»Nein, das stimmt … Da war ich aber auch viel jünger …«

»Und später! In Los Angeles! Als Sie bei dieser Bande der große Planer waren! Als Sie bei jenem Bankeinbruch den Nachtwächter erschossen …«

»Es ist ein Unglücksfall gewesen, Fedor. Ich wollte den Mann nicht erschießen. Nur in die Knie treffen, damit er nicht zur Alarmanlage rennen konnte. Ich …«

»Ja, ja, ja, das kenne ich alles auswendig. Er starb aber an dem Magenschuß. Er hatte Frau und Kinder. Und hat er Ihnen leid getan? Einen Dreck hat er Ihnen leid getan! Es sind Ihnen nie die geringsten Schuldgefühle gekommen, ich habe Sie oft genug gefragt! Als die Kerle dann an Sie herantraten und Ihnen den kleinen Vorschlag machten, nahmen Sie da nicht sofort an – mit Freuden, um Ihre Haut zu retten? Antworten Sie!«

»Doch, ja …« stöhnte Grant.

»Und wurden Sie nicht plötzlich Hauptzeuge der Anklage und kamen frei? Na ja. Und dann … Haben Sie seither nicht dreiundzwanzig Jahre lang prima für die Kerle gearbeitet? Haben Ihnen dreiundzwanzig Jahre lang die Menschen leid getan, die durch Ihre Schuld draufgingen?«

»Ja, sie haben mir leid getan. Zuerst nicht. Überhaupt nicht. Aber dann, so vor sechs, sieben Jahren, da fing es an. Da fing ich auch an zu saufen. Und es wurde immer schlimmer, immer schlimmer! Jetzt ist es ganz schlimm geworden! Clairon. Romath. Aranda. Nicht nur die tun mir leid, Fedor, nicht nur die! Alle Menschen! Denn wir arbeiten doch gegen die Menschen, nicht wahr? Gegen alle! Nicht für einen einzigen. Und das bringt mich um, wenn ich nüchtern daran denke.«

»Großer Gott«, sagte Santarin, ehrlich erschüttert. »Das ist allerdings böse.«

»Hier, bei diesem Fall, ist es am schlimmsten«, flüsterte Grant. Er warf mit einer jähen Bewegung sein Glas an eine Wand, wo es klirrend zerbrach und der Whisky über die Tapete lief, und schrie: »AP Sieben! Das haben wir auf dem Gewissen! Das haben wir geschafft! Wir, wir – und keine Ausrede auf Befehle oder Vorgesetzte! –, wir haben den Militärs den Tod für alle Menschen auf der Welt in die Hände gegeben!«

»Sie wären ja ein Sicherheitsrisiko, Gilbert, wenn es Sie wirklich so erwischt hat!«

»Und Sie haben sich überlegt, daß Sie das sofort meinen Leuten melden müssen.«

»Ja.«

»Und werden Sie es tun?«

»Nein.«

»Warum nicht? Deshalb habe ich es Ihnen doch gesagt! Damit das aufhört, damit das endlich einmal aufhört!«

»Es soll aber nicht aufhören. Ich will keinen neuen Mitarbeiter. Ich habe Sie gern, Gilbert. Wir verstehen uns. Und einen solchen Freund, einen solchen Kollegen soll ich als untragbar melden? Nein!«

»Dann werde ich es selber tun!«

»Nie werden Sie das tun. Nie im Leben. Sie wissen, was mit Ihnen passiert, wenn Sie auch nur einmal absichtlich schlecht arbeiten und einen Fall versauen, geschweige denn, wenn Sie sich selber anzeigen. Um das auf sich zu nehmen, sind Sie doch viel zu feig.«

Grant starrte den Russen an.

»Bei Gott«, sagte er, »Sie haben recht.«

Zu dieser Zeit erreichte der Graf Romath sein Haus in der Defreggergasse, die in einem Villenviertel südlich des Fasangartens und der Maria-Theresien-Kaserne lag. Er bewohnte den Bungalow, den er erst vor fünf Jahren bezogen hatte, allein. Eine Frau, die morgens kam und nachmittags heimging, versorgte ihn. An den Bungalow angebaut war eine Garage. Es schneite heftig, als Romath den Wagen hineinsteuerte.

Er fühlte schon eine deutliche Wirkung.

Nachdem er aus der Villenstraße, in der Grant wohnte, auf die Lainzer Straße herausgefahren war, hatte er bereits angehalten, aus dem Handschuhfach des Autos einen Kunststoffbecher genommen, den halben Inhalt des Röhrchens in diesen geschüttet und den Becher danach mit Whisky vollgegossen. Er hatte gesehen, wie die silbrigen Kügelchen sich tatsächlich sofort lösten, und den Becherinhalt dann hinuntergestürzt, wonach er das Röhrchen in ein Kanalgitter warf und wieder trank, aus der Flasche. Er war weitergefahren und hatte immer weitergetrunken – in der Fasangartengasse, in der Wattmanngasse, in der Feldkellergasse. Hier hatte er Flasche und Becher weit fort in den tiefen Schnee eines unbebauten Grundstücks geschleudert. Es mußte wie ein Unfall aussehen, das war das Wichtigste.

Nun löschte er das elektrische Licht in der Garage. Die Scheinwerfer seines Wagens brannten, der Motor pochte leise. Romath ging zu dem Metalltor, das hochgeklappt war, und zog es herunter. Es schnappte ein. Braves Tor, dachte er. Liebes Tor, dachte er. Schließt gut. Es wird bestimmt genügen. Er fühlte, wie der viele ungewohnte Whisky, den er hinuntergestürzt hatte, und das Schlafmittel stärker und stärker wirkten. Er setzte sich hinter das Steuerrad, kurbelte das Fenster an seiner Seite herab und sah zum Rückspiegel auf. In der Garage waren die emporsteigenden weißen Auspuffgase deutlich zu erkennen. Der Graf Romath löschte die Scheinwerfer und lauschte dem Pochen des Motors. Er saß nun völlig im Dunkeln. Und er wurde rapide schläfriger und willenloser. Kohlenmonoxid kann das noch nicht sein, dachte er. Es ist dieses Schlafmittel. Wirklich ein starkes.

Wie klug von mir, daß ich den Sender hinter dem ›Maskensouper‹ in meinem Büro aus der Nische genommen habe, bevor ich das Hotel verließ. Das Mikrophon über der oberen Leiste der Tür zum Salon in Arandas Appartement holte ich auch noch, nachdem der und diese junge Frau fortgefahren waren. Und schließlich habe ich den Lautsprecher mitgenommen, den kleinen, den man an mein Telefon anschließen konnte. Alles habe ich mitgenommen, als ich losfuhr. Bei der Brücke über den Wien-Fluß vor dem Schloß Schönbrunn war das Wasser nicht zugefroren und tief. Wenn die Sachen überhaupt gefunden werden, dann erst im Frühjahr oder im Sommer, falls der Fluß austrocknet. Manchmal trocknet er aus. Aber bis dahin ist noch lange Zeit. Kein Mensch wird mit dem verrosteten Zeug mehr etwas anzufangen wissen. Vielleicht wird es auch mitgeschwemmt und bleibt an einer Stelle liegen, wo der Wien-Fluß unterirdisch fließt. Das war ich dem Hotel schuldig! Das Wiener ›Ritz‹ ist ein internationaler Begriff. Er darf nicht unter einem Skandal leiden.

Der Graf hob einen Arm und stützte ihn auf das Lenkrad. Dabei fühlte er, daß der Arm bereits schwer war wie Blei. Der Graf Romath lächelte ein wenig.

Es geht großartig, dachte er. So einfach. In einer Stunde ist alles vorbei. Welch ein Glück, daß Santarin mir das Schlafmittel gab und Grant den Whisky. Mehr Glück kann man unter den Umständen wirklich nicht verlangen.

63

»Ja, das war eine schwere Zeit damals bei den Nazis, aber gut ist zum Schluß doch noch alles gegangen, nichts ist geschehen! Verloren haben wir den Krieg, wie noch kein anderes Volk auf der Welt einen Krieg verloren hat, der Hitler war weg, und der gnä’ Herr hat zurückkommen können aus London! Waren wir da alle glücklich! Und jetzt leben der gnä’ Herr und die gnä’ Frau wieder zusammen, beide arbeiten, die gnä’ Frau in ihrer Buchhandlung, der gnä’ Herr im Radio, und was haben wir alle für eine Freude mit dem Heinzi! Was ist das für ein berühmter Mann geworden! Professor an der Universität und hält Vorträge in der ganzen Welt, und alle verehren ihn und reißen sich darum, daß sie seine Schüler sein können!«

Die Agnes Peintinger hatte sehr schnell gesprochen, mit einem Gesicht, das von kindlicher Freude erfüllt war – das runzelige, lederne Gesicht einer alten Frau. Jetzt klatschte sie in die großen, knochigen Hände und lachte Manuel Aranda an. Sie war noch kleiner, als er sie sich vorgestellt hatte, und sie sah in der Tat aus wie das, was sie wieder geworden war: ein Kind.

»Das ist nett, Agnes, daß Sie Herrn Aranda alles so schön erzählen«, sagte Irene Waldegg. »Er interessiert sich sehr dafür, was damals passiert ist. Können Sie nachdenken und ihm noch ein bißchen mehr erzählen – über den Prozeß, zum Beispiel?«

Die Agnes lachte.

»Der Prozeß, ja, du lieber Herrgott! Hereingelegt haben wir die Lackeln, aber wie! An etwas Genaues erinnere ich mich nicht nach der langen Zeit, obwohl ich mich sonst sehr gut erinnern kann! Sie haben es gedreht und gewendet, aber zum Schluß haben sie sagen müssen, ja, der Heinzi ist ein reiner Arier … 1950 war das … nein, 1951, jetzt weiß ich es wieder genau, im Sommer.«

Es war 9 Uhr 30 am Dienstag, dem 21. Januar.

Um 6 Uhr 45 früh hatte Manuel – es schneite noch immer – Irene in der Gentzgasse abgeholt und war mit ihr vorsichtig durch freigeräumte glatte Straßen und von Schnee verwehte Seitengassen zum Ostbahnhof gefahren, um den ihnen unbekannten Jakob Roszek abzuholen, der, wie Paul Steinfelds Bruder Daniel geschrieben hatte, an diesem Tag mit dem ›Chopin-Expreß‹ in Wien eintreffen und eine wichtige Nachricht überbringen würde. Es war eisig kalt auf den Bahnsteigen gewesen, Wind hatte in die mächtige Halle gepfiffen, und auf einer großen Tafel waren die durch die katastrophalen Schneefälle bedingten Zugverspätungen angegeben gewesen.

Der ›Chopin-Expreß‹ hatte eine voraussichtliche Ankunftszeit um 13 Uhr 45 – also in sechs Stunden.

»Wir können hier nicht so lange warten«, hatte Irene gesagt. »Dienstags besuchten Valerie oder ich immer die Agnes im Altersheim. Wollen wir zu ihr?«

Sie waren hingefahren.

Das Heim lag in einer stillen Seitengasse der Josefstädter Straße. Unterwegs hatte Manuel auf Irenes Bitte noch vor einem Spielwarengeschäft gehalten.

»Agnes liebt Stofftiere. Sie hat schon eine ganze Sammlung. Wir wollen ihr ein neues Tier mitbringen.«

Sie hatten ein kleines Zebra gekauft.

Die Agnes hielt es nun mit beiden Händen fest und sah es entzückt an. Sie hatte schon wieder völlig vergessen, wovon gerade gesprochen worden war.

»Ein Zebra!« Die Agnes hob es hoch, drückte das weiche Fell an die Wange. Sie eilte vom Rand des Bettes zu einer Persilschachtel neben einem Schrank. Sie kauerte sich nieder und begann, ungestüm wie ein Kind, Stofftiere über die Schulter zu werfen – einen Elefanten, ein Krokodil, ein Schaf, Enten, Raben, Affen, Hasen und Giraffen, größere und kleinere Tiere. Der Boden bedeckte sich. Die Agnes jubelte mit hoher, dünner Stimme: »Ist das nicht schön? Gefällt es Ihnen, Herr?«

»Sehr schön«, sagte Manuel. Er sah hilflos von Irene, welche die Schultern zuckte, zu dem kleinen, stämmigen Mann, der neben der Agnes stand. Hochwürden Ignaz Pankrater war sechsundsiebzig Jahre alt, aber er sah nicht älter als sechsundsechzig aus – wie ein zäher Bauer, ein Mann mit grauem Haar, das er kurz geschnitten in einer Igelfrisur trug, blitzenden kleinen Äuglein, dem gleichen breiten Gesicht wie die Agnes, der gleichen breiten Nase, dem großen Mund, den schweren Händen. Man hatte Hochwürden Ignaz Pankrater eine Wohnung im Gemeindehaus neben der schönen Barockkirche Maria Treu in der Piaristengasse zugewiesen, und weil die Piaristengasse ganz nahe bei dem Altersheim lag, besuchte der kleine Pfarrer die Agnes ein paarmal in der Woche – so auch heute. Irene und Manuel hatten ihn in dem mit alten Möbeln vollgeräumten, überheizten Zimmer angetroffen, wo es nach Äpfeln roch. (Sie lagen auf dem Schrank der Agnes.) Irene hatte dem Pfarrer, den sie gut kannte, erklärt, wer Aranda war. Pankrater hatte sein Beileid geäußert – in der rauhen, kehligen Sprechweise seiner Heimat – und dann dem Bericht der Agnes schweigend gelauscht.

»Die gnä’ Frau ist mit dem gnä’ Herrn auf Besuch in Amerika«, erklärte die alte Köchin nun, auf den Knien, die vielen Tiere hin und her schiebend, an Aranda gewandt.

»In Amerika?«

»Ja. In Kanada. Sie machen da Besuche.«

»Woher wissen Sie denn das, Agnes?« fragte Irene.

