Johannes Mario Simmel

Und Jimmy ging zum Regenbogen

Roman

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Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten, die sich zwischen 1934 und 1965 in einer westdeutschen Großstadt zugetragen haben.

Um Unschuldige zu schützen, wurde die Handlung in einen anderen Zeitraum (1938–1969) und in eine andere, weit entfernte Stadt (Wien) verlegt. Es versteht sich deshalb von selbst, daß die im Buch vorkommenden Präsidien, Gerichte, Ämter, Behörden, geheimen oder legalen Verbindungen und alle sonstigen geistlichen oder weltlichen Institutionen zwar ihre richtigen Bezeichnungen tragen, jedoch in keiner Weise jemals mit den tatsächlichen Geschehnissen befaßt gewesen sind. In diesem Zusammenhang stellen ihre Vertreter ausnahmslos reine Produkte der Phantasie des Verfassers dar.

Gesetze, Paragraphen, Erlasse, Schriftsätze, Gutachten, Reden sowie Teile von Sendungen der British Broadcasting Corporation wurden im Wortlaut wiedergegeben.

Die wahren Begebenheiten, Personen und Namen sind in solcher Weise verändert worden, daß niemand sie wiederzuerkennen vermag.

Seinen aufrichtigen Dank spricht der Verfasser all denen aus, die ihm bei der Rekonstruktion jener Begebenheiten geholfen haben.

Dieses Baums Blatt, der von Osten

Meinem Garten anvertraut,

Gibt geheimen Sinn zu kosten,

Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,

Das sich in sich selbst getrennt?

Sind es zwei, die sich erlesen,

Daß man sie als eines kennt?

Solche Frage zu erwidern,

Fand ich wohl den rechten Sinn:

Fühlst du nicht an meinen Liedern,

Daß ich eins und doppelt bin?

Goethe: Ginkgo biloba, aus dem ›Westöstlichen Diwan‹.

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Vers eins

Das Geheimnis

Dieses Baums Blatt, der von Osten

Meinem Garten anvertraut,

Gibt geheimen Sinn zu kosten,

Wie’s den Wissenden erbaut.

1

Sie wollten unbedingt einen Kopfschuß. Deshalb hatten sie Clairon kommen lassen. Er war Spezialist für Kopfschüsse.

Ich weiß nicht, was Manuel Aranda getan hat, dachte Clairon. Das sagen sie einem ja nie. Ich weiß nur, daß sie Manuel Aranda tot haben wollen, und zwar schnell. Sobald das erledigt ist, darf ich wieder heim zu Janine. Janine war Clairons fünfjährige Tochter. Er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt. Vor zwei Jahren war seine Frau gestorben. Er hatte auch seine Frau geliebt, aber nicht so sehr wie Janine. Bei dem kleinen Mädchen war er völlig von Sinnen. Tags zuvor hatte er in einem Spielwarengeschäft einen niedlichen scharlachroten Fuchs mit schwarz-weißer Schnauze gekauft, der eine Schnur besaß. Zog man an ihr, dann ertönte silberhell die Melodie einer kleinen eingebauten Spieluhr: ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen!‹

Clairon brachte Janine stets Stofftiere oder Puppen mit, wenn er zurückkam. Sie besaß schon eine ganze Sammlung. Er dachte an das Kind und lächelte.

Sie hatten ihm Manuel Aranda gezeigt, als dieser das Hotel ›Ritz‹ am Kärntner-Ring verließ und in den gemieteten blauen Mercedes stieg; als er das Gerichtsmedizinische Institut in der Sensengasse betrat; auf verschiedenen Straßen; vor dem Sicherheitsbüro der Polizeidirektion in der Berggasse. Sie hatten ihm Fotografien und mit versteckten Kameras aufgenommene farbige 8-Millimeter-Filme gezeigt, denn er sollte in aller Ruhe Wuchs und Gestalt, Kopfform, Gangart, Bewegungen und Eigentümlichkeiten seines Mannes studieren. Die Bilder und die Filme waren mit dem gleichen Flugzeug eingetroffen wie Manuel Aranda. Derartiges Tempo, derartige Hektik und Nervosität hatte Clairon noch bei keiner seiner Missionen erlebt. Jede Stunde, die Manuel Aranda lebte, schien eine tödliche Gefahr darzustellen. Muß eine schlimme Sache sein, dachte Clairon. So verrückt haben sie noch nie gespielt.

Jetzt, im Januar, herrschte mörderische Hitze in Buenos Aires. Die Filme zeigten Manuel Aranda auf den Straßen seiner Heimatstadt stets mit Panama-Hüten. Auf den Straßen Wiens lief er stets mit einer Pelzmütze herum. Gewiß fror er ebenso wie Clairon. Der hatte sich auch eine Pelzmütze gekauft, gleich nach der Ankunft.

Kopfschuß bei bedecktem Kopf also. Mir soll’s recht sein, dachte Clairon. Ich hatte schon andere Kunden mit Mützen. Auch solche mit Hüten oder Kappen, einen sogar mit Stahlhelm. Es klappte noch immer. Man muß ein wenig genauer arbeiten, das ist alles.

Als der blaue Mercedes in die vereiste Allee einbog, benötigte Clairon knappe eineinhalb Sekunden, dann hatte er die vordere Nummerntafel des Wagens im Fadenkreuz. Das Kennzeichen stimmte. Clairon las es bedächtig. Er war ein sehr bedächtiger Mann geworden, seit sie ihn zum Tod verurteilt hatten. Bedächtig und konservativ. Sieben Jahre schon bewohnte er dasselbe Haus in Anfa, einem der eleganten Villenviertel von Casablanca, die westlich des Parc Lyautey liegen und sich bis zum Meer hinunter ausdehnen. Sieben Jahre schon besuchte er die gleichen Restaurants, Friseursalons und immer das gleiche türkische Bad in dem noch von hohen Mauern umgebenen arabischen Altstadtteil Medina; hielt er dem gleichen Schneider, dem gleichen Hemdenmacher und dem gleichen Briefmarkenhändler die Treue; dem gleichen Zahnarzt, der gleichen Kirche und der gleichen Waffe – dem deutschen Modell 98 k, System Mauser, Kaliber 7,9 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter, Gewehrlänge 1110 Millimeter, Ladestreifen mit fünf Schuß, aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog die Waffe nur 4,2 Kilogramm, der Rückstoß war leicht, sanft konnte man fast schon sagen, das Repetieren ging blitzschnell, und Clairon hatte seine 98 k auf eine Entfernung von 150 Metern eingestellt. Der Lauf des Gewehrs ruhte neben dem linken Fuß eines weinenden Engels.

2

Zu diesem Zeitpunkt, um 14 Uhr 43 am 16. Januar 1969, einem Donnerstag, gab es in dem 1874 von der Gemeinde Wien eröffneten Zentralfriedhof auf einer Fläche von 2 459 508 Quadratmetern 329 627 Grabstätten. Clairon hatte die Verwaltung angerufen und sich erkundigt; er wollte wissen, wie groß der Ort war, an dem es geschehen sollte. Eine enorme Zahl von Gräbern hatte man seit der Jahrhundertwende bereits mehrfach wieder aufgelassen und zum zweiten-, dritten- oder viertenmal neu belegt. In einer Stunde würden es 329 629 Gräber sein, denn an diesem Nachmittag fanden, wie Clairon einer Informationstafel beim Hauptportal entnehmen konnte, noch zwei Beerdigungen statt, darunter die eines hohen Offiziers des österreichischen Bundesheeres. So hartgefroren war die Erde, daß man beim Ausschachten neuer Grabstätten Preßluftbohrer einsetzte.

Obwohl zum erstenmal hier, wußte Clairon praktisch alles über die phantastische Anlage. Er hatte sich mit Hilfe einer Broschüre und eines Taschenplans des Friedhofs, des geschwätzigen Verkäufers der beiden, nach Hinweisschildern und vor allem durch persönliche Inspektion informiert. Da er seinen eitlen, ins eigene Genie verliebten Auftraggebern stets mißtraute, informierte er sich vor jedem Unternehmen persönlich so genau wie möglich. Früher war Clairon Lehrer (Mathematik und Latein) gewesen. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Menschen, Namen und Zahlen.

Daß Manuel Aranda an diesem Nachmittag das Grab besuchen wollte, wußte Clairon schon seit gestern. Um 16 Uhr 55 war da der Lautsprecher des Kurzwellensenders munter geworden, der sich in einem der zahlreichen Hinterzimmer des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ befand. Das französische Reisebüro befand sich am unteren Ende des Schwarzenbergplatzes.

»J’appelle Olymp … j’appelle Olymp … Ici le numéro onze …«

»Je vous entends, numéro onze. Parlez!«

Also hatte Nummer Elf zu sprechen begonnen, der Funkverkehr lief ausgezeichnet: »Aranda ist in das Hotel zurückgekommen. Er hat Nummer Null gesagt, daß er morgen zum Zentralfriedhof fahren will, und gebeten, ihm den Weg zu erklären.«

Sie hatten sich schnuckelig eingerichtet da in Wien. Sie besaßen ein gutes Hauptquartier hinter dem Reisebüro, eine erstaunliche Anzahl von Agenten und fünf Autos, in die gleichfalls Sender eingebaut worden waren. Alle Sender hatten Zerhacker und Entzerrer, für jeden Dritten war der Sprechverkehr nur unverständliches Gestammel. Der Wagen, den sie Clairon geben wollten, besaß ebenfalls eine solche Anlage.

»Und der Schlüsselbund?« hatte jener, der gerade den Sender der Zentrale bediente, aufgeregt gefragt. Es waren fünf Männer in dem fensterlosen Raum versammelt gewesen, auch der Chef, Jean Mercier, der das Reisebüro leitete, und er, Clairon. Mit Ausnahme von Clairon, der nicht wußte, um welchen Schlüsselbund es ging, hatten alle rechte Nervosität erkennen lassen.

»Der ist im Karton.«

»Idiot! Wo ist der Karton?«

»Na, im Leichenschauhaus natürlich … in diesem Institut meine ich.«

»Seid ihr ganz sicher?«

Der Chef persönlich sprach jetzt ins Mikrophon. Jean Mercier war ein großer Mann mit blassem Gesicht, umschatteten Augen, langen Wimpern und graumeliertem Haar. Er führte die Wiener Zentrale seit fünf Jahren. Sein Hobby waren schöne Frauen, und was Clairon so gehört hatte in der kurzen Zeit, bekam der Fünfundfünfzigjährige immer noch jede, die er wollte.

»Vollkommen sicher. Aranda hat sich bei Nummer Null eben noch darüber beschwert, daß sie den Karton nicht freigegeben haben. Er bekommt ihn nur zusammen mit dem Leichnam, und den Leichnam bekommt er erst morgen um zehn.« Die Männerstimme klang deutlich und klar aus dem Lautsprecher, in dem es leise knisterte. Komplizierter geht es nicht, dachte Clairon. Nummer Null, vermutlich ein Portier, kann nicht von seinem Arbeitsplatz fort. Also muß er alles, was er über Aranda erfährt, einem anderen Mann im Hotel sagen, der sich frei zu bewegen vermag. Wer ist das? Clairon wußte es nicht. Sie machten ein Mysterium aus allem. Dieser zweite Mann jedenfalls durfte nicht wagen, das Reisebüro einfach anzurufen. Er mußte in eine öffentliche Telefonzelle gehen und von dort einen dritten Mann verständigen. Der besaß einen Sender in seiner Wohnung und trat dann mit der Zentrale in Verbindung, die anders zu informieren strengstens verboten war.

»Aranda kann nicht Verdacht geschöpft und Nummer Null belogen haben?«

»Chef! Aranda wurde den ganzen Tag verfolgt. Jede Minute! Er kam ohne Karton aus dem Institut!«

»Und daß er den Schlüsselbund allein mitnahm und in der Tasche hat?«

»Unmöglich!«

»Sie wissen, was davon abhängt! Wenn er jetzt mit dem Schlüssel auftaucht, ist alles verloren.«

»Beruhigen Sie sich endlich, Chef. Bitte! Wir haben uns doch erkundigt! Die arbeiten nach Vorschrift dort. Nicht ein Stück, nicht einen Schnürsenkel hat Aranda mitnehmen dürfen. Schließlich basiert der ganze Plan auf dieser Vorschrift, oder?«

»Ja, das stimmt.« Mercier hatte seine Krawatte herabgezerrt.

»Also! Aranda erhält den Schlüsselbund morgen vormittag, aber danach muß er gleich zur Luftfracht-Expedition, damit die Leiche endlich verschwindet. Das dauert bestimmt bis Mittag, hat er gesagt. Er will ins Hotel zurückkommen, essen und zum Grab fahren.«

»Und wenn er nicht fährt? Dann hat er den Schlüssel! Wenn er dann sagt, los, aufmachen?«

»Nummer Null behauptet, Aranda will wirklich zum Friedhof. An den Schlüsselbund denkt er überhaupt nicht. Den hat er kaum zur Kenntnis genommen. Er weiß doch gar nichts! Nummer Null ist davon überzeugt, daß Aranda den Karton in sein Appartement bringen läßt und gar nicht anschaut. Jedenfalls nicht, bevor er zum Friedhof fährt. Das ist doch das Risiko, mit dem Sie von Anfang an gerechnet haben – die kurze Zeit zwischen dem Punkt, wo Aranda den Schlüsselbund erhält, und dem, wo er liquidiert wird.« Ich möchte wissen, was für Schlüssel das sind, die dieser Aranda hat oder nicht hat, war es Clairon durch den Kopf gegangen. Ach was, ich will es gar nicht wissen! Er war Merciers Blick begegnet. Der hatte gesagt: »Also muß es der Zentralfriedhof sein, klar?«

»Klar.«

»Von ihm darf Ihr Mann nicht zurückkehren.«

Clairon hatte nur genickt, Mercier hatte weiter in das Mikrophon gesprochen.

»Wo ist Aranda jetzt?«

»In seinem Appartement. Zum Friedhof kann er heute nicht mehr. Die lassen ab halb fünf niemanden hinein. Um fünf machen sie zu. Außerdem will er noch zu seiner Botschaft. Er braucht auch von dort Papiere für den Sarg.«

»Hallo, Nummer Drei … Nummer Drei, melden!«

»Hier ist Nummer Drei, Olymp.« Eine andere Männerstimme kam aus dem Lautsprecher.

»Habt ihr zugehört?«

»Ja, Chef.«

»Ihr könnt den Eingang des Hotels gut sehen?«

»Ja.«

»Kaffeehauseingang auch?«

»Auch, Chef.«

Das Hotel besaß ein großes Café.

»Wenn Aranda zur Botschaft fährt, folgt ihr ihm. Danach wohin immer. Und meldet es sofort. Die Arbeit geht weiter rund um die Uhr. In zwei Stunden löst euch Nummer Neun ab …«

Clairon hatte das Reisebüro verlassen und einen Taschenplan und eine Broschüre über den Zentralfriedhof gekauft. Er bewohnte während seines Wiener Aufenthalts jenes Hinterzimmer des ›Bon Voyage‹, in dem sie die Filme vorführten. Der Raum hatte auch kein Fenster, bloß eine Luke, und anstatt eines richtigen Bettes nur eine aufklappbare Armeepritsche. Clairon machte das nichts. Er war abgehärtet. Auf der Pritsche hatte er abends den Friedhofsplan und die Broschüre studiert und danach lange gebetet, wobei er Gott beteuerte, wie sehr er den Mord bereue, den er begehen werde, und innig um ein erfolgreiches Gelingen des Unternehmens bat. Das tat er immer. Er war ein Mörder mitten im Herzen des Christentums. Niemand, so hatte er bei Péguy gelesen, wisse um Dinge des Christentums besser Bescheid als ein Sünder.

Am nächsten Mittag, um zwölf Uhr bereits, war Clairon losgefahren. Er hatte sich über Funk gemeldet.

»Hallo, Olymp, ich bin jetzt am Rennweg, unterwegs zum Friedhof.«

»Sie haben massig Zeit, Nummer Eins. Aranda kam eben ins Hotel. Er hat noch nicht einmal gegessen.«

»Muß mir die Gegend da draußen ansehen«, antwortete Clairon.

Er sah sich die Gegend an, gründlich. Zuerst umkreiste er den riesigen Komplex des Zentralfriedhofs im Süden von Wien. Von der Simmeringer Hauptstraße bog er in den Weichseltalweg ein und fuhr diesen bis zur Station der Aspang-Bahn empor. Hier wandte er sich nach links, folgte den Gleisen der Ostbahn, die in einem mächtigen Bogen an der Rückseite des Friedhofs entlangführen, und kehrte zur Simmeringer Hauptstraße zurück.

Insgesamt, stellte Clairon fest, besitzt der Zentralfriedhof elf Tore. Acht von ihnen kommen allerdings nur kleineren, bewachten Eingängen rund um das Areal gleich. Die drei großen Portale befinden sich an der Vorderfront. Durch das mittlere, größte, gelangt man ins Zentrum der Katholischen Abteilung, die nahe dem Eingang zwei Aussegnungshallen und weiter entfernt eine dritte besitzt. Eine breite Auffahrt führt zur Dr. Karl Lueger-Kirche. Von ihr laufen nach einem geometrisch exakten Plan sternförmig die Hauptalleen mit alten Bäumen auseinander. Clairon bekreuzigte sich, während er an dem geöffneten Riesentor des Gotteshauses vorüberfuhr, dann meldete er sich wieder und gab seinen Standort bekannt.

Die Hauptalleen besitzen in großen Abständen Rondells, aus denen Chauseen in alle Richtungen streben. Am Rand der Rondells und vieler Chausseen stehen weiße kleine Gebäude. Clairon besichtigte zwei von ihnen. Es gibt eine Unmenge Bedürfnisanstalten auf dem Zentralfriedhof. Die Sternbahnen der Alleen und Chausseen werden geschnitten von einem komplizierten Netz quadratisch angelegter Straßen. Große Quadrate sind in kleinere unterteilt, in die ›Gruppen‹, durch welche, wieder in rechten Winkeln zueinander, unzählige Wege laufen. Die Gruppen hatte man stets mit einem Buchstaben und einer Zahl gekennzeichnet, die Unterteilungen desgleichen.

Ein Glück, daß ich mit Ketten fahre, dachte Clairon. Nach den katastrophalen Schneefällen der letzten Tage war es offenbar nur unter größten Anstrengungen gelungen, wenigstens die viele Kilometer langen Hauptalleen und -chausseen zu räumen. Die Nebenstraßen und alle Wege, die in den Gruppen von Abschnitt zu Abschnitt führten, versanken in halbmeterhohem Schnee. Räumpflüge hatten kleine Gebirge der weißen Bedrohung gegen die Ränder der Alleen geschoben, die kaum begehbar und schwierig befahrbar waren, denn die Streukolonnen kamen in ihrer Arbeit nicht nach.

»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …«

»Hier ist Nummer Eins, Olymp. Kommen Sie!«

»Aranda hat das Restaurant verlassen und ist in das Kaffeehaus hinübergegangen. Er trinkt seinen Kaffee dort. Jetzt Zeitvergleich, bitte, Nummer Eins!«

Clairon sah auf seine Armbanduhr.

»13 Uhr 34.«

»13 Uhr 34, richtig.«

Was für ein elendes Getue, jedesmal von neuem, dachte Clairon. Gott, habe ich das alles satt! Aber was soll ich machen? 1961 war ich bei der OAS, dieser ›Terrororganisation‹, wie man sie nannte. Nun gut, sehr fein ging es nicht zu bei uns. Was ich heute kann, habe ich damals gelernt. Schließlich war es auch nicht sehr fein, wie de Gaulle mit den französischen Siedlern in Algerien umsprang. Sie erwischten mich, als wir ein Kino in die Luft sprengten (ich liebe Kinder, ich hatte keine Ahnung, daß da gerade eine Kindervorstellung lief), und sie verurteilten mich zum Tode und führten mich zum Erschießen. Dann, als ich mit verbundenen Augen an der Wand stand, kam so ein Drecksack und sagte, sie würden mich nicht erschießen, wenn ich von nun an für sie arbeitete. Ich bin kein Held, dazu bin ich nicht blöde genug. Also sagte ich ›einverstanden‹, und seither arbeite ich für sie. Diesmal in Wien.

Die Saubande, dachte Clairon bitter. Wann werde ich sie jemals los? Nie! Nun ist auch meine Frau gestorben. Wenn ich nicht Janine hätte … Der Gedanke an seine kleine Tochter richtete Clairon wieder auf. So schlecht ging es ihm eigentlich gar nicht. Das Kind, das Haus, ein gutes Einkommen. Sie hatten ihn pro forma als Leiter einer französischen Importfirma in Casablanca etabliert.

Seit Clairon auf dem Friedhof umherfuhr, waren ihm kaum zwei Dutzend Menschen und nur vier Autos begegnet. Gott sei Dank.

Unter der weißen Last aus dem Himmel waren schwere Äste, ja ganze Bäume gebrochen. In ungeheuren Mengen lagerte der Schnee auf Hecken, Büschen, Fliedersträuchern und dem Astwerk von Buchen, Ulmen, Trauerweiden, Platanen, Ahorn- und Kastanienbäumen, hohen Fichten und Zypressen, auf allen Gräbern, allen Grabsteinen, Schmiedeeisengittern und Miniaturkapellen. Büsten, allegorische Gestalten und Steinfiguren waren zu grotesken Gebilden geworden. Eine lebensgroße Trauernde aus Sandstein, die an einem Grabrand lehnte, sah aus wie im neunten Monat, ein lockiger Knabenkopf feixte besoffen. Der Schnee war der Herr des Friedhofs, und seine Höflinge waren die Krähen. Unzählig, zu Tausenden, hockten sie dicht nebeneinander in den Kronen der Bäume, groß, plump und scheußlich. Ihr heiseres lautes Geschrei erfüllte die Luft.

Ein Alptraum, ein Nachtmahr in Weiß, unheimlich und unwirklich, beklemmend und öde, ein schreckenerregendes Reich des Todes war der Wiener Zentralfriedhof an diesem 16. Januar. Entfernte Bäume, Wege oder Gräber sah Clairon plötzlich nicht mehr – feiner Eisnebel, der in der Luft hing, ließ sie verschwinden wie ein gespenstischer Zauberer. Dunkel und tief lagerte eine geschlossene, schneegeladene Wolkendecke über der trostlosen Erde. Das Licht war fahl. Clairon trat leicht auf das Gaspedal. Die Katholische Abteilung, die den meisten Raum einnimmt, wird links und rechts flankiert von der Neuen und der Alten Israelitischen Abteilung, deren Synagoge, im Krieg durch Bomben fast gänzlich zerstört, wiederaufgebaut worden war, wie er aus der Broschüre wußte. Östlich des katholischen Teils, zwischen ihn und den neuen israelitischen gebettet, erstreckt sich, vergleichsweise klein, die Evangelische Abteilung.

Die helfen mir nicht, dachte Clairon. Da sind überall hohe Mauern. Wenn es darauf ankommt, muß ich sehen, wie ich im katholischen Teil zu einem der Ausgänge gelange. Zu einem der kleinen Tore der Rückseite am besten. Was für ein Monstrum von einem Friedhof!

»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …« Clairon meldete sich.

»Es ist jetzt fünf vor zwei. Arandas Wagen haben sie aus der Garage gebracht. Er kommt eben aus dem Hotel.«

»Gut«, sagte Clairon.

Er fuhr durch den Friedhof, auf dem er sich nun gut auskannte, bis vor eine alte große Platane jenes Rondells, das inmitten der Gruppen 56, 57, 58, 59, 71 und 72 liegt. Kein Mensch war hier, weit draußen in der Nähe der Friedhofsrückseite, zu sehen. Clairon rief die Zentrale und teilte mit: »Ich bin jetzt da und gehe auf Posten.«

»Gut, Nummer Eins. Nummer Zwei folgt Aranda. Wenn er wider Erwarten doch nicht zum Friedhof fährt, ruft Nummer Zwei Nummer Zwölf, und Nummer Zwölf fährt dann die Allee herunter, damit Sie informiert sind. Aber Aranda kommt bestimmt.«

»Hoffentlich«, sagte Clairon. Er schaltete den Sender ab, ebenso den Motor. Dann stieg er aus. Achtundvierzig Jahre alt war Clairon, aber er wirkte älter. Er hatte eine römische Nase in dem mageren Gesicht und schmale Lippen. Er trug einen wasserdichten Mantel aus erbsenfarbenem Popeline, der mit dickem Lammfell gefüttert war, die neue schwarze Pelzmütze, ein Wollhalstuch, Skihosen und Pelzstiefel. Die 98 k hielt er unter dem Mantel versteckt, während er nun vorsichtig die freigeräumte Allee zur Gruppe 73 hinabging – ein langes Stück Weg auf spiegelndem Eis. Erst als er sich anschickte, in die verschneite Gruppe 73 einzudringen, holte er zwei Filzlappen aus den Manteltaschen und band sie um die Stiefelsohlen. Danach sprang er über einen Schneewall am Rand der Straße. Aufmerksam betrachtete er die Gruppe 74, die durch eine andere freigeräumte Allee von seinem Abschnitt getrennt lag. Er entdeckte sofort, was er suchte. Sie hatten ihm genügend Fotografien jenes Grabes gezeigt.

Jenes Grab im Abschnitt F 74 stets im Auge behaltend, wählte Clairon nun das geeignetste seiner Gruppe aus – eine leichte Arbeit. Nach einigem Herumwaten war die ideale Position gefunden: Das Grab lag in der Abteilung L 73 und gehörte einer Familie Reitzenstein. Vier Tote ruhten bereits hier unter einem grauen Marmorquader, der fast so hoch wie Clairon war, zwei Männer und zwei Frauen. Clairon las die in den Stein gemeißelten, schwer vergoldeten und teilweise von Schnee verwehten Namen.

Über dem mächtigen Quader lagerte, gleichfalls aus grauem Marmor, ein etwa dreißig Zentimeter hoher Sockel, und auf diesem kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein grauer Marmorengel, welcher weinte. Dieser Engel war so groß wie ein normaler Erwachsener und trug ein wallendes Gewand und langes Haar, das ihm über den Rücken fiel. Die Hände hielt er vor das Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sockel. Eine große Steinflamme loderte aus ihr empor. Die Fackelkrone befand sich an einem Ende des schweren Aufsatzes, der linke Fuß des Engels am andern. Auf der Vorderseite des Sockels waren in Großbuchstaben, gleichfalls schwer vergoldet, diese Worte zu lesen:

EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS

Clairon, vor dem monströsen Grab stehend, übersetzte die Inschrift gewohnheitsmäßig sogleich im richtigen Rhythmus: Irgendwie tut es wohl, sattsam sich auszuweinen.

Kurze Ergriffenheit erfaßte ihn, während er den Text für sich wiederholte und dabei die Drähte an die Lederhandschuhe anschloß. Es waren Spezialhandschuhe, die sich beheizen ließen. Die Drähte liefen unter Clairons Jackenärmeln bis zu zwei Batterien in den inneren Brusttaschen. Seine Finger mußten warm bleiben.

Der Engel trug eine Schneehaube von mindestens vierzig Zentimetern. Ebenso heftig verschneit waren seine Flügel, der Sockel, der Quader, das Grab. Clairon machte es sich hinter ihm bequem. Es war wirklich ein großartiger Platz. Von den Alleen her konnte niemand ihn sehen.

Unter dem Knie des abgewinkelten linken Beines ließ das geschürzte Gewand des Engels eine dreieckige Öffnung entstehen. Den Durchblick mußte Clairon erst säubern, denn natürlich war er zugeschneit. Desgleichen reinigte er ein etwa fünfzehn Zentimeter breites Stück Sockel zwischen der linken großen Zehe des Engels und jener Stelle, an der dessen rechtes Knie die andere Seite der Dreieck-Basis abschloß. Nun besaß Clairon eine Schießscharte für seine 98 k. Er schob den Lauf so ein, daß er als Fixierungspunkt die große Marmorzehe berührte. Die Mündung befand sich genau über dem goldenen u in dem Wort VOLUPTAS.

