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Byrok hätte sich nie vorstellen können, dass er einmal die glücklichste Zeit seines Lebens beim Fischen verbringen würde.

Auf den ersten Blick schien das nichts für einen Orc zu sein. Fischen hatte nichts mit Kämpfen zu tun, es gab keinen Ruhm zu ernten, keinen echten Kampf als Herausforderung, kein Ringen gegen einen gleichwertigen Feind. Es wurden keine Waffen benutzt, und Blut floss auch nicht.

Aber es war weniger, was er tat, als vielmehr das, warum er es tat. Tun konnte. Byrok ging fischen, weil er frei war.

In seiner Jugend war er auf die falschen Versprechungen von Gul'dan und dem Schattenrat hereingefallen, die eine neue Welt prophezeit hatten, wo der Himmel blau und die Bewohner leichte Beute für die hoch überlegenen Orcs sein würden. Byrok war zusammen mit anderen seines Clans Gul'dans Befehlen gefolgt, niemals ahnend, dass Gul'dan und der Rat Sargeras' Wünschen und denen seiner widerlichen Dämonen folgte. Und er hatte auch nicht erkannt, dass der Preis für diese neue Welt ihre Seelen sein sollten.

Es dauerte ein volles Jahrzehnt, bis die Orcs geschlagen waren. Entweder wurden sie von den Dämonen versklavt, die sie für ihre Wohltäter gehalten hatten, oder von Menschen unterworfen, die bewiesen, dass sie mehr Kampfgeist in sich trugen, als die Dämonen sich offenbar vorstellen konnten.

Dämonische Magie hatte Byroks Erinnerungen an sein Leben in der alten Orc-Heimat gelöscht. Und der Wunsch nach Verdrängung hatte seine Erinnerungen an die Zeit in menschlicher Gefangenschaft getilgt. Er erinnerte sich höchstens noch daran, dass die Arbeit hart und erniedrigend gewesen war und dass sie auch noch das bisschen Geist erstickt hatte, das ihnen die Dämonen am Ende ließen.

Dann aber war Thrall gekommen.

Alles hatte sich von da ab geändert. Der Sohn des großen Durotan, dessen Tod auf viele Arten das Ende der alten Lebensweise der Orcs bedeutet hatte, war ihrer aller Rettung aus dem Jammertal gewesen. Ihre Erlösung. Und Zukunft.

Thrall war seinen Peinigern entkommen und wandte die Taktiken der Menschen in der Folge gegen sie an. Er erinnerte die Orcs an ihre lange vergessene Vergangenheit, weckte längst Verschüttetes.

An dem Tag, an dem Thrall und seine wachsende Armee Byrok befreit hatten, hatte er geschworen, dass er dem jungen Orc dienen würde, bis einer von ihnen beiden starb.

Bislang war der Tod noch nicht gekommen, trotz größter Bemühungen von Menschensoldaten und Dämonenhorden. Ein niederes Mitglied der Brennenden Legion konnte immerhin für sich beanspruchen, Byroks rechtes Auge gestohlen zu haben. Im Gegenzug jedoch hatte Byrok den Kopf des Dämons für sich beansprucht.

Als der Krieg endete, als die Orcs sich in Durotar ansiedelten, erbat sich Byrok, aus dem Dienst entlassen zu werden. Sollte der Kriegsruf wieder erschallen, versprach Byrok, würde er jedoch zu den Ersten gehören, die den Umhang des Kriegers wieder anlegten, selbst mit nur einem Auge.

Vorerst aber wollte er nur seine Freiheit genießen, für die er so hart gekämpft hatte.

Thrall hatte sie ihm gewährt, ebenso wie allen anderen, die sie sich erbaten.

Byrok war natürlich nicht gezwungen, sich als Fischer zu verdingen. In Durotar gab es ausgezeichnetes Farmland. Weil die Südlande auf sumpfigem Gebiet lagen, bauten die dort lebenden Menschen kein Getreide an, sondern steckten ihre meiste Energie ins Fischen. Ihren Überschuss tauschten sie mit den Orcs gegen Getreide.