»Na, das letzte Mal, wie die gnä’ Frau mich besucht hat, da hat sie sich doch verabschiedet und gesagt hat sie, Agnes, jetzt komm ich ein paar Wochen lang nicht, vielleicht auch noch länger, denn ich fahr’ mit meinem Mann nach Australien.«

»Ach so«, sagte Irene. »Ja, natürlich.«

»Deshalb kommen doch jetzt Sie, Fräulein Irene! So lieb ist das, daß ihr euch immer weiter um mich kümmert’s! Ich möcht ja auch gern einmal in die Gentzgasse kommen, aber ich trau mich einfach nicht mehr auf die Gasse. Die Autos und die Straßenbahnen und die vielen Menschen, wissen Sie?« Die Agnes blickte Manuel an, der nickte. »Die Frau Schwester Oberin sagt immer, ich soll auch nicht in die Stadt, wenn ich so eine Heidenangst hab. Hier geht es mir doch gut, das Fräulein Irene ist da, die gnä’ Frau kommt, Hochwürden kommt.« Die Agnes gluckste vor Vergnügen über einen plötzlichen Einfall. »Soll ich, Fräulein Irene? Damit Ihr Herr Bekannter sieht, was für wunderschöne Tiere ich hab?«

»Ja«, sagte Irene, »das ist eine gute Idee. Bauen Sie den Tiergarten auf, Agnes.«

Die Agnes tat verschämt wie ein kleines Kind.

»Da müßt’s ihr aber hinausgehen derweil! Bis ich euch rufe!«

»Dann warten wir also draußen auf dem Gang«, sagte Pankrater. Die drei Besucher verließen das Zimmer.

Der Gang war lang und hatte viele Fenster, einen Steinplattenboden und zahlreiche bunte Tischchen mit bunten Stühlen.

»Setzen wir uns da hin«, sagte Pankrater. Alte Frauen und Männer, teils in Morgenröcken, manche von Schwestern gestützt, schlurften an ihnen vorbei, betrachteten sie neugierig, grüßten.

»Viele kennen mich hier«, sagte Pankrater, gleichfalls grüßend.

Der alte Pfarrer offerierte kleine, billige Zigarren.

»Nein, danke«, sagte Manuel.

»Zigaretten habe ich leider nicht. Ich darf doch, Fräulein Waldegg?«

»Natürlich!«

Ignaz Pankrater setzte einen Stumpen in Brand, der schrecklich roch, nickte mit seinem quadratischen, harten Schädel und sagte: »Sie sind hergekommen, weil Sie gehofft haben, von dem Fräulein Agnes etwas über den Prozeß damals zu erfahren, Herr Aranda.«

»Ja, Herr Pfarrer.«

»Damit ist es leider nichts. Altersschwachsinn in der mildesten und barmherzigsten Form. Sie ist glücklich, sie erkennt auch noch ein paar Menschen, aber sie bringt alles durcheinander und erinnert sich an nichts mehr – Sie haben es ja gehört.« Manuel nickte. »Ihre ganze Freude sind die Tiere. Eine Gnade Gottes, dieses Alles-Vergessen-Können. Ich wünschte oft, mir wäre sie auch widerfahren.« Der alte Pfarrer blies eine stechend riechende Tabakwolke aus. »Aber mein Gedächtnis ist intakt. Ich muß mich erinnern … an alles … an die ganze furchtbare Zeit. Was habe ich für Leid miterlebt damals. Von was für Unglück hörte ich. Und ich kann es nicht vergessen. Nichts davon. Ja, ja, ich weiß, was Sie mich fragen wollen, Herr Aranda. Natürlich erinnere ich mich auch noch an diesen Prozeß und daran, wie das Fräulein Agnes zu mir gekommen ist. Im Beichtstuhl hat sie mir alles berichten wollen – stellen Sie sich das vor! In der leeren Kirche! Wenn das jemand gehört hätte … Ich habe sie gleich unterbrochen und ihr gesagt, das ist nicht der rechte Ort, sie soll am Abend wiederkommen, in meine Sprechstunde. Möglichst spät, damit sie eine von den Letzten ist und ich Zeit für sie habe. Es sind so viel Unglückliche und Verzweifelte zu mir gekommen damals. Alle wollten Rat und Hilfe – von mir, einem kleinen Pfarrer in einer kleinen Kirche in Ottakring. Arme Leute, gute Leute, Frauen vor allem. Nun ja, und dann, spät am Abend, ist sie also in meiner Wohnung erschienen, das Fräulein Agnes. Ich habe sie als Letzte drangenommen und mir alles genau erzählen lassen …«

64

Die Agnes redete und redete.

Ignaz Pankrater saß ihr in seinem Arbeitszimmer gegenüber an einem länglichen Tisch. Regen trommelte laut gegen die Scheiben der Fenster. Die Verdunkelungs-Rouleaus waren herabgelassen.

»… in dem Prozeß komm ich natürlich als Zeugin dran. Ich will alles so sagen, wie es die gnä’ Frau mir sagt. Wir müssen doch den Heinzi retten. Aber es ist alles eine Lüge, was die mich werden beschwören lassen, Hochwürden! Und Meineid ist doch eine Todsünde! Was soll ich denn jetzt bloß machen? Helfen Sie mir, ich bitt Sie, sagen Sie mir, ob ich es tun darf! Sie waren immer mein Beichtvater, Hochwürden. Sie kennen mich, seit ich ein junges Mädel war, seit … seit damals … Da haben Sie mir auch so geholfen! Sie wissen, ich tue nichts Schlechtes, aber wenn ich sterb, dann möcht ich auch in den Himmel kommen dafür und nicht in die ewige Verdammnis …« Die Agnes sprach weiter und weiter. »Wenn ich nicht lüg, wenn ich die Wahrheit sag, dann schad ich dem Heinzi! Dann passiert dem noch was! Und das könnt ich mir nie verzeihen, nie …«

Ihre Stimme wurde leiser und leiser für Ignaz Pankrater. Er dachte verbissen: Was wäre das Normale in einem solchen Fall? Ich würde den Weg des ›forum externum‹ gehen. Das heißt: Ich würde die Agnes um zwei Tage Geduld bitten und dem Wiener Generalvikar den Fall vortragen mit dem Ersuchen, mir eine Weisung zu erteilen. Der Generalvikar – ich kenne ihn, ein anständiger Mensch – würde seinerseits den Fall dem Erzbischof von Wien unterbreiten, dem Kardinal Innitzer. Den kenne ich auch. Das war ein begeisterter Nazi.

Ja, ein Nazi war der Innitzer!

Wäre er keiner, er würde dem Generalvikar sagen: Rufen Sie diesen Pfarrer. Erklären Sie ihm, daß ich hier eine Ausnahme machen darf. Wir leben in einem Unrechtsstaat. Da hat ein Meineid nicht die übliche Bedeutung. Er soll der Frau den Rat geben, das Gericht zu belügen und die Lügen zu beschwören und ihr sagen, daß das keine Sünde ist. Ich, der Kirchenfürst von Wien, übernehme die Verantwortung. So würde ein anständiger Erzbischof handeln. Der Innitzer, der hat die Hakenkreuzfahne an den Stephansdom hängen lassen 1938, als die Nazis gekommen sind. Jetzt denkt er vielleicht anders. Aber wer weiß das?

Ich kann also den Weg des ›forum externum‹ nicht gehen, überlegte der kleine Pfarrer aus Leonfelden, den es in die große Stadt Wien verschlagen hatte, ach nein, das muß meine Entscheidung sein, ich muß sie auf mich nehmen und vor Gott verantworten.

Voll Bitterkeit dachte Pankrater: Wie furchtbar sind die wahrhaft Gläubigen. Und wie glücklich muß ich sein, daß es sie gibt, immer noch gibt.

Also eine Entscheidung in ›forum internum‹.

Er sagte: »Was ist ein Eid, Fräulein Agnes?«

Die Agnes schnurrte die Worte nur so herunter: »Ein Eid, das ist die Anrufung Gottes des Allmächtigen zum Zeugen für die Wahrheit einer Aussage, oder die Ehrlichkeit einer Zusage, oder die Anrufung des Allmächtigen zum Rächer eines falschen oder gebrochenen Eides. – Das ist ja gerade das, wovor ich solche Angst habe. Ich …«

»Fräulein Agnes! Was Sie da gesagt haben, ist richtig. In normalen Zeiten, in denen wirklich Gott als der Allmächtige gilt und verehrt wird – und nicht ein Menschenpopanz, eine Partei, eine unmenschliche Weltanschauung, das Böse.«

»Aber man darf doch nie lügen, nie meineidig werden!«

»Gott will nicht, daß das Böse mächtiger wird als das Gute. Darum siegt das Gute ja zuletzt immer – wenn es manchmal auch lange dauert. Und darum müssen wir uns gegen das Böse stellen, Fräulein Agnes. Wir müssen das Gute unterstützen. Jeder von uns, so sehr er kann. Und darum, Fräulein Agnes, ist Gutes tun in Ihrem Fall wichtiger als der Eid, ist die Rettung einer Familie oder eines Menschenlebens wichtiger als ein Meineid.«

»Das heißt …«

»Das heißt, daß Sie lügen dürfen. Ich erteile Ihnen hiermit die Erlaubnis. Ich, Ihr Beichtvater! Ich spreche Sie frei von den Folgen eines Meineids. Es ist kein Meineid – in diesem Fall, Fräulein Agnes. Nicht in dieser Zeit. Nicht vor diesen Leuten. Sie müssen falsch aussagen. Es ist notwendig.«

»Ach, Hochwürden, Hochwürden!« Die Agnes sprang auf, und ehe Pankrater es verhindern konnte, hatte sie seine Hand geküßt. Er zog sie schnell zurück.

»Fräulein Agnes! Das dürfen Sie doch nicht!«

»Aber wenn ich so glücklich bin! Und wie glücklich wird erst die gnä’ Frau sein!«

»Leise«, sagte der kleine Pfarrer. »Leise, Fräulein Agnes. Und vorsichtig.

Es ist gefährlich, was Sie und Frau Steinfeld und Herr Landau da tun, lebensgefährlich ist es – auch für Sie.« »Für mich auch?« Die Agnes erschrak.

Ignaz Pankrater dachte: Wozu bin ich Pfarrer, wenn ich jetzt nicht alles tue, um zu helfen?

Ignaz Pankrater sagte: »Ja, gefährlich, Fräulein Agnes, falls das Gericht – es wird nicht so sein, bestimmt nicht, aber es könnte theoretisch so sein – Sie überführt, einen Meineid geleistet zu haben. Darauf stehen hohe Strafen.«

»Sehr hohe?« fragte die Agnes ängstlich.

»Sehr hohe. Und darum: Wenn dieser Fall eintreten sollte – er wird nicht eintreten (hoffentlich, dachte Pankrater, hoffentlich!) –, dann erklären Sie dem Gericht, daß ich Sie zum Meineid aufgefordert habe.«

»Daß Sie …« Die Agnes plumpste erschrocken auf ihren Stuhl zurück.

»Das würde ich niemals tun!«

»Das müssen Sie dann tun! Einer muß die Verantwortung tragen in dieser Sache. Sie haben sich um Rat an mich gewandt. Ich habe Ihnen geraten. Also trage ich die Verantwortung. Mit mir …« Er stockte ein wenig und dachte: Ein Held bin ich auch nicht. Wenn wir doch alle mutiger wären, Herr im Himmel. Aber wenn wir alle mutiger wären, dann hätte diese Heimsuchung nie über uns kommen können. Er fuhr fort: »Mit mir werden sich diese Herren nicht so leicht anlegen wie mit Ihnen.« Ach, genauso leicht, dachte er, aber das darf mich nicht beeinflussen. »Ich habe Ihnen den Rat und den Auftrag gegeben, das erklären Sie, wenn etwas schiefgeht. Und das schwören Sie mir jetzt, daß Sie das erklären werden, Fräulein Agnes, vor dem Kruzifix und den brennenden Kerzen schwören Sie es mir, eher lasse ich Sie nicht gehen, haben Sie verstanden?«

65

»Sie hat sich lange gewehrt, aber dann hat sie es mir geschworen – vor dem Kruzifix und den brennenden Kerzen«, sagte der alte, kleine Pfarrer und drückte den Stummel seiner stinkenden Zigarre in einem Aschenbecher aus.

Über den endlosen Gang des Altersheims schlurften Männer und Frauen, gebückt, krumm, manche auf Schwestern gestützt.

»Sie sind ein großartiger Mann, Herr Pfarrer«, sagte Manuel endlich.

»Unsinn«, sagte Pankrater. »Was hätte ich denn tun sollen? Hätten Sie anders entschieden an meiner Stelle? Na also.«

»Aber ich bin kein Pfarrer …«

»Ein Mensch«, sagte Pankrater. »Sie sind ein Mensch. Und das war auch ich in erster Linie für Fräulein Agnes – ein Leben lang fast. Der Mensch, dem sie am meisten vertraute. Ich konnte sie doch nicht enttäuschen.«

»Herr Pfarrer«, fragte Irene, »wissen Sie, wie der Prozeß ausging? Was aus dem Jungen wurde?«

Der kleine Mann mit den klobigen Landschuhen schüttelte den Kopf.

»Leider nein. Im Herbst 1943 – da war noch nichts entschieden in diesem Prozeß – hätten sie mich um ein Haar verhaftet. Wegen meiner Predigten. Ich habe den Mund sehr voll genommen auf der Kanzel, wissen Sie. Die Gestapo wollte mich abholen. Zum Glück erfuhren wir rechtzeitig davon. Meine Vorgesetzten brachten mich in letzter Minute aus Wien heraus. Ich habe versteckt gelebt im Salzburgischen, bei Hallein. 1945 ist da der Pfarrer gestorben. Ich habe seine Stelle angenommen. Meine Kirche in Ottakring draußen war ausgebombt. Nichts zu tun für mich in Wien. So viele Arbeit gab es in Hallein – allein die Flüchtlinge, Sie machen sich keine Vorstellung! Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich habe das Fräulein Agnes damals vergessen gehabt, völlig vergessen.«

»Aber sie hat Sie doch nicht vergessen!« rief Manuel.