3

14 Uhr 43.

Ganz langsam bewegte sich der Lauf der 98 k, denn Clairon behielt den näherkommenden blauen Mercedes beharrlich im Fadenkreuz. Es war weit vom Hotel ›Ritz‹ am Ring bis hier heraus, er hatte lange auf Aranda warten müssen. Aber nun kam er wenigstens wirklich. Clairons Hände waren warm, doch sein Körper begann zu erstarren.

Zart hob er die Waffe an. Durch das Zielfernrohr glitt sein Blick von der Nummerntafel des Wagens über den Kühler und die Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe. Ihr Glas spiegelte so stark, daß Clairon überhaupt nichts erkennen konnte.

Der Mercedes fuhr im Schritt, der Glätte wegen zweifellos, und dann suchte Aranda gewiß den richtigen Weg, der von der Allee fort in die Gruppe 74 hinein und zu jenem Grab führte. Die kleinen Schilder hier waren alle im Schnee versunken. Aranda würde es schwer haben, und das war gut so. Der Lauf der 98 k wanderte weiter, Millimeter um Millimeter. Mit der Engelzehe als Drehpunkt ließ er sich leicht führen.

In der Ferne erklang wieder dumpfes Brausen.

Clairon hatte das, was nun kam, schon viele Male erlebt, seit er sich hier aufhielt. Kurz blickte er auf die Armbanduhr.

14 Uhr 45.

Diesmal ist es PAN AMERICAN 751 nach Rom, Beirut, Karatschi, Kalkutta und Hongkong, dachte er automatisch. Rollt eben an. Südöstlich, nicht allzuweit entfernt, liegt der internationale Großflughafen Schwechat. Alle startenden Maschinen überqueren den Friedhof. Ihr Lärm macht jedes andere Geräusch unhörbar, also auch das eines Schusses. Die Krähen verstummen, wenn die Flugzeuge über sie hinwegrasen. Daß die Ausflugsschneise derart günstig lag, hatte sogar den hochgradig nervösen und ernsten Chef fröhlicher gestimmt. Im Reisebüro gab es Flugpläne. Clairons bemerkenswertes Gehirn speicherte seit gestern abend Zeiten und Flugziele, Typen und Gesellschaften aller Maschinen, die zwischen 12 und 17 Uhr an diesem Tag starteten und landeten. Das da zum Beispiel war eine Boeing 707. In einer Minute wird sie hier sein, dachte Clairon. Vielleicht ist Manuel Aranda dann schon aus seinem Wagen gestiegen. Enormes Glück natürlich, wenn es gleich beim ersten Versuch klappt. Näher kam der Mercedes, immer näher. Lauter schwoll das Toben der Düsen an, immer lauter. Ihr Dröhnen nahm beständig zu, es wurde ungeheuer stark, denn die niedere Wolkendecke wirkte wie eine Echokammer. Nun begann die Luft zu vibrieren, Clairon konnte es fühlen. Er preßte sich gegen die Rückseite des großen Grabsteins. Der vibrierte nicht.

Von den Zweigen der Bäume, von den Grabhügeln stäubten Schneewolken auf, von den Ästen fielen ganze Brocken. Nun kam die Boeing, nun würde sie sofort über dem Friedhof sein. Man konnte sie nicht sehen, die Wolken hingen zu tief. Der Mercedes blieb stehen. Gott sei gepriesen, dachte Clairon.

Die unsichtbare Boeing röhrte, heulte und kreischte. Sie jaulte und donnerte und schien jeden Moment explodieren zu wollen. So wurde der Frieden dieser riesigen Stätte des Todes immer wieder zerstört, von halb sechs Uhr früh bis lange nach Mitternacht.

Dem weinenden Engel fiel ein Klumpen Schnee vom Haupt.

Clairons Augen verengten sich zu Schlitzen. Eine unmenschliche Ruhe, die er in solchen Momenten stets erlebte, überkam ihn. Da drüben, etwa 110 Meter entfernt, stand der Mercedes. Clairon hob den Lauf um eine Winzigkeit seitlich rechts empor und berücksichtigte dabei die geringere Entfernung. Jetzt sah er das Fenster des linken vorderen Wagenschlags im Zielfernrohr.

Steig aus, dachte Clairon. Steig nun schön aus, mein Freund. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Und bleib stehen, ein Augenblick genügt. Ich habe wahrhaft Glück, dachte Clairon, in zitternder Luft, im Höllenlärm der Düsen. Dieser Manuel Aranda, den ich nicht kenne, von dem ich nichts weiß, dieser Mann, den ich töten muß, wird es gleich hinter sich haben. Und ich auch. Komm heraus, Mann, dachte Clairon, komm nun heraus.

Der Wagenschlag öffnete sich. Eine Gestalt wurde sichtbar. Es war kein Mann. Es war eine Frau.

4

»Wie heißt die Tote?«

»Steinfeld.«

»Valerie Steinfeld?«

»Sie kennen den Namen?«

»Na, hören Sie! Hat doch oft genug in den Zeitungen gestanden. Ich hab alles gelesen. Im ›Kurier‹ und im ›Express‹ und in der ›Kronenzeitung‹. Eine unheimliche Geschichte ist das. Kein Mensch weiß …«

»Wo liegt das Grab?« fragte Manuel Aranda ungeduldig. Er war groß und schlank und sah auf den Pförtner herab. Der Pförtner war klein und alt. Er trug eine dunkle Uniform, eine Tellerkappe und einen nikotinverfärbten Walroßschnurrbart. Er tat beim Haupteingang Dienst.

In der Mauer neben der rechten Portalseite befand sich eine Loge, die Tür stand offen. Aranda sah einen Tisch, zwei Stühle, ein Telefon, ein Wandbord mit vielen Schlüsseln und Steckuhren für die Nachtwachleute. Auf dem Zementboden schmolz Schnee zu Dreck. Von der Decke hing eine kahle elektrische Birne herab und erhellte die Loge, deren Wände schwarz und grünlich verfärbt waren. Auf dem Tisch erblickte Aranda eine halbgeleerte Flasche Bier, daneben lagen Brot und Wurst. Teilchen von beiden fanden sich in des Pförtners gelblichem Schnurrbart.

»Sind Sie von der Polizei?« Der kleine Mann blinzelte Aranda an. Sein spitzes Gesicht war sehr weiß, die Ohren und die Nase waren gerötet, auch die Augen. Er sprach ein wenig schwerfällig. Aranda überlegte, ob sich wohl Bier in der Bierflasche befand.

»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht von der Polizei.«

»Aber ein Ausländer sind Sie! So eine braune Haut! Und dann der Akzent. Obwohl der Herr sehr gut deutsch sprechen.« Der Pförtner legte den Kopf schief. »Vielleicht ein Verwandter von der Frau Steinfeld?«

»Auch kein Verwandter!« sagte Aranda sehr laut, während er die Fäuste in den Taschen seines Kamelhaarmantels ballte.

»Pardon«, brummte der Pförtner gekränkt. »Man interessiert sich halt. Gerade bei so einem Fall …«

»Das Grab! Wo liegt das Grab?«

»Ja, also auswendig weiß ich das leider nicht. Bestattet worden ist sie vorgestern, gelt?«

»Am Dienstag, ja.«

»Ich ruf die Verwaltung an, warten Sie.« Der Pförtner ging in die Loge. Manuel Aranda wartete. Im Ausschnitt des Kamelhaarmantels steckte ein breiter Kaschmirschal. Er trug halbhohe, pelzgefütterte Schuhe, Handschuhe, eine braune Persianermütze. Er fröstelte. In der Tat, tief sonnengebräunt war das ovale Gesicht. Aranda hatte graue Augen, eine ebenmäßige Nase und volle, in der Kälte bläulich verfärbte Lippen. Er machte den Eindruck eines Mannes, der vollkommen erschüttert und verwirrt, von Ängsten und Zorn erfüllt ist. Er war sechsundzwanzig Jahre alt.

In seiner Loge erregte sich der Pförtner lauthals am Telefon.

»Was ist denn das für ein Sauladen, den ihr da habt? Va – le – rie Stein – feld! Vorgestern! Ihr werdet doch, Gott behüte, noch wissen, wo die Steinfeld liegt!« Er streichelte seine Flasche.

Hysterisch klingelnd fuhr eine rot-weiße Straßenbahn die Simmeringer Hauptstraße hinab, an deren westlicher Seite sich, viele Kilometer lang, die hohe Mauer des Friedhofs erstreckt. Ein Pferdefuhrwerk war auf die Schienen geraten und schlitterte hin und her. Der Kutscher schlug die starken Rösser, die mit ihren Hufen auf dem eisigen Pflaster ausglitten. Funken stoben. Auch am Rand der Straße türmten sich Berge von Schnee, doch hier war er schmutzig, braun, grau und schwarz. Der Kutscher bekam sein schweres Gespann endlich von den Schienen. Die Tiere hielten, erschöpft keuchend.

Manuel Aranda fühlte, wie ihn eine Welle der Benommenheit überkam. Dieses Schwindelgefühl empfand er immer wieder, seit er in Wien war. Es ging stets rasch vorbei. Aber es vermittelte Aranda jedesmal das Gefühl größter Verlassenheit, Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut. Er kam sich vor wie ein Mensch nahe dem Ausbruch einer schweren Krankheit. Er mußte an einen Irrgarten denken, in den er weiter und weiter hineintaumelte, mit jeder neuen Minute, wie in einen endlosen Tunnel, in immer größere Finsternis und Kälte. Es war das Geheimnis, das ihn schwach und elend machte, dachte er, dieses Geheimnis …

Er wandte den Kopf, wobei sich sein Schwindelgefühl kurz, aber jäh verstärkte, und sah den blauen Mercedes, den er nach seiner Ankunft in Wien gemietet hatte und der wenige Schritte von ihm entfernt parkte. Rechts vom Haupttor, an der Friedhofsmauer, stand eine lange Reihe sauberer kleiner Hütten. Vor ihnen waren Kränze mit Natur- und Kunstblumen ausgebreitet, Gebinde, alle Arten von Kerzen, Kerzenhaltern, Windgläsern, Kupferkannen und Kupfertöpfen. Jenseits der Straße, in dunstverhangenen Feldern, lagen Gärtnereien. Den Besitzern gehörten wohl diese Geschäfte, die trotz Kälte und Winter geöffnet waren. Vermummte Männer und Frauen standen davor.

Der Portier erboste sich immer noch am Telefon.

»Eine Affenschande ist das! Der Herr wartet! Dann suchen Sie die Karteikarte. Die kann ja nicht verschwunden sein!«

Rasselnd, mit kreischenden Bremsen, kam nun ein Straßenbahnzug aus der Gegenrichtung vor dem Haupttor zum Stehen. Aranda las, was auf den Reklametafeln stand, welche Triebwagen und Anhänger an ihren Dächern trugen:

SCHWECHATER – RECHT HAT ER!

Die Bahn setzte sich ratternd wieder in Bewegung. Was ist SCHWECHATER? überlegte Aranda. Wie weit von Buenos Aires bin ich entfernt? Fliegen Sie zurück, hat der Hofrat gesagt. Aber ich fliege nicht zurück. Auf keinen Fall. Das habe ich ihm klargemacht. Da gab er dann nach. Ich muß wissen, wie es geschehen ist, warum sie es getan hat, wer ihr den Auftrag …

»Sie, Herr!«

Aranda drehte sich schnell um, und da waren wieder das Schwindelgefühl und die Angst, zu stürzen. Der alte, gutmütige Portier stand im Eingang seiner Loge.

»Ich hab Sie schon zweimal …« Er schluckte. »Ist Ihnen nicht gut? Sie schauen so blaß aus. Wollen Sie einen Schnaps?«

»Nein, danke. Nun?«

»Jetzt weiß ich es.« Der Pförtner blinzelte, seine geröteten Augen tränten. »Die Frau Steinfeld liegt im Abschnitt F 74. Wie sie begraben worden ist, vorgestern, da haben sie da sicherlich den Schnee weggeschaufelt, daß man hat gehen können. Aber was ist inzwischen heruntergekommen! Allein letzte Nacht! Da wird alles wieder dick zugeschneit sein, ganz bestimmt! F 74, das liegt aber ganz weit draußen, schon fast am anderen Ende. Laufen tun Sie da glatt eine halbe Stunde.«

»Ich habe einen Wagen. Darf man …«

»Nur auf den Hauptalleen! Kostet aber fünf Schilling.«

Aranda legte einen 20-Schilling-Schein in die ausgestreckte Hand des Mannes.

»Ich danke, Herr Baron!« Der Pförtner riß einen Zettel von einem Block. »Hinten sind die Gruppen aufgedruckt.« Er sprach Aranda jetzt direkt ins Gesicht. Also doch kein Bier in der Flasche, dachte dieser und trat etwas zurück. »Wenn Sie bei der 74er ankommen – entschuldigen Sie einen Moment, bittschön!« Des Pförtners Gesicht hatte sich plötzlich erhellt, während er an Aranda vorbeiblickte. Seine Stimme wurde heiter: »Endlich! Ich hab mir direkt schon Sorgen gemacht!«

»Zuerst konnte ich nicht rechtzeitig weg, und dann ist zwei Kilometer von hier plötzlich mein Wagen stehengeblieben«, sagte eine weibliche Stimme.

Manuel Aranda wandte den Kopf diesmal langsamer, um das Schwindelgefühl zu vermeiden. Hinter ihm stand eine Frau von etwa dreißig Jahren und seiner Größe. Aranda sah ein ebenmäßiges, ernstes Gesicht, eine kleine Nase und einen schönen Mund. Das Haar, das unter einem fest geknüpften Kopftuch hervorschaute, war kastanienbraun. Die junge Frau hatte zu viel Puder und Schminke aufgelegt. Sie trug eine sehr große dunkle Brille mit runden Fassungen. Ihre Augen blieben dadurch unsichtbar. Stiefel und Mantel waren aus Seehundfell.

»Guten Tag«, sagte die junge Frau. Aranda verbeugte sich stumm.

»Was war denn mit dem Auto?« forschte der Pförtner. Die junge Frau erfreute sich seiner Sympathie. Er empfand Verbundenheit mit ihr. Vor zwei Tagen war sie, unter einem Schwächeanfall taumelnd, in seine Loge gekommen und hatte um ein Glas Wasser gebeten. Sie wollte irgendein stärkendes Medikament schlucken, das sie bei sich trug, und während sie danach ein paar Minuten wartete, bis ihr besser wurde, hatte sie sich mit ihm unterhalten.

»Die Benzinpumpe«, antwortete sie jetzt. »Ihre Membran ist brüchig geworden in der Kälte. Also mußte ich den Wagen abschleppen lassen. Das dauert vielleicht eine Ewigkeit, bis jemand hier herauskommt! Dann habe ich die Elektrische genommen.« Die junge Frau hob die Schultern und wies mit dem Kinn zur anderen Straßenseite. »Aber jetzt hat der Steinmetz drüben geschlossen. Auf einer Tafel steht, man soll hier nachfragen.«

Der Rotnasige dienerte eifrig.

»Hat in die Stadt müssen, der Herr Ebelseder. Aber hat es mir herübergebracht für den Fall, daß Sie doch noch kommen. Bezahlt haben Sie es schon, sagt er.« Der Pförtner stockte. »Ja, nur zum Tragen ist es doch viel zu schwer – den weiten Weg, meine ich.«

»Ich nehme ein Taxi. Da drüben stehen ein paar.«

»Das geht natürlich …« Des Pförtners zerfurchtes Gesicht erhellte sich neuerlich. »Oder aber der Herr ist so freundlich und nimmt Sie mit. Der will nämlich auch hin.«

»Wohin?« Die Stimme der jungen Frau klang plötzlich brüchig.

»Na, zu Ihrem Grab! Kurios ist das, also wirklich! Kennen sich die Herrschaften vielleicht?«

Die junge Frau musterte Manuel Aranda durch die dunklen Brillengläser. »Nein«, sagte sie, doch ein banger Ton schwang in ihrer Stimme. Plötzlich fühlte Aranda Erregung und Neugier.

»Sie sind Irene Waldegg«, sagte er.

»Woher wissen …« Sie brach ab. Er sah, wie sich der schöne Mund hart schloß.

»Man hat mir Fotos gezeigt.«

»Die Polizei?«

»Wer sonst«, antwortete er kurz.

Sie starrte ihn an.

Er sagte aggressiv: »Ich bin Manuel Aranda. Der Name ist Ihnen doch bekannt?«

»Ja«, sagte Irene Waldegg. Danach sahen sie einander an wie Feinde. Dem Pförtner entging das.

»Da haben wir es!« freute er sich. »Jetzt kennen die Herrschaften sich doch! Ich hab das Ding drinnen. Ich …«

Dreimal nacheinander, kurz und schnell, ertönte ein Hupsignal. Vor der Einfahrt zum Friedhof hielt ein großer, weißer Lincoln mit blaugetönten Fensterscheiben. Der Mann am Steuer hatte ein viereckiges Gesicht, einen breiten Unterkiefer, Sommersprossen, und sein blondes Haar war zu einer Igelfrisur geschoren. Über die Stirn lief eine kurze, wulstige Narbe. Der Mann trug einen rostbraunen Dufflecoat. Er winkte ungeduldig den Pförtner herbei und hielt ihm einen Hundertschillingschein hin.

»Schnell«, sagte der Igelkopf. »Machen Sie schnell!« Er sprach mit amerikanischem Akzent. Seine Zähne waren groß, weiß und unregelmäßig, er biß auf einem Kaugummi herum, während er wartete.

Irene Waldegg und Manuel Aranda sahen einander immer noch an. Menschen gingen an ihnen vorbei, sie bemerkten es nicht. Ein Flugzeug dröhnte über ihre Köpfe hinweg, niedrig, knapp nach dem Start schon in den Wolken, mit tobenden Düsen. Die Luft zitterte. Sie sahen sich an, der junge Mann und die junge Frau. Der Lärm ließ nach. Die Frau sagte etwas.

»Wie bitte?« Er hatte nicht verstanden.

Sie wiederholte: »Ein seltsamer Ort für ein Zusammentreffen.«

»Ich habe ihn nicht gewählt.«

»Ich auch nicht«, sagte Irene Waldegg, und ihre Lippen zuckten plötzlich, als wollte sie weinen.

»Aber natürlich wußten Sie, daß ich in Wien bin.«

»Natürlich. Schauen Sie mich nicht so an!« rief sie erregt. »Ich habe keine Schuld daran!«

»Was weiß ich?« sagte Manuel Aranda.

»Was soll das heißen?« Ihre Stimme hob sich empört.

»Das soll heißen, daß ich gar nichts weiß«, antwortete er.

Irene Waldegg fragte heftig: »Warum haben Sie mich nicht angerufen? Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Wie lange halten Sie sich schon in Wien auf?«

»Zwei Tage.«

»Also! Warum nicht?«

»Ich hatte viel zu tun, um die Leiche freizubekommen. So viel Formalitäten. Ich habe noch keine Zeit gefunden.«

Endlich hatte der Pförtner gewechselt. Der Mann am Steuer des weißen Lincolns trat auf das Gaspedal. Sein Wagen schoß mit wimmernden Pneus in den Friedhof hinein.

»Zwölf Kilometer Höchstgeschwindigkeit!« schrie ihm der Pförtner empört nach. Er kam zurück. »Leute gibt’s!« knurrte er. »Und keinen Groschen Trinkgeld. So, jetzt hol ich es Ihnen aber endlich, Fräulein.« Er verschwand in seiner Loge.

»Keine Zeit«, sagte die Frau mit den Seehundstiefeln und dem Seehundmantel bitter. »Aber Zeit, hier herauszukommen, die haben Sie.«

»Ich will das Grab sehen.«

»Warum?«

»Weil …« Er brach ab, verspürte wieder Schwäche, Einsamkeit, Trauer.

»Ich will jetzt alles sehen, was damit zusammenhängt. Ich will jetzt mit allen Menschen reden, mit allen, die damit zu tun hatten.«

»Nur mit mir nicht!« Irene Waldeggs Stimme klang aggressiv.

»Ich wäre auch zu Ihnen gekommen«, antwortete er ebenso aggressiv. »Verlassen Sie sich darauf!«

»Ich bin keine Verbrecherin«, sagte sie laut. »Sie waren bei der Polizei. Bei Hofrat Groll.«

»Ja. Und?«

»Und sagt Groll, daß ich eine Verbrecherin bin?«

»Nein.«

»Daß ich Schuld daran habe?«

»Nein.«

»Daß er mich verdächtigt?«

Verflucht, dachte Aranda, was soll das? Wer hat denn hier ein Recht auf einen solchen Ton? Sie oder ich? Ach, wir beide! Ich muß achtgeben, dachte Aranda, daß mein Haß mich nicht um meinen Verstand bringt. Er sprach ruhiger: »Der Hofrat sagte nicht das geringste gegen Sie. Aber trotzdem, Sie müssen doch verstehen …«

Irene Waldegg unterbrach ihn verbissen: »Ich verstehe schon. Aber trotzdem! Aber trotzdem kann man mir natürlich nicht trauen! Gerade mir nicht. Ich bin Apothekerin! Wie leicht komme ich an Gift heran! Ich bin belastet. Schwer belastet! Mit mir kann man nicht so einfach reden. Über mich muß man erst Erkundigungen einholen, mich bespitzeln lassen, sehen, ob ich nicht doch mitschuldig bin!«

»Das habe ich nicht gesagt!«

»Aber gedacht! Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Ich denke, daß Ihr Betragen sehr ungehörig ist, Herr Aranda. Sie sind nicht der einzige, der einen schweren Verlust erlitten hat.«

Strahlend kam der Pförtner aus seiner Loge. Er lärmte geschwätzig: »Da hätten wir es, Fräulein! Alles in Ordnung? So, wie Sie es haben wollten? Ich find ja, er hat es sehr schön gemacht, der Herr Ebelseder, richtig künstlerisch! Und es wäre auch noch zur Bestattung fertig geworden, wenn Sie ihm rechtzeitig Bescheid gesagt hätten, sagt er.« Der Pförtner überreichte Irene Waldegg ein Gebilde aus Schmiedeeisen, das aussah wie ein leicht geöffneter Zirkel von etwa einem halben Meter Größe, mit einem breiten Querstab am spitzen Ende. Zwei Metallschenkel trafen sich oberhalb des Querstabes an der Kante eines kleinen Metallrahmens, hinter dem unter Glas schwarzumrandetes und schwarzbedrucktes Papier steckte. Der rotnasige, rotohrige Pförtner äußerte: »Das Holzkreuz auf dem Gab nehmen Sie einfach heraus, Fräulein, und werfen es in einen Abfallkorb. Stehen genug herum. Und das da müssen Sie in die Erde stoßen. Mit aller Kraft. So tief es geht. Nachher hält es schön ins Frühjahr, bis daß man den Stein setzen kann.«

Irene Waldegg nahm den großen schwarzen Zirkel mit beiden Händen. Aranda las, was auf dem Pate-Zettel stand:

VALERIE STEINFELD

6. MÄRZ 1904 – 9. JANUAR 1969

Darunter war noch ein Kreuz gedruckt.

»Eishart die Erde, natürlich. Aber jetzt, wo Sie den Herrn Bekannten getroffen haben, wird der Ihnen ja helfen. Ich meine …« Der Pförtner war irritiert. »Hab ich was Falsches gesagt? Soll ich doch lieber ein Taxi …«

»Nein!« Aranda sprach laut und schnell. »Kein Taxi.« Er wandte sich an Irene Waldegg. »Vergeben Sie mir mein Benehmen, bitte. Fahren wir zusammen. Ich … ich muß Sie vieles fragen …«

Sie stand stumm da, eine pathetische Gestalt mit dem Eisengebilde in den Händen und den großen, dunklen Gläsern vor den Augen. Endlich nickte sie.

Der Pförtner kam in Bewegung.

»Ich helfe Ihnen!«

Schnell nahm er Irene Waldegg die provisorische Grabtafel ab und eilte zu Arandas Wagen. Er schwankte, aber nur wenig. Die beiden jungen Menschen gingen ihm nach.

Der Pförtner verstaute den großen Zirkel im Fond des Mercedes. Aranda fragte Irene Waldegg: »Was für einen Wagen fahren Sie?«

»Auch einen Mercedes. Allerdings eine andere Type.«

»Wollen Sie dann nicht lieber ans Steuer? Ich finde mich hier doch nie zurecht.«

»Meinetwegen.« Irene Waldegg hob eine Hand nach der großen Brille, als wollte sie diese abnehmen, dann ließ sie die Hand wieder sinken und glitt hinter das Lenkrad des Mietwagens. Der Pförtner schloß den Schlag. Er folgte Aranda um den Mercedes herum zur anderen Seite.

»Alles in Ordnung mit dem Fräulein?« fragte er leise.

»Alles«, sagte Aranda.

»Ist ihr wohl sehr nahegegangen.«

»Natürlich.«

»Ja, der Tod«, sagte der Pförtner gemütvoll und steckte mit einer tiefen Verbeugung den zweiten Geldschein ein, den Aranda ihm reichte. Dann warf er die Wagentür zu und zog die Kappe. Dabei stellte sich heraus, daß er vollkommen kahl war.

Irene Waldegg fuhr langsam an.

Der Wagen rollte in die breite Allee hinein, die zur Dr. Karl Lueger-Kirche führt. Er holperte über Eisschwellen. Irene Waldegg sah starr geradeaus.

»Es muß einen Grund geben!« sagte Aranda.

»Es gibt keinen.«

»Wir kennen ihn nicht. Noch nicht! Hofrat Groll behauptet, Ihre Tante war geistig völlig normal.«

»Völlig!«

»Nun«, sagte Manuel Aranda, »dann muß es natürlich einen Grund dafür geben, warum Valerie Steinfeld meinen Vater vergiftet hat.«

5

Die Krähen schrien, die Krähen kreischten, die Krähen krächzten.

»Nichts«, sagte Irene Waldegg, den Wagen langsam und vorsichtig lenkend. »Nichts, nichts gibt es! Man kann den Verstand verlieren, wenn man immer wieder daran denkt. Ich finde keine Erklärung, kein Motiv. Nicht das abwegigste, nicht das unwahrscheinlichste. Es ist alles ganz unwirklich …«

»Aber Valerie Steinfeld ist tot«, sagte Manuel Aranda. »Und mein Vater ist tot. Das ist nicht unwirklich. Das ist die Wirklichkeit! Valerie Steinfeld hat meinen Vater vergiftet. Dann hat sie selber Gift genommen. Nach Ansicht der Polizei gibt es darüber keinen noch so geringen Zweifel.«

Irene Waldegg sagte: »Der Hofrat Groll ist ein kluger, erfahrener Mann. Und es sind ausgesuchte Spezialisten, die mit ihm arbeiten. Hat Groll Ihnen ein Motiv nennen können? Einen Grund? Ach, Grund! Den kleinsten Anhaltspunkt nur?«

Vorsicht, dachte Aranda. Ich habe dem Hofrat mein Ehrenwort gegeben, darüber zu schweigen.

Aranda hatte sich in der kurzen Zeit seines Wiener Aufenthalts lange und mehrmals mit dem hohen Polizeibeamten unterhalten. Er wußte vieles über viele Menschen.

Ich weiß eine Menge, wovon du nichts ahnst, dachte Aranda, die junge Frau von der Seite betrachtend. Aber ich werde dir nichts davon verraten. Ich wäre ein Schuft, wenn ich es täte, denn der Hofrat vertraut mir. Ich vertraue dir nicht, ich wäre verrückt, wenn ich einem von euch vertraute!

»Nein, nicht den kleinsten Anhaltspunkt«, log Manuel Aranda.

Irene Waldegg fuhr um den runden Platz vor der Kirche. Vom tiefverschneiten Dach und von allen Mauervorsprüngen hingen schwere Eiszapfen herab. Die junge Frau bog in eine Allee ein, die nach Südwesten führte.

»Seit wann kennen Sie den Hofrat Groll?« fragte Aranda.

»Seit … jenem Abend. Er ließ mich von seinen Männern holen und in die Buchhandlung bringen – damit ich meine Tante identifizierte, und zu einem ersten Verhör.« Irene Waldegg hob die Schultern. Sie schauderte. »Es war furchtbar. Die beiden sahen entsetzlich aus. Das Gift hatte …«

»Schon gut«, sagte er. »Aber Sie konnten Ihre Tante identifizieren.«

»Sofort.«

»Und meinen Vater?«

»Ich habe Ihren Vater nicht gekannt, Herr Aranda!«

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen sicher.« Wenn sie log, war sie die geborene Lügnerin.