Aber Byrok wollte keinen Fisch, den Menschen gefangen hatten. Er wollte nichts mit Menschen zu tun haben, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Ja, die Menschen hatten auf Seiten der Orcs gegen die Brennende Legion gekämpft. Aber das war ein Zweckbündnis gewesen. Menschen waren Monster, und Byrok wollte mit diesen unzivilisierten Kreaturen möglichst nichts zu schaffen haben.

Deshalb war es ein regelrechter Schock, als der einäugige Orc an seinem üblichen Angelplatz am Deadeye Shore sechs Menschen entdeckte.

Das Gelände, das Byroks Angelplatz umgab, war hohes Grasland. Byroks Gespür war – auch mangels heilem rechtem Auge – ein wenig eingerostet. Davon abgesehen fand sich aber tatsächlich keinerlei Hinweis darauf, dass irgendjemand außer ihm selbst kürzlich durch das Gras gelaufen war. Schon gar keine Menschen, die für solch kleine, leichtgewichtige Kreaturen traurig tiefe Abdrücke in der Natur hinterließen. Sie waren eben eher tumb in ihren Bewegungen.

Byrok sah auch keine Luftschiffe in der Nähe oder Boote auf dem Wasser innerhalb der Sichtweite der Fischgründe.

Wie sie eigentlich genau hierher gekommen waren, bereitete Byrok allerdings auch deutlich weniger Sorgen als die Tatsache, dass sie da waren. Er legte sein Angelzeug ab und löste den Morgenstern von seinem Rücken. Die Waffe war ein Geschenk von Thrall, nachdem der Kriegshäuptling ihn aus der Gefangenschaft befreit hatte. Byrok ging nirgendwo ohne ihn hin.

Wären die Leute bei Byroks Fischgründen Orcs gewesen, hätte er den Grund ihrer Anwesenheit erfragt. Aber Menschen, vor allem menschliche Ruhestörer, verdienten eine solche Behandlung nicht. Er würde ihre Absichten herausfinden. Im besten Fall waren es Narren, die sich zu weit nach Norden gewagt und nicht mitbekommen hatten, dass sie auf fremdes Gebiet vorgedrungen waren. Byrok lebte schon lange und hatte herausgefunden, dass Dummheit durchaus häufiger vorkam als echte Boshaftigkeit.

Aber im schlimmsten Fall konnte es sich auch um echte Eindringlinge handeln, und wenn das zutraf, würde Byrok sie nicht lebend aus seinen Fischgründen entkommen lassen.

Byrok hatte die Sprache der Menschen während seiner Gefangenschaft erlernt, deshalb verstand er auch die Unterhaltung der sechs. Zumindest die Worte, die er aufschnappte. Von da, wo er im hohen Gras kauerte, konnte er beileibe nicht alles verstehen.

Was er aber hörte, klang nicht gut. »Umsturz« war eines der Wörter, »Thrall« ein anderes. Genauso wie »Grünhaut«, eine abwertende Bezeichnung der Menschen für Orcs.

Dann verstand er den Satz: »Wir töten sie alle und nehmen uns den Kontinent.«

Ein anderer stellte eine Frage. Das einzige Wort, das Byrok davon verstand, war »Trolle«.

Derjenige, der den Kontinent erobern wollte, sagte darauf: »Die töten wir auch.«

Byrok schob das Gras beiseite und sah sich die Menschen genauer an. Ihm fiel nichts Besonderes auf. Alle Menschen sahen für Byrok gleich aus. Aber was der alte Orc bemerkte, war, dass die beiden, die ihm am nächsten standen, das Zeichen eines brennenden Schwerts am Körper trugen, einer als Tätowierung auf dem Arm, der andere als Schmuckstück, das an seinem Ohr baumelte.

