es gelaufen?«

»Wir haben ein Problem. Hol Kristoff. Und schick jemanden, der Oberst Lorena sucht und ihr sagt, dass sie einen Trupp zusammenstellen soll, der nach Northwatch reist und mir von dort berichtet. Sobald sie mit den Vorbereitungen fertig ist, will ich sie sehen.« Jaina saß an ihrem Tisch und begann die Schriftrollen zu sortieren. Auf diese Weise versuchte sie, die Schiffsberichte zu finden.

»Warum Lorena? Sollten nicht besser Lothar oder Pierce gehen? Jemand, der etwas weniger... ich weiß nicht... weiblich ist? Die in Northwatch sind ein rauer Haufen.«

Jaina fragte sich, ob sie diese Unterhaltung jedes Mal führen musste, wenn Lorenas Name fiel. »Lorena hat mehr Durchsetzungsvermögen als Lothar und Pierce zusammen. Sie wird das gut machen.«

Duree schmollte, ein jämmerlicher Anblick bei einer so alten Frau. »Es ist nicht richtig. Das Militär ist keine Frauenarbeit.«

Jaina gab es auf, nach den Schiffsberichten zu suchen und funkelte ihre Zofe an. »Das gilt auch für das Regieren einer Stadt.«

»Nun, das ist etwas anderes«, beteuerte Duree schwach.

»Warum?«

»Weil es eben so ist.«

Jaina schüttelte den Kopf. Drei Jahre, und Duree hatte immer noch keine bessere Antwort parat.

»Hol einfach Kristoff und schicke nach Lorena, bevor ich dich in einen Molch verwandele.«

»Wenn Ihr mich in einen Molch verwandelt, werdet Ihr nie wieder etwas in diesem Durcheinander finden.«

Jaina warf frustriert ihre Hände hoch und sagte: »Ich kann schon jetzt nichts finden. Wo sind diese verdammten Schiffsberichte?«

Lachend antwortete Duree: »Kristoff hat sie. Ich sage ihm, er soll sie mitbringen, wenn er vorbeikommt. Soll ich?«

»Bitte.«

Duree verbeugte sich, was ihre Brille dazu brachte, wieder abzurutschen. Dann verließ sie die Kammer. Jaina überlegte kurz, ob sie ihr einen Feuerball hinterherwerfen sollte. Dann entschied sie sich dagegen. Duree hatte Recht. Ohne sie hätte Jaina wirklich rein gar nichts gefunden.

Augenblicke später trat Kristoff ein, mehrere Schriftrollen in den Händen. »Duree hat gesagt, Ihr wolltet mich sprechen, Milady. Oder wolltet Ihr nur das hier?« Er zeigte auf die Dokumente.

»Eigentlich beides. Danke«, fügte sie hinzu, als sie ihm die Rollen abnahm.

Kristoff war Jainas Kämmerer. Während sie Theramore regierte, war Kristoff derjenige, der es verwaltete. Sein Talent für interne Details prädestinierte ihn für den Job und war eines der ersten Dinge gewesen, die Jaina davon abgehalten hatten, Amok zu laufen, als das Anführersein zum ersten Mal zu viel für ihre nicht sehr breiten Schultern geworden war. Er war vor dem Krieg Hochlord Garithos Verwalter gewesen und hatte da sein legendäres Organisationstalent unter Beweis gestellt.

Selbstverständlich hatte er keine Karriere innerhalb des Militärs gemacht. Dazu war er zu schwach. Kristoff war zwar groß, aber spindeldürr. Er wirkte fast so zerbrechlich wie Duree, die aber immerhin ihr hohes Alter als Entschuldigung hatte. Sein dunkles, etwas mehr als schulterlanges und glatt fallendes Haar umrahmte ein hageres Gesicht mit Adlernase. Ein Gesicht, das immer finster dreinzuschauen schien.

Jaina erzählte Thralls Geschichte vom Angriff auf die Orgath'ar und dem Menschenschiff in der Nähe, das nichts getan hatte, um zu helfen.

Kristoff hob seine dünne Augenbraue und sagte: »Die Geschichte klingt nicht glaubwürdig. Eine halbe Meile vor Ratchet, sagtet Ihr?«

Jaina nickte.