»Hat Ihre Tante jemals seinen Namen erwähnt?«

»Niemals. Da bin ich auch ganz sicher. Ich sage Ihnen ja, es ist zum Verrücktwerden!« Ja, du sagst es, dachte er. Ein wenig zu häufig sagst du es.

»Sie haben mit Frau Steinfeld zusammengelebt?« Aranda sah Irene Waldegg noch immer an. Ein schönes Gesicht. Ein offenes Gesicht. Aber ich kann die Augen nicht sehen, dachte er. Was für Augen hat diese Frau? »Ich glaube, ich hätte doch ein Taxi nehmen sollen«, sagte diese Frau ruhig.

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß ich genug von diesen Fragen habe. Sie wissen doch genau Bescheid! Der Hofrat hat Ihnen doch alles gesagt! Meinen Sie, Sie könnten mich bei einer Lüge ertappen? Sie halten mich für schuldig, immer noch. Ich nahm Ihre Entschuldigung vorhin ernst – leider.«

So geht das nicht, dachte er. Diese Frau ist keine Idiotin. Ich, ich bin es, der sich wie ein Idiot benimmt. Er sagte: »Die Entschuldigung war ernst gemeint, wirklich. Ich bin nur völlig kopflos und ratlos. Ich … ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, was der Hofrat mir erzählt hat! Sie haben mit Frau Steinfeld zusammengewohnt, Ihrer Tante, ja! In der Wohnung von Frau Steinfeld in der … den Straßennamen habe ich vergessen.«

»Gentzgasse.«

»Gentzgasse, richtig. Sie sind Apothekerin. Die Möven-Apotheke in der Lazarettgasse gehört Ihnen. Sie haben da zuerst bei Ihrem Onkel gearbeitet, und als der vor drei Jahren starb, erbten Sie das Geschäft.« Das ist der bessere Weg, dachte Aranda. Sie darf nicht von vornherein meine Feindin sein. Sonst komme ich niemals weiter. Sie sitzt schon nicht mehr so verkrampft da, ihr Gesicht ist schon etwas weicher geworden.

»Sie haben Spikes an den Rädern, nicht wahr?« fragte Irene Waldegg.

»Ja.« Er runzelte irritiert die Brauen und fuhr fort. »Frau Steinfeld war nicht Ihre einzige Verwandte. Das weiß ich auch. Ihre Eltern leben im Süden Österreichs, in …«

»Villach«, sagte sie. »Das liegt in Kärnten. Ich bin nach Wien gekommen, um hier zu studieren.«

»Ja, das hat mir der Hofrat erzählt. Und Frau Steinfeld hat in dieser Buchhandlung Landau in der Seilergasse gearbeitet.«

»Waren Sie schon dort?«

»Ich war noch bei niemandem. Keine Zeit, das sagte ich doch. Ich wollte heute noch hingehen. Aber zu allererst wollte ich das Grab von Frau Steinfeld sehen.«

Irene Waldegg sagte: »Den Buchhändler Martin Landau und seine Schwester hat der Hofrat auch gleich noch am Abend rufen lassen. Auch die beiden hatten Ihren Vater niemals zuvor gesehen und seinen Namen niemals zuvor von meiner Tante oder sonst jemandem gehört. Das ist Ihnen bekannt, nicht wahr?«

»Ja, das ist mir bekannt. Können wir … können wir nicht ein wenig freundlicher miteinander sprechen, Fräulein Waldegg? Sie sehen doch, ich gebe mir Mühe, mich zu beherrschen, gerecht zu sein, freundlich …« Sie antwortete nicht. Aber sie nickte kurz.

»Ich weiß, daß Ihre Tante schon lange in dieser Buchhandlung gearbeitet hat. Wie lange? Das weiß ich nicht, wirklich nicht.«

»Eine Ewigkeit.« Zum erstenmal klang ihre Stimme weicher. »Sie war dort schon angestellt, als ich geboren wurde. Ich bin einunddreißig. Seit 1938 hat Valerie da gearbeitet.«

»Valerie?«

»Ich nannte sie nur Valerie. Sie hatte das lieber. Sie meinte, es macht sie jünger.« Irene Waldegg bog in eine neue Allee ein. Hier war kein Mensch mehr zu erblicken. Die neue Allee lief geradeaus. »Zuerst war Valerie als Verkäuferin angestellt, glaube ich, dann, nach dem Krieg, als Erste Verkäuferin, und seit zwölf Jahren als Prokuristin.«

»Und an dem Tag, an dem es passierte, was war da?«

Irene Waldegg schaltete einen Gang zurück, denn eine große Fläche Glatteis lag vor ihnen. Die junge Frau schwieg, und sofort flackerte wieder Mißtrauen, Argwohn in Aranda auf. Legte sie sich eine gute Lüge zurecht, endlich eine Lüge, wie?

»Nun!«

»An dem Tag, an dem es passierte …« Irene Waldegg brach ab.

»Ja! Heute vor einer Woche!«

Sie sprach mit Mühe ruhig: »Wir gingen am Morgen gemeinsam aus dem Haus, Valerie und ich. Wir sind immer gemeinsam gegangen. Ich brachte sie mit dem Wagen in die Buchhandlung, bevor ich zur Apotheke fuhr.« Sie bemerkte nicht, wie sie plötzlich in der Gegenwart sprach: »Das geht schon so, seit ich den Wagen besitze, jahrelang. Nur immer dann nicht, wenn ich Nachtdienst habe. Morgen zum Beispiel.«

»Morgen was?«

»Heute habe ich Nachtdienst. Da kann ich Valerie morgen früh nicht in die Buch …« Irene Waldegg brach ab. »Schrecklich«, sagte sie. »Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, daß sie tot ist.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Die Geste rührte Aranda. Diese Frau hat einen Menschen verloren – genau wie ich, dachte er. Sie ist verzweifelt – genau wie ich. Ratlos, verwirrt, angsterfüllt, zornerfüllt – wie ich. Nein, das ist kein Theater, das sie mir vorspielt. Vielleicht habe ich einen Menschen gefunden in dieser Stadt des Zwielichts, die eine der schönsten Städte der Welt ist, einen Menschen unter Millionen, dem ich doch vertrauen darf?

»Valerie war so lustig an dem Morgen«, sagte jener Mensch.

»Warum?«

»Sie hatte einen Farbfernseher gewonnen. Beim Preisausschreiben einer Zeitung. Sie machte immer alle Preisausschreiben mit – solange ich zurückdenken kann. Sie sagte: Einmal hat jeder Mensch Glück.«

»Einmal hat jeder Mensch Glück«, wiederholte er laut. »Das hat Frau Steinfeld bei einer anderen Gelegenheit auch gesagt. Bei einer ganz anderen Gelegenheit.«

Wieder schauderte sie.

»Ja, ich weiß.«

»Weiter«, sagte er. »Erzählen Sie weiter.«

Sie begann leise: »Niemals gewann sie etwas. Aber an diesem Tag – ich meine, am Abend vorher, als sie heimkam – lag ein Brief von dieser Zeitung da. Eine Benachrichtigung, daß sie gewonnen hätte. Valerie sah so gern fern …« Irene Waldegg sagte verloren: »Inzwischen ist der Apparat gekommen. Ein sehr schönes Modell …« Wieder bog sie ab. Die Landschaft wurde immer gespenstischer, die Schneeberge zu beiden Seiten der Allee wuchsen höher und höher an.

Aranda sagte: »Ihre Tante ist nicht mehr heimgekommen an jenem Abend. Hat Sie das nicht beunruhigt?«

»Zuerst nicht. Sie kam häufig später – es war oft noch viel zu tun nach Geschäftsschluß. Natürlich, als es neun wurde, machte ich mir Sorgen. Das Wetter war so schlecht. Schneesturm. Ich dachte an einen Unfall. Und ich wollte eben in der Buchhandlung anrufen, da klingelte es … Die Kriminalbeamten kamen, um mich zu holen.«

»Sie haben also nicht mehr mit Ihrer Tante telefoniert.«

»Nein.«

»Aber Valerie Steinfeld, die hat telefoniert.«

»Ja«, antwortete Irene Waldegg leise. »Ich habe das Gespräch gehört.«

»Ich auch«, sagte Manuel Aranda. »Dreimal.«

6

»Getötet! … Getötet habe ich ihn! … Kapsel … mit der Kapsel … da liegt er jetzt! … Einmal … hat jeder Mensch Glück …«

Stammelnd erklang die Frauenstimme, lallend, Pausen lagen zwischen den teils herausgeschrienen, teils geflüsterten Worten.

Der Hofrat Wolfgang Groll drückte auf eine Taste des Magnetophons, das auf einem kleinen Tischchen stand. Die Bandteller hielten an. Aus dem Lautsprecher des Geräts erklang nur das Summen des elektrischen Stroms. Ein magisches Auge glühte grün.

Der Hofrat Groll sagte: »Das ist die Stimme von Frau Valerie Steinfeld.

Drei Zeugen haben sie wiedererkannt und sind bereit, das zu beschwören, Herr Aranda.«

»Wie ist es zu dieser Aufnahme gekommen?« fragte Manuel. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Seit eineinhalb Stunden saß er im Arbeitszimmer des Hofrats Groll vom Sicherheitsbüro der Polizeidirektion Wien. Groll, den Aranda aus zahlreichen Fernschreiben an die Polizeidirektion in Buenos Aires und von zwei Transatlantik-Telefonaten her kannte, war in den letzten eineinhalb Stunden noch einmal im Detail auf das rätselhafte Verbrechen eingegangen. Er hatte Aranda alles erzählt, was geschehen war. Er hatte die Namen der anderen Menschen genannt, die mit dem Fall – als Verwandte oder Zeugen – in Verbindung standen. Er hatte sie genau beschrieben. Dem Hofrat Groll war Manuel Aranda sofort sympathisch gewesen; er betrachtete den hektisch erregten und dabei todmüden jungen Menschen voller Besorgnis. Eine Uhr zeigte fast Mitternacht.

Um 21 Uhr 50 war Aranda in Wien gelandet. Ein Taxi hatte ihn zu dem Luxushotel ›Ritz‹ am Kärntner-Ring gebracht, in dem sein Vater abgestiegen war.

Die Eingangshalle des ›Ritz‹ erstrahlte im Licht von drei mächtigen Kristallüstern. Marmorsäulen glänzten, an den mit Palisanderholz verkleideten Wänden hingen alte Gobelins. Aus Marmorplatten bestand der Boden, auf dem kostbare Teppiche lagen. Hinter der Eingangshalle befand sich eine zweite, noch größere. Dort gab es Club-Garnituren, Schreibecken, weitere Lüster, Stehlampen mit schweren Seidenschirmen und ein Podium, auf dem ein Fünf-Mann-Orchester leise Evergreens spielte.

Links vom Eingang befand sich die Theke des Portiers, rechts die der Reception. Bei ihr arbeiteten drei Angestellte, auf der anderen Seite drei Portiers. Aranda, dessen Taxi wartete, ging zur Reception. Ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren eilte ihm entgegen.

»Señor Manuel Aranda?«

»Si.«

»Bienvenido en Viena, Señor Aranda!«

Aus dem offenen, großen Büro hinter der Reception kam ein älterer, schlanker Mann mit schlohweißem Haar heran. Seine Stimme war leise und ernst: »Buenas noches, Señor Aranda. Reciba mi mas sincera condolencia …«

»Danke. Ich spreche deutsch«, sagte Aranda. Daraufhin hießen ihn die beiden Herren noch einmal in deutscher Sprache herzlich in Wien willkommen und erlaubten sich, zu dem schweren Verlust, den er erlitten hatte, ihr Beileid auszusprechen. Der Jüngere war stellvertretender Receptionschef; als er sich vorstellte, hörte Aranda seinen Namen: »Pierre Lavoisier, mein Herr, zu Ihren Diensten.« Der Mann von der Reception stellte auch den Weißhaarigen vor, der in seinem eleganten schwarzen Anzug, der silbernen Krawatte, der Perle darin, dem weißen Hemd mit dem weichen Kragen und seiner vorbildlichen Haltung aussah, wie einem britischen Schneidermagazin entstiegen: »Graf Romath, unser Direktor.«

Eine Gruppe von Damen und Herren in Abendkleidung ging lachend an ihnen vorüber.

Graf Romath grüßte seine Gäste, sah andere Menschen näherkommen und bat: »Gehen wir zu mir, Herr Aranda. Nur einen Moment.« Er eilte schon voraus, dabei ein wenig trippelnd. Er war weit über sechzig. Sein Büro befand sich am Ende eines kurzen Ganges, hinter der Reception. Der Raum war mit großem Geschmack eingerichtet. Es gab auch hier eine Stehlampe neben einem antiken Rundtisch, brokatüberzogene Fauteuils, Chinabrücken über rotem Fußbodenvelours, schwere rote Damastvorhänge, ein Bild an der Wand, die brusthoch von Mahagonipaneelen verdeckt wurde.

Das Bild war eine großartige Kopie des ›Maskensoupers‹ von Adolph Menzel, Aranda kannte das Gemälde. In einem schiefergrauen, breiten alten Rahmen zeigte es, etwa 35 mal 40 Zentimeter groß, als Hauptfarben ein geisterhaftes Gold, viel brennendes Rot, leuchtendes Lila, Schwarz. Auf dem Schreibtisch des Büros stand eine schmale, hohe Kupferkanne. In ihr befanden sich Blüten, die an Orchideen erinnerten, weiß und bräunlich, mit leuchtend goldgelben Flecken.

»Es ist furchtbar, ganz furchtbar, mein Herr«, sagte der Graf, an seine Perle tupfend. »Niemand kann es fassen. Niemand weiß eine Erklärung.«

»Haben Sie meinen Vater noch gesehen – nach dem Tod?« fragte Aranda.

»Ja. Ich … ich wurde in jene Buchhandlung gerufen, um Ihren Herrn Vater zu identifizieren. Er trug einen Paß bei sich. Aber sie brauchten jemanden, der ihn gekannt hatte. Ein wunderbarer Mensch, Ihr Herr Vater. Ein wirklicher Gentleman. Wir haben uns ein paarmal unterhalten …«

»Worüber?«

»Über Argentinien. Ich hatte Besitz drüben, wissen Sie. Vor dem Krieg habe ich fünf Jahre da gelebt.« Der Graf fuhr mit einer Hand durch das weiße Haar. »Wir erhielten Ihr Telegramm. Sie wollen also wirklich das Appartement Ihres Herrn Vaters?«

»Ja«, sagte Aranda. In diesem Büro überkam ihn zum erstenmal jenes Schwindelgefühl, das immer wiederkehren sollte.

»Ganz wie Sie wünschen, natürlich.« Der Graf spielte mit der Perle an seiner Krawatte. »Die Polizei hat das Appartement durchsucht. Es ist nichts beschlagnahmt worden. Wir haben nach der Untersuchung selbstverständlich alles wieder in Ordnung gebracht.«

»Dann lassen Sie bitte mein Gepäck hinaufbringen.«

»Gewiß.« Der Graf trat vor. »Darf ich mir erlauben, Sie zu begleiten und Ihnen das Appartement zu zeigen?«

»Ich fahre noch einmal weg.«

»Jetzt?« Die Brauen des Direktors hoben sich.

»Ja. Mein Taxi wartet. Ist es weit bis zur …« – Aranda zog einen Zettel aus der Tasche seines Kamelhaarmantels – »… Berggasse?«

»Berggasse?«

»Das Sicherheitsbüro. Ich habe bei der Zwischenlandung in Paris den Hofrat Groll angerufen. Er sagte, er würde mich gerne noch heute empfangen, auch wenn es spät werden sollte. Ich bat um eine Unterredung. Sie können sich vorstellen, daß ich so schnell wie möglich …«

»Natürlich«, sagte der Graf. »Ich fürchte nur, selbst der Hofrat steht vor einem Rätsel. Aber Ihr Wunsch ist völlig verständlich. Ich könnte an Ihrer Stelle auch nicht zu Bett gehen, ohne wenigstens … Eine Viertelstunde mit dem Wagen ist es bis zur Berggasse, verzeihen Sie.«

»Würden Sie wohl den Hofrat anrufen und ihm sagen, daß ich unterwegs bin?«

»Sie erledigen das gleich, Herr Lavoisier.«

»Ja, Herr Direktor.« Pierre Lavoisier ging zur Tür und öffnete sie für Manuel. »Darf ich bitten?«

Der Graf verbeugte sich noch einmal zum Abschied. Allein in seinem Zimmer, wartete er eine Minute, dann versperrte er die Tür, trat schnell zu dem Bild an der Wand, suchte und fand eine verborgene Feder an der unteren Rahmenseite, drückte auf sie, bis ein kleines Stück der breiten Leiste sich senkte und ein metallenes Päckchen von der Größe einer Zigarettenschachtel sichtbar wurde, das im hohlen Innern des Rahmenstückes lag. Der Miniatursender hatte eine Reichweite von 2000 Metern. Der Empfänger befand sich knappe 1000 Meter vom Zimmer des Grafen Romath entfernt, in einem Wagen in einer Nebenstraße.

Romath zog die Antenne aus dem Sender und sprach ruhig: »Calling Sunset … Calling Sunset … This is Able Peter, Able Peter …«

»Go ahead, Able Peter«, ertönte eine leise Männerstimme aus dem winzigen Lautsprecher des Senders.

Der Graf sprach weiter Englisch: »Der neue Gast fährt jetzt gleich mit einem Taxi, das vor dem Hoteleingang parkt, in die Berggasse, zu Hofrat Groll.«

»Danke, Able Peter. Over.«

»Over«, sagte Romath. Er legte den Sender in sein Versteck und drückte wieder auf die verborgene Feder. Das Leistenteil glitt hoch. Es war ein geschnitzter und gerippter Rahmen. Die Stellen, an denen man das bewegliche Stück herausgeschnitten hatte, konnte man auch bei genauem Hinsehen nicht erkennen. Der Graf Romath sperrte die Tür wieder auf. Dann stand er reglos in dem schönen Büro und betrachtete seine Fingernägel. Während dieser Zeit war Manuel Aranda von Lavoisier überhöflich und ernst zu dem wartenden Taxi geleitet worden, das sogleich abfuhr. Einer der fünf Pagen, die noch Dienst taten, hatte den beiden die Glastür des Eingangs geöffnet, ein großer Portier den Schlag des Taxis. Während der Portier im Freien blieb, kehrte der etwa zwanzigjährige, schlanke und gut aussehende Page, der eine graue Uniform trug, mit Lavoisier in die Empfangshalle zurück und verweilte nahe der Reception, hinter deren Theke Lavoisier nun trat und ein Telefonbuch öffnete.

»Armer Kerl, dieser Aranda«, sagte der Kollege, der neben ihm stand.

»Ja, es ist eine Tragödie«, antwortete Lavoisier, mit dem Finger eine Seite des Telefonbuchs hinabfahrend. Er murmelte: »Da haben wir es. Sicherheitsbüro, Bundespolizeidirektion Wien, Abteilung zwei, Berggasse, 34 55 11 …« Er zog einen Apparat heran und wählte. »Ein so höflicher Mensch«, sagte er dazu.

»Das war der Vater auch«, sagte der Kollege.

Lavoisier, am Telefon, verlangte den Hofrat Groll, der sich sofort meldete. Der stellvertretende Receptionschef erklärte, wer er war, und annoncierte Manuel Arandas Eintreffen in Bälde.

Der Page strich die Fransen eines Teppichs zurecht, dann ging er langsam an seinen müde umherstehenden Kameraden vorbei durch die ganze Halle bis zu einem entfernten Gang, der hinter der großen Garderobe lag und zu dem angrenzenden Kaffeehaus führte. Links gab es hier sechs öffentliche Fernsprechstellen. Sie waren in die mit rotem Damast verkleidete Wand eingebaut und gehörten eigentlich schon zu dem Kaffeehaus, aber das Kaffeehaus gehörte zum Hotel. Man konnte das ›Ritz‹ auch durch den Eingang des Cafés betreten oder verlassen.

Gegenüber den Zellen befanden sich zwei Türen, die zu Waschräumen und Toiletten für Damen und Herren führten. Der Page betrat die erste Zelle, warf einen Schilling in den Zahlschlitz und wählte. Er sprach leichten Wiener Dialekt: »Weigl hier. Er ist vor zwei Minuten abgefahren zum Sicherheitsbüro, Hofrat Groll, Berggasse.«

»Gut, daß du anrufst«, erklang eine akzentfreie Stimme aus der Hörermembran. »Die Idioten haben ihn doch tatsächlich auf dem Flughafen aus den Augen verloren.«

»Arschlöcher! Die Taxinummer ist W 471 546. Haben Sie? Ein schwarzer Mercedes 200 Diesel.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung wiederholte die Angaben.

»Ich melde es gleich weiter an die Zentrale. Wie geht es bei euch?«

»Alles prima. Der Receptionschef hat noch Urlaub. Lavoisier macht seinen Dienst mit. Und ich hab die Schicht von einem übernommen, der die Grippe hat. In zwei Tagen kommt der Receptionschef wieder! Bis dahin muß es passiert sein.«

»Bis dahin ist es längst passiert. Schluß jetzt. Servus.«

Als der Mercedes 200 Diesel mit der Nummer W 471 546 vor dem Gebäude des Sicherheitsbüros in der Berggasse hielt, nahm einer von zwei Männern in einem Opel-Kapitän, der in der Hahngasse, einer Seitengasse, parkte, ein Handmikrophon vor den Mund und sprach französisch:

»Olymp … Olymp … Hier ist Nummer Acht …«

»Ich höre Sie, Nummer Acht.«

»Das Taxi ist eben angekommen«, sagte der Mann mit dem Mikrophon.

»Aranda steigt aus. Er zahlt … Er geht zum Haus … Er spricht mit dem Polizisten, der da Wache steht … Der Polizist läßt ihn eintreten … Jetzt ist er verschwunden.«

»Ihr bleibt, wo ihr seid. Wenn Aranda herauskommt – das kann lange dauern –, folgt ihr ihm. Alle Viertelstunden melden! Ende.«

»Ende«, sagte der Mann in dem Opel-Kapitän und legte das Mikrophon fort. Er zog eine Zigarette aus dem Päckchen, das sein Kollege ihm hinhielt.

»Was ist bloß los? Das war wieder der Chef persönlich. Arbeitet der auch rund um die Uhr?«

»Ja.«

»Aber das hat er doch noch nie getan! Weißt du, warum wir Alarm Eins wegen diesem Kerl haben?«

»B«, sagte der andere.

»Was?«

»B. Was heißt B, hm?«

»Bist du besoffen? Hast du heimlich eine Flasche …«

»Quatsch! B! Irgendwas muß es bedeuten, dieses B.«

»Hör mal …«

»Ich war in der Zentrale, als der erste Kurier aus Paris ankam! Ich habe nur ein paar Worte aufschnappen können, bevor er mit dem Chef verschwunden ist. Und der Kurier hat etwas von B gesagt.«

»Was von B?«

»Habe ich nicht verstanden. Aber B habe ich verstanden! Und daß es das Ärgste ist, was geschehen konnte.«

»Das Ärgste?«

»Das Ärgste, ja. B! Ich habe es ganz deutlich gehört. Was sagst du jetzt?«

Zwanzig Meter hinter ihnen parkte ein großer schwarzer amerikanischer Ford. Auch in ihm saßen zwei Männer. Einer von ihnen hatte in den letzten Minuten angestrengt an den Knöpfen eines Apparates von der Größe eines tragbaren Radios gedreht. Es war ein Gerät mit überempfindlichen Mikrophonen und fing Gespräche im Umkreis von dreißig Metern auf, auch wenn diese hinter dicken Mauern oder in Autos geführt wurden. Die Richtantenne mußte nur präzise eingestellt sein. Der Mann mit dem Gerät auf den Knien hob den Kopf, fluchte in schwer amerikanisch akzentuiertem Englisch und sagte dann: »Nichts zu machen.«

»Die haben alle ihre Wagen gesichert«, sagte der andere.

»Ich gebe es auf«, sagte der erste Mann. »Vielleicht gelingt es den Russen.«

»Sicher nicht.«

»Vielleicht doch. Das sind phantastische Burschen auf diesem Gebiet. Die haben noch bessere Instrumente als wir.«

»Auch die Russen werden nichts hören«, sagte der zweite Mann. »Nicht diesmal. Nicht bei einem B-Fall.«

Der erste Mann fluchte wieder, dann griff er nach einem Handmikrophon …

Das Treppenhaus des Sicherheitsbüros war altmodisch und durch Neonlicht-Röhren beleuchtet. Es gab eine Holztreppe, keinen Lift. Der Hofrat Groll hatte sein Büro im zweiten Stock. Vom Stiegenhaus mit seinen knarrenden Stufen führte eine Glastür in einen langen Korridor, der weiß gestrichen und ebenfalls von Neonlichtstäben erhellt war. Manuel Aranda ging den Korridor entlang, bis er die Tür fand, die er suchte. Sie trug in einem Blechrahmen eine bedruckte Karte. Er klopfte an, betrat ein Vorzimmer, in dem ein junger Mann an einer Schreibmaschine saß, und bat diesen, ihn bei dem Hofrat Groll anzumelden. Er wurde sofort empfangen. Eineinhalb Stunden berichtete der Hofrat Wolfgang Groll seinem späten Gast ausführlich über die Untersuchung der rätselhaften Ermordung von Manuel Arandas Vater. Er hatte eben begonnen, ein Tonband vorzuspielen, als er den Apparat auch schon wieder stoppte, weil Manuel fragte: »Wie kam es zu dieser Aufnahme?«

7

Arandas Stimme vibrierte. Groll betrachtete den jungen Mann, der so hektisch erregt und dabei todmüde war, voller Besorgnis. Eine Uhr zeigte fast Mitternacht. Der Hofrat antwortete betont ruhig: »Ihr Vater wurde vor fünf Tagen getötet, Herr Aranda, schon am neunten Januar. Am Abend dieses …«

»Ich wäre früher gekommen, wenn wir in Buenos Aires nicht bis gestern einen Streik des gesamten Flugsicherungspersonals gehabt hätten!«

»Das weiß ich doch. Bitte, bleiben Sie gefaßt. Am Abend dieses neunten Januar, zwischen 19 Uhr 24 und 19 Uhr 39, rief eine Frau viermal das Kommissariat Innere Stadt an.«

»Woher weiß man, daß es jedesmal dieselbe Frau war?«

»Die Anrufe kamen alle ins Wachzimmer. Stets hob der Diensthabende ab, der Wachkommandant Revierinspektor Kemal. Er erkannte die Stimme immer wieder, hat er ausgesagt. Es fiel ihm nicht schwer. Dieses Gestammel, diese Aufregung … Und dann sagte die Frau auch stets dasselbe: »Getötet! Getötet habe ich ihn!«

»Aber auf dem Tonband …«

»Die ersten drei Male sagte die Frau weiter nichts, Herr Aranda. Da legte sie immer bald wieder auf. Vielleicht aus Schwäche. Vielleicht verließ sie der Mut. Die Stimme klang immer verschmierter, hat der Revierinspektor Kemal ausgesagt. Tatsächlich wurde bei der Obduktion von Frau Steinfelds Leiche eine große Menge Alkohol festgestellt. Sie muß sich zwischen den Anrufen mehr und mehr betrunken haben.«

»Ich verstehe.«

»Dieser Revierinspektor Kemal ist ein guter Mann, ich kenne ihn. Er alarmierte den Technischen Dienst, Telefonüberwachung. Vom zweiten Anruf an bemühten sich Spezialisten, festzustellen, woher der Anruf kam. Der Revierinspektor schaltete auch ein Tonbandgerät ein, das mit dem Telefon gekoppelt ist. Als Frau Steinfeld dann um 19 Uhr 39 zum viertenmal anrief, ließ er das Band laufen. Es ist dieses Band hier.«

»Woher wußte der Revierinspektor, daß die Frau Valerie Steinfeld war?«

»Zur Zeit des Gesprächs wußte er es natürlich noch nicht. Ich spreche von Frau Steinfeld, weil wir, wie gesagt, drei Zeugen haben, die bereit sind, zu beeiden, daß dies die Stimme von Frau Steinfeld ist – den Besitzer der Buchhandlung, Martin Landau, seine Schwester Ottilie und die Nichte der Frau Steinfeld, Fräulein Irene Waldegg.«

»Beim viertenmal hängte diese Frau also nicht wieder ein.«

»Nein. Der vierte Anruf dauerte eine ganze Weile. Vermutlich war Frau Steinfeld da schon sehr betrunken und wußte nicht mehr recht, was sie tat. Sie wollte plötzlich reden, sie mußte reden. Der Revierinspektor reagierte geschickt und hielt sie am Apparat.«

Die Hälfte eines Fensters in Grolls Zimmer stand offen. Sie stand fast immer offen, denn der Hofrat hatte ein ständiges Bedürfnis nach frischer Luft. Schneeflocken sanken in der milchigen Dunkelheit vor dem Fenster in die Tiefe, landeten auf dem weißen Brett über der Zentralheizung, zerschmolzen …

Weil stets frische Luft hereinkam, wurde Grolls Zimmer im Winter stets überheizt, damit es nicht abkühlte. Der Hofrat hatte die Jacke ausgezogen und die Weste geöffnet. Der Krawattenknoten war herabgezogen, der Hemdkragen geöffnet. Die Hemdsärmel hatte Groll hochgekrempelt. Während er sprach, sog er von Zeit zu Zeit an einer ›Virginier‹ – einer langen, sehr dünnen und festen, typisch österreichischen Zigarre.