Das Blut schien ihm in den Adern gefrieren zu wollen.

Byrok erinnerte sich, wo er dieses Symbol schon einmal gesehen hatte. Es war lange her, damals, als die Orcs das erste Mal auf Gul'dans Geheiß in diese Welt gekommen waren. Jene Orcs damals nannten sich selbst das Flammende Schwert, und ihre Rüstungen und ihr Banner trugen dasselbe Symbol, wie es diese beiden Menschen zur Schau stellten. Das Flammende Schwert, das waren die verschworensten Anhänger des Schattenrats gewesen. Sie wurden später vernichtet, und keiner aus diesem dämonenverliebten Clan überlebte.

Aber das hier waren Menschen, die das Symbol trugen. Und sie sprachen davon, Thrall zu töten!

Sein Blut kochte. Byrok stand auf und begann auf das Sextett zuzulaufen. Seinen Morgenstern schwang er über dem Kopf. Selbst bei seiner Masse war das einzige Geräusch, das er dabei verursachte, das Zischen, das seine kreisende Waffe hervorrief. Die Dornen gespickte Kugel rotierte um den Kopf des Orcs.

Aber das war unglücklicherweise offenbar Lärm genug. Zwei der Menschen, die beiden mit dem Schwert-Symbol, wirbelten herum. Deshalb zielte Byrok auf den Nächststehenden der beiden, lenkte den Morgenstern direkt gegen den rasierten Schädel und ließ den Griff los. Er machte sich keine Sorgen darum, seine Waffe zu verlieren. Kein Mensch konnte das Ding aufheben, deshalb lag es sicher, bis er es sich holen würde.

»Ein Orc!«

»Wurde auch Zeit, dass mal einer auftaucht!«

»Tötet ihn!«

Weil das Überraschungsmoment weg war, brüllte er so laut er nur konnte. Das schüchterte die Menschen immer ein. Dann sprang er auf einen zu, der einen Vollbart trug. Byroks gewaltige Faust kollidierte mit dem Kopf des Bärtigen.

Der mit dem rasierten Schädel umklammerte seine Schultern. Sehr zu Byroks Enttäuschung hatte er es geschafft, auszuweichen und so vermieden, am Kopf getroffen zu werden. Nun versuchte er, den Morgenstern mit seiner unverletzten Hand hochzuheben.

Wenn er Zeit gehabt hätte, hätte Byrok schallend gelacht. Aber er war zu beschäftigt damit, den Schädel eines anderen Menschen in seine rechte Hand zu nehmen und den Gegner gegen einen seiner Kameraden zu werfen.

Doch ein anderer Mensch attackierte ihn von rechts und verhinderte die Ausführung der geplanten Aktion. Byrok verfluchte sich selbst, weil er vergessen hatte, dass er auf dieser Seite blind war. Er drosch mit seinem rechten Arm zu, obwohl in diesem Moment Schmerz in seine Seite schnitt.

Zwei weitere Menschen stürzten sich auf ihn, einer schlug ihn, der andere attackierte ihn mit seiner Klinge. Byrok schaffte es, auf das Bein eines der Angreifer zu treten und es augenblicklich zu brechen. Die Schreie seines Opfers stachelten den Orc an, und er verdoppelte die Wucht seiner Attacke.

Aber es waren einfach zu viele Gegner. Obwohl zwei von ihnen schlimm verletzt waren, drangen sie doch vereint auf ihn ein. Und selbst Byrok konnte nicht sechs Menschen besiegen, wenn er unbewaffnet war.

Er erkannte, dass er seine Waffe brauchte, atmete tief ein, brüllte und stieß im selben Moment seine beiden Fäuste mit aller Kraft nach vorn. Dadurch setzte er seine Feinde nur für einen Moment außer Gefecht, aber ein Moment war alles, was er brauchte. Er langte nach seiner Waffe, seine Finger schlossen sich um den Griff...