»Sie hat mich gesucht, überall, jahrelang. Aber sie konnte mich nicht finden. Da hat sie resigniert, besonders, als die Kirche in Ottakring wiederaufgebaut worden ist und ein anderer Pfarrer sie übernahm. Da hat das Fräulein Agnes mich auch nicht weiter gesucht. Sie dachte, ich sei tot, hat sie mir erzählt, als wir uns endlich wiedersahen.«

»Wann war das?«

»Erst vor zwei Jahren. Ich arbeitete lange in Hallein. Dann wurde ich pensioniert, habe noch in einer anderen Salzburger Pfarrei ausgeholfen und bin endlich hier, in der Piaristengasse, gelandet. Als ich wieder in Wien war, erinnerte ich mich auch an das Fräulein Agnes. Und ich fand sie. Aber da war sie schon fast in dem Zustand, in dem sie heute ist. Sie konnte mir nichts mehr erzählen. Nur wirres Zeug, wie Ihnen vorhin, Herr Aranda. Ich versuchte, mit Frau Steinfeld in Kontakt zu treten. Doch die bat mich sehr höflich, von einem Besuch abzusehen.« Pankrater hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ein Geheimnis, das alles. Ein schreckliches Geheimnis, das seine Wurzeln hat in der entsetzlichen Zeit, von der Narren meinen, daß sie endgültig hinter uns liegt …«

Forsters Worte gingen Manuel durch den Sinn. Er sagte: »Sie meinen das nicht?«

»Nein, Herr Aranda. Der Ungeist des Dritten Reiches, der Hochmut, die Intoleranz, die Gemeinheit, der Sadismus Hitlers und seiner Genossen, das alles ist noch lebendig hier drinnen!« Er klopfte gegen seine Brust. »Das kann zum Ausbruch kommen jederzeit – in einer andern Form, in einem andern Land, überall auf der Welt. Denn wir alle sind nur Menschen, und wir alle haben Hitler in uns – zu allen Zeiten.«

Er schwieg wieder, dann sagte er lächelnd: »Als das Fräulein Agnes erfuhr, daß ich in der Piaristengasse wohne, suchte sie sich dieses Altersheim aus, weil es so nahe liegt.«

Die Tür, vor der sie saßen, flog auf.

In ihrem Rahmen stand, klein, strahlend, zerbrechlich, die Agnes und rief mit glücklicher, hoher Stimme: »Jetzt bitte hereinkommen! Mein Tiergarten ist fertig! Das Zebra steht genau in der Mitte!«

66

»Dreieinhalb Millionen Juden gab es vor dem Krieg in Polen«, sagte Jakob Roszek. »Als die Vernichtungsaktionen Hitlers und der Krieg vorbei waren, lebten von diesen dreieinhalb Millionen noch fünfundzwanzigtausend. 1967, nach dem Sechstagekrieg der Israelis gegen die Araber, flammte der Antisemitismus in Polen wieder auf. Es war ein staatlich geschürter und gelenkter, systematischer Antisemitismus, mit dem Ziel der Vertreibung der letzten noch lebenden Juden. Im vergangenen Jahr haben rund zehntausend von ihnen die Heimat verlassen und sind auf dem Weg über Österreich nach Israel ausgewandert. Heuer werden es bestimmt mindestens wieder so viele sein. Wir haben das Ende der fast tausendjährigen Geschichte des polnischen Judentums erreicht.« Jakob Roszek rauchte hastig eine amerikanische Zigarette, die Aranda ihm angeboten hatte. Es war schon die vierte. Die fremde Zigarette, die Möglichkeit, frei zu reden, wirkten wie Rauschgift auf den großen Mann mit der starken Brille und dem sehr breiten, sehr blassen Gesicht.

Seine Frau saß still und in sich zusammengesunken neben ihm. Sie hatte in der letzten halben Stunde kaum zehn Worte gesprochen. Ihre Tochter, ein schönes junges Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen, war die einzige an dem Tisch im Restaurant des Wiener Ostbahnhofs, eines riesigen grauen Betonbaus, die aufgeregt und hungrig ein großes Mittagessen verzehrte. Mit staunenden Blicken nahm sie das Bild der fremden Menschen, der fremden Welt, in die sie geraten war, auf. Roszek bemerkte, daß Manuel das junge Mädchen betrachtete. Er sagte: »Für Ljuba ist das alles etwas Neues. Meine Frau und ich kennen es schon. Für uns ist es das zweite Mal.«

»Sie sprechen deutsch wie ein Wiener«, sagte Irene.

»Ich stamme aus Wien! Meine Frau auch. Wir flüchteten nach Prag, als Hitler kam. Von Prag flüchteten wir nach Polen. In Polen landeten wir in derselben Untergrundbewegung. Da lernten wir uns kennen. Später waren wir bei den Partisanen. Da trafen wir Daniel Steinfeld. Auch er war über Prag nach Polen gekommen. Wir hatten unglaubliches Glück, alle drei. Wir überlebten«, sagte Roszek nach einer Pause.

Es war 14 Uhr 20, und es schneite immer noch.

Etwas mehr als sechs Stunden verspätet, hatte der ›Chopin-Expreß‹ endlich den Ostbahnhof erreicht – mit vereisten Fenstern, mächtige Eiszapfen an den Wagendächern und den Unterseiten der Waggons.

Eine Gruppe von rund dreißig Juden, meist älteren Leuten, war aus einem Waggon gestiegen und von zwei wartenden Männern in Empfang genommen worden.

Irene und Manuel erkannten Jakob Roszek sofort nach der Beschreibung, die Daniel Steinfeld von ihm gegeben hatte, und an dem dicken Buch, das er unter dem Arm hielt – Shakespeares Gesammelte Werke in polnischer Sprache. Mutter und Tochter trugen, wie von Daniel Steinfeld angekündigt, Pelzmäntel und weiße Seidenschals um das Haar …

»Herr Roszek!« Manuel eilte auf den Mann mit der dicken Brille zu, der inmitten der Gruppe von Juden stand, die hilflos und überwältigt von dem, was ihnen widerfuhr, in dem nun wieder heftigen Flockentreiben verharrten, Koffer, Aktentaschen und Bündel vor sich im Schnee.

Einer der beiden Männer, welche die Ankommenden erwartet hatten, stieß Manuel zurück.

»Was wollen Sie?«

»Was wollen Sie?« Manuel war wütend. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Wir sind von der ›Jewish Agency‹«, sagte der zweite Mann.

»Wir tun nur unsere Pflicht. Bitte stören Sie uns nicht.«

»Ich muß mit Herrn Roszek sprechen!«

»Das geht nicht«, sagte der erste Mann gereizt.

»Wieso nicht?«

»Weil die ganze Gruppe von uns geschlossen sofort in ein Sammellager gebracht wird. Wien ist nur die Transit-Station. Es geht weiter nach Italien, und von Italien nach Israel.«

»Da! Sehen Sie, was Sie anrichten!« sagte der zweite Mann. »Die Leute sind doch halb zu Tode geängstigt.«

Tatsächlich hatten Kinder und ein paar alte Frauen zu weinen begonnen, Familienangehörige drängten sich zusammen, viele Menschen sprachen auf einmal, wichen vor Irene und Manuel zurück, riefen laut und angstvoll in deutscher und polnischer Sprache nach Hilfe und der Polizei.

»Mein Gott, ich hatte doch keine Ahnung …«, stammelte Manuel.

»Natürlich. Sie hatten keine Ahnung. Kein Mensch hat eine Ahnung«, sagte der erste Vertreter der ›Jewish Agency‹, während der zweite sich bemühte, die Aufgeregten zu beruhigen.

Jakob Roszek drängte sich vor. Auf einmal stand er dicht vor Manuel und Irene.

»Wer sind Sie?«

»Sie sollen doch hier erwartet werden, Herr Roszek«, sagte Irene.

»Ja, aber nicht von zwei jungen Leuten, sondern von einer älteren Frau! Valerie Steinfeld heißt sie.«

»Valerie Steinfeld konnte nicht kommen«, antwortete Irene, erstaunlich gefaßt. »Ich bin ihre Nichte. Wir erhielten den Brief von Daniel Steinfeld.«

»Was ist geschehen?«

»Das wollen wir Ihnen ja erzählen.«

»Sie stören. Sie halten uns auf. Gehen Sie doch, bitte! Sie können Herrn Roszek später besuchen. Im Lager. Geben Sie ihm Ihre Adresse und Telefonnummer«, sagte der zweite Mann von der ›Jewish Agency‹, jetzt freundlicher, aber sehr nervös.

»Wir wollen Herrn Roszek gleich sprechen«, beharrte Manuel.

»Unmöglich! Ein Bus wartet draußen. Wir müssen alle gemeinsam ins Lager bringen. Herr Roszek hat doch keine Personalpapiere und kein Geld.«

»Wieso keine Personalpapiere?«

»Die haben ihm österreichische Beamte an der Grenze abgenommen und uns hier zu treuen Händen überreicht. Damit kein Emigrant sich selbständig macht und etwa schwarz in Österreich zu bleiben versucht«, sagte der erste Mann von der ›Jewish Agency‹ bitter.

Manuel zog seinen Paß aus der Tasche.

»Hier, nehmen Sie das. Lassen Sie Herrn Roszek und seine Familie mit uns sprechen. Es ist wirklich dringend! Ich habe einen Wagen. Ich verspreche Ihnen, ich bringe die Familie ins Lager. Sie werden keine Schwierigkeiten haben.«

»Nein, das geht … Sie sind ja Argentinier!«

»Haben Sie nicht den Namen der Frau verstanden, die Herr Roszek hier erwartete?«

»Stein – irgendwas.«

»Steinfeld. Valerie Steinfeld! Sie leben doch in Wien – oder? Sagt Ihnen der Name nichts? Lesen Sie keine Zeitungen?«

»Zeitungen? Was ist los?« rief Roszek.

»Die Valerie Steinfeld?« fragte der erste Mann von der ›Jewish Agency‹, plötzlich alarmiert.

»Ja, die Valerie Steinfeld!« sagte Manuel. »Telefonieren Sie mit dem Hofrat Groll vom Sicherheitsbüro! Er kennt mich, und er kennt den Fall. Er wird Ihnen alles erklären. Er wird in Ihrem Auffanglager anrufen …«

»Was ist mit Valerie Steinfeld?« rief Roszek.

»Sie ist tot«, sagte Manuel, während eine heftige Bö die Gruppe in Schneestaub hüllte. »Sie hat meinen Vater vergiftet und danach Selbstmord begangen.«

»Gütiger Gott im Himmel«, stammelte Roszek. »Aber wieso … aber warum …«

Der erste Mann von der ›Jewish Agency‹ nahm Manuel am Arm.

»Kommen Sie«, sagte er, »wir telefonieren.« Er wandte sich an seinen Kollegen. »Geh du mit den anderen und dem ganzen Gepäck schon zum Bus.«

Zehn Minuten später saß die Familie Roszek vor Irene und Manuel im Restaurant des Bahnhofs. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, zurückzubleiben unter der Voraussetzung, daß Manuel sie in das Lager brachte.

Irene und Manuel berichteten abwechselnd, was sich ereignet hatte. Roszek und seine Frau waren sehr erschrocken. Sie konnten nichts essen, sie bestellten bloß Kaffee. Das junge Mädchen hatte Appetit. Es verzehrte ein großes Menu. Ljuba sprach schlecht Deutsch und verstand nur einen kleinen Teil der Konversation. Sie stellte keine Fragen. Sie aß und sah staunend immer wieder um sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet …

67

Nach dem Sechstagekrieg (erzählte Jakob Roszek) verurteilten die Ostblockstaaten, allen voran die Sowjetunion, Israel als ›Aggressor‹. Diplomatische Beziehungen wurden abgebrochen, Botschaften, Gesandtschaften und Konsulate geschlossen. Überall kam es zu antijüdischen Demonstrationen. In Polen wuchsen sich diese Demonstrationen zu einer unerbittlichen ›Säuberungsaktion‹ aus.

»Die Leute flogen aus ihren Stellungen«, berichtete Roszek, »vielen wurden noch Scheinprozesse wegen angeblicher staatsfeindlicher Tätigkeit gemacht – und mehr und mehr Juden, viele davon eben noch in höchsten und wichtigsten Positionen, sahen sich vor dem Nichts, vor dem Ende einer Existenzmöglichkeit in Polen. Es gab nur noch eines für sie: auswandern …«

In diesem Stadium schaltete sich die israelische Hilfsorganisation ›Jewish Agency‹ ein. Sie entrichtete die Kosten für jene Reise ohne Wiederkehr – allerdings nicht an die Juden, sondern an den polnischen Staat. Es waren große Beträge. Jeder Jude, der Polen verlassen wollte, mußte zunächst fünftausend Zloty bezahlen.

»Fünftausend Zloty sind ungefähr fünftausend westdeutsche Mark oder dreißigtausend österreichische Schillinge«, berichtete Jakob Roszek in dem großen, fast leeren Restaurant des Wiener Ostbahnhofs, indessen seine Frau auf das Tischtuch starrte, indessen seine Tochter, wie berauscht, aß und um sich schaute, um sich schaute und aß. »Fest steht, daß jeder auswandernde Jude – und meine Frau, ich und Daniel Steinfeld sind gleich nach dem Krieg mit Orden behängt und wegen unserer Verdienste im Untergrund und bei den Partisanen ehrenhalber zu polnischen Staatsbürgern erklärt worden –, daß jeder Jude, der auswandert, seine Wohnung tadellos instandsetzen muß für den nächsten Mieter. Fest steht, daß man nur ganz wenig Gepäck haben darf. Nicht mitnehmen darf man Zeugnisse, Diplome, Arbeitsbestätigungen, Bücher, die man selber geschrieben hat, oder Manuskripte. Darauf stehen, wenn man es doch versucht und erwischt wird, hohe Strafen. Für die Wiener sind wir Transitgäste, die fremdenpolizeilich nicht behandelt werden. Oder nur dann, wenn einer von uns hier um politisches Asyl ansucht«, erzählte Jakob Roszek, mit ruhiger Stimme, aber hastig und übernervös rauchend. »Das tun allerdings ganz wenige. Die meisten wollen wirklich nach Israel. Wie wir.«

»Da unten kann doch jeden Moment ein neuer Krieg losbrechen!« rief Manuel. »Die Araber haben sehr viel mehr Waffen als das letzte Mal.«

»Das wissen wir«, sagte Roszek.