Grolls Zimmer war mit hellen Büromöbeln aus Lärchenholz nüchtern und praktisch eingerichtet. Neben einem großen Schreibtisch, an dem der Hofrat saß, gab es einen zweiten, runden Tisch, um diesen fünf Stühle mit Lehnen, Aktenschränke und ein altes, brüchiges Ledersofa, das sehr deplaciert wirkte. Groll liebte dieses Sofa, er pflegte sich daraufzulegen, wenn er intensiv nachdachte. Das Möbelstück hatte ihn während der letzten fünfundzwanzig Jahre durch viele Büros begleitet. Nun saß Aranda darauf. Er öffnete und schloß unentwegt die Finger, seine Lider flatterten, er atmete und redete hastig. Dabei war es dem Hofrat bereits gelungen, ihn sehr zu beruhigen. Als er ankam, hatte Manuel vor Aufregung keinen ordentlichen Satz sprechen können. Groll beobachtete ihn ständig. Auf seinem Schreibtisch brannte eine helle Lampe. Der Hofrat hatte ihren Metallschirm herabgedrückt. Das Zimmer lag im Halbdunkel.

Wolfgang Groll war neunundfünfzig Jahre alt, beleibt und groß. Er hatte silbergraues Haar, das er nach hinten gekämmt trug, und ein breites Gesicht mit buschigen Brauen über grauen Augen, die stets klar und glänzend waren. Der Mund war groß. Groll lachte gerne und häufig. Als Folge einer schweren Kriegsverletzung besaß er praktisch nur noch eine arbeitende Lunge, und mitunter litt er an Kreislaufstörungen. Trotzdem gab es im ganzen Sicherheitsbüro keinen Menschen von seiner Energie. Jeden Morgen um 8 Uhr war er in seinem Zimmer. Er konnte Nächte hindurch arbeiten, er war anscheinend nicht zu ermüden.

In seiner Freizeit – dieser Mann brauchte wirklich kaum Schlaf – beschäftigte Groll sich mit naturwissenschaftlichen Arbeiten. Er hatte eigentlich Biologe werden wollen. In seiner großen Wohnung an der Porzellangasse besaß er eine riesige Bibliothek mit naturwissenschaftlichen, philosophischen und zeitgeschichtlichen Werken, Zettelkästen, ein eigenes Archiv, Enzyklopädien und spezielle Nachschlagewerke. Diese in vielen Jahren zusammengetragene Sammlung von alten und neuen Büchern, die er schon zu Lebzeiten der Wiener Nationalbibliothek vermacht hatte, umfaßte weit über 8000 Bände und war in drei Zimmern der Wohnung untergebracht.

Wenige Menschen wußten, daß Wolfgang Groll seit Jahren an einem Buch mit dem Titel ›Neuer Mensch im Neuen Kosmos‹ schrieb. Was er erträumte, das war ein gemeinverständliches Werk, in dem, unter Fortlassung aller Details, von der Summe dessen berichtet wurde, was die moderne Astronomie, Physik, Chemie, Astrophysik, Biologie, Molekularbiologie, Psychochemie und die unzähligen anderen modernen Spezialwissenschaften zur Schaffung eines neuen Kosmos (hoch und beständig stand Groll der alte ›Kosmos‹ des großen Alexander von Humboldt vor Augen!) für einen neuen Menschen geleistet hatten. Darüber und über die Nutzanwendung für den neuen Menschen, für sein Weltbild und sein Verhalten zu berichten, das war Wunsch und Ziel des einsamen Kriminalisten, der zuerst von der Naturwissenschaft fasziniert gewesen war, sich später im besonderen für Biologie und seit vielen Jahren (tagein, tagaus in seinem Beruf) für Verhaltensforschung interessierte …

Sechs Semester hatte er hinter sich gebracht, als die Wirtschaftskrise und der Zusammenbruch des Unternehmens seines Vaters ihn 1931 zwangen, vom Studium Abschied zu nehmen. Er landete bei der Polizei. Doch seinen Traum verfolgte und behütete er ein Leben lang: Konnte er schon nicht Naturwissenschaftler werden, so blieb er doch den Naturwissenschaften treu. Sie brachten ihm, zusammen mit seiner beruflichen Arbeit, ein erfülltes Dasein.

Unter der Glasplatte des großen Schreibtisches in seinem Büro lag, auf grünem Löschpapier, das gepreßte, besonders schöne Blatt eines Ginkgo-Baumes. Um diesen geheimnisvollen Baum kreiste Grolls ganzes Leben und Denken. An allen bedeutungsvollen Stationen seines Daseins war er ihm begegnet, jenem Baum: Im Park von Schönbrunn, durch den er an dem Tage wanderte, da er den Entschluß faßte, Naturwissenschaftler zu werden; im Institutsgarten der Universität an dem Tage, da er sein Studium aufgeben mußte; in jenem alten Burggarten, in dem er seine Frau Olga kennenlernte, mit der er die glücklichste Ehe geführt hatte bis zu ihrem Tod vor neun Jahren; beim Eingang des Krankenhauses, in das er sie brachte und das sie nicht mehr verlassen sollte; am Tag ihrer Hochzeit; am Tag, da er Soldat wurde; vor dem ukrainischen Landsitz, der das Lazarett beherbergte, in welches man ihn nach seiner Verwundung brachte; im Park des Sanatoriums, wo er sich langsam und mühevoll von einer Thorakoplastik erholte, die Jahre später, 1947, notwendig geworden war und zwar eine Lungenhälfte ausschaltete, ihm, dem schon Todgeweihten, aber ein neues, sozusagen geschenktes zweites Leben beschert hatte, das in jenem Sanatorium, in jenem Park begann … immer wieder, an den seltsamsten Orten und immer zu einschneidenden Anlässen, war Groll einem oder mehreren Ginkgo-Bäumen begegnet.

Der Ginkgo-Baum (Ginkgo biloba KAEMPFER) kann bis dreißig Meter hoch werden. In der Jugend wächst er mit schmaler, kegelförmiger Krone, im Alter wird diese unregelmäßig und der Baum nicht selten breiter als hoch. Obwohl ein Verwandter der Nadelhölzer, sieht der Ginkgo-Baum doch aus wie ein Laubbaum, und er wirft im Herbst auch sein dann wunderbar goldgelb leuchtendes Laub ab.

In China und Japan wird der Baum, den man für den Sitz von Geistern hält, als heilig verehrt. Nach Europa gelangte der Ginkgo als erste ostasiatische Baumart um 1730. Seine dreieckigen oder fächerförmigen Blätter sind tief gelappt, der mittlere Einschnitt ist am tiefsten, er spaltet das Laub fast in zwei Hälften. Dadurch gelangte die seltsame Gewächsart zu ihrer Bezeichnung ›biloba‹, was zweilappig bedeutet.

Der Hofrat Wolfgang Groll hatte vor vielen Jahren damit begonnen, Blätter des Ginkgo-Baumes zu sammeln – die silbriggrünen des Sommers, die honiggelben des Herbstes. Er verwahrte sie zwischen den Seiten seiner Bücher, in seiner Brieftasche, in seinem Paß, unter Glas auf seinen Schreibtischen.

Natürlich kannte der Hofrat Goethes Gedicht ›Ginkgo biloba‹. Es war ein Liebesgedicht, aber es drückte auch aus, was Goethe immer wieder beschrieb: die Polarität des Universums, dieser Welt, allen Lebens, aller Formen des Existierenden.

Die Polarität, nicht den Dualismus! Der Dualismus trennt, zersetzt. Polarität, das ist die äußerste Verschiedenartigkeit eines dennoch nicht zu Trennenden, eines eben dadurch nicht zu Trennenden! Ohne die beiden Pole gäbe es niemals die Einheit.

Immer wieder hatte Goethe über solche Polaritäten nachgesonnen: Einatmen – Ausatmen. Gesundheit – Krankheit. Unglück – Glück. Systole – Diastole. Ebbe – Flut. Tag – Nacht. Mann – Weib. Muskeln dehnen – Muskeln strecken. Erde – Himmel. Leben – Tod. Dunkel – Licht. Negativ – Positiv. Gut – Böse.

Diese Polarität, zum Beispiel auf die Elektrizität angewandt, zeigte deutlich, woran Goethe gedacht hatte und was Groll beschäftigte – sein Leben lang: Wenn es nicht ein ›Positives‹ und ein ›Negatives‹ gab, dann gab es keine Spannung, keinen Strom. Beide mußten da sein, das Plus und das Minus, damit das Ganze da sein konnte! Oder wie, ein anderes Beispiel, war es mit dem Wunsch: ›Ich möchte immer so unendlich glücklich sein?‹ Ein unsinniges, unerfüllbares Verlangen. Man kann immer nur ganz kurze Zeit ›unendlich glücklich‹ sein, denn hätte man es länger oder immer sein können, so wäre man es nie gewesen. Erst durch das Unglück nimmt man das Glück wahr, entstehen Spannung und Gefälle, entsteht die Ganzheit.

8

»Selbstverständlich«, sagte der Hofrat Groll, »hat nun Revierinspektor Kemal beim vierten Anruf von Frau Steinfeld alles vermieden, was die Anruferin aus ihrer berauschten Rede-Erlösung hätte reißen und wieder in Panik stürzen können. Denn dann hätte sie wahrscheinlich den Hörer in die Gabel gelegt, wie schon dreimal zuvor. Hören Sie nun weiter, Herr Aranda. Die Männerstimme ist die des Revierinspektors.« Groll drückte auf eine Taste des Tonbandgeräts. Die Teller begannen zu kreisen, im Lautsprecher wurde es lebendig.

»Was für eine Kapsel?«

»Na, Zyankali natürlich … Und so was ist bei der Polizei! … Ich habe mich beherrscht am Vormittag … mit aller Kraft …«

»Am Vormittag?«

»Da ist er … ist er gekommen, zum erstenmal …«

Manuel Aranda überfiel jene Benommenheit, jenes Schwindelgefühl. Er hielt sich an einer Lehne des alten, brüchigen Ledersofas fest, auf dem er saß. Unwirklich. Phantastisch. Grausig. Da erklang die Stimme einer Frau, die vor wenigen Stunden, am Nachmittag des 14. Januar, begraben worden war. Und die Stimme dieser Toten, Begrabenen, Nicht-mehr-Existenten, sprach von seinem Vater, der gleichfalls tot war, nicht mehr existent, der in einem Kühlfach im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts lag …

»Die große Mappe von Ehrlich …«

»Ehrlich?«

»Ja, Ehrlich!« schrie die Frauenstimme plötzlich schrill. »Alte Wiener Stiche … die wollte er haben … unbedingt …! Albert Ehrlich …«

»Ach so, natürlich. Albert Ehrlich.«

»Der Inspektor dachte an die Techniker«, sagte Groll leise. Sein rechter Zeigefinger strich auf der Glasplatte zärtlich die Umrisse des großen, grünlich-silbrigen Ginkgo-Blattes nach, die Rundungen, den tiefsten Einschnitt. »Zeit! Die Techniker brauchten Zeit, um die richtige Relaisverbindung zu finden.«

Aranda nickte. Mit aufheulender Sirene fuhr in der Tiefe ein Funkstreifenwagen davon.

»Alle die Menschen im Laden … ging nicht … wir hatten den Ehrlich natürlich … ich sage, nein, haben wir nicht … Kann den Ehrlich aber beschaffen, sage ich … Bis wann, fragt er … muß noch heute sein, morgen fliegt er weg …«

»Das stimmt!« Manuel Aranda sah auf. »Am zehnten Januar, zeitig, sollte mein Vater nach Paris fliegen und dort die Anschlußmaschine nach Buenos Aires nehmen. Der Kongreß hier war doch bereits am Siebten zu Ende!« Er starrte Groll an. »Warum ist er überhaupt nicht schon am Achten geflogen? Was hat er noch in Wien zu tun gehabt?«

»Ja, was?« sagte Groll. Er dachte: Wenn wir es herausfinden und es dir sagten, wie unglücklich wärest du dann? Grolls Finger strichen um die beiden Hälften des Ginkgo-Blattes. Sind es zwei, die sich erlesen, daß man sie als eines kennt? Uns alle kennt man nur als Eines, dachte Groll, und doch sind wir gespalten in eine Nachtseite, eine Tagseite. Du, junger Mann, kennst bisher nur die Tagseite deines Vaters. Die Nachtseite kennst du nicht. Du kannst dir nicht vorstellen, daß es sie gibt. Wie wirst du reagieren, wenn ich dir gut zurede? Ich muß mit größter Vorsicht operieren, dachte Groll und antwortete: »Ich weiß nicht, was Ihren Vater noch in Wien festhielt.«

Und das ist eine Lüge, dachte er.

Indessen hatte Valerie Steinfelds Stimme schon weitergesprochen:

»… mußte es riskieren … Soll noch einmal kommen, aber nicht vor sieben, sage ich zu ihm …«

Die Stimme des Revierinspektors: »Nicht vor sieben? Sie schließen doch schon um halb!«

»Na eben deshalb, Herrgott!« Pause. Aus dem Lautsprecher ertönte ein Geräusch, wie es entsteht, wenn jemand ein Glas hastig vollgießt und trinkt. »Die Angestellten … nie schnell genug können die weg … immer schon fünf nach halb fort …«

Aranda saß zusammengesunken da und starrte das Magnetophon auf dem Tischchen an.

Du armer Hund, dachte Groll. So jung. So hilflos. So verloren. Und ich kann dir nicht helfen. Niemand kann dir helfen, niemand wird dir helfen. Im Gegenteil, ach, im Gegenteil!

»… nur Martin und seine Schwester … die bleiben oft noch eine Weile«, war Valerie Steinfelds Stimme fortgefahren. »Sage ich, sie sollen ruhig schon gehen, ich mache alles … Tageslosung … und so … und sperre ab …«

»Aha.«

»Aber dann wieder die Angst, daß er nicht kommt …«

»Verstehe.«

»Fünf nach sieben … kommt er dann … voller Schnee … natürlich herrlich für mich …« Die Stimme gluckste. Valerie Steinfeld lachte betrunken. Es klang grausig. Die Stimme lacht, dachte Aranda, und die Frau, der die Stimme gehört hat, liegt schon unter der Erde.

»Wieso herrlich?«

»Er sollte es doch im Cognac kriegen … wegen dem Geschmack … und wegen der Magensäure … alles genau überlegt … Sage ich: Unbedingt Mantel ausziehen und etwas trinken … Holen sich ja sonst den Tod! Den Tod – hahaha!«

Manuel Aranda richtete sich plötzlich auf. Sein Unterkiefer schob sich vor, er winkelte die Arme ab, ballte die Hände zu Fäusten und holte tief Atem.

Aggression, dachte Groll. Ausgelöst durch das Lachen. Angeboren ist das, nicht anerzogen. Lehrt uns die Verhaltensforschung. Ein Fall von Aggression, tausendmal habe ich das schon erlebt in diesem Zimmer. Es ist immer dasselbe. Seit der Eiszeithöhle hat der Mensch sich in der Substanz – der psychischen und physischen – nicht geändert. Was seither passiert ist, das war kulturelle Evolution, keine natürliche.

Die angeborenen Verhaltensweisen – immer noch dieselben.

Die Emotionen – immer noch die gleichen wie damals.

Und der Verstand? Ach je …

Aber, dachte Groll, dieser Manuel Aranda liebt seinen Vater, das sieht man nun deutlich. Deshalb die Aggressionshaltung. Aggression ist ja doch nicht nur etwas Böses, Negatives, sondern auch etwas Gutes, Positives! Indem ich mich gegen etwas auflehne, bin ich für etwas. Die Ambivalenz, die ewige Ambivalenz, dachte der Hofrat und strich die Umrisse des Ginkgo-Blattes nach. Goethes Polarität …

Während Manuel Aranda in seiner gereizten Pose verharrte, hatte Valerie Steinfelds Stimme weitergesprochen: »… Jetzt trinken wir einen, sage ich, und dann rufe ich Ihnen ein … ein Taxi … Er, begeistert: Charme, Wiener Charme! … Hand küßt er mir … Hallo … hallo … hören Sie mich?«

»Ganz deutlich. Und weiter?«

»Er schaut sich den Ehrlich an … ich gehe ins Teekammerl …«

»In das Teekammerl.«

»Gläser, die großen … die Flasche … und dann eine von den Kapseln … beten … Mach, lieber Gott, daß das Gift noch gut ist …«

Die Stimme des Inspektors: »Was war denn das für eine Kapsel?«

»Aus Glas … sind alle aus Glas … zugeschmolzen … Sie hat mir ja gesagt, daß zugeschmolzene Glaskapseln das Gift sogar Jahre … viele Jahre halten, ohne daß es sich zersetzen kann … hat mir auch eine Feile gegeben … falls ich das Zeug irgendwo reinschütten muß …«

»Sie?« Aranda sah zu dem Hofrat, der im Halbdunkel saß. »Wer ist sie

»Ich weiß nicht«, antwortete Groll.

»… feile eine Spitze ab …« lallt die Frauenstimme. Gleich darauf erklangen vier kurze, hohe Pfeiftöne.

»Was ist das?« fragte Aranda.

Groll drückte wieder auf die Taste und hielt das Band an.

»Der Inspektor hatte einen Zeichengeber an das Gerät angeschaltet. Ein Kollege legte ihm einen Zettel hin. Darauf stand mit Name und Adresse der Besitzer des Anschlusses, den die Frau benützte. Die Spezialisten hatten das richtige Relais gefunden. Der Anruf kam aus der Buchhandlung Landau in der Seilergasse. Eine Funkstreife mit Polizisten und Kriminalbeamten raste sofort los. Kemals Kollege verständigte von einem anderen Apparat aus uns hier, meine Mordkommission. Der Inspektor wollte das Gespräch natürlich immer noch so lang wie möglich weiterführen, um die Frau festzuhalten.«

Die Teller kreisten wieder.

»… das Zyankali in sein Glas … rufe ihn ins Teekammerl … Er ahnungslos … völlig ahnungslos … erkennt mich nicht … Bedankt sich noch einmal!« Valerie Steinfeld lachte wieder ihr schreckliches Lachen.

»Trinkt … einen großen Schluck! Dann … dann …«

»Ja, ich verstehe. Und wer sind Sie? Von wo sprechen Sie?«

»Jetzt konnte Kemal es riskieren«, murmelte Groll.

»Ich …« krächzte die Frauenstimme, »ich …« Klick! machte es. Dann summte nur noch der Lautsprecher.

»Da hat sie den Hörer niedergelegt«, sagte der Hofrat. Er stand auf und stellte das Gerät ab. Dabei verstreute er Zigarrenasche über Hemd und Weste. »Ein paar Minuten später brachen die Polizisten der Funkstreife die Eingangstür der Buchhandlung auf.« Groll ging zu dem halb geöffneten Fenster.

Der Hofrat atmete tief die frische, eiskalte Luft ein. Ich bin hier der Verbindungsmann zur Staatspolizei, dachte er. Auch wenn ich schon mehr wüßte, als wir ahnen, dürfte ich dir nichts sagen, mein Junge, nicht das geringste. Und das, was ich schon weiß, darf ich dir erst recht nicht sagen, sie haben es mir verboten, die hohen Herren von der Staatspolizei.

Hohe und höchste Herren, dachte Groll, und hier sitzt ein kleiner Mann, er kommt von der andern Seite der Erde, keiner kennt ihn, ohne Schutz ist er, ohne Hilfe, allein. Groll dachte an die furchtbare Stärke der Starken, die gräßliche Größe der Großen, die schreckliche Hilflosigkeit der Hilflosen und daran, wie das alles zusammengehört, einander ergänzt, einander entstehen läßt. Er drehte sich um und sagte: »Die Polizisten fanden in einem kleinen Hinterzimmer der Buchhandlung, in diesem Teekammerl, wie es heißt, zwei Tote – Ihren Vater, Raphaelo Aranda, und Valerie Steinfeld. Sie muß, unmittelbar nachdem sie aufgelegt hatte, Zyankali genommen haben. Und zwar in einer Kapsel, die sie zerbiß. Als wir mit unserem Arzt eintrafen, fand er Glassplitter in ihrem Mund. Die beiden Leichen lagen ganz dicht nebeneinander auf dem Boden …« Groll streifte Asche von seiner, Virginier. »Ihre Hände«, sagte er und dachte an das Ginkgo-Blatt, »berührten einander.«

Manuel Aranda antwortete nicht.

»Es tut mir leid«, sagte Groll. »So war es. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«

»Nein, danke.«

»Whisky? Cognac? Slibowitz? Wodka?«

»Nein, wirklich nicht. Ich … ich möchte …«

»Was?«

»Ich möchte das Band noch einmal hören«, sagte Manuel Aranda.

9

»Ihr Vater war Chemiker, heißt es …?«

Irene Waldegg fuhr vorsichtig das Stück Allee zwischen den Gruppen 73 und 55 entlang. Beim letzten großen Rondell war ihr ein verlassener Wagen aufgefallen, der dort parkte.

»Chemiker, ja, und Biologe.« Manuel Aranda nickte. Sie sprachen jetzt wieder mit normalen Stimmen, leise und scheu, so, als schämten sie sich für ihr Betragen bei der Begegnung. »Er besaß eine Fabrik in Buenos Aires, die QUIMICA ARANDA.«

»Pharmazeutika?«

»Nein. Die QUIMICA ARANDA ist eine der Hauptherstellerinnen Argentiniens von Pflanzenschutz- und Insektenvernichtungsmitteln.«

»Also eine große Fabrik.«

»Sehr groß, ja. Deshalb wurde mein Vater auch als Vertreter seines Landes zu diesem Kongreß in Wien geladen. Pflanzenschutz-Experten aus der ganzen Welt trafen sich hier.«

Irene Waldegg fuhr über spiegelndes Eis. Es war nun sehr warm im Wagen.

»Sind Sie auch Chemiker?«

»Ich studiere noch. Letztes Semester. Aber ich habe natürlich schon in unseren Laboratorien gearbeitet – während der Ferien.«

Irene Waldegg bog in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 ein. Sie fuhr langsam.

»Da vorne irgendwo ist es. Die Gruppe fängt hier an.«

»Der fünfte Weg, sagte der Pförtner.«

»Ja, der fünfte Weg. Schwer zu sehen bei dem Schnee. Vorgestern war wenigstens ein Pfad freigeschaufelt. Alles längst zugeweht.«

Aus der Ferne erklang ein leises Dröhnen, das rasch lauter wurde. Vom nahen Flughafen Schwechat war wieder einmal eine Maschine gestartet und schickte sich an, den Friedhof zu überfliegen.

»Das ist der zweite Weg …«

»Richtig«, sagte Aranda. »Ihre Tante – war sie einmal verheiratet?«

»Sie war es, ja. Ihr Mann ist noch während des Krieges gestorben.«

»Wo?«

»An der Front, glaube ich. Nach einer Verwundung. Ich weiß es nicht genau. Valerie hat nie gerne darüber gesprochen. Der dritte Weg …«

Das Dröhnen der anfliegenden Maschine war sehr laut geworden.

»Und Kinder hatte sie nicht?«

»Doch. Einen Sohn. Aber mit dem verstand sie sich nie. Leider. Der war bei Kriegsende noch keine zwanzig Jahre alt. Heinz hieß er, ich habe Fotos gesehen. Sieht nett aus auf den Fotos. Aber er vertrug sich nicht mit Valerie!« Irene Waldegg schrie jetzt beinahe, so laut war der Lärm des Flugzeugs geworden. »1947, als die großen Auswandererprogramme nach Kanada anliefen, hat er sich sofort gemeldet und ist fortgezogen. Ein Jahr später kam er dann bei einem Autounfall in Quebec ums Leben. Das war der vierte Weg. Und da vorne ist der fünfte!« Irene ließ den Mercedes ausrollen. Die Maschine war jetzt direkt über ihnen. Ihre Düsen röhrten, heulten und kreischten. Sie jaulten und donnerten und schienen das Flugzeug jeden Moment zur Explosion bringen zu wollen, als Irene den Wagen anhielt, die Handbremse zog und den Motor abstellte. Sie öffnete den Schlag an ihrer Seite und stieg aus.

Vater im Himmel, dachte Clairon. Er sah Irenes Kopf im Fadenkreuz der 98 k. Wer ist das Weib? Wie kommt es hierher? Da haben wir es, dachte Clairon erbittert. Verfluchte Klugscheißer! Was habt ihr jetzt für einen Salat angerichtet? Wo ist überhaupt Aranda? Der ist ja gar nicht da! Oder doch, da taucht er auf, hinter dem Wagen. Und was hat er in den Händen? »Hier müssen wir hinein«, sagte Irene. »Tatsächlich alles wieder zugeschneit. Und wie!«

Manuel hob den großen Zirkel über den Schneewall am Straßenrand, der den Eingang zum fünften Weg der Gruppe 74 versperrte, steckte ihn in den Schnee und sprang über den Wall. Er versank sofort tief, streckte die Arme aus und half Irene. Sie sprang ungeschickt, glitt aus, und einen Moment hielt er sie fest in den Armen, damit sie nicht hinfiel. Ihre Gesichter berührten einander. Hastig machte sie sich los. Er trat einen Schritt zurück.

»Ich gehe vor, und Sie treten in meine Fußstapfen«, sagte er.

»Aber Ihre Schuhe …«

»Sind hoch genug. Ihre Stiefel haben glatte Sohlen. Ich will nicht, daß Sie noch wirklich stürzen. Seien sie vorsichtig. Und sagen Sie mir, wie ich gehen soll.«

»Zuerst geradeaus bis zu der großen Fichte da vorne, dann links.«

Was ist das für ein Ding, das Aranda da schleppt? überlegte Clairon. Der Lauf der 98 k war jetzt in Bewegung, er rieb sich an der Engelszehe. Clairon verfolgte das Paar aufmerksam. Nun sah er groß Irenes Rücken im Zielfernrohr, sah den grauschwarzen Seehundmantel, sah, Sekundenbruchteile lang, die eine oder die andere Schulter Arandas, einen kleinen Teil seiner Pelzmütze.

Immer noch donnerte die Boeing 707, doch ihr Lärm wurde schnell geringer. Die Krähen begannen wieder zu schreien.