»In diese Region wurden gar keine Boote geschickt, Milady.«

»Der Nebel war dicht. Ist es möglich, dass das Boot, das Kapitän Bolik gesehen hat, vom Kurs abgekommen ist?«

Kristoff nickte und überdachte den Punkt. »Wie auch immer, Milady, es ist genauso gut möglich, dass dieser Kapitän Bolik falsch liegt.«

»Das halte ich für unwahrscheinlich.« Jaina ging auf die andere Seite ihres Tisches, setzte sich und legte die Schiffsberichte auf den einzigen freien Platz. »Orcs können besser sehen als wir, denkt daran, und sie neigen dazu, diejenigen mit den besten Augen in den Ausguck zu setzen.«

»Wir müssen aber auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Orcs lügen.« Bevor Jaina widersprechen konnte – und sie wollte widersprechen –, hielt Kristoff seine langgliedrige Hand hoch: »Ich rede jetzt nicht von Thrall, Milady. Der Kriegshäuptling der Orcs ist ein ehrenhafter Mann, das stimmt. Ihr tut recht daran, Euer Vertrauen in ihn zu setzen. Ich glaube nur, dass er sich einfach darauf verlässt, was ihm seine Leute sagen.«

»Und was könnte dahinterstecken?« Jaina kannte die Antwort, aber sie wollte sie von Kristoff bestätigt hören.

»Ich bleibe bei dem, was ich Euch die ganze Zeit schon erzähle, Milady. Wir können es uns nicht leisten, den Orcs blind zu vertrauen. Einzelne Orcs haben sich als ehrenhaft erwiesen, ja, aber die ganze Rasse? Wir wären Dummköpfe, wenn wir annehmen würden, dass sie uns alle wohl gesonnen und so erleuchtet sind wie Thrall. Er war ein starker Verbündeter gegen die Brennende Legion. Und ich bewundere alles, was er leistete. Aber das war doch nur zeitlich begrenzt.« Kristoff legte seine schmalen Hände auf den Tisch und beugte sich zu Jaina vor. »Das Einzige, was die Orcs auf Linie hält, ist Thrall. Und in der Minute, in der er weg ist, das versichere ich Euch, Milady, werden sich die Orcs wieder zurückverwandeln und alles tun, um uns zu vernichten.«

Jaina lachte unfreiwillig auf. Kristoffs Worte spiegelten exakt Jainas und Thralls Gespräch wider. Allerdings hörte es sich aus dem Mund des Kämmerers weit weniger vernünftig und nachvollziehbar an.

Kristoff straffte sich. »Etwas amüsiert Euch, Milady?«

»Nein. Ich glaube nur, Ihr bewertet die Lage falsch.«

»Und ich glaube, Ihr unterschätzt sie. Dieser Stadtstaat ist alles, was Kalimdor davor bewahrt, komplett von den Orcs überrannt zu werden.« Kristoff zögerte, was ungewöhnlich war. Der Kämmerer hatte Karriere gemacht, weil er geradeheraus war, was eine seiner nützlicheren Charaktereigenschaften war.

»Was meint Ihr, Kristoff?«

»Unsere Verbündeten sind besorgt. Der Gedanke eines ganzen Kontinents unter Orc-Herrschaft ist... für viele verstörend. Derzeit passiert in dieser Hinsicht wenig, teilweise weil es andere Angelegenheiten gibt, aber...«

»Aber gerade jetzt bin ich alles, was eine Invasion verhindert.«

»So lange wie Lady Proudmoore, die große Magierin und Siegerin über die Brennende Legion, über die Menschen auf Kalimdor herrscht, wird der Rest der Welt ruhig schlafen. Das wird sich ändern, sobald man glaubt, dass Lady Proudmoore die Orcs nicht mehr auf Linie halten kann. Und die dann drohende Invasionsflotte wird die Flotte Eures verstorbenen Vaters wie ein paar verirrte Ruderboote erscheinen lassen.«

Jaina lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Wahrheit war, dass sie nur wenige Gedanken an die Welt jenseits von Kalimdor verschwendet hatte, weil sie zu beschäftigt damit gewesen war, Dämonen zu bekämpfen und dann Theramore aufzubauen. Und der Angriff ihres eigenen Vaters hatte deutlich gemacht, dass diejenigen, die nicht gemeinsam mit den Orcs gekämpft hatten, sie immer noch für wenig mehr als Tiere hielten.