»Und trotzdem?«

»Und trotzdem«, sagte Roszek. »Wo sollen wir denn hin ohne Angst, daß uns dasselbe passiert wie in Polen? Welches Land läßt Juden denn gern herein? In Israel können wir wenigstens nicht ausgewiesen werden.« Eine heisere, erkältete Stimme gab aus Lautsprechern gelegentlich die Abfahrt oder die Ankunft von Zügen, aber meistens nur immer weitere und größere Verspätungen von Zügen bekannt.

Irene fragte: »Und Daniel Steinfeld? Was ist mit ihm? Was sollte meine Tante für ihn tun?«

»Ihre Tante … wenn er eine Ahnung gehabt hätte … wenn er wüßte … eine furchtbare Geschichte ist das, die da passiert ist …«

»Es ist auch eine furchtbare Geschichte, die Ihnen passiert«, sagte Irene.

Sie ist überraschend hart geworden in der kurzen Zeit, dachte Manuel. Er blickte sie an. Irene legte eine Hand auf seine Schulter.

»Daniel … ja, also sehen Sie, Daniel ist nicht gesund. Er kann noch arbeiten fast wie ein Gesunder, aber er verträgt nur eine ganz strenge Diät. Er hat eben eine Leberentzündung überstanden … zwanzig Kilo abgenommen dabei … und nun befürchtet er, daß er diese strenge Diät im Lager nicht bekommen kann. Hier sitzt man angeblich manchmal wochenlang fest! Das würde er nicht durchhalten. Sie machen Ausnahmen – in Krankheitsfällen, oder wenn der Flüchtling Verwandte in Wien besitzt. Dann hat er sich nur täglich bei der ›Jewish Agency‹ zu melden. Aber das muß man von Wien aus beantragen, von Warschau aus geht es nicht.«

»Sie meinen, Daniel Steinfeld wollte bei meiner Tante wohnen. Und die sollte vor seiner Ankunft die Erlaubnis dafür hier einholen.«

»Ja. Aber Ihre Tante ist nun tot … Das weiß er nicht. Da gibt es eine alte Köchin, hat Daniel mir gesagt, die könnte für ihn das Diätessen machen.«

»Die alte Köchin ist seit vier Jahren in einem Altersheim.« Jetzt blickte auch Jakob Roszek, wie seine Frau, auf das Tischtuch. Schnell fuhr Irene fort: »Aber ich habe eine andere Frau, die für ihn kochen kann! Und natürlich kann er bei mir wohnen! Ich werde sofort um die Erlaubnis bitten und ihm schreiben …«

Roszek hob den Kopf wieder.

»Danke. Ich danke Ihnen an Daniels Stelle, Fräulein!«

»Wann will er kommen?«

»Er wartet nur auf Ihre Nachricht. Er ist reisefertig. Sobald er liest, daß er privat untergebracht werden kann, fährt er los, am selben Tag. Er steht auf der Liste.«

»Ich rede noch heute mit den Leuten von der ›Jewish Agency‹«, sagte Irene, »und telegrafiere sofort. Wie alt ist Daniel Steinfeld?«

»Neunundsechzig.«

»Und da will er noch …« Manuel brach beschämt ab.

»Er muß! Und er will auch, er hat genug, er kann da nicht mehr atmen!« sagte Roszek. In seinem breiten, teigigen Gesicht zuckte es. »Keiner von uns kann das mehr. Ich bin einundsechzig – auch kein Springinsfeld, nicht? Aber was soll man tun?« Roszek sprach, wie es schien, leichthin, doch nun merkte man, wie sehr er sich um Haltung bemühte. »Seit 1947 habe ich meine Zeitung gemacht … Gutes Blatt, wirklich. Viel Freude habe ich daran gehabt …« Er strich verloren über den dicken Band mit Shakespeares gesammelten Werken. »Will sehen, ob ich sie in Tel Aviv nicht weiterführen kann.« Er blickte Irene und Manuel lächelnd an, lächelnd mit dem Wissen um vieltausend Jahre Vertreibung, Verfolgung, Schmerz, Qual und Flucht.

»Und Daniel Steinfeld?« fragte Irene. »Was macht der?«

»Der war Chemiker, Biochemiker«, sagte Roszek. »Universitätsprofessor. Ein eigenes Institut haben sie ihm gebaut – auf dem Land vor der Stadt. Da hat er gearbeitet, monatelang manchmal. Dann war er wieder in Warschau. Ein berühmter Wissenschaftler bei uns, ein gefeierter Mann – bis zum September 1967. Da haben sie ihn hinausgeworfen. Er hat die Universität nicht mehr betreten dürfen, und nicht mehr sein Institut. Staatsfeindliche Tätigkeit haben sie ihm vorgeworfen. Als Zionist im Dienst Israels. Und als Agent der Amerikaner! Sie haben ihm den Prozeß gemacht. Es ist ihm nichts passiert. Freispruch zuletzt. Nur noch kränker ist er natürlich geworden durch all die Aufregungen. Die Anklage, er sei ein amerikanischer Agent, die wurde gegen ihn übrigens erhoben, weil er einen Freund hatte, der weit in der Welt herumkam, auch in Amerika.«

»Was war das für ein Freund?«

»Kein Pole. Ein Wiener, wie wir alle. Der Mann hat ihn oft besucht in den vergangenen Jahren, sie haben an irgend etwas zusammengearbeitet, ich weiß nicht, an was. 1966 ist sein Freund, dieser Thomas Meerswald, ums Leben gekommen. 1966! Und 1968 bezeichnete die Staatsanwaltschaft ihn als Spion. Er sei der Kontaktmann Daniels zu den Amerikanern gewesen – was machen Sie denn für Gesichter? Großer Gott im Himmel, was ist los? Ich habe doch nur gesagt, daß Daniel mit diesem Thomas Meerswald zusammengearbeitet hat und deshalb so große Schwierigkeiten bekam!«

68

Etwa 900 Kilometer südwestlich von Buenos Aires liegt, in der Provinz La Pampa und am Nordwestrand einer großen Salzseepfanne, der Ort La Copelina. Knapp 15 000 Menschen wohnen hier. Die nächste Bahnlinie in der wüstenhaft trockenen Gegend läuft 300 Kilometer entfernt. Nur zwei schlechte Straßen führen von La Copelina nach Puelches und La Cautiva, armen, trostlosen Städten am träge dahinfließenden Rio Salado. Der Salzsee hat eine Länge von 80 Kilometern.

1952 wurde es an seinem Südostende lebendig. Innerhalb eines Jahres entstanden Fabrikgebäude, Hallen, große flache Gebäude und eine Betonpiste, auf der auch Transportmaschinen landen konnten. Die Firma QUIMICA ARANDA errichtete hier ein Zweigwerk, nachdem, wie man in La Copelina hörte, Wissenschaftler das Salz des Sees untersucht und herausgefunden hatten, daß sich in seinem südöstlichen Teil riesige Mengen gewisser Substanzen befanden, die zur Herstellung bestimmter Schädlingsbekämpfungsmittel hervorragend geeignet waren. Die Regierung hatte der QUIMICA ARANDA die Erlaubnis zur Ausbeutung der praktisch unerschöpflichen Vorkommen erteilt.

Da die hier hergestellten Chemikalien auch für Menschen giftig waren, wurde das gesamte Betriebsgelände mit hohen Stacheldrahtzäunen umgeben, Wachen und Hundeführer patrouillierten Tag und Nacht, es gab Scheinwerfer auf Türmen, und alle Sicherheitsbestimmungen waren sehr streng. Die Einwohner von La Copelina zeigten sich einerseits erfreut über die neue Industrie, denn sie brachte der Stadt Dauergäste – Angehörige der Chemiker und Ingenieure, die am Südostende des Sees arbeiteten –, Steuern und eine Blüte des Geschäftslebens und des Gaststättengewerbes; auf der anderen Seite waren den primitiven Eingeborenen das seltsame Werk, die brausenden Flugzeuge, der Lärm der Maschinen, der bei ungünstigem Wind bis in den Ort drang, unheimlich. Weitaus stärker jedoch war der Enthusiasmus über den wirtschaftlichen Aufschwung. Die Kinder der Chemiker und Techniker gingen in La Copelina zur Schule, die man eigens für sie errichtet hatte, sie wohnten mit ihren Müttern in neu erbauten Bungalows, und zu den Wochenenden kamen die Männer stets vom südöstlichen Seeufer herauf, wo sie die Woche über in Baracken lebten. Es arbeiteten nur Männer in der Fabrik – insgesamt 253.

Und dann kam das Furchtbare.

Am Dienstag, dem 14. Januar 1969, gegen die Mittagsstunde, bebte unter La Copelina die Erde, und der Lärm gewaltiger Detonationen erfüllte die Luft. Voll Panik stürzten die Bewohner ins Freie. Sie sahen, weit entfernt, am Südostende des Salzsees mächtige schwarze Wolken, dort, wo sich die Fabrikanlagen befanden, und in diesen orangefarbene Feuerbrünste. Die Menschen hatten sich noch nicht von ihrem Entsetzen erholt, da bebte die Erde neuerlich, und weitere dunkle Rauchpilze schossen hoch. Brände wüteten nun schon das ganze Ende des Sees entlang. Es sah aus, als brenne die kahle, harte Erde. Und die schwarzen Wolken stiegen wie riesige Türme zu dem blauen, strahlenden Himmel empor.

Polizei, Feuerwehr, Freiwillige und verzweifelte Angehörige der Männer, die in dem Werk gearbeitet hatten …

69

»… machten sich sofort auf zur Unglücksstätte. Sie brauchten für den Weg fast zwei Stunden. Als sie endlich eintrafen, konnten sie an die Anlagen nicht näher als zwei Kilometer heran, denn hier brannte immer noch alles, die Luft war von Qualm und Rauch verpestet, und die Temperaturen, die durch das Großfeuer entstanden waren, hatten enorme Höhen erreicht«, berichtete Juan Cayetano.

Er saß, Manuel gegenüber, an einem Tischchen in der kreisrunden gläsernen Espresso-Bar auf dem Cobenzl. Unter ihnen lief die freigeräumte Höhenstraße, über deren Serpentinen sie den Berg heraufgekommen waren. Von ihrem Platz aus sahen sie ganz Wien, ein Meer von Häusern, Palästen, Kuppeln und Kirchen, die Donau, ihre Brücken, das Land dahinter. Am Morgen hatte der Schneefall aufgehört, zwei Stunden später war die geschlossene Wolkendecke zerrissen. Jetzt, gegen 16 Uhr, ließ eine schon tief im Westen stehende Sonne Millionen Fenster der leuchtenden Stadt glühend aufstrahlen. Bei klarer Sicht war der Anblick von hier oben stets überwältigend. Darum blieb das Espresso auch das ganze Jahr geöffnet, während die angeschlossenen Großbetriebe – Restaurants und Bars, die sich über ein weites Gelände erstreckten – im Winter schlossen.

»Das ist am vierzehnten passiert«, sagte Manuel, der Cayetano mit steigender Erregung gelauscht hatte. »Am dreizehnten bin ich abgeflogen. Heute schreiben wir den einundzwanzigsten. Warum haben Sie mich nicht angerufen und mir das alles längst erzählt? Warum haben Sie nichts gesagt, als Sie von Paris aus mit mir sprachen?«

»Es war mir verboten«, sagte Cayetano, ein großer, schwerer Mann in den Fünfzigern, mit dunklen Tränensäcken. Er fror in dem überheizten Lokal. Cayetano war gegen Mittag gelandet und hatte mit den beiden Anwälten, die ihn begleiteten, im ›Ritz‹ auf Manuel gewartet. Dieser war erst am Nachmittag erschienen. Er hatte noch die Familie Roszek in das Lager der ›Jewish Agency‹ bringen müssen. Irene war mit der Straßenbahn zur Möven-Apotheke gefahren. Manuel hatte die Anwälte um Entschuldigung gebeten und sich mit Cayetano sofort auf den Weg hierherauf gemacht, nachdem er zu seiner Verblüffung dem Hofrat Groll begegnet war …

»Was machen Sie im ›Ritz‹?«

Der rundliche Mann hatte seine Virginier gemustert und den silberhaarigen Kopf gewiegt.

»Graf Romath ist einem Unglück zum Opfer gefallen.«

»Was?«

»Leise.«

»Aber wie …«

Groll berichtete schnell, was Romaths Putzfrau an diesem Morgen entdeckt hatte, als sie zur Arbeit kam.

»Vielleicht war es wirklich ein Unfall?«

»Die Beamten, die den Fall untersuchen, sind davon überzeugt.«

»Sie nicht?«

»Ich nicht. Gar nicht. Deshalb habe ich mich hier ein wenig umgesehen. Der Sender, den der Graf in seinem Büro hatte, ist verschwunden. Der Receptionschef – der Dienstälteste hier – hat provisorisch die Leitung des Hotels übernommen. Alle sind sehr betroffen oder tun so. Und man hat mich händeringend gebeten, kein Aufsehen zu erregen. Sie wollen es unbedingt bei dem Unglücksfall bleiben lassen – verständlich.«

Dieses Gespräch fand in der vorderen Halle statt, gleich nachdem Manuel ins Hotel gekommen war. Sie unterhielten sich flüsternd miteinander.

»Sie glauben an Mord?«

»Nein.«

»Woran dann?«

»Selbstmord«, antwortete Groll. »Ich kannte den Grafen lange. Er war ein … er hatte seine Besonderheiten. Und er war in Ihren Fall verwickelt, das wissen wir. Ich könnte mir gut vorstellen, daß man etwas von ihm verlangt hat, was er nicht zu tun bereit war. Dank seiner Veranlagung konnte man ihn erpressen. Es blieb ihm kein anderer Ausweg. Um das Hotel und seinen Namen zu schützen, inszenierte er einen Selbstmord, der genau wie ein Unfall aussah … so etwa.«

»Mein Gott!«

»Unterhalten Sie sich ab sofort mit niemandem mehr über unseren Fall in Ihrem Appartement oder überhaupt im Hotel«, sagte Groll. »Sie werden mir recht geben, wenn ich meine, daß das nun zu gefährlich ist. Unsere Freunde wissen sicher auch längst Bescheid.«

Das stimmte. Santarin und Grant waren durch den Hauselektriker Nemec informiert worden. Der Russe hatte sich trotz aller Verärgerung beeindruckt von der Tat des Aristokraten gezeigt, Grant nur geflucht. Sie benötigten Ersatz für Romath – und wo war der so schnell zu beschaffen?