Gütiger Gott, dachte Clairon, was mache ich jetzt? Diese junge Frau, wer immer das ist, verdeckt mir dauernd diesen Aranda. Natürlich könnte ich sie zuerst erledigen. Aber das darf ich nicht. Was geschieht, wenn Aranda sich dann sofort hinwirft oder hinter einen Grabstein springt? Wenn er mir entkommt? Ich kann hier kein Schützenfest veranstalten. Ich muß unbedingt zuerst ihn treffen! Er ist mein Ziel, nicht die Frau. Die Frau erledige ich natürlich gleich hinterher, wenn es mit dem Repetieren so rasch klappt und sie sich nicht auch hinwirft oder versteckt. Ich darf kein Risiko eingehen. Junge, Junge, das ist vielleicht ein Mist. Na, es hilft nichts, ich muß Geduld haben und warten. Auch nicht unbedingt opportun, daß ich abdrücke, solange kein Flugzeug uns überfliegt und den Knall des Schusses verschluckt. Jetzt ist es – Blick auf die Armbanduhr – 14 Uhr 49. Um 15 Uhr 10 startet AIR FRANCE Flug 645 nach New York via Paris. Wollen wir warten und hoffen. Was sonst kann ich tun?

»Nach links! Ich helfe Ihnen tragen!«

»Nein, es geht sehr gut …«

»Unsinn!« Mit drei großen Schritten war Irene neben Manuel, gerade als er in einen tief verwehten Weg zwischen zwei Gräberreihen nach links einbog.

Ich werde verrückt, dachte Clairon. Nun verdeckt sie ihn wieder! Und wie! Irgend etwas für das Grab muß es sein, was sie da schleppen. Ist das eine beschissene Angelegenheit!

»Bei dem schwarzen Stein halb nach rechts«, sagte Irene. »Da vorne, zwischen den beiden Trauerweiden, da ist es.«

»Noch ein schönes Stück«, sagte er.

»Sie reden ausgezeichnet deutsch. Waren Sie schon einmal in Deutschland oder in Österreich?«

»Noch nie. Aber daheim haben wir auch immer deutsch gesprochen. Ich konnte es bereits als Kleinkind.«

»Stammen Ihre Eltern aus Deutschland?«

»Nein. Meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Beide Eltern waren geborene Argentinier. Wie ich. Es ist drüben in vielen Familien üblich, zwei Sprachen zu sprechen. Französisch oder Deutsch meistens – oder Spanisch.« Sie stapften Seite an Seite durch den Schnee.

»Einen Weg hatten sie hier freigelegt, einen schmalen Weg … und jetzt!«

»Wer war beim Begräbnis?« fragte Manuel.

»Meine Eltern … Sie kamen aus Villach. Martin Landau und seine Schwester.« Irene sah Manuel an. »Und eine fremde Frau.«

»Was heißt das – fremde Frau?«

»Keiner von uns kannte sie.«

»Seltsam.«

»Seltsam, ja. Wir sprachen noch darüber.«

»Wie sah sie aus, diese Frau?«

»Das weiß ich nicht. Sie war verschleiert.«

»Verschleiert?«

»Tief. Und sie weinte sehr. Sie kam mit einem Wagen und war schon da, als wir eintrafen. Und sie fuhr als erste wieder fort. Es war … als ob sie nicht erkannt werden wollte …«

»Eine alte Frau? Eine junge?«

»Schwer zu schätzen – mit dem schwarzen Schleier. Anfang vierzig, würde ich meinen.« Irene Waldegg blieb stehen und holte tief Atem.

Auch er hielt an. »Nur einen Moment …«

»Vielleicht sollten wir nicht sprechen.«

»Es sind bloß meine Stiefel. Sie werden so schwer … Ja«, sagte Irene, »und dann war noch ich da, natürlich, und die drei Männer von dem Begräbnisinstitut. Wir fuhren hinter dem Totenauto her, Tilly Landau mit ihrem Bruder, ich mit meinen Eltern. Die Wagen parkten alle drüben auf der Allee …«

»Also eins, zwei … acht Menschen. Und ein Pfarrer«, sagte Manuel.

»Kein Pfarrer«, sagte Irene.

Es ist zum Jungekriegen, dachte Clairon. Da drüben steht er. Und dieses Weib dicht neben ihm. Dicht vor ihm. Verdeckt ihn völlig.

»Wieso kein Pfarrer?« fragte Manuel erstaunt.

»Selbstmord …«

»Aber da findet man immer einen Ausweg … Gemütsverwirrung … Störung der Geistestätigkeit …«

»Ja, so versuchte ich es auch. Nichts zu wollen. Sie hat doch …« Irene schluckte. »Sie hat doch vorher Ihren … vorher einen Mord begangen.«

»Natürlich«, murmelte er beklommen.

»Nur mit Schwierigkeiten erhielt ich die Erlaubnis für ein städtisches Begräbnis auf dem Zentralfriedhof.«

Sie stapften weiter durch den Schnee.

Clairon, hinter dem mächtigen Stein, unter dem großen Engel, trat von einem Fuß auf den andern. Er trug dicke Wollstrümpfe, aber nach all der Zeit begannen seine Zehen zu erstarren. Durch das Fernrohr beobachtete er das Paar, das sich immer weiter von ihm entfernte. Nichts zu machen, dachte Clairon. Die Frau verdeckt Aranda ununterbrochen. Ich muß Geduld haben. Wie oft habe ich schon Geduld haben müssen! Bekomme ich meine Chance vor 15 Uhr 10, riskiere ich es auch in der Stille. Dann heißt es eben schnell weg. Schöner wäre es natürlich, wenn ich es im Lärm der AIR FRANCE erledigen könnte. Um 15 Uhr 20 startet die SABENA. Und um 15 Uhr 30 eine SWISSAIR. Dazwischen, um 15 Uhr 25, soll eine BEA aus London landen. Ich weiß allerdings nicht, durch welchen Korridor sie kommt. Ich habe heute noch keine Maschine einfliegen gehört. Egal! Wenn es gar nicht anders geht, wenn sie schon wieder in den Wagen steigen wollen und ich habe keine Wahl, erschieße ich doch zuerst die Frau. Dann muß ich allerdings verflucht viel Glück haben, um Aranda richtig zu erwischen. Nun, dachte Clairon, wir wollen nicht gleich mit dem Ärgsten rechnen. Bisher hat Gott mir immer noch geholfen. Er wird es auch diesmal tun. Und mir vergeben. Das ist sein Beruf.

Irene Waldegg und Manuel Aranda standen vor Valerie Steinfelds Grab. Eine hohe Schneedecke hatte den Hügel zugedeckt. Sie stiegen beide auf ihn, Manuel bückte sich und zog ein schiefes, dünnes Holzkreuz aus der gefrorenen Erde. Danach steckte er die Spitzen des großen Zirkels in den knirschenden Schnee. Er fühlte, daß unter diesem große gefrorene Erdbrocken lagen, mit denen man das Grab zugeschüttet hatte.

So sieht das also aus, dachte Manuel, plötzlich ernüchtert und leidenschaftslos. Hier liegt die Frau, die meinen Vater ermordet hat. Ich wollte das Grab sehen, als erstes, unbedingt, heute noch. Ich habe mir weiß der Himmel was vorgestellt. Wie mir zumute sein, welche Empfindungen ich haben würde dabei. Ein Berg Erdschollen, vereist, unter Schnee, in einer Schneewüste. Das Grab dieser betagten Mörderin. Ich stehe auf ihm. Und was empfinde ich?

Nichts.

Nichts und nichts.

»Was immer sie getan hat – sie war der wunderbarste Mensch, den ich je gekannt habe …« Irene sprach mit dem Blick auf das Grab, für sich, nicht für ihn. Ihre Stimme war klanglos geworden. Sie redete wie in Trance. »… Valerie war so klug, nie konnte sie böse werden, alles verzieh sie immer sogleich, was man ihr auch antat. Für alles fand sie eine Entschuldigung, ein Motiv, eine Erklärung. ›Du mußt dich auch in die Lage des anderen versetzen‹ – wie oft habe ich das von ihr gehört …«

Aber auf dem Tonband, dachte Manuel, sind andere Worte dieser Frau festgehalten. Ganz andere Worte …

»Niemals hat sie gelogen. Sie war … so ehrlich. So ehrenhaft. Niemals hat sie mich im Stich gelassen. In all den Jahren, die wir zusammenlebten, gab es nie Streit, nie ein böses Wort … Die Reisen, die wir gemacht haben … an die Nordsee … nach Lugano … nach Capri … in die Normandie …«

Was für ein Nekrolog, dachte Manuel. Totenrede auf eine Mörderin.

»… Valerie … Ich … habe sie doch so geliebt …« Die Stimme sank zu einem Flüstern ab. »Mehr als alle anderen Menschen … Ja, sogar mehr als meine Mutter! Ich habe meine Mutter gerne, wirklich … Aber seit ich in Wien lebte, war Valerie meine Mutter … mehr als die wirkliche … und sie wurde es immer stärker, immer stärker …«

15 Uhr 01, dachte Clairon. Noch neun Minuten.

»Jetzt ist sie tot! Und ich bin allein, ganz allein. Was soll ich jetzt tun?« rief Irene mit der Stimme eines unglücklichen Kindes.

Manuel Aranda dachte plötzlich: Und ich? Wie war das mit mir, gestern vormittag?

10

»Ein Hemd.«

Wie habe ich dich geliebt! Deinen Humor, deine Freundlichkeit, deine Weisheit, deine niemals aufdringliche Kameradschaft. Wie haben meine Freunde mich um dich beneidet …

»Ein Unterhemd.«

Alles konnte ich dir anvertrauen, als kleiner Junge, und später als großer. Für alles hattest du Verständnis. Stets hast du mir geholfen, wenn ich in Schwierigkeiten steckte, als kleiner Junge, und dann als großer …

»Eine Krawatte.«

Immer warst du für deine Familie da, trotz deiner vielen Arbeit! Wenn ich Ferien hatte, nahmst du dir frei, und wir fuhren nach Mar del Plata, Mama, du und ich. In Mar del Plata hast du mir das Schwimmen beigebracht, und viele Jahre später sind wir beide da fischen gegangen, nur wir zwei. In der Nähe der Küste haben wir Makrelen gefangen, oberseits blau, unterseits silbrig mit dunklen Querbinden, und wunderschöne Meerbarben. Und dann, als wir mit dem großen Kutter hinausfuhren auf die hohe See und Schwertfische fingen, Riesen! Einer war fünf Meter lang und 360 Kilogramm schwer, und er zerschlug uns das halbe Boot …

»Zwei goldene Manschettenknöpfe. Eine goldene Krawattennadel.«

Zur Entenjagd bist du mit mir in die Hügel von Tandil gefahren, mein erstes Gewehr bekam ich zum fünfzehnten Geburtstag, und bei Tandil gingen wir beide durch die klare Luft und die wunderbare Landschaft der Sierra zwischen dem Meer und der flachen Pampas.

»Ein Paar Socken mit Sockenhaltern.«

Der Mann, der da sprach, war ein Angestellter des Gerichtsmedizinischen Instituts, hohlwangig, mit so dicken, funkelnden Brillengläsern, daß Manuel seine Augen nicht erkennen konnte. Er trug einen grauen Arbeitsmantel und legte auf einen Tisch, was Manuels Vater im Augenblick des Todes am Leib gehabt hatte, umständlich und genau, und er schrieb jedes Stück namentlich in große Listen ein.

Der Mann mit dem grauen Kittel arbeitete im weißgekachelten Keller des Instituts, wo es nach Lysol und anderen Desinfektionsmitteln stank. Hier gab es keine Fenster. Elektrisches Licht brannte überall. Wenn Manuel sich umdrehte, konnte er durch die offene Tür des Magazins über einen langen Gang in eine riesige Halle blicken. Einige leere, hohe weiße Tische standen da auf dem feuchten, spiegelnden Steinboden. In einer Wand gab es viele stahlbeschlagene quadratische Türen. Sie verschlossen die Fächer, in denen die Leichen aufbewahrt wurden. Hinter einer Tür lag noch immer Manuels Vater. Er durfte ihn nicht mehr sehen. (»Ja, was glauben denn Sie, Herr? Da war doch eine Obduktion angeordnet. Ihr Herr Vater wurde … er ist nicht mehr … also, Sie können ihn unter keinen Umständen sehen!«)

Ein wunderbares Haus hast du uns gebaut draußen in Olivos, dem schönsten Vorort von Buenos Aires, ganz nahe dem Rio de la Plata, am Strom. Wie groß ist dieses Haus, wie groß der Park, in dem ich mit dir Tennis und Kricket gespielt habe …

»Eine Brieftasche. Darin ein Reisepaß, fünf Fotos …«

Fotos von Mama und mir, ich weiß …

»… ausländische Dokumente – was ist das?«

»Führerschein und Kennkarte.«

»Führerschein und Kennkarte …« Die Brillengläser des Grauen blitzten wie Brenngläser, grell, silbern. »… verschiedene Geldscheine …« Er zählte hüstelnd, wobei er zwei Finger mit den Lippen beleckte. »Das sind 25 860 Schilling in Noten, und in den Taschen vom Anzug und vom Mantel waren noch 1540 Schilling in Noten und 60 Groschen … Machen S’ nicht so ein ungeduldiges Gesicht, lieber Herr, das muß alles seine Ordnung haben, das muß ich alles eintragen, und nachher müssen Sie mir die Listen unterschreiben, daß Sie auch alles gekriegt haben … Dann sind da 865 amerikanische Dollar in Noten und 74 500 Pesos, auch in Noten …

Was ist das, bittschön?«

»Traveller-Schecks.«

»Aha. Möchten Sie sie bittschön zählen und mir sagen, wieviel es ist und wie man das schreibt?«

Ich bin nun reich. Aber alles, was ich besitze, hast du verdient, erschuftet, aufgebaut. Nun bist du tot. Nun gehört alles mir. Ich würde alles weggeben, alles, wenn du nur wieder lebendig werden könntest, du, der du da drüben hinter einer dieser Türen liegst, obduziert, tot seit fünf Tagen nun schon, es ist verboten, dich zu betrachten …

Manuel Aranda buchstabierte ›Traveller-Schecks‹.

Und es stank nach Lysol in der Magazin-Kammer, und irgendwo lief Wasser, stetig, ohne Ende, und Männer in Grau schoben eine hohe Bahre draußen auf dem Gang vorbei, darauf lag ein regloser Körper, von einem Laken verdeckt …

»Ein Schlüsselbund mit eins, zwei, drei … sechs Schlüsseln …«

Manuel Aranda war erst gegen vier Uhr früh von seinem Gespräch mit dem Hofrat Groll ins Hotel heimgekehrt. Um neun Uhr war er aus bleiernem Schlaf erwacht. Er badete, frühstückte und mietete einen Wagen, einen blauen Mercedes, denn er hatte viel vor in Wien. Zuerst mußte er die Leiche seines Vaters freibekommen. Also fuhr er gegen halb elf Uhr in die Sensengasse, nicht ahnend, daß es noch einen ganzen Tag dauern würde, bis sein Vater endlich eingesargt und zum Transport im Flugzeug bereit war.

(Und Clairon saß, mit zwei Männern, in dem Opel-Kapitän, der nachts zuvor in der Hahngasse vis-à-vis dem Sicherheitsbüro geparkt hatte, und die neuen Männer der neuen Schicht zeigten ihm diesen Manuel Aranda, wie er das ›Ritz‹ verließ, und sie folgten dem Mercedes und zeigten Clairon Manuel Aranda wiederum, wie er das Gerichtsmedizinische Institut betrat. Clairon war am frühen Morgen in Wien gelandet. Sie fuhren den ganzen Vormittag hinter Manuel Aranda her und zeigten Clairon seinen Mann immer wieder, und am Nachmittag zeigten sie ihm die Filme und die Fotografien, die aus Buenos Aires stammten und mit der gleichen Maschine eingetroffen waren wie Manuel.)

»Ein Taschentuch …«

Endlich war der Graue fertig. Den zusammengerollten Mantel, den Anzug, die Schuhe und alles andere hatte er in einen großen Karton gepackt, den er nun schloß und mehrfach mit starkem Kupferdraht sicherte. Die zusammengeflochtenen Enden der Drähte schützte er durch Bleiplomben, die er mit einer schweren Zange eindrückte. Sie trugen Aufschrift und Siegel des Instituts. Dann ließ er Manuel die Listen unterschreiben. Wasser strömte noch immer irgendwo, und andere Männer mit anderen hohen Bahren, auf denen verdeckte Körper lagen, passierten den nassen Gang.

Manuel gab dem Angestellten einen Geldschein, dann stand er, den Karton an einem Griff tragend, reglos da, sah die metallbeschlagenen Türen in der Wand des großen Saals an, und dachte: Neben Mama sollen sie dich begraben. Ich werde nicht dabeisein. Ich werde hier sein, in Wien. Und ich will hierbleiben, bis ich die Wahrheit kenne, das schwöre ich dir, Vater, den ich liebe, den ich immer lieben werde …

»Wenn der Herr sich jetzt in die Verwaltung hinauf bemühen wollen«, sagte der Graue, höflich hüstelnd. »Da wären noch Formalitäten zu erledigen.«

In der Verwaltung erwarteten sie ihn bereits. Sie waren alle sehr ernst und sehr höflich. Sie konnten nichts dafür, daß sein Vater ermordet worden war – sie hatten ihre Vorschriften.

Sie gaben Manuel Formulare, die er selber ausfüllen mußte. Dann setzte einer von ihnen sich an eine Schreibmaschine und begann, andere Formulare nach den Angaben von Manuel vollzutippen. Dabei stellte sich heraus, daß noch Dokumente von der Polizei fehlten. Ohne diese Dokumente durften sie die Leiche nicht freigeben. Es gab Streit. Manuel sah ein, daß Streit sinnlos war. Er fühlte sich so elend und zerschlagen wie noch nie im Leben.

»Jetzt fahren Sie schön in die Berggasse, und da lassen Sie sich das alles geben, was ich hier aufgeschrieben habe, und dann kommen Sie zu uns zurück. Aber bis drei Uhr. Nachher ist hier geschlossen. Nein, halt, der Karton bleibt da, tut mir leid.«

»Aber …«

»Vorschrift, lieber Herr! Sie brauchen auch für die Übernahme des Eigentums ihres Vaters noch eine Vollmacht von der Polizei. Und weiter heißt es in der Vorschrift, daß wir das Eigentum nur zusammen mit dem Leichnam übergeben dürfen.«

»Also wann?«

»Ja, wenn Sie bis drei mit allen Papieren zurück sind, die noch fehlen, dann werden wir morgen früh alles für Sie bereit haben.«

»Morgen früh erst?«

»Was glauben Sie, was da noch zu erledigen ist. Ein passender Sarg muß her. Der Leichnam muß aus dem Kühlfach. Gar nicht so einfach. Wir brauchen noch einen zweiten, luftdichten Metallsarg für den Transport. Morgen früh um zehn, ja, da werden wir es geschafft haben. Jetzt fangen Sie nicht noch einmal an, Herr Aranda, wir tun nur unsere Pflicht. Schauen Sie lieber, daß Sie schnell in die Berggasse kommen.«

Also fuhr er in die Berggasse (und Clairon fuhr in dem Kapitän hinter ihm her), und die Beamten in der Berggasse erklärten, sie würden die Papiere bis zum nächsten Tag fertigstellen.

»Viertel eins. Seit zwölf kein Parteienverkehr mehr. Und nachmittags ist zu bei uns.«

Manuel regte sich auf. Er erhielt einen Verweis. Er verlor die Nerven und begann zu schreien, wobei er Mühe hatte, nicht zu weinen.

»Sie, also geschrien wird bei uns nicht, verstanden?«

Manuel wandte sich von dem Beamten ab und eilte zu Hofrat Groll. Der empfing ihn sofort. In seinem Vorzimmer saßen jetzt drei Sekretärinnen an Schreibmaschinen.

Groll war freundlich und ruhig wie immer. Er telefonierte.

»In zwanzig Minuten haben Sie alle Papiere«, sagte er danach.

»Ich danke Ihnen. Dann bin ich wenigstens morgen soweit. Die Sachen meines Vaters bekomme ich auch. Die will ich noch einmal ansehen. Ich kann sie ja mit dem Wagen abholen, den ich gemietet habe.«

Na also, dachte Groll. Genau, wie ich mir das vorstellte. Nur gut, daß ich schon mit Hanseder telefoniert habe, und daß Hanseder zu den Vernünftigen gehört. Der Ministerialrat Franz Hanseder, leitender Beamter der Staatspolizei, war ein alter Freund Grolls. Er hatte sich den Bitten und Bedenken des Hofrats gegenüber verständnisvoll gezeigt.

Obwohl er die Antwort kannte, fragte Groll: »Wozu brauchen Sie einen Wagen in Wien?«

Manuel sagte: »Sie haben mir erklärt, daß der Fall für Sie abgeschlossen ist, Herr Hofrat.«

»Und ich habe Ihnen auch erklärt, warum. Wenn, wie hier, außer Zweifel steht, wer in einem Mordfall der Mörder war, und wenn dieser Mörder nach der Tat Selbstmord begangen hat …«

»… findet nach Paragraph 224 des österreichischen Strafgesetzbuchs keine weitere Untersuchung statt«, unterbrach Manuel schnell.

»So schreibt das Gesetz es vor.«

»Und warum der Mord geschehen ist, das interessiert nicht! Der Fall ist abgeschlossen.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, daß wir nach dem Gesetz keine Berechtigung haben …«

»Ich werde in Wien bleiben, bis ich weiß, warum diese Frau meinen Vater getötet hat!« schrie Manuel plötzlich los. »Und ich werde mich von niemanden behindern lassen! Es gibt hier eine argentinische Botschaft. Wenn Sie mir Schwierigkeiten machen, werde ich mich an die wenden!«

Groll sah ihn an. Der junge Mann war dunkelrot im Gesicht. Der ›Rote Zorn‹, dachte Groll. Ohne daß es ihm überhaupt noch bewußt wurde, registrierte er dieses Symptom immer wieder bei seinen freiwilligen oder unfreiwilligen Besuchern. Und ohne daß es ihm überhaupt noch bewußt wurde, erinnerte er sich jedesmal an die uralten Mechanismen des Farbenwechsels im Zustand der Wut, wie sie dem Menschen von seinen Ahnen aus grauer Vorzeit überkommen sind.

Der ›Rote Zorn‹ ist nicht der gefährlichste, dachte der Hofrat. Ruhig sagte er: »Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«

»Warum betonen Sie das ich? Wer denn?« Manuels Stimme bebte. »Wer denn, Herr Hofrat?«

Groll dachte: Wenigstens versuchen muß ich es noch einmal. Er sagte, ohne Manuel anzusehen: »Fliegen Sie nach Hause, lieber Herr Aranda. Bringen Sie Ihren toten Vater in die Heimat und versuchen Sie, das Schreckliche, das geschehen ist, zu überwinden und zu vergessen.«

»Ich soll vergessen, daß man meinen Vater ermordet hat?«

»Ich habe es nicht so gemeint«, murmelte Groll. »Ich habe gemeint, vergessen Sie, daß hier etwas Unbegreifliches geschehen ist …«

Das ist ja jämmerlich, dachte er. Na also, und da wäre das zweite Symptom, das zweite Warnzeichen, ich habe darauf gewartet! Der junge Mann ist plötzlich kreidebleich geworden. Jetzt kann er jeden Moment explodieren!

Der ›Weiße Zorn‹ ist seit Urzeiten der gefährlichere. Keine Veränderung seit damals, dachte Groll. Und dabei unser aller Hybris, weil wir meinen, durch einzelne erlernte technische Fähigkeiten und Fertigkeiten eine Weiterentwicklung vollbracht zu haben. Weiterentwicklung, großer Gott, dachte Groll.

Aranda flüsterte (jetzt flüsterte er): »Das verlangen Sie wirklich von mir? Herr Hofrat! Sie wissen etwas, und Sie sagen es mir nicht! Was ist es? Reden Sie! Sehen Sie mich an!«

Gut, dachte Groll, du sollst es wissen. Hanseder hat es mir erlaubt, es zu sagen. Und so weit, wie es mit dir schon ist, mußt du es wissen, armer Kerl, und zwar schnell – in deinem Zustand. Groll sagte: »Sie bringen sich in Gefahr, wenn Sie selber Nachforschungen anstellen, Herr Aranda.« Kalkweiß, dachte er. Also rapider Gegenschlag! »Auch für uns ist der Tod ihres Vaters zuerst ein Geheimnis gewesen.«

»Und jetzt?«

(Wie er die Fäuste ballt. Auch die sind kalkweiß, die Knöchel treten stark hervor. Was hat sich geändert seit Jahrmillionen? Nichts.)

»Jetzt«, sagte Groll, »wissen wir zumindest eines: Mächte waren an Ihrem Vater interessiert – Mächte, die in unserem Land ihre Fehden austragen.«

»Sie meinen … Spionage? Aber das ist doch lächerlich!«

»Das ist gar nicht lächerlich. Vertreter mehrerer Nationen standen mit Ihrem Vater in Kontakt«, sagte der Hofrat laut.

»Sie glauben, daß mein Vater in eine Geheimdienstgeschichte verwickelt war?« Auf einmal sprach Manuel wieder ganz ruhig.

»Ja.«

»Aber das ist doch absurd! Mein Vater war ein normaler Chemiker und Biologe!«

»Ja«, sagte Groll.

»Ein normaler Geschäftsmann!«

»Ja«, sagte Groll.

»Ein Wissenschaftler, der sich mit der harmlosesten Sache von der Welt beschäftigte! Mit Pflanzenschutzmitteln! Mit Schädlingsbekämpfungsmitteln!«

»Ja«, sagte Groll.

»Warum sagen Sie immer ja?«

»Weil ich Ihnen recht gebe«, antwortete Groll, holte ein langes, flaches Lederetui hervor und entnahm ihm eine Virginier, die er umständlich präparierte und ansteckte.

Manuel Aranda setzte sich, wie zu Tode erschöpft. Er sagte leise: »Es ist Ihnen doch klar, daß ich nach dem, was Sie mir eben eröffnet haben, unter gar keinen Umständen heimfliegen werde!«

»Unter gar keinen Umständen.« Groll nickte und blies eine blaue Rauchwolke aus. »Ich habe es Ihnen nur eröffnet, weil ich sah, daß Sie auch so unter gar keinen Umständen heimgeflogen wären, daß Sie auf jeden Fall Nachforschungen anstellen würden. Nun sind Sie gewarnt, wenigstens gewarnt.« Man kann den Jungen nicht einfach in den Tod schicken, dachte Groll. Das habe ich auch Hanseder gesagt. Manuel Aranda muß wissen, worauf er sich einläßt, was ihn erwartet.

»Herr Hofrat«, sagte Manuel, unruhig atmend, »welche Macht, welcher Geheimdienst, welche Organisation kann Interesse daran gehabt haben, meinen Vater umzubringen? Sagen Sie es mir, ich bitte Sie! Ich flehe Sie an!«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Groll und dachte: Hier ist Schluß. Ich habe Hanseder versprochen, daß hier Schluß ist.

»Sie wissen etwas! Sie wissen etwas!«

»Nein, Herr Aranda.«

»Was kann mein Vater denn getan haben, was kann er gewußt haben, daß er umgebracht wurde?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Groll und dachte: Eine halbe Lüge. Ich weiß es wirklich nicht. Nicht genau.

»Ich glaube, daß Sie mich belügen! Ich glaube, daß Sie viel mehr wissen, als Sie mir sagen! Ich glaube …« Manuel brach ab. »Verzeihen Sie«, sagte er und senkte den Kopf. »Ich bin vollkommen durcheinander. Überreizt. Ungerecht. Bitte, verzeihen Sie. Natürlich würden Sie mir alles sagen, wenn Sie mehr wüßten.«

»Natürlich«, antwortete Groll mit unbewegtem Gesicht. Manchmal, dachte er, gibt es Situationen, da hasse ich meinen Beruf.

»Aber daß diese alte Frau Steinfeld es getan hat … Sie kann doch nicht im Auftrag eines … oder doch? Oder doch?«

»Warum nicht?« meinte Groll. Ich vermag es mir so wenig vorzustellen wie du, dachte er. Aber habe ich eine andere Erklärung?

»Ja, warum nicht?«

»Herr Aranda«, sagte der Hofrat. »Wien ist eine sehr große Stadt …«

»Nicht so groß wie Buenos Aires!«

»Nein, das nicht. Aber es ist auch nicht die Stadt, wie die Welt sie zu kennen glaubt …« Groll setzte sich an seinen Schreibtisch, er blickte abwesend auf das Ginkgo-Blatt.