Aber Kristoff hätte es besser wissen müssen. »Was schlagt Ihr vor, Kämmerer?«

»Dass dieser Kapitän Bolik nur ein Aufwiegler ist, der versucht, Thrall gegen Euch aufzubringen, gegen uns. Selbst mit Northwatch stehen wir sehr allein. Wir könnten leicht von den Orcs eingeschlossen werden. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Trolle schon auf ihrer Seite sind und die Gnome wohl für niemanden Partei ergreifen werden.«

Jaina schüttelte den Kopf. Kristoffs Vorhersage war der schlimmste Alptraum für jeden Menschen, der auf Kalimdor lebte. Es schien erst gestern gewesen zu sein, dass sie auf dem besten Weg gewesen waren, solche katastrophalen Entwicklungen unmöglich zu machen. Der Handel mit den Orcs lief reibungsfrei, im Brachland, neutrales Gebiet zwischen Durotar und Theramore, war alles ruhig, und die beiden Rassen, die einander einst verachtet hatten, lebten seit drei Jahren miteinander in Frieden.

Jaina wünschte sich, das alles wäre ein Symbol dafür gewesen, wie die Dinge sein sollten – oder war alles doch nur eine Atempause, in der sie sich von der Brennenden Legion erholen konnten, der nächste Sturm aber unmittelbar bevorstand?

Bevor Jaina sich weiter damit beschäftigen konnte, trat eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau ein. Sie hatte ein eckiges Gesicht, eine spitze Nase und breite Schultern. Sie trug die Standard-Uniform, bestehend aus einem Brustpanzer mit grünem Waffenrock, auf dem das ankerförmige Symbol von Kul Tiras prangte, der früheren Heimat der Familie Proudmoore.

Die rechte Hand zum Gruß an der Stirn sagte sie: »Oberst Lorena meldet sich wie befohlen, Milady«

Jaina erhob sich und erwiderte: »Danke, Oberst. Steht bequem. Hat Duree Euch gesagt, was benötigt wird?« Jaina fühlte sich auf sonderbare Weise immer klein neben Lorena. Deshalb zog sie es vor, in ihrer Gegenwart wenigstens zu stehen, wodurch sie glaubte, sich wenigstens das geringe Maß an eigener Stattlichkeit bewahren zu können, das sie sich selbst zugestand.

Lorena senkte ihre Hand und verschränkte beide Arme hinter dem Rücken. Aber sonst blieb sie aufrecht stehen wie ein Ladestock, mit perfekter Haltung. »Ja, Ma'am, das hat sie. Wir brechen innerhalb einer Stunde nach Northwatch auf. Ich habe einen Läufer vorgeschickt, der Major Davin von unserer Ankunft informiert.«

»Gut, das ist alles.« Sie blickte vom Oberst zu ihrem Kämmerer. »Das gilt auch für Euch.«

Lorena salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und ging. Kristoff hingegen zögerte.

Weil er nichts sagte, fragte Jaina: »Was ist denn noch, Kristoff?«

»Es wäre eine gute Idee, wenn der Trupp, der Lorena nach Northwatch begleitet, dort bliebe, um die Festung zu verstärken.«

Ohne Zögern sagte Jaina: »Nein.«

»Milady...«

»Die Orcs wollen uns komplett aus Northwatch heraushaben, Kristoff. Und da klar ist, warum wir diesem Wunsch nicht nachgeben können, werde ich mich nicht zu einer Provokation hinreißen lassen, wie sie die Verstärkung der Festung eindeutig darstellte. Ganz besonders nicht jetzt, da die Orcs glauben, dass wir ihnen unsere Hilfe gegen die Piraten versagt haben.«

»Ich denke immer noch...«

»Ihr seid entlassen, Kämmerer«, fiel ihm Jaina eisig ins Wort.

Kristoff blickte sie kurz finster an, dann verbeugte er sich knapp, breitete seine Arme aus und rang sich ein »Milady« ab, bevor er ging.

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