»Noch etwas«, sagte Groll. »Tragen Sie die Fotografien dieses Penkovic und den Zettel aus Valerie Steinfelds Fotoschatulle bei sich?«

»Ja.«

»Geben Sie mir alles. Ich stecke es in ein Kuvert und schicke es an Doktor Stein. Er soll es auch in den Tresor legen.«

»Sie meinen, daß man von dem Grafen verlangt hat, diese Sachen zu stehlen?«

»So etwas Ähnliches muß es gewesen sein«, hatte Groll geantwortet und die Fotografien und das vergilbte Papier in Empfang genommen. »Ihre Freunde warten schon auf Sie. Fahren Sie mit dem Vertreter Ihres Vaters weg, wenn Sie jetzt mit ihm sprechen.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. Auf den Cobenzl, zum Beispiel. Da gibt es eine sehr hübsche Espresso-Bar. Der Weg ist nicht zu verfehlen.«

»Um neunzehn Uhr habe ich mit meinem Botschafter ein Treffen vereinbart.«

»Zeit genug also …«

So war Manuel mit Cayetano auf dem Cobenzl gelandet und hatte sich angehört, was geschehen war.

»Verboten?« sagte er jetzt zu Cayetano. »Wer hat es Ihnen verboten?«

»Unsere Staatspolizei. Wir haben seit der Katastrophe Beamte in der Zentrale sitzen. Ich bin verhört worden, wir alle wurden verhört. Da ist der Teufel los, kann ich dir sagen, Manuel.«

»Aber wieso?«

»Laß mich weitererzählen. Die Leute aus La Copelina konnten nichts ausrichten. Nicht das Geringste. Vollkommen hilflos standen sie vor dem höllischen Flammenmeer. Wie die Untersuchung später ergab, waren Bomben mit Napalmfüllung und Zeitzünder explodiert – in solcher Anordnung und Reihenfolge, daß nichts, aber auch nichts von dem Werk übrigbleiben konnte.«

»Weiter! Weiter!«

Cayetano sagte: »Von La Copelina aus alarmierten die Leute Buenos Aires. Man rief mich an. Das Innenministerium schaltete sich sofort ein, ebenso das Verteidigungsministerium.«

»Das Verteidigungsministerium? Ich begreife nicht …«

»Ich hatte es alarmiert.«

»Sie? Aber warum?«

»Du kannst dir wirklich nicht denken, warum?«

»Nein!« rief Manuel, sehr verwirrt.

»Hm …« Cayetano starrte auf die Tischplatte. »Nun ja«, sagte er nach einer Pause. »Dann ist also wirklich alles so, wie ich dachte.«

»Was dachten Sie?«

»Der Reihe nach. Ich erzähle es dir gleich. Die Regierung nahm die Sache verflucht ernst.«

»Aber weshalb …«

»Laß mich reden! Drei Transall-Transporter mit ausgesuchten hohen Beamten und Offizieren, Brandspezialisten, Kriminalbeamten und Regierungsvertretern flogen los. Ich mußte mitfliegen. Es war das erste Mal, daß ich nach La Copelina kam.«

Ist das auch wahr? dachte Manuel. Ist das auch wirklich wahr? Du, der Stellvertreter meines Vaters, warst nie in La Copelina? Bei La Copelina lag das Entwicklungszentrum für AP Sieben, davon bin ich überzeugt. Völlig überzeugt. Zerstört wurde es gewiß in trautem Übereinkommen von Amerikanern und Sowjets. Die hatten, was sie wollten. Mein Vater war tot. Nun mußten alle Zeugen und Mitarbeiter, alle Mitwisser verschwinden. Das ganze Werk mußte verschwinden! Keine Hinweise, kein Verrat mehr. Man soll nicht sagen, daß die Herrschaften zimperlich sind …

Unterdessen hatte Cayetano weitergesprochen: »Wir kamen gegen siebzehn Uhr an. Das Gelände brannte immer noch. Du kannst dir nicht vorstellen, bis zu welchem Grad es verwüstet war. Nur die Landepiste hatte nichts abbekommen. Sie liegt zu weit entfernt. Spezialisten löschten die Flammen. Eine Untersuchung war erst am nächsten Morgen möglich. Die Leute in dem zerstörten Werk waren alle tot. Ohne Ausnahme. Verbrannt und verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Man brauchte Tage, um sie zu identifizieren. Napalm! Wir mußten mit Gasmasken arbeiten, dieser Gestank – unerträglich. Und dann noch die Tierkadaver …«

Na also, dachte Manuel mit trauriger Genugtuung.

»Versuchstiere?«

Cayetano verzog das Gesicht.

»Versuchstiere, ja. Pferde, Kühe, Ochsen, Affen, Schweine … verreckt in ihren Ställen und Käfigen. Das ganze Werk ein einziger zusammengeschmolzener Trümmerhaufen …« Ja, dachte Manuel. Napalm. Hitze genug, um auch die letzte Mikrobe, das letzte Gift zu vernichten. Napalm – eine gute Idee. Saubere Arbeit.

»Hör mal«, sagte der schwere Mann. »Ich sehe, du willst mir kein Vertrauen schenken.«

»Wirklich, Cayetano, ich …«

»Sei ruhig. Ich weiß nicht, was du inzwischen in Wien herausgefunden hast. Du sagst es mir nicht. Gut, dann will ich es dir sagen!«

»Sie?«

»Ja.« Cayetano legte eine Faust auf den Tisch. »Ich. Du hast herausgefunden, daß dein Vater mit B-Waffen experimentiert hat. Daß er eine Erfindung mit nach Wien brachte und sie hier den Vertretern anderer Mächte zum Kauf anbot …«

»Woher wissen Sie das?«

»Das weiß ich von den verfluchten Kerlen aus dem Verteidigungsministerium, die mir in den letzten Tagen nicht von der Seite gewichen sind! Und die wieder wissen es aus Wien! Die Botschaft hält sie auf dem laufenden über das, was du hier treibst! Ich kann dich verstehen, Manuel. Es ist schlimm für dich, dir sagen zu müssen, daß dein Vater ein Verbrecher war, ein Schuft, ein Schwein … Das ist auch für mich schlimm. Aber es ist die Wahrheit!«

»Und woher will denn unser Verteidigungsministerium wissen, was mein Vater gemacht hat?« fragte Manuel schnell. Cayetano war jetzt sehr aufgeregt. Vielleicht verriet er etwas.

»Woher?« Der schwere Mann klopfte mit der Faust auf die Tischplatte.

»Dein Vater, die QUIMICA ARANDA, bekam seinerzeit von unserem Verteidigungsministerium den Geheimauftrag, einen möglichst wirkungsvollen B-Kampfstoff zu entwickeln!«

Manuel starrte Cayetano an. Er schluckte schwer und würgte ein paar Worte hervor: »Das … Verteidigungsministerium hat ihm … den Auftrag … gegeben?«

»Ja! Nur er und ich und die Chemiker und Techniker in La Copelina waren informiert. Und alle waren wir auf absolutes Stillschweigen vereidigt worden. Argentinien hat keine Atomwaffen …«

»Cayetano, ich schwöre Ihnen, ich habe bis zu dieser Minute nichts von dem Auftrag geahnt!«

»Das glaube ich! Aber daß dein Vater hier, in Wien, sein eigenes Geschäft mit dem Auftrag machen wollte, das hast du herausbekommen – lüg mich nicht an!«

»Ich lüge Sie nicht an, Cayetano«, sagte Manuel. »Ja, das habe ich herausbekommen …«

70

»… die frühen Fotografen haben ihn gelehrt – und er wiederum hat die Fotografen gelehrt –, welche überraschenden Wirkungen man durch die Wahl eines engen Bildausschnitts, den Blickwinkel steil von oben herab, wie hier bei dieser Tänzerin, oder auch von unten herauf, gewinnen kann. Sehen Sie sich die unübertrefflich kultivierte Komposition an …!« Der schlanke, große Mann mit dem mächtigen Kopf und den scharfen Augen des Chirurgen verharrte reglos vor einem Bild, das auf einem Dreifuß stand. Auch seine schönen, kraftvollen Hände erinnerten an die eines Operateurs. Hätte dieser Mann nicht einen überkorrekten dunklen Anzug getragen, sondern einen am Hals hochgeschlossenen weißen Kittel, Gummihandschuhe und eine weiße Kappe auf dem grauen Haar – er wäre gewiß einem Sauerbruch oder einem Billroth ähnlich gewesen. Schon in den Zuchthäusern, woselbst dieser Mann elf Jahre seines Lebens verbracht hatte, war er von seinen Mitgefangenen immer ›der Professor‹ genannt worden. Tatsächlich hatte sein schwerer Beruf das Einfühlungsvermögen, die Behutsamkeit, die Konzentriertheit, die Ruhe und die absolute Meisterschaft des genialen Chirurgen von Anton Sirus verlangt.

Aus dem Rheinland stammend, lebte er seit 1965 in Bremen, einundsechzigjährig nun, ein schwerreicher Mann, ja, das konnte man sagen, ein Mann, der sein Geld für sich arbeiten ließ oder es in den Werken von Malern der berühmten ›Französischen Schule‹ anlegte. Anton Sirus war ein Verehrer der schönen Künste, und seine größte Liebe galt den Impressionisten.

Er hatte eine imposante Villa an der Findorff-Allee erworben, die den alten, exklusiven Bürgerpark entlanglief. Aus den Fenstern des ersten Stocks konnte man den Emma-See mit seinen vielfach geschlungenen Armen erblicken, das Wildgehege und die Tiere dann, den Eichenhain, die Meierei und, weit entfernt, die Rückfront des Parkhotels.

Seine Nachbarn wußten nichts von Anton Sirus. Sie hielten ihn für einen höchst erfolgreichen, properen Handelsmann, der sich zur Ruhe gesetzt hatte und sein Leben genoß – in Reichtum und Luxus, mit ausgesuchtem Personal und großem Bentley, mit Golfspiel, Reisen und mit seiner wundervollen Gemäldesammlung.

Die Bilder hingen an den Wänden eines gewaltigen Raumes im ersten Stock. Sirus hatte aus drei Zimmern eines machen lassen, das durch komplizierteste Alarmanlagen gesichert war. Hier gab es Werke von Cézanne, Picasso (aus dessen ›Blauer Periode‹), Degas, Modigliani, Gauguin, Renoir und Toulouse-Lautrec. Einige bequeme Lehnstühle standen auf dem riesigen Teppich. Die Fenster waren groß und ließen viel Licht in den Raum. Jedes Gemälde konnte zudem in raffinierter Weise einzeln elektrisch angestrahlt werden. Mehrere Stunden des Tages verbrachte der Ex-Zuchthäusler, steinreiche Mann und immer noch begnadetste Schränker Europas hier, versunken in der Betrachtung seiner Schätze, die er ständig vermehrte.

Am Vormittag des 21. Januar 1969 war er aus London zurückgekehrt. Auf einer Auktion des berühmten Kunsthauses Christie’s hatte er die Tänzerin von Degas, die nun auf dem Dreifuß stand, am 16. Januar zu einem unerhörten Preis ersteigert. Der Transport des Bildes nach Deutschland, welchen er persönlich überwachte, hatte ihn Zeit und viel Geduld gekostet.

Anton Sirus bestand sozusagen aus Geduld – im Gegensatz zu dem rosigen, blonden und dicken Willem De Brakeleer, der in einem der Lehnstühle saß und seine Nervosität kaum mehr zügeln konnte. Der ›Professor‹ verbreitete sich seit mehr als einer Stunde über Degas. Er war noch in London gewesen, als De Brakeleer in Bremen eintraf. Der Holländer hatte warten müssen. Dann war Sirus heimgekehrt. In Erinnerung an ihre bewegte Vergangenheit hatte er den Holländer zum Tee geladen, bei welcher Gelegenheit De Brakeleer seine Mission erledigen und Merciers Angebot unterbreiten konnte. Ernst, mit undurchdringlicher Miene, hatte der ›Professor‹ seinen Tee getrunken und zugehört. Doch anstatt auf die Anfrage einzugehen, war der Meisterschränker und Kunstenthusiast aufgestanden und mit De Brakeleer in sein ›Museum‹ gegangen, wo er den neuen Degas präsentierte. Der Holländer hatte nicht gewagt, Sirus’ Reden zu unterbrechen. Nun, endlich, faßte er sich ein Herz.

»Professor …« Auch die niederländische Polizei, auch Interpol, auch De Brakeleer hatten Anton Sirus jahrzehntelang mit diesem Spitznamen geehrt.

»Ja, was ist, Baas?« Sirus sah den Holländer verträumt an, langsam kehrte er aus seiner wunderbaren Welt der Kunst in die Wirklichkeit zurück. In alter, liebevoller Gewohnheit sprach er De Brakeleer immer noch so an, wie dieser von Kollegen und Kriminellen stets respektvoll tituliert worden war, mit dem holländischen Wort für ›Meister‹.

»Ich teile Ihre Begeisterung, Professor. Wirklich unvergleichlich, dieses Gemälde. Aber können wir … ich meine … wollen Sie sich nicht endlich zu meinem Vorschlag äußern?«

»Nein«, sagte Sirus.

»Was, nein?«

»Ihr Vorschlag interessiert mich nicht, Baas.«

De Brakeleer wurde es richtig übel. O Gott, dachte er. Wenn ich ihn nicht herumkriege … Der verfluchte Film … Mercier schickt ihn der Flugzeugfirma … Ich bin meinen Job los …

Der rosige Holländer zwang sich zu einem Lächeln. »Sagen Sie nicht gleich Nein! Wie ich schon bemerkte, spielt Geld bei dieser Sache keine Rolle. Sie können verlangen, was Sie wollen …«

»Ich habe genug Geld. Ich brauche nichts.«

»Unsinn. Jeder Mensch braucht Geld!« De Brakeleer war den Tränen nahe.