»Was soll das heißen?«

»Es gibt eine helle Seite dieser Stadt«, sagte der Hofrat, die eine Hälfte des Blattes mit einer Hand bedeckend, »und es gibt eine dunkle.« Er bedeckte die andere Hälfte. »Das ist seit den Türkenkriegen so. Länger – seit die Römer hier waren. Viele, viele Jahrhunderte ist dieses Wien Frontstadt gewesen, ist hier gekämpft worden, heimlich oder offen. Und eine Frontstadt ist Wien geblieben, Frontstadt … Die Vergangenheit – bei uns wurde sie Gegenwart. Es hat sich nichts geändert.« Abwechselnd bedeckte seine Hand die Blatthälften. »Ost und West«, murmelte er. »Die Roten und die Schwarzen … diese Weltanschauung und jene … Kämpfe wurden hier ausgetragen, länger, als das Christentum währt …«

»Zwischen Gut und Böse, jaja«, murmelte Manuel ungeduldig.

»Sagen Sie nicht jaja, junger Mann! Gut und Böse gehören zusammen.«

Die Hand strich über die eine Blatthälfte, dann über die andere. »Wer könnte das besser beurteilen als ein Mann in meinem Beruf? Wie oft ist für den einen böse, was für den anderen gut ist? Wieso gibt es überhaupt das Böse auf unserer Welt, wenn Gott doch gut ist? Nun, weil wir ihn nur so überhaupt existieren lassen können – mit dem Bösen …« Er bemerkte Manuels Blick und räusperte sich. »Gut und Böse«, sagte er laut, »was immer das ist, jawohl! Im Kampf miteinander über dieser Nahtstelle der Welt, genannt Wien …« Er zog an seiner Zigarre, er streichelte das Blatt. Manuel betrachtete ihn verwundert. »Ich weiß, für den Ausländer ist Wien die Stadt der Blauen Donau, der Spanischen Hofreitschule, der großen Sammlungen und Museen! Die Stadt Schönbrunns, des Belvedere und des Praters! Die Stadt von Lanner und von Strauß, des Burgtheaters und der alten Paläste, der Gärten und der Lichter, die Stadt der Fröhlichkeit und des Leichtsinns, der Sänger und der Geiger, der Musik und des Weins draußen in Grinzing … Aber wissen Sie, von wie vielen Agenten ausländischer Mächte in Österreich wir positiv Kenntnis haben? Von fünfzigtausend. Das ist die bekannte Zahl. Die Dunkelziffer liegt natürlich höher. Agenten aus dem Osten, Agenten aus dem Westen, hier arbeiten sie, hier, in der lieblichen, singenden, klingenden Wienerstadt. Und wissen Sie, wie viele Beamte die Staatspolizei gegen sie zum Einsatz hat? Vierhundert!«

»Wie viele?«

»Vierhundert. Sie haben schon richtig gehört«, sagte Groll und dachte: Und wie sicher sind diese vierhundert? Wie viele Male hatten wir schon unsere Skandale …

Manuel Aranda rief: »Warum vierhundert? Warum nicht viertausend? Warum nicht vierzigtausend? Warum sorgen Sie hier nicht für Ordnung? Warum beenden Sie diesen Zustand nicht?«

»Herr Aranda, wir sind ein neutrales Land. Die Alliierten haben uns einen Staatsvertrag gegeben, und ihre Truppen haben unser Land verlassen. Was glauben Sie, wie lange es dauern würde, bis die Truppen zurückkämen? Wie lange wären wir wohl geliebt und geschätzt, wenn wir die Geschäfte der Alliierten störten, die sie auf diesem ihrem Spielplatz abwickeln? Österreich ist klein, sehr klein. Es war eine gute Idee von allen, uns auszuwählen. Wer so klein ist wie wir, hat keine Wahl. Wer so klein ist, muß schweigen.«

»Und Sie schweigen!«

»Selbstverständlich«, sagte der Hofrat Wolfgang Groll.

»Aus Angst!«

»Natürlich aus Angst«, sagte Groll. »Wenn die Verantwortlichen eines Landes, das so klein ist wie das unsere, nicht Angst hätten und diese Angst als eine reale, nur allzu berechtigte Gegebenheit in alle ihre Handlungen einkalkulierten, dann hätten sie keine Phantasie und kein Verantwortungsgefühl, dann wären sie unfähig und gefährlich, dann müßte man sie von ihren Positionen entfernen.« Er sah Manuel an und fragte lächelnd:

»Erscheint Ihnen diese Einstellung feige oder verächtlich?«

»Nein«, sagte Manuel betroffen. »Nein!«

»Wir müssen immer so handeln, um das Schlimmste zu verhüten. Das ist das oberste Gesetz.«

»Was natürlich bedeutet, daß gewisse staatliche Stellen hier sich doch für den Tod meines Vaters interessieren.«

»Natürlich«, sagte Groll. »Aber keine dieser Stellen, niemand, auch ich nicht, darf Sie bei Ihren Nachforschungen offiziell unterstützen. Das verstehen Sie doch?«

»Ja.«

»Was nicht heißen soll«, murmelte der Hofrat, »daß ich nicht immer für Sie da bin.«

»Danke.«

»Ich habe keine Ahnung, was meine Hilfe wert sein wird. Aber Sie können immer zu mir kommen. Sie können mir alles erzählen. Vielleicht weiß ich Rat. Vielleicht weiß ich Hilfe. Vielleicht, Herr Aranda. Und jetzt geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen erzählen werden, was ich Ihnen anvertraut habe.«

»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort«, sagte Manuel und schüttelte die kühle, trockene Hand des Hofrats.

Das Telefon läutete.

Groll hob ab und sprach kurz. Dann sagte er: »Ihre Papiere sind fertig, Sie können sie abholen.«

»Ich danke Ihnen.«

Der beleibte Mann mit dem Silberhaar brachte Manuel zur Tür. Er legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seien Sie vorsichtig.«

11

»Jetzt ist es fest genug«, sagte Manuel Aranda. Gemeinsam mit Irene Waldegg hatte er den schwarzen Zirkel, das provisorische Grabkreuz, in die harte Erde gestoßen. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen. Sie hatten sich rhythmisch wechselnd auf die Seiten der Querleiste gestemmt und so die Zirkelspitzen tiefer und tiefer gedrückt. Nun atmeten beide hastig. Aus der Ferne erklang wieder ein dumpfes Brausen, das lauter wurde. Die Krähen verstummten. Irene richtete sich auf. Dabei kam sie aus dem Gleichgewicht, glitt von dem Hügel herunter, schrie leise und erschrocken und streckte die Arme vor. Schnell packte Manuel zu. Im nächsten Moment schlug Irenes Kopf gegen seine Brust, ihre dunkle Brille fiel in den Schnee. Er hielt sie fest, noch auf dem Hügel stehend.

Clairon blinzelte.

Zum erstenmal war Arandas Kopf frei.

Clairon hob den Lauf der 98 k an, bis er diesen Kopf im Fadenkreuz hatte. Langsam jetzt, dachte er, langsam. Da hast du deine Chance. Gott gibt sie dir. Versau sie nicht. Paß auf …

Das Donnern der gestarteten Maschine der AIR FRANCE wurde immer gewaltiger. Es war 15 Uhr 11. Wieder stäubte Schnee auf von Grabhügeln und Ästen, wieder fielen Klumpen von den Bäumen.

»Ich … ich …«, stammelte Irene Waldegg. Sie sah zu Manuel empor. Jetzt konnte er ihre Augen erkennen. Sie waren braun wie das Haar und gerötet und verschwollen vom vielen Weinen.

»Ruhig«, sagte Manuel, »bitte, beruhigen Sie sich.«

Ihr Körper sackte plötzlich durch, er mußte sie an sich pressen. Ihre Knie gaben nach.

»Mir ist so schlecht … Ich habe mich zusammengenommen … Ich … Ich … ich dachte, es würde schon gehen … aber jetzt … zum erstenmal habe ich jetzt gefühlt, daß sie nie … nie, nie, nie mehr da sein wird … Valerie! Valerie! Warum hast du das nur …«

Manuel konnte nicht länger verstehen, was sie stammelte, während Tränen aus ihren Augen strömten. Das Brausen der nahenden Boeing war zu laut geworden. So standen sie da, seine Arme um ihren Rücken, ihr Kopf an seiner Brust. Wie ein Liebespaar sahen sie aus, wie ein tragisches Liebespaar. Manuel blickte auf die Schluchzende herab. Er dachte: Nein, diese Frau hat keine Schuld.

Da kam sie angerast, die Maschine, auf ihrem weiten Weg nach Paris und New York, da kam sie, schon in den Wolken, mit tobenden, hämmernden, dröhnenden Düsenaggregaten.

Zu Schlitzen verengt hatten sich Clairons Augen. Da stand er, gegen den Mamorquader gepreßt, gefühllos, völlig gefühllos wie stets. Na also, dachte er. Wunderbar, dachte er. Großartig. Es könnte nicht besser sein. Manuel Arandas Kopf war völlig frei, Clairon sah das Profil genau im Zielfernrohr. Schläfenschuß, dachte er und orientierte sich nach Manuels rechtem Ohr, das unter der braunen Pelzmütze hervorlugte. Ja, Schläfenschuß. Jetzt klappt es. Es hat noch immer geklappt.

Mit atemraubendem Heulen brauste die Boeing über den Friedhof. Clairons Finger am Abzug der 98 k begann sich zu krümmen, mehr und mehr. Der Schuß war kaum zu hören. Ohne einen Laut stürzte Clairon in den Schnee. Er lag mit dem Gesicht nach unten, tot.

12

Der Mann in einer verriegelten Toilette der Bedürfnisanstalt am Rande der Gruppe 55 stand auf der Brille des Klosetts. Der Lauf seiner Waffe ragte noch aus der Luke, die sich unter der Decke des kleinen Raums befand. Es war eine amerikanische ›Springfield‹, Modell 03, Kaliber 7.62 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter, Gewehrlänge 1250 Millimeter, Magazin mit zehn Schuß, aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog das Gewehr nur 4,3 Kilogramm.

Der Mann trug einen rostbraunen Dufflecoat und schwere Schuhe, hatte ein viereckiges Gesicht, einen breiten Unterkiefer, Sommersprossen und eine kurze, wulstige Narbe, welche über die Stirn lief. Sein blondes Haar war zu einer Igelfrisur geschoren, die dem gutmütigen alten Pförtner beim Hauptportal aufgefallen war, als dieser Mann in einem großen weißen Lincoln ihm einen Hundertschillingschein zum Wechseln gab, um danach wie ein Irrer, mit wimmernden Pneus, in den Friedhof hineinzurasen. Der Mann hatte seine Geschwindigkeit sehr schnell auf die vorgeschriebenen zwölf Kilometer pro Stunde reduziert, denn an nichts lag ihm weniger als daran, aufzufallen. Er war nur in außerordentlicher Eile gewesen. Zum Glück kannte er den Zentralfriedhof von früheren Besuchen her.

Die Wangen dieses Mannes hatten sich gerötet. Er sah jünger aus, als er war, nämlich einundvierzig. Er hatte den Koreakrieg mitgemacht. Am 25. April 1951, nachts, während eines Angriffs der Nordkoreaner bei Munsan-ni, war sein Kompaniechef, ein gewisser Lieutenant Charles J. Deeping, ums Leben gekommen – durch Kopfschuß. Die Kugel stammte aus einem amerikanischen ›Springfield‹-Gewehr, Modell 03. Der Tat dringend verdächtig war der Sergeant First Class Howard Kane. Er wurde vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen (Rachsucht) für schuldig befunden und hingerichtet, stand in der Armeezeitung ›Stars and Stripes‹. Drei Tage, bevor es in der Zeitung stand, befand sich der braunhaarige Howard Kane, dessen Gesicht mit Sommersprossen übersät war, in Washington, wo er einige etwas längere Unterredungen hatte. Unmittelbar nach der letzten Unterredung reiste er, anhanglos, nicht verheiratet, ehemals Schwachstromtechniker in Chikago, nach New York, hieß David Parker, hatte Papiere auf diesen Namen und nicht mehr gewelltes braunes, sondern kurzgeschorenes blondes Haar. Seit jenem Tage bis zum heutigen übte er einen anderen Beruf aus. Der ehemalige Sergeant First Class Howard Kane, seit langem der Geschäftsreisende David Parker, warf einen letzten Blick durch das Zielfernrohr seiner ›Springfield‹. Die Kugel hatte Clairon in die rechte Schläfe getroffen, ehe er den Abzug seiner Waffe ganz durchdrücken konnte. Beim Austritt auf der linken Schläfenseite war sein halbes Gesicht weggerissen worden. Das Kaliber 7.62 richtet enorme Verheerungen an. Aus dem, was von Clairons linker Gesichtshälfte übriggeblieben war, schoß Blut in den Schnee, David Parker sah sich Clairon genau an. Er hatte schon sehr viele tote Männer in seinem Leben gesehen.

Zufrieden stieg er von der Holzbrille des Klosetts herab, verbarg das Gewehr unter seinem Dufflecoat und verließ die Bedürfnisanstalt. Er ging schnell, während das Dröhnen der abfliegenden AIR-FRANCE-Maschine leiser und leiser wurde und die Krähen wieder zu schreien begannen, die Allee zwischen den Gruppen 55 und 56 ein Stück hinab zu dem großen Lincoln, der hier stand. Parker öffnete den Kofferraum und versteckte die ›Springfield‹ unter ein paar alten Lappen. Nachdem er den Kofferraum wieder versperrt hatte, setzte er sich hinter das Steuerrad, schaltete den Motor und einen eingebauten Sender ein, und während er zuerst ein Stück in Richtung Dr.-Karl-Lueger-Kirche fuhr, um dann nach rechts einzubiegen, nahm er ein Mikrophon zur Hand und sagte: »Calling Stardust … Calling Stardust … This is Charlie Baker, Charlie Baker, over.« Aus dem Lautsprecher des Senders erklang eine Männerstimme: »Okay, Charlie Baker, this is Stardust, I can hear you. Over.«

Die Unterhaltung ging in englischer Sprache weiter.

»Erledigt«, sagte David Parker. »Tot.«

»Sicher?«

»Todsicher! Direkt in die Schläfe.« Parker fuhr über immer neue Alleen vorsichtig quer durch den Friedhof zu einer diagonalen Chaussee, die ihn in die Nähe des kleineren Tores III bringen sollte. Tor II, das Hauptportal, wollte er lieber nicht mehr benützen.

Parker sagte: »Ihr habt mich zu spät losgeschickt.« Er berichtete, was geschehen war, und schloß: »Ein Riesenmassel, was ich hatte! Als ich ankam, sah ich beim Eingang Manuel Aranda. Diese Waldegg war bei ihm. Weiß nicht wieso. Jedenfalls war die Frau diesem Clairon später dauernd im Weg, er konnte nicht auf Aranda schießen. Das habe ich sofort kapiert, als ich ihn endlich im Fernglas hatte. Junge, Junge, knapp ist das gegangen, kann ich nur sagen. Kaum war seine Birne schön in meinem Fadenkreuz, da muß die Frau sich gebückt haben oder sonst was, jedenfalls hatte Clairon plötzlich freie Sicht. Er wollte sich gerade an die Arbeit machen, als ich ihn erwischte. Zum Teufel, das nächste Mal schickt ihr mich aber früher los!«

»Wir haben es erst so spät erfahren. Tut mir leid.«

»Gehört alles zu des Tages Arbeit«, sagte David Parker. »Ich komme nicht mehr in die Stadt rein. Ich habe einen anderen Anzug und einen anderen Mantel …«

13

»… und andere Schuhe und einen Koffer voll Wäsche im Wagen«, klang die Stimme aus dem Lautsprecher eines starken Senders, dessen graugestrichener Kasten auf einem langen Chromstahltisch ruhte. Dieser Sender war, wie der im Lincoln von David Parker, mit Zerhacker und Entzerrer ausgestattet.

Der silberne Tisch stand in einem Raum, in dem sich neue Kotflügel, Autotürbleche, Scheinwerfer, Blinker, Rücklichter und Scheibenwischer befanden. Der Raum lag zu ebener Erde einer sehr langen und sehr hohen Halle. Wie in einer Miniatur-City sah es aus – große und kleinere Kisten türmten sich hier zu Gebäuden. Zwischen ihnen liefen schmale Straßen. Es war das Lagerhaus einer Firma, die sich AMERICAR nannte und Ersatzteile für fast alle amerikanischen Wagentypen liefern konnte. Zwischen den Kistenschluchten mühten sich Arbeiter mit Winden und Seilzügen. Elektrokarren fuhren hin und her.

Das Lagerhaus stand auf jener Seite des Hietzinger Kais, der die Fortsetzung der Westautobahn-Einfahrt bildet, nahe der Stadtbahnstation Ober-Sankt-Veit. Die U-Bahn läuft da unter dem Straßenniveau, aber offen. Eine Mauer trennt ihre Gleise von dem Bett des Wien-Flusses.

Der Geschäftsführer der AMERICAR hieß Gilbert Grant. Er war ein großer, schwerer und lebhafter Mann von zweiundfünfzig Jahren, mit roter Gesichtshaut und blauen Augen, die leicht tränten und von roten Äderchen durchzogen waren wie die eines Gewohnheitstrinkers.

Der Raum, in dem sich der Sender befand, besaß eine elektrisch gesteuerte Stahltür und war schalldicht. Fenster gab es nicht. Ein Ventilator sorgte für Frischluft. Die Arbeiter des Lagerhauses waren davon überzeugt, daß in jenem Raum, den nur Grant, seine amerikanischen Angestellten und seine gelegentlichen Gäste betreten durften, alle Geschäftsunterlagen, Scheckbücher und viel Bargeld untergebracht waren. Die Arbeiter wurden gut bezahlt und behandelt, sie kümmerten sich um nichts, was sie nichts anging. Gilbert Grant hatte sie daraufhin ausgesucht.

Zwei junge, schlaksige Amerikaner, welche den Sender bedienten, waren zur Seite getreten. Gilbert Grant saß vor dem Mikrophon. Elektrisches Licht einer starken Deckenlampe ließ sein pechschwarzes Haar glänzen. »Ist gut, Charlie Baker«, sagte er. »Fahr gleich raus zum Flughafen. Wann geht deine Maschine? Over.«

»In etwa zwei Stunden«, erklang David Parkers Stimme aus dem Lautsprecher. »Over.«

»Fein. Du läßt den Wagen auf dem dritten Parkplatz stehen, wie besprochen. Abgesperrt natürlich. Wir holen ihn abends ab. Vielen Dank und guten Flug! Das ist alles. Over.«

»Okay. Ich danke auch. Bis zum nächsten Mal also. Ende.«

»Ende«, sagte Gilbert Grant und lehnte sich auf einem elastischen Chromstahlstuhl zurück, wobei er diesen drehte. Seitlich neben ihm saß ein vierter Mann. Er war so groß wie Grant, etwas jünger, schlank und hatte ein aristokratisches Aussehen. Fedor Santarin war Präsident der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹, die ihren Sitz in einem alten Palais an der Wollzeile, nahe der Stephanskirche, im Stadtzentrum hatte. Grant und Santarin sprachen fließend Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch. Höflicherweise in englischer Sprache sagte Santarin, der einen erstklassig geschnittenen Maßanzug trug – im Gegensatz zu dem leicht zerdrückten Konfektionsanzug Grants –, mit schiefem Lächeln: »Das war aber wirklich sehr knapp, lieber Freund.«

»Tja, ohne ein wenig Glück wären wir glatt verloren in diesem Beruf«, antwortete Gilbert Grant, den Knoten seiner allzu bunten Krawatte, die er zu einem blau-weiß karierten Hemd trug, hochziehend. »Ich habe mich am Mikrophon mächtig zusammengenommen. Mir ist ganz schlecht. Ich muß ein Schlückchen haben.« Er ging zu einem Wandschrank. Der Russe lächelte trist. Gilbert Grant mußte in regelmäßigen, ziemlich kurzen Abständen immer wieder ein Schlückchen haben, Fedor Santarin wußte das natürlich. Gilbert Grant war in der Tat ein Säufer. Er hielt es aus. Noch hält er es aus, dachte der Russe. Früher oder später wird er seinen Zusammenbruch kriegen. Schade, ich mag ihn. Wie oft und wie gut haben wir schon zusammengearbeitet.

»Ich brauche euch jetzt mal nicht, schaut euch draußen ein bißchen um«, sagte Grant, der so mächtig und aufgeschwemmt aussah wie Orson Welles, mit dem er große Ähnlichkeit aufwies, zu den beiden jungen Amerikanern.

»Ist gut, Mister Grant.«

Die beiden gingen zu der elektrisch gesteuerten Stahltür.

»Moment!« Fedor Santarin lächelte wieder. Er holte mit einer eleganten Bewegung – alle seine Bewegungen waren elegant, im Gegensatz zu den schwerfälligen seines Kollegen – eine längliche, hohe Goldkartonpackung aus einer Innentasche der Jacke seines tadellosen Anzugs. (Er ließ in Wien nur bei ›Knize‹ am Graben arbeiten.) Die Packung enthielt Spezial-Konfekt der berühmten Konditorei Demel. Santarin trug stets solche Packungen mit sich herum, und er liebte es, Süßigkeiten anzubieten. Nun öffnete er den tütenförmigen Karton und hielt ihn den jungen Männern hin.

»Darf ich mir erlauben?«

Die beiden kannten das seit langem. Sie nahmen jeder zwei Stücke Konfekt, bedankten sich und verschwanden, nachdem sie die Stahltür durch Knopfdruck geöffnet hatten. Auf Schienen glitt die schwere Platte hinter ihnen wieder zurück und schloß sich lautlos. Grant hatte ein großes Glas gut zur Hälfte voll Bourbon geschüttet. Er nahm kein Wasser dazu, kippte das Glas, blies Luft aus und füllte es neuerlich halb. Dann setzte er sich auf eine Kiste, in der Autoscheinwerfer verpackt waren, und legte die Füße mit den klobigen Schuhen auf eine andere Kiste.

Wie ein dickköpfiger Bauer aus der Ukraine sieht er aus, dachte Santarin, der wie ein englischer Aristokrat aussah.

»Auf Clairon«, sagte Grant und hob sein Glas. »Er ruhe in Frieden.« Der Amerikaner nahm einen großen Schluck.

»Amen«, sagte der Russe und steckte ein Stückchen Konfekt in den Mund. Er spielte mit der goldenen Tüte. An der linken Hand trug er einen kostbaren Brillantring.

»Ich konnte es Parker natürlich nicht sagen. Auch den beiden Jungs nicht«, murmelte Grant.

»Natürlich nicht.« Fedor Santarin wählte ein Stückchen Nougat.

»Aber es ist schon eine verdammte Scheiße«, erklärte Grant zornig, »daß Parker den Clairon doch noch rechtzeitig gefunden hat und der nicht diesen Aranda erledigen konnte.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Gilbert. Wir haben Parker so spät losgeschickt, daß er nach menschlichem Ermessen keine Chance mehr hatte.«

»Er ist aber eben ein so verflucht guter Mann«, sagte der Amerikaner trübe. »Leider. Kein anderer hätte das geschafft.« Er rülpste und trank wieder. »Den Mund habe ich mir fusselig geredet bei meinen Bonzen. Weg mit Aranda! Nichts wie weg mit ihm, habe ich gesagt. Laßt uns selig sein, wenn die Franzosen uns das abnehmen! Loswerden müssen wir ihn auf alle Fälle. Aber nein, nichts zu machen. Diese Hurensöhne!« sagte Gilbert Grant erbittert. »Alles wissen sie immer besser.«

»Dasselbe bei mir«, sagte Santarin. »Angefleht habe ich meinen Führungsoffizier. Dieser Aranda ist eine ganz große Gefahr, sagte er mir. Nicht nur für die Franzosen. Für alle. Folge? Meine Bonzen haben sich mit Ihren Bonzen zusammengetan, Gilbert, und wir bekamen einen Anpfiff und die Order, Clairon zu erledigen, bevor er Aranda erledigt! Das nenne ich Logik, wie? Eine ganz große Gefahr – aber er muß um Himmels willen lebenbleiben!«

»Stardust, ich rufe Stardust, hier ist Noble George …« erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher des eingeschalteten Senders. Der Amerikaner glitt von seiner Kiste, ging mit dem Glas in der Hand zum Tisch und meldete sich.

»Ein weiterer Wagen mit Kriminalbeamten ist zum ›Ritz‹ gekommen, Stardust. Die Männer sind alle ins Hotel gegangen.«

»Wie viele Kriminalbeamte?«

»Drei.«

»Okay, fein. Bleibt auf Posten, Noble George. Ende.« Grant setzte sich auf den Tisch. »Da«, sagte er wütend. »Sie hören es! Alles läuft wie am Schnürchen. Genau wie gewünscht.«

»Genauso, wie wir es eingefädelt haben.«

»Ja, wir!« Grant stieß mit einem Zeigefinger nach dem Russen. »Wir zwei! Wir machen die Arbeit, nicht die Bonzen! War das vielleicht kein guter Plan? Die ganze Kripo ins Hotel. Alles fliegt auf. Und Clairon killt inzwischen Aranda. Hätten sie ihn bloß gelassen, die Scheißer! Dann nur noch eine kleine Vorsprache beim zuständigen hohen Herrn – von Ihrem und meinem Boß –, und die Österreicher hätten sich in die Hosen gemacht wie jedesmal, wenn unsere Bosse vorsprechen, und sie hätten das Zeug ausgeliefert oder vernichtet, und wir könnten den Fall abschließen. Aber nein, Gott verdamm’ mich, Manuel Aranda darf nichts zustoßen, um Himmels willen, der muß unbedingt beschützt werden!« Er ahmte eine Stimme nach. »Sie sind mir persönlich haftbar dafür, daß Clairon rechtzeitig beseitigt wird.« Er glitt vom Tisch und ging zum Schrank, wo er sein Glas neuerlich füllte. »Das ist ein Befehl!« äffte er die andere Stimme nach, zweifellos die eines Vorgesetzten, den er haßte. »Befehl, mein Arsch.«

»Wenn wir uns bei einem B-Fall einem Befehl direkt widersetzt hätten, wäre das unser Ende gewesen, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Gift ist gut!« Grant lachte böse. »Ist das ein Leben?« Er neigte zu Depressionen.

»Ein schönes nicht«, sagte Santarin, »aber ein ganz angenehmes. Wir kommen auch mit dem lebenden Aranda zurecht, Gilbert, Mut!« Er sah auf seine Schweizer Armbanduhr. »Noch Zeit. Aber bald werden wir zu mir in die Wollzeile fahren. Ich habe Nora Hill gebeten, hinzukommen. Wir müssen ihr genau erklären, was sie zu tun hat – jetzt, wo Aranda also weiterleben wird.«

»Nora Hill«, wiederholte Grant träumerisch. »Das ist eine Frau. Wenn wir die nicht hätten …«

»Wir haben sie aber, das Goldstück.« Santarin lächelte zufrieden.

14

Es hatte wieder zu schneien begonnen.

Das Licht verfiel.

In dem blauen Mercedes, der zwischen den Gruppen 73 und 74 parkte, saßen Irene Waldegg und Manuel Aranda. Der Motor lief, die Heizung war eingeschaltet, warme Luft rauschte. Knappe hundert Meter entfernt lag Clairons Leichnam. Schneeflocken sanken auf ihn, behutsam, stetig, schwerelos. Bald würden sie ihn zugedeckt haben, ihn und das viele Blut um seinen zerschmetterten Kopf.

In einem Hinterzimmer des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ versuchten mehrere Männer, nun schon sehr unruhig, Sprechkontakt mit Clairon aufzunehmen. Es kam zu keiner Verständigung.