Bevor er sie heben konnte, hieben zwei der Menschen gegen seinen Kopf. Und ein weiterer trieb einen Dolch durch seinen linken Oberschenkel. Byrok schlug mit beiden Armen um sich, die Kugel des Morgensterns flog durch die Luft und verfehlte knapp einen der Menschen.

Dann, so ungern er das auch tat, sah er sich gezwungen, sein Heil in der Flucht zu suchen.

Es war eine harte Entscheidung für ihn, nicht nur wegen des Dolches, der immer noch aus seinem Oberschenkel ragte und ihn behinderte. Vor einem Kampf davonzulaufen, war schändlich. Aber Byrok wusste, dass er eine höhere Aufgabe zu erfüllen hatte. Das Flammende Schwert war zurück, nur dass es sich diesmal aus Menschen zusammensetzte. Und sämtliche Angreifer, nicht nur die beiden, bei denen es ihm vorher aufgefallen war, hatten das Zeichen des Flammenden Schwerts getragen, als Kette, als Tätowierung oder irgendetwas anderes.

Das war eine Information, die Thrall erreichen musste.

Deshalb rannte Byrok davon.

Oder besser gesagt, er humpelte. Seine Wunden forderten ihren Tribut. Selbst das Atmen wurde zum Kampf.

Aber er lief weiter.

Schwach erkannte er, dass ihn die sechs verfolgten, aber er konnte sich nicht darum kümmern. Er musste zurück nach Orgrimmar und Thrall berichten, was passiert war. Selbst verwundet waren seine Schritte raumgreifender als die der Menschen. Er konnte sie abschütteln. Wenn er erst weit genug vor ihnen war, würde er sie im Unterholz, das er besser kannte als jeder andere, abhängen. Außerdem erweckten sie den Eindruck, als wollten sie den Orc nur schlimm verprügeln, nicht töten. Sie wussten wahrscheinlich nicht, dass Byrok ihre plumpe Sprache verstand. Und ahnten so auch nicht, dass Byrok wusste, wer sie waren. Sie würden ihn nicht weiter verfolgen als bis zu dem Punkt, den sie für sich als Genugtuung verbuchen konnten.

Zumindest hoffte er das.

Es gab keine Gedanken mehr in Byroks Geist. Er befreite seinen Kopf von allem, was hinderlich war, um die vordringliche Aufgabe zu erfüllen. Er war nur noch darauf bedacht, einen Fuß sicher vor den anderen zu setzen. Der Boden schien unter seinen Sohlen zu pochen. Er ignorierte die Schmerzen in seinem Bein und an all den anderen Stellen, wo sie ihn geschlagen, getreten oder mit ihren Waffen verletzt hatten, ignorierte sogar, dass sein vor dieser Begegnung noch heiles Auge immer trüber wurde, ignorierte die Müdigkeit, die alle Stärke aus seinen Gliedern sog.

Er lief und lief.

Dann aber stolperte er. Sein linkes Bein blieb stehen, aber sein rechtes wollte weiterrennen, tat es, und deshalb stürzte er zu Boden, das Gesicht voran ins hohe Gras. Schmutz drang ihm in Mund und Nase und Augen.

»Ich... muss... aufstehen...«

»Du gehst nirgendwohin, Monster

Byrok konnte die Stimme hören, die Schritte der Menschen und den Druck fühlen, als sich zwei von ihnen auf ihn setzten und ihn so jeder Möglichkeit beraubten, sich zu bewegen. »Weil deine Zeit abgelaufen ist. Verstehst du mich?«

Byrok schaffte es, seinen Kopf zu heben, damit er die beiden Menschen ansehen konnte. Was aber nicht alles war, was er wollte.

Er spuckte sie an.

Die Menschen lachten. »Los, fangen wir an, Jungs. Galtak Ered'nash

Die anderen fünf antworteten im Chor: »Galtak Ered'nash

Dann begannen sie, wie von Sinnen auf den hilflosen Orc einzudreschen.

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