»Ich nicht. Wirklich nicht. Ich habe in meinem Leben lange und schwer gearbeitet. Und ich bin nicht mehr im Gewerbe, das wissen Sie doch, mein lieber Baas.«

»Herr Sirus … Professor … Ich bitte Sie! Sie sind der einzige Mann, der für eine solche Sache in Frage kommt! Sie erhalten jede Unterstützung! Sie müssen nur sagen, was Sie brauchen – es wird beschafft. Sie haben jeden Schutz. Tun Sie es, ich flehe Sie an. Mir zuliebe! Erinnern Sie sich an 1947? Die Volksbank in Den Haag? Ich wußte, daß Sie es waren, ich wußte es!«

»Gar nichts wußten Sie, Baas.«

»Aber ja doch!«

»Und warum haben Sie mich dann nicht verhaften lassen?«

»Weil … Ich … Sehen Sie, Professor, ich empfand damals solche Bewunderung für Sie … für Ihr Genie … und ich …«

»Ach, hören Sie auf! Das ist doch Gefasel. Einen Dreck wußten Sie.« Sirus setzte sich gleichfalls. Er legte die Spitzen der schönen Finger aneinander und stützte das Kinn darauf. »Sie werden erpreßt, Baas, wie?«

De Brakeleer nickte nur.

»Schlimm?«

»Sehr schlimm.«

»Hm. Und Ihre Freunde brauchen das, was in dem Tresor liegt, sehr dringend?«

»Außerordentlich dringend, Professor!« De Brakeleer fühlte neue Hoffnung. »Die gehen auf jede Bedingung ein! Auf jede.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Absolut sicher!«

»Nun gut«, sagte Sirus. »Wir werden sehen, ob Sie recht haben.«

»Wie? Wie?« De Brakeleer zitterte vor Erregung.

»Was mich an Monet so fasziniert«, sagte Sirus, »das ist seine einzigartige Begabung, Atmosphäre durch das Licht, durch die Spiele des Nebels, der Sonne und des Wassers zu schaffen … Da gibt es ein Bild von ihm – ›Die Mohnblumen‹. 1873 entstanden. Nach diesen ›Mohnblumen‹ bin ich verrückt. Ich träume von ihnen! Ich muß sie haben! Ich muß sie haben, Baas, verstehen Sie mich?«

»Aber ja doch, natürlich!« De Brakeleers Worte überstürzten sich. »Sie wünschen das Bild – wunderbar! Sie werden es bekommen!«

»Langsam«, sagte Sirus. »Es muß doch einen Grund haben, daß ich das Bild noch nicht besitze, wenn ich es so sehr liebe, wie?«

»Ja …« De Brakeleers Hochgefühl sank wieder.

»Ich kann es nicht bekommen. Um keinen Preis. Ich habe schon alles versucht. Nichts zu machen. Das Bild hängt in Paris, im Musée de l’Impressionisme. Unverkäuflich.« Sirus’ Stimme hob sich etwas. »Aber ich verliere noch den Verstand, wenn ich die ›Mohnblumen‹ nicht habe. Und das ist Ihre Chance!« Er sprach wieder mit seiner normalen, leisen und kultivierten Stimme. »Die Franzosen schicken Sie, nicht wahr?«

»Das sagte ich doch. Die Franzosen wollen unbedingt …«

»Sie wollen unbedingt, ja, ja. Wenn die Franzosen mich wirklich unbedingt wollen, Herr De Brakeleer, dann sollen sie dafür sorgen, daß mir das Musée de l’Impressionisme die ›Mohnblumen‹ verkauft! Ich zahle. Ich zahle, was man verlangt. Aber man muß mich kaufen lassen, verstehen Sie? Man muß das Bild freigeben!«

»Und wenn man es freigibt … dann wären Sie bereit …«

Mit verhaltener Bewegtheit sprach Anton Sirus: »Dann würde ich noch einmal an die Arbeit gehen, ja. Das wäre es mir wert …«

71

»Wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen, Herr Cayetano – es blieb den Herren keine andere Wahl.«

»Entschuldigen? Ich verstehe nicht …«

»Die Untersuchungsbeamten in Buenos Aires haben Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Auch die Vertreter der Ministerien nicht. Sie wurden absichtlich belogen und falsch informiert – im Interesse der Ermittlungen«, sagte der argentinische Botschafter. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht, eckige Kinnbacken, stahlgraue Augen, und er gehörte zu einer der ältesten und vornehmsten Familien seines Landes. Obwohl er sich hervorragend beherrschte, zeigte er doch Zeichen von Spannung und Nervosität – wie alle Anwesenden in dem großen Salon des Wiener Botschaftsgebäudes. Die Ausnahme war Manuel Aranda. Den hatte plötzlich eine eisige Ruhe ergriffen.

Rund um einen niedrigen Rauchtisch saßen links von Manuel der massige Cayetano, rechts der kleine Botschaftsattaché Ernesto Gomez mit dem schwarzen Kraushaar und der olivenfarbenen Haut. Manuel gegenüber saß der Botschafter, flankiert von den beiden Anwälten, die mit Cayetano eingetroffen waren – dem persönlichen Rechtsvertreter Raphaelo Arandas und dem Syndikus der QUIMICA ARANDA.

Die Besprechung, die nach wenigen allgemeinen Worten und mechanischen Kondolationen begonnen hatte, war durch die Erklärung des Botschafters schnell zum Thema gekommen …

»Sie werden sofort verstehen, Herr Cayetano. Doktor Aranda sagte Ihnen, er habe einen Geheimauftrag über die Herstellung von B-Waffen von unserem Verteidigungsministerium erhalten.«

»Richtig.«

»Sie und alle seine wissenschaftlichen Mitarbeiter an dem Projekt wurden zu absolutem Stillschweigen darüber vereidigt.«

»Ja! Von zwei hohen Beamten des Ministeriums …« Cayetano unterbrach seinen Satz. »Ich habe in den letzten Tagen immer wieder gefordert, den beiden gegenübergestellt zu werden! Man hat meine Bitte nicht erfüllt. Warum nicht?«

»Weil diese beiden Männer – Verräter, wie wir nun annehmen müssen – spurlos verschwunden sind.«

Cayetano sagte atemlos: »Das bedeutet …«

»Das bedeutet, daß natürlich weder das Verteidigungsministerium noch irgendeine andere Stelle unserer Regierung den Doktor Aranda jemals mit einem solchen Geheimauftrag betraut hat. Wir stellen keine A-, B- oder C-Waffen her, und wir haben auch nicht die Absicht, das zu tun. Im Bunde mit seinen beiden zweifellos hoch bestochenen Komplicen spielte Doktor Aranda Ihnen allen dieses Theater vor, damit Sie ruhig und nicht durch Skrupel belastet an einer Sache mitarbeiten sollten, die Doktor Aranda – und er allein, das erkläre ich hier namens meiner Regierung! – voranzutreiben entschlossen war.«

Mein Vater hat also alle belogen und betrogen, sogar die nächsten Mitarbeiter, nur so war er in der Lage, seine Erfindung zu machen, dachte Manuel, und es erstaunte ihn, wie gelassen er blieb. Er glaubte, was der Botschafter sagte. Dieser hätte sich gehütet zu behaupten, daß es zwei korrupte Beamte im argentinischen Verteidigungsministerium gab. Er hätte meinen Vater allein beschuldigt und nicht seine Regierung in diese Sache hineingezogen, dachte Manuel. Aber der Umstand, daß man mich hier in Wien ungeschoren weiterforschen läßt, scheint doch darauf schließen zu lassen, daß der Botschafter und die Behörden daheim immer noch keine Ahnung vom ganzen Ausmaß der Erfindung besitzen, die mein Vater gemacht und verkauft hat!

»Ich nehme an, Ihre privaten Nachforschungen hier in Wien haben Sie zu Erkenntnissen gebracht, die nur das bestätigen, was Seine Exzellenz sagt?« Der kleine Gomez sah Manuel aggressiv an.

Aggressiv antwortete Manuel, während er dachte, daß dieser Ernesto Gomez ein anständiger und tapferer Verbündeter im zuletzt offensichtlich vergeblichen Kampf des Thomas Meerswald gewesen war: »Weil Sie das annehmen, haben Sie mich im ›Ritz‹ aufgesucht, nicht wahr? Und mich ersucht, meine Nachforschungen abzubrechen und heimzukehren, wie?«

»Ich tat es, weil ich dazu den Auftrag erhalten hatte«, antwortete der kleine Mann verbissen.

»Auftrag von wem?«

»Von seiner Exzellenz, dem Herrn Botschafter.«

»Und ich hatte ihn von unserem Innenministerium erhalten«, sagte der Botschafter.

»Was bewog das Innenministerium zu diesem Schritt?«

»Die Ergebnisse der Untersuchungen, die in Buenos Aires geführt wurden, Herr Aranda.« Der Botschafter hob den Kopf. »Sie ergaben die völlige Ahnungslosigkeit und Gutgläubigkeit des Herrn Cayetano. Die Untersuchungen laufen jedoch noch. Wir wissen längst nicht alles.« Aha, dachte Manuel. »Es sind geheime Untersuchungen. Was ich hier mitteile, erkläre ich unter der Voraussetzung, daß keiner der Anwesenden einem anderen Menschen gegenüber auch nur Andeutungen macht.«

Groll schweigt, dachte Manuel. Der wird mich nie verraten, was ich ihm auch erzähle, nie! Sie wissen also noch nichts von der wirklichen Tragödie, genau wie ich es vermutete. Er sagte: »Ihr Attaché hat mich bei seinem Besuch gewarnt. Sie könnten nicht für mein Leben garantieren, wenn ich in Wien bliebe, erklärte er. Das taten Sie doch, Herr Gomez, nicht wahr?«

»Sicherlich.«

»Im Auftrag Seiner Exzellenz?«

»Sicherlich.«

»Sie sagten, man habe meinen Vater gewarnt. Und der habe nicht auf die Warnungen gehört. Warnten auch Sie ihn?«

»Nein. Das war ich«, sagte der Botschafter.

»Sie, Exzellenz?« Manuel hob die Brauen. »Wie kamen Sie dazu?«

»Beobachtungen hatten ergeben, daß Ihr Vater sich mit den verschiedensten Agenten traf.«

»Wer beobachtete ihn?«

»Einige unserer Leute. Unter Anweisung von Herrn Gomez. Er ist für derlei zuständig.«

»Aha.«

»Was heißt aha?« Der kleine Mann brauste auf. »Wenn Sie etwa der Ansicht sind, daß ich etwas anderes als meine Pflicht tat …«

»Beruhigen Sie sich, bitte.« Cayetano sprach plötzlich. Sein sorgenvolles Gesicht war dunkel. »Sagten Sie Pflicht?«

»Ja!« Gomez nickte heftig. »Die Ankunft Ihres Vaters wurde uns avisiert – vom Innenministerium. Er war eine Person, gegen die man offenbar bereits gewisse Verdachtsmomente gesammelt hatte. Wir wurden gebeten, Doktor Aranda im Auge zu behalten und ihn zu warnen, falls er mit Agenten in Kontakt trat. Nun, er tat es. Ich berichtete Seiner Exzellenz.«

»Und ich sprach daraufhin mit Ihrem Vater. Erfolglos«, sagte der Botschafter zu Manuel.

»So erfolglos wie ich mit Ihnen«, sagte Gomez, bösartig jetzt.

Manuel ging darauf nicht ein. Er fragte: »In welcher Weise haben Sie meinen Vater gewarnt, Exzellenz?«

»In der vom Innenministerium formulierten. Ich sagte Ihrem Vater, daß wir Grund hätten, ihm gegenüber mißtrauisch zu sein, und daß wir ihn dringend aufforderten, Wien zu verlassen und heimzukehren, weil er sich hier in großer Gefahr befinde.«

»Und mein Vater?«

»Weigerte sich, lachte mich aus, berief sich auf seine Rechte als freier Bürger, stritt jede unerlaubte Tätigkeit ab.«

Er lachte den Botschafter aus, dachte Manuel. Aber Yvonne hat mir erzählt, daß er Angst, Todesangst hatte, die ganze Zeit über in Wien. Todesangst vor wem? Nur vor seinen Geschäftspartnern? Oder auch vor den eigenen Landsleuten?

»Wenn Sie also nach wie vor bei Ihrem Entschluß bleiben, in Wien weitere Nachforschungen anzustellen, und wenn Sie entschlossen sind, nicht mit uns zu kooperieren …«, begann der Botschafter.

»Wer spricht davon? Ich habe Ihnen nur nicht mehr zu sagen!«

»… dann wollen wir dieses Kapitel abschließen«, erklärte der Botschafter eilig und nun auch sehr nervös, wie es Manuel schien. »Wir können Sie nicht zwingen.«

»Und auch nicht hindern.« Es war das erste Mal, daß der Syndikus der QUIMICA ARANDA sprach. Er nickte Manuel zu.

»Vorläufig nicht«, sagte Gomez böse.

»Was an uns liegt, so werden wir alles tun, um zu vereiteln, daß Sie es jemals können«, sagte der Syndikus. »Ganz gleich, was der Vater dieses Herrn verbrochen haben könnte – wir kennen keine Sippenhaft, und ein Mensch ist so lange vor dem Gesetz unschuldig, bis ihm seine Schuld nachgewiesen wird. Diese Aufgabe liegt bei der Regierung. Man weise diesem jungen Mann das geringste Vergehen nach!«

»Wie ich schon sagte …« Der Botschafter winkte ab. »Wir beschließen dieses Kapitel und kommen zu den Angelegenheiten, die jetzt hier, auf der Botschaft, geregelt werden müssen. Da wäre zunächst die Testamentseröffnung. Wenn ich bitten dürfte …«

Der persönliche Anwalt von Manuels Vater entnahm seiner Mappe einen versiegelten Umschlag, den er vor aller Augen öffnete. Das Testament brachte keine Überraschung. Manuel war Universalerbe. In seinem Letzten Willen legte der Vater ihm ans Herz, auf eine noch zu begrenzende Reihe von Jahren Cayetano als Generalbevollmächtigten der QUIMICA ARANDA einzusetzen. Es folgten Anordnungen über die Kapitalplanung, die Entwicklung der einzelnen Zweigwerke und die allgemeine Geschäftspolitik der Firma.