»Etwas ist passiert«, sagte Jean Mercier, im Zustand mühsam unterdrückter Panik. »Clairon hätte sich längst melden müssen. Nummer Null auch! Längst, alle beide! Etwas ist passiert …«

Ein Mann beim Sender sagte: »Nummer Drei hat doch vorhin gemeldet, daß ein Wagen vor dem ›Ritz‹ gehalten hat und drei Männer in das Hotel gegangen sind, die Kriminalbeamte gewesen sein könnten.«

»Sein könnten! Sein könnten! Vielleicht waren die drei völlig harmlos? Nummer Drei hat auch schon die Nerven verloren! Wunder ist es keines! Kriminalbeamte – wieso denn? Die Sache war todsicher. Es konnte einfach nichts schiefgehen …« Mercier begann im Raum hin und her zu eilen. »Und es ist doch etwas schiefgegangen! Aber was? Aber wie? Diese Warterei macht mich verrückt!« Er sah einen Papiersack auf einem Tisch und blickte abwesend hinein. Ein niedlicher scharlachroter Spielzeug-Fuchs mit schwarz-weißer Schnauze lag darin …

Es hatte lange gedauert, bis Irene Waldegg ihre Fassung wiederfand. An Manuel geklammert, von ihm gestützt, hatte sie an Valerie Steinfelds Grab einen schweren Weinkrampf erlitten. Manuel ließ sie weinen, er wußte, er konnte nichts anderes tun. Er hielt sie fest in den Armen und strich über ihren Rücken, und sie schluchzte und bebte, und zweimal rief sie noch den Vornamen der Toten. Endlich ließ sie sich zu dem Mercedes zurückführen. In dem hohen Schnee wäre sie dabei fast gestürzt.

»Wo ist meine Brille?« fragte Irene nun, im Wagen.

»In meiner Tasche.«

»Bitte!«

Er reichte ihr die Brille, und sie setzte sie wieder auf.

»Ich kann so nicht herumlaufen. Meine Augen sind vollkommen verquollen. Sie haben es ja gesehen.«

»Ja«, sagte Manuel. Er berührte ihre Hand. Sie blickte ihn durch die dunklen Gläser an. »Wenn Sie wollen …«

»Wenn ich was will?«

»Wenn Sie wollen … ich meine, wenn es recht ist … das heißt …« Er kam ins Stottern. »Ich … ich habe Ihnen zuerst mißtraut … Ich … ich mißtraue allen Menschen hier, das ist doch nur natürlich, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Jetzt … jetzt mißtraue ich Ihnen nicht mehr. Ich bin sicher, Sie haben Ihre Tante so geliebt wie ich meinen Vater. Ich … ich glaube jetzt daran, daß sie beide gute Menschen waren … Ihre Tante und mein Vater. Um so größer ist das Geheimnis ihres Todes.«

Irene schwieg.

Ich muß mit dem Hofrat Groll reden, dachte Manuel. Ich will ihm alles erklären. Er wird es verstehen, da bin ich sicher. Auch wenn er sich mein Ehrenwort hat geben lassen, daß ich nicht sprechen werde darüber. Er wird mir erlauben, diese junge Frau einzuweihen. Bis dahin will ich schweigen, natürlich. Manuel sagte: »Wollen wir zusammen versuchen, die Wahrheit zu finden?«

»Ja«, sagte Irene leise.

Er strich über ihren Arm.

Sie zog ihre Hand zurück und sah in die beginnende Dämmerung hinein. Es folgte eine lange Stille. Auch Manuel blickte nach vorn. Dann, plötzlich, fühlte er zart wieder ihre Finger auf den seinen. Er wandte nicht den Kopf, und auch sie bewegte den ihren nicht.

15

Das schwarze Fell des Baribal-Bären war an vielen Stellen schon erbärmlich schütter, an anderen gänzlich kahl. In den Pfoten hielt das knapp zwei Meter hohe, aufrecht stehende Tier einen großen Korb, und in diesem lagen bunte, fröhlich aussehende Bücher. Manuel Aranda nahm das oberste heraus. Es hieß DER GLÜCKLICHE LÖWE und zeigte auf dem Umschlag einen solchen, in leuchtenden Farben gezeichnet.

Der Riesenbär brummte, tief, laut und lange. Manuel legte das Buch in den Korb. Wieder brummte der Baribal. Wenn es stimmt, was der Hofrat mir erzählt hat, dachte Manuel, dann ist dieser Bär über hundert Jahre alt und besitzt an seinem Rücken eine kleine Kurbel, mit der sich ein Brumm-Mechanismus im Innern des ausgestopften Tieres aufziehen läßt. Seit über hundert Jahren wird dieser Mechanismus an jedem Geschäftsmorgen aufgezogen. Wie viele Kinderherzen hat er schon entzückt, dachte Manuel.

Der Baribal-Bär stand gleich neben der Eingangstür, die eine große Glasscheibe und an dieser einen uralten grünen Samtvorhang besaß und oben ein Glockenspiel, das, wenn die Tür geöffnet oder geschlossen wurde, silberhell, wohltönend und feierlich die Melodie der ersten beiden Zeilen eines Liedes ertönen ließ: ›Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht …!‹

Dieses Glockenspiel erklang seit nunmehr 158 Jahren, denn es befand sich über dem Eingang zu einer der ältesten Buchhandlungen Wiens. Draußen auf der Straße, im Schneetreiben und im aufkommenden Sturm dieses Abends, hatte Manuel das breite Ladenschild mit den altmodischen Buchstaben gesehen:

BUCHHANDLUNG UND ANTIQUARIAT LANDAU, GEGRÜNDET 1811

Die Seilergasse war einmal, vor zehn Jahren noch, eine stille, verträumte Straße gewesen. Nun, da sie zur Gegen-Einbahn der parallel verlaufenden glitzernden, lichtersprühenden und eleganten Kärnterstraße gemacht worden war, brauste hier pausenlos der Verkehr, schoben sich Autos, Autobusse, Motorräder, Fahrräder, Lastwagen in einem nicht endenden Strom an dem alten Geschäft vorüber, ertönten Hupen und Klingeln, knatterten Motoren, erfüllten die Stimmen eiliger Menschen, die sich durch das Chaos der Wagen drängten, weil die bloß im Schritttempo vorankamen, und eine Kakophonie von Geräuschen die einstige Stille.

Neben der Buchhandlung befand sich auf der einen Seite eine Mode-Boutique, auf der anderen ein Teppichladen. Der gewaltige Lärm der Straße drang nur ganz gedämpft in den Verkaufsraum, der gewiß eine Länge von fünfzehn und eine Breite von zwölf Metern besaß und sehr hoch war. »Grüß Gott. Der Herr wünschen?«

Manuel fuhr aus seinen Gedanken auf. Ein junges Mädchen stand vor ihm, eine Verkäuferin. Es waren noch zwei weitere im Laden, sah er, dazu ein jüngerer und ein älterer Verkäufer, und mehrere Kunden. Das Mädchen lächelte freundlich.

»Ich möchte Herrn Landau sprechen«, sagte Manuel. Er nannte seinen Namen.

»Herr Landau telefoniert gerade. Ich werde ihm sagen, daß Sie da sind. Einen Moment, bitte.«

Das Mädchen eilte fort.

Vom Zentralfriedhof hatte Manuel Irene Waldegg durch das Schneetreiben und den schon einsetzenden frühen Abendverkehr in ihre Apotheke an der Lazarettgasse gebracht.

Manuel sah sich im Verkaufsraum um. Vom Fußboden bis zu der Decke verbargen schwere, dunkle Eichenholzregale die Wände. Auf ihnen standen Bücher – in zwei Fronten neue, in zwei anderen antiquarische. Es gab mehrere mit abgeschabtem rotem Samt überzogene Riesenleitern, die hoch oben am Plafond in Eisenstangen hingen, und sich hin und her schieben ließen. Es gab alte hohe Stehpulte, auf denen man Bücher – Riesenfolianten oder Duodezbändchen – in Ruhe betrachten konnte, und zwei ebenso altertümliche Schaukelstühle.

Der Fußboden war aus langen, dunklen Bohlen gefügt. Im Lauf der vielen Jahre hatten hunderttausend Schuhe diese Bohlen ab- und krummgetreten, an manchen Stellen waren sie bucklig geworden, als seien sie von Pestbeulen übersät. Auf einem Podest stand eine schwere, vernickelte Registrierkasse, ganz sicher auch schon ihre achtzig Jahre alt. Wie viele verschiedene Währungen waren in diesem Zeitraum von ihr gezählt worden …

»Martin Landau«, hatte der Hofrat berichtet, »hält es so, wie sein Vater und sein Großvater und sein Urgroßvater es gehalten haben: Er verändert nichts in seinem Geschäft, nur, wenn es unbedingt sein muß. Er liebt das Alte. Alles Neue, jede Veränderung beunruhigt ihn. Sie werden, wenn Sie die Buchhandlung besuchen, ein Stück längst versunkenes Wien entdecken, ein Museum der Vergangenheit. Natürlich macht die Art, in der Landau die Vergangenheit erhält, auch den Zauber seines Geschäftes aus – besonders für Ausländer. Ah, old Vienna!«

Ah, old Vienna!

Ja, dachte Manuel, es geht wirklich eine Verzauberung aus von dieser Buchhandlung, selbst von ihrer Beleuchtung! Große gelbliche Milchglaskugeln hingen an langen Bronzestäben und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht.

»Sie wollten mich sprechen, mein Herr?« sagte eine sanfte, leise Stimme. Manuel, dessen Blicke weiter durch die Buchhandlung gewandert waren, sah zur Seite. Hier stand ein Mann, der sich ängstlich verbeugte. »Ich bin Martin Landau«, sagte der Mann. Er war mittelgroß, hatte ein schmales, blasses Gelehrtengesicht, ergrautes Haar, langfingrige Hände und sehr kleine Füße.

Nach Angabe des Hofrats war Martin Landau sechsundsechzig Jahre alt. Er wirkte älter. Sehr schlank, mager beinahe, und tadellos, wenn auch seltsam altmodisch angezogen, hatte er sanfte, stets erschrocken aussehende graue Augen und machte einen übersensiblen Eindruck. Die linke Schulter hielt er ständig hochgezogen, den Kopf leicht nach links geneigt, und die blassen Lippen waren zu einem furchtsamen Lächeln verzogen. »Dieser Mann«, hatte Groll gesagt, »besteht aus Angst, Sie werden es sehen. Er fürchtet sich vor allen realen und irrealen Dingen, vor seiner Umgebung, vor der Gegenwart, vor der Zukunft, vor fast allen Menschen. Das mit der Schulter, dem schiefen Kopf und dem ewigen Lächeln sind Ticks von ihm. Er hat noch mehr. Zum Beispiel wäscht er sich, wie eine Verkäuferin uns erzählte, bis zu zwanzigmal am Tag die Hände.«

»Ist er verrückt?«

»Nicht mehr als wir alle. Vielleicht ein wenig wunderlich. Er mußte seine Aussage unterschreiben. Da ließ er die Feder ohne jeden Druck über das Papier gleiten. Seine Schrift ist winzig klein, fast unleserlich. Er schreibt immer so, ich habe Briefe gesehen. Wenn er spricht, kann man ihn schwer verstehen, derart leise redet er – und derart undeutlich. Das soll er auch stets getan haben. Jetzt werden seine Angewohnheiten immer stärker. Bei allen Menschen ist das so, daß sich ihre Grundanlage im Alter mehr und mehr ausprägt.«

Nun ja, da stand also einer, der mit den Jahren noch viel mehr das geworden war, was er immer dargestellt hatte. Er rieb die Hände ineinander, während er Manuel, ängstlich lächelnd, ansah. Herr Landau brauchte nicht einmal mehr Wasser und Seife für seinen Tick, dachte Aranda und sagte halblaut: »Sie können sich gewiß denken, warum ich zu Ihnen komme. Mein Vater …«

Sofort unterbrach ihn Landau, indem er erregt murmelte: »Bitte, nicht hier. Sie sehen doch, immerhin … alle diese Leute. Wenn Sie mir folgen wollen …« Er eilte schon voraus, dabei seinen Kunden zunickend, sich verneigend, Hände reibend.

Manuel folgte ihm durch den Laden zu einem Gang in einer seitlichen Bücherwand, der zu den Magazinen führte. An den Seiten gab es Regale voller Taschenbücher. Manuel schritt weiter und sah nun links einen sehr großen Raum mit mächtigen Tischen, auf denen sich Büchergebirge stapelten. Sie stapelten sich auch auf dem Boden, manchmal zwei Meter hoch. Alle Wände waren von Büchern verdeckt. Der Gang führte weiter. Manuel blickte in einen zweiten Magazinraum. Hinter diesem befand sich ein dritter. Die Magazine waren, wie das Haus, uralt, sie glichen Gewölben, mit kleinen Rundbögen als Durchlässen, und großen, weit geschwungenen, welche die Decke stützten. Rechts beim Ende des kurzen Ganges befand sich eine Maueröffnung ohne Tür. Die Mauer war einen halben Meter dick und schwarz vor Alter. Hinter der Öffnung erblickte Manuel ein kleines Zimmer, in das Martin Landau lautlos hineingeeilt war.

»Bitte, treten Sie näher, Herr Aranda«, murmelte er leise und lächelnd, die Schulter hochgezogen, den Kopf schief gelegt.

Manuel erstarrte einen Moment, als er dieses Hinterzimmer sah.

Das ›Teekammerl‹, dachte er.

In diesem Teekammerl war vor einer Woche sein Vater ermordet worden.

16

Teekammerl …

Ein Hinterzimmer wie dieses gab es in vielen Geschäften. Hier konnte man telefonieren, Freunde empfangen, Kaffee kochen, sich während der Mittagspause ausruhen, Zeitung lesen, schlafen.

Das Teekammerl war recht vollgeräumt. Es besaß keine Fenster. Auch hier waren alle Wände von Regalen verdeckt, und Bücherrücken leuchteten im Schein einer alten, grünbeschirmten Leselampe, die auf einem alten Schreibtisch stand. Rot und blau, golden und braun, grün, silbern und weiß leuchteten sie.

Neben dem Schreibtisch stand ein altes Ledersofa, abgewetzt, mit Mulden, ein paar Kissen und eine zusammengelegte Decke darauf. Manuel dachte an das Sofa in Grolls Büro. Am Kopfende des Diwans stand ein Tischchen, darauf ein großer alter Radioapparat. Tatsächlich schien der einzige moderne Gegenstand, den Manuel erblicken konnte, ein niedriges, schwarzes Telefon auf dem vollgeräumten Schreibtisch zu sein. Das war dem verängstigten Mann wohl aufgezwungen worden, die Post hatte wahrscheinlich den alten Apparat einfach abmontiert.

Einen abgetretenen Teppich gab es im Teekammerl. Auf ihm hat mein Vater gelegen, dachte Manuel. In Krämpfen. Schaum vor dem Mund. Um sein Leben kämpfend – vergebens. Das Gift war stärker gewesen. Da lag mein Vater, da stehe jetzt ich, dachte Manuel. Er mußte sich an einem Bücherbord festhalten, denn das Schwindelgefühl war nun sehr heftig. Vor dem Schreibtisch stand ein alter Lehnstuhl. In ihm hat Valerie Steinfeld gesessen, dachte Manuel, während der kleine Raum sich sanft um ihn drehte; da saß sie, die Mörderin meines Vaters, trank Cognac und telefonierte mit der Polizei. Und dann nahm sie Gift. Und dann lag auch sie auf dem Teppich, neben meinem Vater …

»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Landau. Manuel setzte sich auf einen wackeligen Schaukelstuhl mit beschädigtem Bastgeflecht. Landau glitt in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch. Dieser Mann verursachte kaum Geräusche. »Oh, wie taktlos von mir! Hätte ich gleich tun müssen! Ich möchte Ihnen zu Ihrem furchtbaren Verlust mein aufrichtiges Mitgefühl aussprechen«, sagte Landau leise und fast ohne die Lippen zu bewegen, mit dem schiefen Kopf, mit dem ewigen Lächeln. Es sah gespenstisch aus. Manuel nickte nur.

»Wir können es alle immer noch nicht fassen«, sagte Landau. Er sprach sehr leise und undeutlich: »Ich habe Frau Steinfeld seit 1921 gekannt. Achtundvierzig Jahre immerhin, stellen Sie sich das vor. Ich dachte, ich würde sie kennen wie sonst nur meine Schwester. Und nun … nun tut sie so etwas … so etwas Entsetzliches, Sinnloses …«

»Es kann nicht sinnlos gewesen sein«, sagte Manuel.

»Bitte?« Landau schrak zusammen.

»Frau Steinfeld war nicht verrückt. Also kann das, was sie tat, nicht sinnlos gewesen sein. Es muß einen Sinn gehabt haben. Aber welchen?«

»Das weiß ich nicht!« Martin Landau preßte plötzlich beide Ellbogen gegen die Platte des vollgeräumten Schreibtisches, der eine Rückwand mit zahlreichen Schubladen besaß. Auf dem Schreibtisch erblickte Manuel, während er wie gebannt die heftig zitternden schmalen Hände Landaus betrachtete, eine Unmenge von Dingen: Verlagskataloge, ein Telefonbuch, eine alte Schreibmaschine, Briefe und Rechnungen, aufgespießt auf einen antiken Dorn, einen Aschenbecher, Pfeifen, eine holländische Tabaksdose, geblich-weiß, mit verblichenen blauen Malereien, Bleistifte, Radiergummis, Federhalter, ein Tintenglas mit Klappdeckel, ein Hufeisen, ein zu einem winzig kleinen Reh geformtes Stückchen Blei, ein seltsam verkrümmtes Stück Treibholz, ausgewaschen und hell, irgendwann aus irgendeinem Meer gefischt, an irgendeinem Strand gefunden. Talismane müssen das sein, dachte Manuel. Es gab noch mehr: eine dunkle kleine Ikone, einen wasserklaren Bergkristall, ein Stück Bernstein, darin eingeschlossen ein Insekt sowie Blatt- und Blütenreste, einen kleinen schwarzen Spielzeug-Stier, ein – es ist nicht zu fassen, dachte Manuel – in völlig verblichenes Papier verpacktes Stück Seife, SUNLICHT stand darauf in grau-roter Schrift, ›1915‹ stand in graublauer Schrift an einer Ecke, ›15 Heller‹, an einer anderen; ›Gott mit Uns‹, stand am Rande. Eine Seife aus dem Jahre 1915. Eine vierundfünfzig Jahre alte Seife.

Manuel dachte verblüfft: Dieses Stück SUNLICHT ist achtundzwanzig Jahre älter als ich!

17

»Sie wissen nicht, welchen Sinn das hatte, was Frau Steinfeld tat. Aber Sie haben doch gewiß darüber nachgedacht?«

»Natürlich.« Landaus Hände zitterten noch immer. Warum? dachte Manuel. Worte des Hofrats kamen ihm in Erinnerung. »Dieser Landau weiß etwas. Sie wissen alle etwas. Aber sie sagen es nicht, sie sagen es nicht …« Verflucht, dachte Manuel, er wird es mir sagen, dieser Neurotiker, dieser alte Feigling. Und wenn ich ihm die Knochen brechen muß. Er wird reden.

»Natürlich, aha. Und?«

»Wir denken Tag und Nacht darüber nach, Herr Aranda. Immerhin … Wir …«

»Wer ist wir?«

»Meine Schwester und ich. Wir wohnen zusammen, draußen in Hietzing. Im Hause unserer Eltern. Nur wir beide … Und wir reden von nichts anderem und denken an nichts anderes mehr: Warum hat Valerie es wohl getan? Immerhin … Wir finden keine Erklärung! Nicht die Spur einer Erklärung, nicht den Schatten eines Verdachts …« Er blickte zu einem alten Gasrechaud, der in einer Ecke stand. Nebem dem Rechaud befand sich ein Spülbecken mit Schutzblech und einem Wasserhahn aus Messing. Blech und Becken waren einmal weiß emailliert gewesen. Was nun noch an Emaille vorhanden war, hatte alle Farben, nur nicht Weiß. Rost war da und ein bißchen Grünspan am Gewinde des Wasserhahns. Schmutziges Geschirr lag im Becken. Altes, angebrochenes Geschirr stand auf einem Wandbord. Ein zweites Bord hing über dem Hahn, ein halbblinder Spiegel.

»Herr Landau, Sie sagten, Sie hätten Frau Steinfeld seit 1921 gekannt. Seit 1938 hat sie hier gearbeitet – einunddreißig Jahre lang. Und da haben Sie bei allem Nachdenken keine Vorstellung, warum sie tat, was sie tat, nicht den Schatten eines Verdachtes haben Sie und Ihre Schwester?«

»Nein, ich sage Ihnen doch, nein!« Landau flüsterte die Worte. »Denken Sie, ich würde es Ihnen nicht sagen, wenn ich etwas wüßte?«

»Ja. Ich denke, Sie würden es mir nicht sagen. Ich denke, Sie wissen sehr viel und sagen nichts. Warum nicht, Herr Landau?«

»Hören Sie, immerhin …«

»Warum belügen Sie mich? Warum haben Sie die Polizei belogen? Was verbergen Sie, Herr Landau?«

»Leiser! So seien Sie doch leiser! Immerhin … Man hört Sie ja im Verkaufsraum!« flehte der Buchhändler. Immer noch hing dieses hilflose Lächeln um seine Lippen, er bekam es nicht weg, er hatte zu lange hilflos gelächelt in seinem Leben, nun mußte er weiterlächeln bis zum Tod. »Ich verstehe ja Ihre Erregung, aber ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung!«

»Wenn Sie schwören, daß Sie keine Ahnung haben …«

18 Uhr 12 Minuten und 31 Sekunden war es in diesem Moment genau.

18

Genau um 18 Uhr 12 Minuten und 31 Sekunden begann dieser nur für Sender und Empfänger verständliche Funk-Sprech-Verkehr: »Olymp, ich rufe Olymp, hier ist Nummer Acht. Bitte kommen.«

»Sprechen Sie, Nummer Acht. Wo befinden Sie sich?«

»Am Weichseltalweg, Chef. Neben der alten israelitischen Abteilung. Wir sind über ein paar Mauern wieder herausgeklettert. Genauso wie hinein.«

»Ihr habt Nummer Eins also nicht gefunden?«

»Nein, Chef. Wir haben gesucht, wo wir nur konnten. Mit Taschenlampen und Handscheinwerfern. Nichts. Dieser verfluchte Schnee! Hier schneit es wie irre. Keine Spur von Nummer Eins. Was sollen wir tun, Chef?«

»Suche abbrechen. Es gilt sofort Alarmstufe Rot – für alle. Etwas ist im ›Ritz‹ passiert. Wir wissen immer noch nicht, was. Nummer Null meldet sich nicht mehr.«

»Kann es ihn erwischt haben?«

»Ich weiß nicht, Herrgott, ich weiß nicht! Ihr müßt weg – augenblicklich. Viel zu gefährlich. Wenn Sie Nummer Eins entführt haben, werden wir das zu hören bekommen – hoffentlich. Wenn er liquidiert wurde, kann ihm keiner mehr helfen.«

»Und wenn er nur verwundet ist?«

»Dann hätte er gerufen, gestöhnt, was weiß ich. Liegt er tot da, ist er bis morgen früh tief eingeschneit. Es darf sich ab sofort niemand von uns mehr da draußen sehen lassen. Fahren Sie zurück in Richtung Zentrum. Bleiben Sie ständig auf Empfang. Alle Wagen sind im Einsatz. Rechnen Sie jeden Moment mit dem Schlimmsten.«

»Dem Schlimmsten?«

»Ja! Ja! Ja! Ich … ich tue es auch. Wir müssen jetzt die Nerven bewahren. Nerven bewahren … das müssen wir. Wir haben auch die Spur von Aranda verloren. Alle Wagen konzentrieren sich um das Gebiet des ›Ritz‹.«

»Verflucht, was für eine – verstanden, Olymp. Oh – wo ist der Wagen von Nummer Eins, Chef? Den haben wir auch nirgends finden können.«

»Nummer Drei hat ihn gefunden. Knapp vor siebzehn Uhr. Sie kamen eben noch mit beiden Autos aus dem Friedhof heraus, bevor er geschlossen wurde …«

19

18 Uhr 12 Minuten 32 Sekunden.

Manuel Aranda sprach seinen Satz weiter »… warum Valerie Steinfeld meinen Vater vergiftete, dann schwören Sie falsch!« Auf einmal packte ihn die wilde Wut über diesen Jämmerling. Er neigte sich vor. Landau wich in seinem Stuhl so weit zurück, wie er konnte. Manuel dachte: Ich muß weitermachen. Nicht lockerlassen jetzt. Er sprach Landau direkt ins Gesicht: »Sie wissen alles über Valerie Steinfeld.«

»Ich …«

»Sie kennen Ihr Leben! Sie wissen, was sie in ihrem Leben erfahren und getan hat. Oder wollen Sie das leugnen?«

»Nein! Das heißt ja! Ja, das will ich! Ich weiß es nicht! Valerie war meine Angestellte. Immerhin … ihr Privatleben ging mich nichts an.«

Manuel hetzte jetzt, schneller und schneller.

»Sie kannten sie doch schon, lange bevor sie Ihre Angestellte wurde. Siebzehn Jahre lang! Woher?«

»Sie … war eine unserer alten Stammkundinnen.«

»Kannten Sie auch ihren Mann?«

»Nein.«

»Siebzehn Jahre lang kam Frau Steinfeld als Kundin zu Ihnen – und niemals ihr Mann?«

»Doch, natürlich kam der auch manchmal … Aber … aber … das kann man doch nicht kennen nennen, immerhin!« Immerhin – das schien Landaus Lieblingswort zu sein.

»Sie lügen schon wieder! Sie waren miteinander befreundet!«

»Wer sagt das?«

»Ich!«

»Ach, Sie? Beweisen Sie mir das! Beweisen Sie es doch!« Landau verfärbte sich jetzt, sein Gesicht wurde gelblich, der Atem ging keuchend. Manuel gönnte ihm keine Ruhe.

»Warum hat Frau Steinfeld bei ihnen zu arbeiten begonnen?«

»Sie … sie … sie …«

»Na!«

»Sie wollte eben arbeiten!«

»War sie gelernte Buchhändlerin?«

»Nein …«

»Warum haben Sie sich die Mühe gemacht, ihr alles beizubringen? Warum haben Sie nicht eine Fachkraft engagiert?«

»Ich wollte ihr einen Gefallen tun!« Landau hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund.

»Sie bat Sie also darum?«

»Nein … sie wollte nur gerne …«

»Was? Was wollte sie gerne?«

»In einer Buchhandlung arbeiten.«

»Weshalb? War ihr Mann arbeitslos?«

»Nein …«

»Welchen Beruf hatte er?«

»Ich … ich weiß nicht …«

Manuel stand auf. Landau stieß einen leisen Schrei aus. Manuel neigte sich über ihn.

»Sie wissen nicht, welchen Beruf Herr Steinfeld hatte?«

»Ja, doch, ich weiß es … Er war Sprecher … bei Radio Wien.«

»Und seine Frau ließ er bei ihnen arbeiten?«

»Ja! Ja!« Landau rang nach Luft. Ich kriege ihn soweit, dachte Manuel, ich kriege ihn soweit. Jetzt versuche ich es.

»In welcher dieser Schreibtischladen lagen die Giftkapseln?«

Er hatte tatsächlich Erfolg.

Keuchend wandte Landau sich seitwärts und wies auf die unterste linke Schublade des Aufbaus.

»Das wußten Sie also!«

Kläglich rief Landau: »Ich habe sie hundertmal, tausendmal, gebeten, die Kapseln wegzuwerfen! Sie hat es nicht getan …«

»Warum haben Sie es nicht getan?« rief Manuel, mit einem wilden Gefühl des Triumphes. Noch eine Minute, dachte er, noch eine Minute, und er bricht zusammen. »Warum nicht? Antworten Sie!«

»Hören Sie, ich darf mich nicht aufregen. Wenn ich mich aufrege, bekomme ich einen Anfall. Ich verlange, daß Sie …«

»Warum haben Sie das Gift nicht weggeworfen?«

»Ich konnte doch nicht …«

»Warum nicht?«

»Das ist eine Lade mit einem komplizierten Schloß. Valerie nahm den Schlüssel und gab ihn nie mehr her … Immerhin …«

Manuel flüsterte, Landau an den Jackenaufschlägen packend: »Wie hieß die Frau, die Valerie Steinfeld das Gift gab?«

»Die Frau …«

»Ja! Ja, die Frau! Der Name! Los! Nennen Sie ihn, oder, bei Gott, ich schlage ihnen alle Zähne ein!«

»Nicht … Sie tun mir weh …«

»Ich werde ihnen noch mehr weh tun! Der Name!«

»Der … Name …« Landau wand sich auf seinem Stuhl. Manuel hielt ihn an den Jackenaufschlägen fest. Der alte Mann atmete ganz kurz, die Lippen verfärbten sich. »Ich kann nicht … ich darf nicht …«

»Sie dürfen den Namen nicht nennen?« flüsterte Manuel, halb von Sinnen vor Wut, tief über Landau geneigt. Im nächsten Moment fühlte er sich an der Schulter gepackt. Er taumelte gegen den Schaukelstuhl. Vor ihm stand eine Frau im Persianermantel. Sie war so groß wie Manuel und schien sehr kräftig zu sein. Auf ihrem grauen Haar saß eine Pelzkappe, Persianer mit Nerz verbrämt. Auch der Mantel hatte einen Nerzkragen. Das faltenlose Gesicht dieser älteren Frau war von Kälte gerötet. Manuel sah ausdrucksvolle Augen und einen schmallippigen Mund.