Die Spannung ließ nach, während der Anwalt das umfangreiche Testament verlas. Zuletzt sagte Manuel: »Ich bin einverstanden mit allen Punkten. Insbesondere freue ich mich, Herrn Cayetano zum Generalbevollmächtigten ernennen zu dürfen – mit sofortiger Wirkung.«

Es überraschte ihn zu sehen, daß dem großen, starken Mann plötzlich Tränen in den Augen standen. Cayetano umarmte Manuel impulsiv und küßte ihn auf die Wangen.

»Danke für dein Vertrauen, mein Junge«, flüsterte er. »Ich werde dich nicht enttäuschen …«

Und wenn du es dennoch tust, wird es mich nicht mehr erschüttern, dachte Manuel und erschrak über diesen Gedanken. Mißtraute er bereits wirklich jedem? Cayetano war einer der Menschen, die er am längsten im Leben kannte, ein Freund. Ich muß mich zusammennehmen, dachte Manuel.

Er hörte die anderen Männer wie aus weiter Ferne reden, während er verloren und einsam Cayetano betrachtete, der eifrig und energisch diskutierte. Von Verträgen war die Rede, von Vollmachten, von den verschiedensten Dokumenten, welche die beiden Anwälte am nächsten Tag, gemeinsam mit der Rechtsabteilung der Botschaft, vorbereiten wollten und die Manuel dann unterschreiben mußte.

»… bis morgen abend alles vorbereitet haben, Herr Aranda«, klang endlich, nun wieder deutlich, die Stimme des Syndikus an sein Ohr.

Ich traue Cayetano, ja, ich traue ihm, dachte Manuel.

»Gut«, sagte er. »Dann will ich die Papiere morgen abend durchlesen und gleich, oder übermorgen, unterschreiben …«

Bald danach brach die Gesellschaft auf. Die Verabschiedung war höflich-frostig.

In das ›Ritz‹ zurückgekehrt, zog Manuel Juan Cayetano zur Seite.

»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?«

»Gerne, natürlich. Was gibt es?«

»Sagen Sie es auch den Anwälten, zur Sicherheit. Wenn morgen jemand nach mir fragt, bin ich in der Botschaft. Das hinterlasse ich im Hotel. Wenn Sie angesprochen werden sollten, es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein …«

»Sie denken an diese junge Dame, Irene Waldegg?«

»Ja.« Manuel nickte. »Besonders an sie. Ihr müssen Sie auch sagen, ich sei in der Botschaft. Es wird bis spät abends dauern.«

»Was?«

»Meine Reise. Ich muß morgen verreisen, nach Villach, und Irene Wäldegg darf das nicht wissen.«

72

»Du bist sicher?«

»Ganz sicher. Mir ist andauernd schlecht. Zum drittenmal ist meine Periode ausgeblieben. Meine Brüste werden größer und härter. Und Schwindelanfälle habe ich auch schon. Ein zweites Kind, Martha! Ich habe eine Todesangst vor diesem zweiten Kind! Ich darf es nicht haben!«

»Aber es gibt bestimmt keinen Arzt, der dir helfen würde. Die müssen sich jetzt doch an ganz strenge Vorschriften halten!«

»Das weiß ich.«

»Hast du jemand davon erzählt – der Agnes meine ich, oder diesem Martin Landau?«

»Kein Wort. Ich bin auch heute zu dir gefahren, am Sonntag, damit Martin nicht mißtrauisch wird. Agnes und Heinz habe ich gesagt, du hättest etwas mit mir zu besprechen …«

Dieser Dialog zwischen Valerie Steinfeld und ihrer Schwester Martha Waldegg fand am Nachmittag des 17. Juni 1938 im Wohnzimmer der kleinen, kaisergelb gestrichenen Villa an der Fliederstraße in Villach statt. Hinter dem Haus lag ein großer, verwilderter Garten mit Obstbäumen und vielen Blumen, die bunt leuchtend blühten. Sommer, tiefer Sommer ruhte über dem Land, die Sonne brannte, an den Horizonten flimmerte die Luft über den dunklen Bergwäldern, von denen die Stadt umgeben war. Das Haus, um die Jahrhundertwende gebaut, hatte Marthas Mann, der Berufsoffizier Hans Waldegg, von seinen Eltern geerbt. Der Major Waldegg war bald nach dem ›Anschluß‹ Österreichs als Kommandeur einer Einheit in eine Garnison bei Berlin versetzt worden, seine Frau seit zwei Monaten allein.

Die Villa befand sich im Westen der Stadt, nahe den berühmten Heilquellen von Warmbad Villach. Schon den Römern war die gesundmachende Kraft der heißen Sprudel, die hier aus der Erde schossen, bekannt gewesen.

Das Waldeggsche Haus lag sehr abgeschieden, die Fliederstraße war still, kaum jemals fuhr dort ein Auto, die nächsten Villen standen entfernt. Eine Frau kam in der Woche während des Tages, um Martha zu helfen. Heute, am Sonntag, hatte sie frei. Martha und Valerie waren allein. Die Schwestern, beide zierlich gewachsen, sahen sich außerordentlich ähnlich. Beide hatten leuchtend blondes Haar, blaue Augen und eine helle, schöne Haut. Martha war zwei Jahre jünger als Valerie.

Die Fenster des Wohnzimmers standen offen. Bienen summten draußen im Gras. Eine Lokomotive pfiff, lange und klagend. Nördlich verlief eine Eisenbahnlinie.

»Lieber Gott im Himmel«, sagte Martha leise. Sie starrte die Schwester unentwegt an.

»Es geht nicht«, sagte Valerie. »Es geht nicht, Martha! Vor zwei Wochen habe ich Heinz die Dokumente für den Ariernachweis geben müssen – sein Klassenlehrer hat gedrängt und gedrängt. Ich mußte dem Buben sagen, daß Paul Jude ist – und er also ein Mischling. Du weißt, was ich daraufhin mitgemacht habe …«

»Du hast es mir geschrieben.«

»Aufgeführt wie ein Wahnsinniger hat sich der Bub! Schrecklich! Ganz furchtbar war das! Geheult und geschrien hat er! Angespuckt hat er mich! Denn ich, ich bin doch an allem schuld in seinen Augen, nicht wahr? Und vor zwei Tagen haben sie ihn aus der HJ geworfen …«

»Das auch noch!«

»Natürlich. War doch zu erwarten. Alles ging wieder los, viel schlimmer als das erste Mal! Er hat mich verflucht und Paul verflucht und getobt und sich nicht beruhigen lassen. Er spricht kein Wort mit mir seither.« Valerie ergriff einen Arm der Schwester. »Nachts liegt er in seinem Bett und weint, stundenlang … die Agnes und ich haben es gehört! Und von Paul weiß ich nicht einmal, ob er durchgekommen ist, ob er noch lebt!«

»Arme Valerie …«

»Zwei Kinder … in dieser Zeit! Jeden Tag können die Nazis etwas unternehmen gegen Mischlinge … sie behandeln wie Juden, wer weiß? Und ich bin allein! Ich muß sehen, daß ich Heinz durchbringe! Aber wenn ich jetzt noch ein Kind bekomme … das ist unmöglich, Martha! Das ist unmöglich!« Valerie holte keuchend Atem. »Es muß passiert sein, bevor Paul geflohen ist … an diesem Nachmittag, ehe ich ihn zum Westbahnhof brachte … Ich hatte noch so ein Gefühl …« Valeries Nägel gruben sich in den Arm der Schwester. »Hilf mir jetzt! Bitte, bitte, hilf mir!«

»Wie?«

Valerie sprach beschwörend und gleichzeitig gehetzt: »Elf Jahre bist du verheiratet. Ihr habt keine Kinder, obwohl ihr sie euch so wünscht. Dein Mann ist sehr traurig darüber. Das hat er mir gesagt! Das hast du mir gesagt! Dein Mann ist nicht da. Er wird auch nicht so bald aus Berlin zurückkommen. Keinesfalls vor Ende des Jahres. Und das würde genügen, Martha, das würde genügen.«

»Du meinst … du würdest …«, stammelte die Schwester.

»Ich muß! Ich muß doch! Bitte, Martha, hilf mir! Du … du hilfst doch auch dir! Denk nur, wie glücklich Hans wäre, wenn du ein Kind bekommst, endlich ein Kind – nach all der Zeit …«

»Natürlich«, sagte Martha, »würde er glücklich sein. Ich würde auch glücklich sein mit einem Kind. Aber du … Valerie … du … es wäre doch deines! Glaubst du, daß du das aushalten könntest?«

Valerie nickte stumm.

Martha Waldegg stand abrupt auf. Sie trat an das Fenster. Ein goldgelber reifer Apfel fiel eben von einem Baum und rollte ein Stück die Wiese hinab. Die Bienen summten, die Blumen dufteten, in der Ferne stießen die Puffer der rangierenden Waggons gegeneinander.

»Wahnsinn«, sagte Martha mit erstickter Stimme. »Wahnsinn. Aber dann wieder … wenn ich denke …«

»Ja?« fragte Valerie. »Ja?«

»… wie Hans sich freuen würde … und ich … ein Kind … Unsere Ehe wäre wieder so wie früher, wie ganz am Anfang …«

»Nun, also!«

»Aber – ich denke jetzt einmal gar nicht an dich, Valerie –, aber da gibt es so viele Schwierigkeiten … Wir brauchen einen Arzt …«

»Du hast doch einen! Den alten Doktor Orlam! Zu dem gehst du, seit du verheiratet bist! Der weiß alles über deine Ehe! Und ein Nazi ist er auch nicht, hast du mir gesagt …«

»Nein, ein Nazi ist er nicht. Im Gegenteil. Aber trotzdem … trotzdem! Valerie, denk, was er riskiert!«

»Er hat Schweigepflicht. Wir reden mit ihm. Nein sagen kann er noch immer! Los, ruf ihn an!«

»Jetzt, am Sonntag?«

»Ich muß doch nach Wien zurück. Sag ihm, es ist dringend. Bitte, Martha …«

Ein langes Schweigen folgte.

»Nein«, sagte Martha zuletzt, den Blick auf den blühenden Garten gerichtet. »Nein, es geht nicht. Das kann man nicht tun. So sehr ich und Hans uns ein Kind wünschen. So schön es wäre. Es geht nicht, Valerie. So etwas ist unmöglich.«

73

»Es besteht kein Zweifel«, sagte der Dr. Josef Orlam zwei Stunden später in dem stillen Ordinationszimmer seiner Praxis. Er war ein älterer Mann mit gütigen Augen, einer Nickelbrille, die ihm ständig auf die Nasenspitze rutschte, und schmalen Händen, die schon viele Hunderte von Kindern zur Welt gebracht hatten. »Nicht der geringste Zweifel. Sie sind schwanger, Frau Steinfeld. Im dritten Monat.«

Er hatte Valerie untersucht. Nun saß sie, wieder angezogen, neben Martha vor Orlams Schreibtisch. Die Schwestern hatten sich dem erfahrenen Arzt vollkommen anvertraut, gleich nachdem sie eingetroffen waren. Orlam hatte vorgeneigt, ohne ein Zeichen von Erschrecken oder Abwehr, gelauscht. Er wohnte im Stadtzentrum, am Nikolaiplatz, gegenüber der Kirche. Wenn man aus dem Fenster des Ordinationszimmers blickte, sah man das träge Wasser der Drau und, zum Eingang des Platzes führend, die Brücke über den Fluß. Platz und Brücke waren sonntäglich leer. Der Arzt lebte allein. Heute, am Feiertag, hatte er auch keine Sprechstundenhilfe, und seine Haushälterin war zu Bekannten gefahren.

Valerie fragte mit geradezu unnatürlicher Ruhe: »Wären Sie bereit, uns bei meinem Plan zu helfen, Herr Doktor?«

»Frau Steinfeld«, sagte Orlam, »ich habe Angst, daß Sie sich das alles zu einfach vorstellen.«

»Zu einfach für Sie?«

»Nein, für Sie«, sagte Orlam. »Wenn Sie Ihr Vorhaben durchführen, dann wird Ihr Kind nach dem Gesetz und der Taufe, aber vor allem nach einer ganz strengen persönlichen Verpflichtung, der Sie sich unterwerfen müssen, das Kind Ihrer Schwester sein!«

»Das ist mir klar.«

»Ich fürchte, das ist Ihnen noch nicht klar.« Der Arzt knöpfte verstört seinen weißen Kittel auf und zu. »Jetzt wollen Sie es so. Aber warten Sie noch eine Weile, eine kleine Weile – bis die Muttergefühle in Ihnen richtig erwachen – wie bei jeder Frau, die ein Kind erwartet. Was wird dann sein? Und erst, wenn das Kind geboren ist! Wissen Sie, wie stark Ihre Liebe, Ihre Sehnsucht und Ihr Verlangen nach dem eigenen Kind dann sein werden? Was Sie dann werden tun wollen und nicht werden tun dürfen, ohne daß es eine Katastrophe gibt? Wissen Sie …«

»Herr Doktor«, unterbrach ihn Valerie, und ihre Stimme hob sich mehr und mehr, während sie weitersprach, »Sie haben recht, ich weiß es nicht. Ich kann es mir vielleicht nicht einmal vorstellen. Aber ich weiß, was es heißt, in Angst zu leben tagein und tagaus, ohne Hoffnung auf ein Ende! Zur Gestapo gerufen und bedroht und geängstigt und angebrüllt zu werden, jede Woche, jede Woche, immer weiter! Einen Mann verloren zu haben, der vielleicht tot ist, den ich vielleicht nie wiedersehe!« Jetzt schrie sie. »Und schon ein Kind zu haben, das der Willkür dieser Leute ausgeliefert ist, und um dieses Kind zittern zu müssen, jede Stunde, Tag und Nacht! Das weiß ich! Und alles, was mich erwartet, wenn ich meinen Plan ausführe, kann nicht so schlimm sein, kann mich nicht so quälen wie das, was ich schon jetzt aushalten muß! Dieses ungeborene Wesen soll nicht auch noch leiden müssen! Es soll in Frieden aufwachsen dürfen!«

»Sie sind ein gejagter Mensch, ein Mensch in Panik, ohne Schutz …«

»Können Sie das vielleicht ändern, Herr Doktor?« Valerie schüttelte den Kopf. »Nein, das können Sie nicht. Niemand kann das. Deshalb sitze ich hier vor Ihnen und frage Sie: Wollen Sie uns helfen?«

Sie bemerkte, daß ihre Schwester die Hände gefaltet hatte.