»Sie verschwinden hier auf der Stelle, oder ich rufe die Polizei«, sagte die Frau. Auf ihrer Kappe und den Schultern des Mantels lag Schnee, der schmolz. Sie trug schwarze Wildlederstiefel. Ihre Stimme klang entschlossen, befehlsgewohnt und selbstsicher.

»Guten Abend, Frau Landau«, sagte Manuel. Das muß sie sein, die Schwester, dachte er. Hergott, nun ist es doch mißglückt.

»Raus!« sagte Ottilie Landau.

Ihr Bruder, in seinem Lehnstuhl, stöhnte: »Das ist Herr Aranda, Tilly.«

»Ich weiß«, sagte sie grimmig. »Gretl draußen hat mir gesagt, wie er heißt. Ich komme gerade zurecht, scheint mir. Los, verschwinden Sie!«

»Frau Landau, hier geht es um Mord. Ich wäre an Ihrer Stelle vorsichtiger.«

»Kümmern Sie sich nicht darum, was Sie an meiner Stelle wären. Haben Sie schon einmal von Bedrohung und Hausfriedensbruch gehört?« Sie nahm die Pelzkappe ab, stieß Manuel beiseite und trat an den Schreibtisch, wo sie den Hörer des Telefons hob. »Mein Bruder ist herzkrank. Sehen Sie ihn an. Wenn ihm etwas zustößt, sind Sie daran schuld.« Ottilie Landau begann zu wählen.

Das ist sinnlos, dachte Manuel. Ich kann keinen Ärger mit der Polizei brauchen. Und ich bekomme Ärger. Diese Frau ruft die Polizei. Diese Frau wird alles tun, um ihren Bruder zu schützen, hat es wohl schon immer getan.

»Legen Sie den Hörer hin«, sagte Manuel. Er drehte sich um und verließ das Teekammerl. Durch den kurzen Gang ging er in den Verkaufsraum hinaus. Die Angestellten starrten ihn an. Es waren keine Kunden mehr im Laden. Manuel öffnete die Eingangstür – die sanfte Melodie erklang –, trat in das Schneetreiben hinaus und warf die Tür hinter sich zu. Wiederum ertönte das Glockenspiel. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch. Die Pelzkappe hatte er im Wagen liegenlassen. Mit unvermindertem Getöse rollte der Abendverkehr durch die Seilergasse. Manuel fluchte auf spanisch und ging los, die Schultern vorgeneigt. Er stemmte sich gegen die stoßweise einfallenden eiskalten Böen.

In dem kleinen Hinterzimmer saß Martin Landau bleich und zitternd in seinem Sessel. Tilly füllte ein Glas mit Wasser, entnahm einer Schachtel, die auf dem Schreibtisch lag, zwei kleine rote Pillen und hielt sie dem Bruder hin.

»Nimm das«, sagte sie, und jetzt klangen in ihrer Stimme Mitleid und Mütterlichkeit. »Trink einen Schluck.«

Er folgte, gehorsam wie ein kleines Kind. Etwas Wasser lief über sein Kinn. Tilly wischte es mit dem Taschentuch fort.

»Ich hatte solche Angst«, jammert er. »Ich dachte, jetzt und jetzt kriege ich meinen Anfall. Ich wußte nicht mehr richtig, was ich sagte. In meinem Schädel dröhnte es nur noch!«

»Du hast ihren Namen nicht verraten«, sagte sie und strich ihm über das schütter werdende Haar. »Er kann uns gar nichts anhaben. Gar nichts.«

»Du hast ihn nicht erlebt … Der gibt keine Ruhe …« Landaus Hände zitterten wieder. »Der nicht! Der bohrt und bohrt weiter. Oh, Tilly, warum habe ich damals nur nicht auf dich gehört? Du warst so dagegen …«

»Und wie!« meinte sie laut, voll Erbitterung.

»Aber dann hast du doch mitgemacht.«

»Es war unsere Pflicht. Wir mußten es tun, Martin. Doch ich sagte, erinnere dich selbst, es wird noch böse, böse Folgen haben.« Er nickte verzweifelt. Tilly sprach, während sie seinen Kopf wie den eines Sohnes gegen den Leib drückte: »Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können nichts rückgängig machen.« Sie streichelte ihn sanft, ihre Stimme wurde hart: »Laß doch den Lümmel bohren! Von uns erfährt er nicht, warum Valerie seinen Vater vergiftet hat. Das wissen wir nicht. Keinen Schimmer haben wir. Und wenn er noch hundertmal kommt! Und wenn sie alle noch hundertmal kommen! Nicht den allergeringsten Schimmer haben wir. Da können sie fragen, bis sie schwarz werden.«

»Ach, Tilly«, sagte der alte Mann weinerlich und legte einen Arm um ihre Hüfte. »Wenn ich dich nicht hätte, ich wäre verloren, vollkommen. Verloren? Tot wäre ich schon lange! Die hätten mich doch umgebracht, ganz bestimmt hätten die mich umgebracht, wenn du nicht gewesen wärst!«

20

»Herr Aranda, darf ich Sie bitten, mir zu folgen?«

Manuel hatte eben die strahlend erleuchtete Halle des ›Ritz‹ betreten, als auch schon ein Angestellter der Reception auf ihn zugeeilt war. In seinem Gesicht zuckte es. Er wirkte sehr bleich. Manuel, Schnee auf dem Mantel, Schnee im zerzausten Haar, noch voller Zorn auf die Geschwister Landau, musterte den Angestellten irritiert.

»Was ist jetzt wieder?«

»Nicht so laut, Herr Aranda. Ich bitte Sie, nicht so laut«, ächzte der Angestellte, während ein herbeigeeilter Page Manuel aus dem Mantel half und ihn zur Garderobe trug. Diesen Angestellten hatte Manuel schon ein paarmal gesehen, aber noch nie gesprochen. Ein zweiter Mann stand hinter der Theke. Er starrte Manuel an. Auch die Portiers starrten, alle drei. Ihre Gesichter waren sorgenvoll.

Die Eingangshalle lag fast leer da, die Halle dahinter war von Menschen erfüllt. Das kleine Orchester spielte gerade gefühlvoll und etwas zittrig ›Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami‹. Der Angestellte hatte Manuels Ellbogen ergriffen und schob mit sanfter Gewalt.

»Rühren Sie mich nicht an. Ich mag das nicht.«

»Herr Aranda, ich bitte herzlich! Der Herr Direktor erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer.«

Manuel zuckte die Schultern. Über die kostbaren Teppiche, mit denen die Halle ausgelegt war, an Marmorsäulen und wandfüllenden Gobelins vorbei, unter den Riesenlüstern, deren Gläser in allen Farben leuchteten, wanderte er neben dem Angestellten, einem jungen Mann mit Halbglatze, in den kurzen Gang hinter der Reception, welcher zum Zimmer des Direktors führte. Der Angestellte öffnete die äußere Hälfte einer Doppeltür und klopfte. Er öffnete die innere Hälfte und ließe Manuel in das Büro eintreten, das dieser schon kannte. Hinter dem antiken Schreibtisch erhob sich, weißhaarig und schlank, Graf Romath.

»Endlich!«

Der Angestellte verschwand, die Türen schlossen sich hinter ihm. »Seit dieses Haus steht, ist so etwas noch niemals vorgekommen, noch niemals! Wir sind in Ihrer Hand. Wenn Sie in begreiflicher Empörung nicht schweigen, ist unser Hotel erledigt!«

»Da haben Sie recht«, sagte der Hofrat Groll. Manuel drehte sich schnell um und fühlte neuerlich das widerwärtige Zerren des Schwindels. Der beleibte Kriminalist mit dem Silberhaar, der in einem brokatüberzogenen Sessel hinter der Tür gewartet hatte, stand nun auf. »Guten Abend, Herr Aranda. Ich habe mir schon die größten Sorgen um Sie gemacht. Wo waren Sie von heute vierzehn Uhr bis jetzt?«

»Ich verstehe nicht, was das …«

»Sagen Sie es!« Grolls Stimme hob sich.

Manuel zuckte die Achseln und sagte es.

Der Graf stöhnte. Groll meinte ausdruckslos: »Um ein Haar hätte es tadellos geklappt, und niemand wäre je in Verdacht geraten.«

Der Graf begann in seiner leicht trippelnden Art hin und her zu eilen – von den nun geschlossenen roten Damastvorhängen zu der Stehlampe mit dem Seidenschirm und wieder zurück. Er hustete. Er schien an einem Katarrh zu leiden.

»Herr Hofrat« sagte Manuel, »bitte, was ist geschehen?«

»Um das«, erklärte Groll, eine Virginier in Brand setzend und blaue Rauchwolken paffend, »zu beantworten, hm, muß ich, hm, selber eine Frage stellen, hm, hm.« Der Graf hustete verärgert und ostentativ. Groll sah ihn sanft an. Romath zuckte die Schultern und eilte weiter zwischen Fenster und Lampe hin und her. Groll betrachtete die Zigarre wohlgefällig. Er fuhr fort: »Als man Ihnen gestern in der Sensengasse alles aushändigte, was Ihr Vater am Leib trug, erhielten Sie da auch einen Schlüsselbund?«

»Nein. Oder ja, doch, natürlich! Er kam in den Karton, mit allen anderen Sachen.«

Der Graf hustete und stöhnte. Und eilte weiter hin und her.

»Wann bekamen Sie den Karton?«

»Heute früh um zehn. Zusammen mit dem Sarg.«

»Was machten Sie mit dem Karton?«

»Ich stellte ihn in den Kofferraum meines Wagens. Hören Sie, diese ganze …«

»Wie lange blieb der Karton im Kofferraum?« fragte Groll, ruhig und freundlich.

»Bis … bis ich von der Spedition zurück ins Hotel kam. Bis Mittag.«

»Und dann?«

»Dann bat ich einen Pagen, den Karton in mein Appartement zu bringen. Ich fuhr nur schnell hinauf, um mir vor dem Essen die Hände zu waschen.«

»Und während Sie das taten, brachte der Page den Karton?«

»Nein. Ich war schon wieder auf dem Gang und dem Weg zum Lift, da begegneten wir uns erst. Wollen Sie jetzt nicht endlich …«

»Sofort. Gingen Sie nach dem Essen, bevor Sie zum Zentralfriedhof fuhren, noch einmal in Ihr Appartement?«

»Nein. Nur in das Café nebenan. Mein Mantel hing in der Garderobe.«

»Demnach haben Sie den Karton mit den Sachen Ihres Vaters zuletzt kurz vor Mittag gesehen. Auf dem Flur oben.«

»Ja!«

»Das ist das Ende«, stöhnte der Graf Romath hustend. »Das absolute Ende …«

»Sehr geschickt gemacht«, meinte der Hofrat anerkennend, als hätte er den Direktor überhaupt nicht gehört.

»Was ist mit dem Karton? Wurde er gestohlen?« rief Manuel.

»Er steht in Ihrem Salon. Die Plomben, mit denen die Kupferdrähte gesichert waren, sind entfernt, die Drähte geöffnet worden. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, befänden sich längst wieder Plomben an den geschlossenen Drähten. Man hätte nie etwas gemerkt.«

»Was heißt: nie etwas gemerkt? Der Karton ist also geöffnet worden?«

»Ich glaube, das deutete ich gerade an«, sagte Groll. Er schien den Grafen reizen zu wollen, denn er blies ihm eine Tabakwolke direkt ins Gesicht. Der Hoteldirektor sah Groll bebend an, wandte sich ab und eilte zurück zu den Damastvorhängen bei den Fenstern. Er murmelte, von Husten unterbrochen: »Wenn ich einen Verdacht … Verdacht gehabt hätte, mein Gott, nur den … nur den kleinsten Verdacht …«

»Sie hatten aber keinen, wie?« Groll befeuchtete innig vertieft das Mundstück seiner Virginier.

Der Graf fuhr herum.

»Hören Sie, Herr Hofrat, falls Sie etwa sagen wollen, daß ich …«

»Ich will gar nichts sagen. Regen Sie sich jetzt nicht auf, Graf. Die Zeit, sich aufzuregen, wird noch kommen«, meinte Groll, weiter provozierend. Romath starrte den rundlichen Kriminalisten an. Dann murmelte er etwas Unverständliches und begann wieder hin und her zu eilen. Wie ein Tier im Zoo, hinter Gittern, dachte Groll. Typischer Streß. Sorge um das Hotel allein kann das nicht sein. Ich werde noch darauf kommen, was den Grafen so beunruhigt. Ich habe schon eine recht gute Vorstellung davon. Manuel sagte wütend und laut: »Warum hat man den Karton geöffnet? Herr Hofrat, bitte!«

»Man nahm etwas heraus, das benötigt wurde, lieber Herr Aranda.«

»Was?«

Groll griff in eine Jackentasche seines Flanellanzugs.

»Das da«, sagte er und legte einen Schlüsselbund auf den Schreibtisch des Direktors. Manuel blickte verständnislos von einem der Männer zum anderen. »Der Bund Ihres Vaters. Der, den Sie in der Sensengasse erhielten. Das ist er doch, wie?«

»Ja, das ist er. Ich erkenne ihn an dem lederüberzogenen Ring.«

»Es ist der Bund Ihres Vaters«, sagte Groll, »aber es gehören nicht alle Schlüssel zu ihm. Der da …«, er hielt einen bizarr gezackten kurzen Yale-Schlüssel in die Höhe, »… der da gehörte nicht zu ihm, Herr Aranda. Der gehört dem Hotel. Ich konnte eben noch verhindern, daß großes Unheil mit ihm angerichtet wurde.«

»Was heißt großes Unheil? Wieso sind Sie überhaupt hier? Wie kommen Sie hierher?«

»Ich«, sagte Groll, »erhielt den Anruf eines alten Bekannten …«

21

»Hier spricht Nora Hill.« Die Frauenstimme klang tief und fast heiser aus der Membran des Telefonhörers, den Groll an sein Ohr hielt.

»Küß die Hand, gnädige Frau. Das ist aber eine Freude! Endlich denken Sie wieder einmal an mich. Seit der Entführung dieses Jugoslawen im Oktober haben Sie nichts mehr von sich …«

»Hören Sie, Herr Hofrat, die Sache ist eilig. Sie kennen doch Manuel Aranda.«

»Ja. Und?« Groll sah auf seine Armbanduhr. Es war 13 Uhr 15.

»Aranda wird um zwei Uhr das ›Ritz‹ verlassen. Sehen Sie zu, daß Sie und ein paar Ihrer Beamten um diese Zeit in der Hotelhalle sind, und achten Sie auf das, was der stellvertretende Receptionschef dann tut.«

»Der stellvertretende …«

»Ja. Der Chef hat Urlaub. Sein Vertreter ist fünfundvierzig Jahre alt, schlank, groß und hat graumeliertes Haar. Ein Franzose. Pierre Lavoisier heißt er. Auffallend helle Augen. Wenn er in den Tresorraum geht, folgen Sie ihm unter allen Umständen!«

»Warum?«

»Das werden Sie schon sehen. Es hängt mit dem Fall Aranda zusammen. Auf das Innigste. Für heute nachmittag ist da der große Coup geplant.« Die Stimme der Frau, die Nora Hill hieß, klang sehr überlegen. »Wenn Sie – und vor allem die Staatspolizei – in dieser Sache weiterkommen wollen, tun Sie, was ich sage.«

»Gnädige Frau, Männer der Staatspolizei haben in letzter Zeit sehr häufig die Herren Gilbert Grant und Fedor Santarin bei Ihnen draußen vorfahren gesehen. Darf ich annehmen, daß Sie im Auftrag dieser beiden Herren sprechen?«

»Sie dürfen annehmen, was Sie wollen, Herr Hofrat. Haben wir in der Vergangenheit nicht immer ausgezeichnet zusammengearbeitet?«

»Ausgezeichnet«, bestätigte Groll.

»Haben Sie nicht immer die besten Informationen von mir bekommen?«

»Gewiß doch.« Groll räusperte sich. »Amerikaner und Russen arbeiten also auch wieder einmal zusammen. Muß eine wichtige Sache sein.«

»Eine außerordentlich wichtige.«

»Und der gemeinsame Gegner ist Frankreich?«

»Tun Sie nicht so unschuldig. Sie haben doch längst Ihre eigenen Vermutungen.«

»Vermutungen natürlich, gnädige Frau. Aber ich wollte gerne Gewißheit. Worum es geht, das ahnen Sie natürlich nicht.«

»Nein. Ehrlich! Alles erfahre ich auch nicht. Das ist Ihnen doch bekannt.«

»Das ist mir bekannt. Ich danke Ihnen sehr, gnädige Frau. Und falls ich wieder einmal etwas tun kann, Sie wissen ja – ich bin immer für Sie da.«

»Es gibt ein Mädchen, das ist in gewissen Schwierigkeiten.«

»Wieder Rauschgift?«

»Ja, leider.«

»Können die jungen Damen nicht ein wenig vorsichtiger sein?«

»In diesem Beruf? Ich will Sie jetzt nicht aufhalten, Herr Hofrat. Wenn ich Sie vielleicht morgen um diese Zeit anrufen dürfte …«

»Selbstverständlich, gnädige Frau. Und ich werde sehen, was sich machen läßt – wie immer. Küß die Hand.«

»Leben Sie wohl«, sagte Nora Hill.

Der Hofrat drückte die Gabel seines Telefons nieder, dann ließ er sie los und rief seinen Freund Hanseder bei der Staatspolizei an. Er berichtete von Nora Hills Hinweis. Es fiel ihm nicht gleich auf, daß der Ministerialrat Hanseder recht wortkarg blieb.

»… und das Hotel wird doch beschattet, hast du gesagt, seit Tagen …«

»Ja. Da parken immer Funkwagen«, antwortete Hanseder.

»Also müssen wir zu Fuß kommen! Durch die Lieferanteneingänge. Ich regle das noch mit dem Hoteldirektor. Eure Autos laßt ihr beim Künstlerhaus-Kino stehen. Was ist los mit dir, Franz? Sprache verloren?«

Der Mann von der Staatspolizei, der in einem großen Büro am Parkring saß, sagte langsam: »Tu mir einen Gefallen, Wolfgang, und mach das zunächst allein mit deinen Leuten. Du hast ja schließlich den Hinweis gekriegt. Könnte also durchaus in dein Ressort fallen.«

Groll grinste traurig.

»O du mein Österreich. Was für ein Zustand! Wir sollen immer mindestens so viel Angst wie Vaterlandsliebe haben. Schön, Franz, ich mache es allein. Aber später müßt ihr ’ran, da hilft euch nichts! Das ist euer Fall, nicht unser.«

»Du hast diesen Aranda doch so gern …«

»Fang nicht auch noch damit an! Ich sage ja, ich nehme dir die Drecksarbeit ab.«

»Alles Gute, Wolfgang.«

Groll knurrte nur, lachte dann unfroh und führte ein drittes Gespräch mit dem Grafen Romath, dem er sein Kommen annoncierte. Er bat um Hilfe und strikte Diskretion. Der Hoteldirektor war sehr erregt: »Sie werden doch unauffällig vorgehen, nicht wahr? Meine Gäste … der Ruf unseres Hauses … Ich kann mir nicht vorstellen, was hier geschehen soll! Aber natürlich helfe ich der Polizei … Das ist meine Pflicht …«

Sieben Minuten vor vierzehn Uhr saß Groll beim Eingang der großen Halle des ›Ritz‹ und las scheinbar die Zeitung. Vier unauffällige Männer, die vor ihm eingetroffen waren, saßen gleichfalls in tiefen Fauteuils, rauchten, betrachteten Magazine beim Zeitungsstand oder kauften Zigaretten.

Knapp vor zwei Uhr sah Groll dann Manuel Aranda vom Café her in die Halle kommen und seinen Schlüssel abgeben. Dieser verließ das Haus im Mantel und stieg in den blauen Mercedes, den ein Mechaniker vor den Hoteleingang gefahren hatte.

Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Lavoisier, den Groll nach Nora Hills Beschreibung sofort erkannt hatte, arbeitete hinter seiner Theke, zusammen mit zwei anderen Männern. Drei neue Gäste trafen ein. Lavoisier redete mit ihnen allen. Er machte einen völlig gleichmütigen Eindruck. Um 14 Uhr 26 sah der Hofrat einen gutaussehenden, großen Pagen, der ihm schon zuvor aufgefallen war, nach vorne schlendern und sich neben das offene Thekenende der Reception stellen. Etwas fiel ihm aus der Hand. Gleichzeitig bückten er und Lavoisier sich danach. Gleichzeitig erhoben sie sich wieder. Etwa zwei Minuten später ging Lavoisier in das große, offene Büro hinter der Reception und öffnete dort einen kleinen Wandschrank. Seine beiden Kollegen beachteten ihn nicht. Groll und seine vier Männer beobachteten ihn genau. Der Hofrat sah, daß in dem Schränkchen zahlreiche kleinere Yale-Schlüssel und ein einzelner, größerer mit einem langen Hals hingen. Diesen Steckschlüssel nahm Pierre Lavoisier voll Seelenruhe heraus und kam wieder nach vorn. Er sagte etwas Unhörbares zu seinen Kollegen, welche nickten, und ging dann auf einen Gang zu, welcher parallel zu jenem lief, an dem Romaths Büro lag.

Groll erhob sich langsam und wanderte gemächlich durch die Halle nach vorn. Er sah, daß Lavoisier in dem Gang gerade eine Reihe von Stufen hinunterstieg. Eine Tür wurde geöffnet, elektrisches Licht flammte in der Tiefe auf. Die Tür blieb angelehnt.

Danach ging alles sehr schnell. Zwei Männer, die sich in der großen Halle aufgehalten hatten, folgten Groll. Zwei andere Männer, beim Zeitungsstand, eilten plötzlich auf den grau uniformierten hübschen Pagen zu, der ihnen den Rücken wandte. Er fuhr herum, als sie seine Arme packten. Sein Gesicht hatte jetzt die Farbe der Uniform. Ohne ein Wort ließ er sich zu den Lifts hin abführen. Es waren nur wenige Gäste in der Halle, und diese bemerkten nichts.

Unterdessen hatte Groll die Tür am Fuße der kurzen Treppe erreicht und lautlos geöffnet. Er erblickte den Tresorraum des Hotels, in dessen Wände größere und kleinere Safes eingelassen waren. Hier brannte elektrisches Licht. Gebeugt stand Lavoisier vor einem großen Safe. Er hatte ihn mit dem Hauptschlüssel und einem Yale-Schlüssel, der an einem lederüberzogenen Bund hing, geöffnet und war eben im Begriff, einen flachen schwarzen Lederkoffer aus dem Stahlfach zu nehmen. Gute alte Nora Hill, dachte der Hofrat, während er laut sagte: »Oh, pardon!«

Der Franzose fuhr herum.

Den Koffer hielt er in der Linken. In der Rechten hielt er plötzlich eine Pistole, die er auf Groll richtete.

»Pfoten hoch!« sagte er flüsternd. »An die Wand … da hinüber …« Groll hob die Hände und machte ein paar langsame Schritte. »Schneller! Wird’s bald? Oder willst du ein Loch in den Bauch?« Lavoisiers Atem kam keuchend. Der Hofrat trat schnell an die Rückwand des Raums, den Kopf gesenkt, die Augen niedergeschlagen, in sich zusammensinkend.

Die Waffe auf Groll gerichtet, bewegte Lavoisier sich, rückwärts gehend, zu der Tür. »Keine Bewegung, oder du bist ein toter Mann …«

Groll stand erstarrt.

Lavoisier griff mit der Hand, die das Köfferchen hielt, hinter sich nach der Türklinke, hörte ein Geräusch und wirbelte herum. Einer von Grolls Männern, die bei der Tür gewartet hatten, sprang vor und schlug Lavoisier wuchtig die Handkante gegen den Hals, dorthin, wo sich die Hauptschlagader befindet. Lavoisier krachte auf den Steinboden. Der Koffer fiel ihm aus der Hand, desgleichen die Pistole. Grolls Männer stürzten sich über ihn, hoben ihn halb hoch, und noch ehe Lavoisier wieder ganz bei Bewußtsein war, hatten sie seine Hände auf dem Rücken in eine Stahlfessel geschlossen. Sie rissen ihn empor. Einer zog seinen Mantel aus und hängte ihn dem arg Benommenen um die Schulter.

»Danke sehr«, sagte Groll. Er hob das schwarze Aktenköfferchen auf. »Bringt ihn zu den Lifts und fahrt in die Tiefgarage. Von da führt ihn hinauf in den Hof. Wir haben ein Lieferauto reingeschleust. Von einer Sektfirma. Der Page wird schon drinsitzen. Die beiden dürfen nicht miteinander in Kontakt treten. Nehmt einen zwischen euch nach vorn, sperrt den andern im Laderaum ein. Es sind noch Männer beim Wagen.«

»Ich verlange, daß augenblicklich meine Botschaft verständigt wird! Ich bin Franzose! Ich verlange einen Anwalt und einen Vertreter meiner Botschaft.«

Groll sah ihn nicht einmal an.

»Setzt ihn fest. Diebstahl und bewaffneter Widerstand gegen die Staatsgewalt. Den Pagen stecken wir wegen Beihilfe in Untersuchungshaft.« Lavoisier fuhr auf.

»Das können Sie nicht! Sie haben keinen Haftbefehl!«

»Kriegen wir im Gefängnis. Sie sind beide auf frischer Tat ertappt worden. Und vergessen Sie Ihre Botschaft. Es ist ein rein kriminelles Vergehen, weshalb wir Sie festnehmen, kein politisches. Darum kommen Sie auch in das Polizeigefängnis in der Rossauer Kaserne.« Hoffentlich wird Hanseder beruhigt sein, dachte Groll. Weiter herunterspielen kann ich das nicht. Seine Leute müssen eben zur Rossauer Kaserne fahren und den Kerl da verhören. Sagen wird der nichts, ich kenne den Typ. Der Page schon eher. Der ist jung und hat Angst. Tat es nur für Geld, sicherlich. Dieser Lavoisier sieht mir aus wie einer von den verfluchten Überzeugungstätern. Leider weiß er natürlich mehr als der Page. »Schickt mir Horn und Gellert her«, sagte Groll. »Sie haben den Jungen in den Hof gebracht. Ihr beide fahrt mit ins Gefängnis. Wir sehen uns hier noch ein wenig um. Auf den Koffer werde jetzt ich achtgeben …«

22

»… bis Herr Aranda zurückkommt. Niemand, nur er darf ihn öffnen, sagte ich«, berichtete der dicke Hofrat, an seiner Virginier ziehend. »Na, ich blieb hier. Lange genug haben Sie mich warten lassen.«

Manuel fragte aufgeregt: »Wo ist dieser Koffer?«

Mit einer für seine Leibesfülle erstaunlichen Schnelligkeit und Grazie bückte sich der Hofrat und hob hinter dem Schreibtisch einen flachen, kleinen Krokodillederkoffer hervor.

»Hier. Ich habe ihn nicht aus den Augen gelassen.«

Manuel sprang auf.

»Was ist darin?«

»Das werden wir bald feststellen.«

»Was heißt bald? Warum nicht sofort?«

»Lassen Sie mich zu Ende erzählen und … und noch etwas kontrollieren, Herr Aranda. Tun Sie, worum ich Sie bitte. Ich habe Gründe. Ja?«

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