»Ich will Ihnen helfen«, sagte der alte Arzt nach einer Pause. Er sah Valerie in die Augen. Sie erwiderte den Blick ruhig. »Aber ich kann Ihnen nur eine bestimmte Strecke Ihres Weges weit helfen. Die kürzeste, Frau Steinfeld.«

»Die wichtigste«, sagte Valerie. »Nur … Villach ist eine kleine Stadt. Erschwert das nicht Ihre Hilfe?«

Orlam schob seine Nickelbrille empor. Sie glitt sogleich wieder herab.

»Ja und nein«, sagte er. »Natürlich werden wir vorsichtig sein müssen. Andererseits wissen die Leute hier, wo fast jeder jeden kennt, daß Frau Waldegg seit vielen Jahren zu mir kommt und alles versucht, um ein Kind zu empfangen. Und daß ich alles versucht habe, um ihr dabei zu helfen. Das käme uns nun zugute. Ich habe eben Erfolg gehabt mit meiner Behandlung, nicht wahr? Frau Waldegg wäre eben endlich schwanger, ich würde das konstatieren, sie würde es herumerzählen, regelmäßig weiter zu mir kommen … Sie wohnt ziemlich einsam, das ist auch gut … Ich würde ihr sagen, wie sich eine Schwangere benimmt …«

Plötzlich schien Martha vergessen zu haben, was hier vorbereitet wurde. »Wenn Sie uns wirklich helfen wollen, Herr Doktor, dann schreibe ich morgen meinem Mann, daß ich ein Kind erwarte – nein, nein, keine Sorge, die lassen ihn nicht weg von seiner Einheit. Da geht es zu wie verrückt. Er ist für viele Monate unabkömmlich, hat er mir geschrieben. Höchstens nach der Geburt des Kindes werden sie ihm ein paar Tage Urlaub geben, stelle ich mir vor …«

»Ich würde etwa im Oktober nach Villach kommen und bei meiner Schwester wohnen, um ihr beistehen zu können in der Zeit vor der Geburt«, sagte Valerie. »In Wien ist das alles zu regeln. Das haben wir schon besprochen, Martha und ich. Sie könnten mich draußen in der Fliederstraße untersuchen, Herr Doktor – offiziell natürlich meine Schwester. Der Weg in die Stadt wäre ihr dann eben schon zu beschwerlich. Sie haben einen Wagen. Und eine Entbindung zu Hause – das ließe sich doch auch machen, nicht wahr?«

»Wenn mir jemand assistiert …«

»Ich bin sehr kräftig«, sagte Valerie schnell. »Man sieht es mir nicht an. Mein erstes Kind habe ich ganz leicht und ohne Komplikationen zur Welt gebracht. Nach vier Tagen lief ich schon wieder herum. Zur Not wird es auch schon nach drei oder zwei Tagen gehen. Martha kann Ihnen assistieren. Niemand wird etwas merken … Was ist? Wollen Sie doch nicht, Herr Doktor?« Er antwortete nicht. »Herr Doktor, bitte! Sie haben doch schon zugesagt!«

Der Dr. Josef Orlam antwortete langsam: »Ich halte mein Wort auch. Ich sympathisiere mit allen Schwachen und Hilflosen. Wahrscheinlich, weil ich selber hilflos und schwach bin. Ich kann nicht viel für Sie tun.«

»Sie können unendlich viel tun!« rief Valerie.

Orlam zuckte die Schultern.

»Nach Ihnen sehen, das Kind entbinden – was ist das für jemanden, der es sein Leben lang getan hat? Und dann kann ich noch den Geburtsschein ausstellen und durch meine Unterschrift bestätigen, daß Ihre Schwester ein Kind bekommen hat. Damit aber ist meine Macht zu Ende. Schon zu den Behörden gehen müssen Sie, Frau Waldegg. Und lügen vor Ihrem Mann müssen Sie. Jetzt schon! Und mit der Lüge leben müssen Sie beide, meine Damen – immer weiter! Es gibt dann kein Zurück mehr.«

74

Der Major Hans Waldegg war selig vor Freude, als er den Brief seiner Frau erhielt, in dem diese ihm mitteilte, daß sie schwanger sei. Er versuchte, Urlaub zu bekommen, jedoch wurde sein Ansuchen abgelehnt. Daraufhin begann der Major Waldegg, ein rechtschaffener, etwas einfältiger Mensch aus gutbürgerlicher Familie, der sich niemals um Politik kümmerte, sondern nur um seinen Beruf, den auch schon Vater und Großvater ausgeübt hatten, seiner geliebten Frau jeden zweiten Tag zu schreiben, und sehr viele Briefe erreichten auch ihn.

Alles gehe seinen guten Gang, schrieb Martha Waldegg. Dr. Orlam sei außerordentlich zufrieden. Sie befolge alle seine Anordnungen auf das gewissenhafteste. Mit der Geburt des Kindes rechne sie für Dezember. Ihre Schwester Valerie habe jetzt bereits versprochen, Anfang Oktober nach Villach zu kommen und bei ihr zu bleiben bis zur Niederkunft.

Das rührte den Major Waldegg, denn er wußte um Valeries Schicksal, und sie tat ihm leid. Waldegg schrieb auch Valerie Briefe, in denen er immer wieder seine Dankbarkeit aussprach.

Diese Briefe ließ Valerie daheim herumliegen, so daß die Agnes und ihr Sohn sie lesen konnten, und sie zeigte sie Martin und Ottilie Landau. Natürlich verstanden die beiden, daß sie der Schwester beistehen wollte und mußte, und so übersiedelte Valerie Anfang Oktober. Sie war da bereits im sechsten Monat, aber man sah ihrem schlanken Körper die Schwangerschaft nicht an. Genauso war es bei Heinz gewesen – erst in den letzten beiden Monaten vor der Geburt hatte Valeries Leibesumfang zugenommen.

Sie verließ Wien und die Buchhandlung Landau, Heinz blieb in der Obhut der Agnes zurück. Es war ein trauriger Abschied, denn Heinz, mittlerweile ein wenig ruhiger geworden, zeigte sich der Mutter gegenüber immer noch feindselig und verschlossen. Mit schwerem Herzen fuhr Valerie nach Villach …

Regelmäßig erschien Dr. Orlam in der einsamen Fliederstraße und untersuchte scheinbar Martha Waldegg (die nun schon ein Kissen – Polster sagt man in Österreich dazu – unter dem Rock trug), tatsächlich jedoch Valerie, deren Bauch sich langsam rundete, was sie mit Hilfe einer veränderten Garderobe und dadurch verbarg, daß sie kaum noch das Grundstück verließ und in Begleitung ihrer Schwester täglich stundenlang in dem nun kahlen Garten, hinter dem die Züge rollten und die Lokomotiven pfiffen, spazierenging. Sie solle sich viel Bewegung machen, hatte Dr. Orlam gesagt.

Im November provozierte Martha dann einen wohlüberlegten Streit mit der Putzfrau, sie beschuldigte die Person ungerecht, was zur Folge hatte, daß die Putzfrau fristlos kündigte. Nun waren die Schwestern allein.

In der Nacht des 8. Dezember 1938 setzten bei Valerie die Wehen ein. Martha rief telefonisch Dr. Orlam herbei. Am frühen Morgen des 9. Dezember schon hatte Valerie, ohne jede Komplikation wiederum, ihrem zweiten Kind das Leben geschenkt. Sie war in guter körperlicher Verfassung, ebenso das Baby. Drei Tage verbrachte Valerie im Bett, ständig besucht von dem alten Arzt, der zu seiner Verwunderung feststellte, daß sie einen gelösteren und fröhlicheren Eindruck machte als Martha, die nun die Rolle der Mutter des Kindes übernehmen mußte.

Am 12. Dezember telefonierte Martha mit ihrem Mann und sagte ihm, daß sie ein Mädchen geboren habe. Dr. Orlam schickte ein Telegramm des gleichen Inhalts und seine Glückwünsche. Er hatte auch das Problem des Stillens mittlerweile erledigt. Das Neugeborene wurde mit fremder Muttermilch genährt, die eine Frauenklinik täglich lieferte, Valeries Milchvorräte ließ Dr. Orlam durch ständige kühle Umschläge zurückgehen. Und Martha, so konstatierte er einfach, besaß nicht genügend dieser Vorräte, um das Kind selber zu nähren.

Am 17. Dezember traf Hans Waldegg in Villach ein. Er hatte Urlaub über Weihnachten erhalten. Der Major fand eine fröhliche Valerie vor und eine ernste Martha, die im Bett lag, ein laut schreiendes Baby im Arm hielt und in Tränen ausbrach, als er neben dem Bett in die Knie fiel und sie küßte, wieder und wieder, wobei er flüsterte: »Danke … Ich danke dir, meine Liebste …«

Im dämmrigen Hintergrund des Zimmers verharrte reglos, mit einem Lächeln auf den Lippen, Valerie Steinfeld.

Dieses Lächeln war auch noch auf ihrem Gesicht zu sehen, als sie – man hatte die gesetzlichen Formalitäten in aller Eile erledigt – am 21. Dezember 1938 in der Kirche zu Sankt Nikolai (laut rauschte die nahe, hoch angeschwollene Drau) vor den Pfarrer trat, der bei Beginn der Taufe, also vor Eintritt des Kindes in das Reich des Lichtes und des Lebens, noch eine violette Stola trug. Im Arm hielt Valerie das gut gegen die Kälte geschützte Baby. Der Major trug Uniform, seine Frau ein schwarzes Kostüm, ein schwarzes Hütchen und einen grauen Waschbärmantel, den Waldegg ihr zum Geschenk gemacht hatte.

»Der Friede sei mit euch«, sprach der Pfarrer. »Wie soll dieses Kind heißen?«

Draußen donnerte der Fluß, eiskalt pfiff der Nordwind.

»Dieses Kind soll Irene heißen«, antwortete Valerie mit klarer, lauter Stimme. Der Major Waldegg und seine Frau hatten den Namen gewählt. Es war ein Name, den auch drei Heilige trugen.

Der Pfarrer sprach: »Irene, was begehrst du von der Kirche Gottes?«

Valerie hörte, wie Martha, die hinter ihr stand, unterdrückt zu schluchzen begann und wie ihr Mann zärtlich und tröstend auf sie einsprach. Valerie antwortete, und ihre Stimme klang gleich einer Glocke aus Glas: »Den Glauben.«

»Was gewährt dir der Glaube?«

Valerie erwiderte: »Das ewige Leben.«

»Willst du also«, fragte der Pfarrer, »zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Gemüte und deinen Nächsten wie dich selber.«

Auch du sollst es nie erfahren, Paul, geliebter Paul, dachte Valerie, niemand soll es wissen außer mir und Martha und dem Doktor Orlam und Gott, wenn es wirklich einen Gott gibt, nein, niemand soll es wissen.

»Empfange das Zeichen des Kreuzes auf die Stirn und auf das Herz«, sprach der Priester. Er sprach laut, um die brausende Drau zu übertönen.

»Ergreife den Glauben an die himmlische Lehre und wandle so, daß du ein Tempel Gottes sein kannst …«

Immer noch schluchzte Martha Waldegg. Und noch immer stand auf Valeries Lippen das geheimnisvolle Lächeln – das gleiche wie bei jener unbekannten Selbstmörderin, die man einst in Paris aus der Seine zog.

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Vers drei

Der Sinn

Solche Frage zu erwidern,

Fand ich wohl den rechten Sinn:

Fühlst du nicht an meinen Liedern,

Daß ich eins und doppelt bin?

1

Die beiden Männer hatten das Abteil Erster Klasse wenige Minuten vor dem Zeitpunkt betreten, zu dem der ›Venetia-Expreß‹ Villach verließ. Sturm war aufgekommen und heulte nun um den Zug, rüttelte an den Waggons, ächzte, knatterte, pfiff und jaulte. Mächtige Schneeflügel stäubten zu beiden Seiten des Expreß empor. Die Nacht hatte begonnen. In dem Abteil brannte die Deckenbeleuchtung. Der Zug war mit fünfzig Minuten Verspätung in Villach eingetroffen.

Während Manuel auf die Ankunft des ›Venetia-Expreß‹ gewartet hatte, war er in das Bahnhofspostamt gegangen, um Wien anzurufen und sich bei Dr. Stein zu melden.

Als der Zug dann endlich einlief und zum Halten kam, stieg Manuel Aranda in einen Wagen Erster Klasse – den siebenten vom Ende des Zuges gezählt – und setzte sich in ein leeres Abteil. Fast unmittelbar darauf erschienen die beiden Männer.

»Ist hier noch Platz?« fragte der erste Mann.

Manuel, der beim Fenster saß, nickte.

»Dann sind wir so frei«, sagte der erste Mann. Wie sein Kollege und wie Manuel hatte er kein Gepäck. Die beiden Reisenden zogen ihre schweren Wintermäntel aus und nahmen die Hüte ab. Es waren große, kräftige Männer – höchstens Mitte der Dreißig. Der eine hatte braunes, der andere schwarzes Haar.

»Guten Abend, Herr Aranda«, sagte der Braunhaarige mit einer kleinen Verneigung. Er lächelte. »Erschrecken Sie nicht. Das hier …« – er wies auf seinen Begleiter – »… ist Inspektor Gamitz. Ich bin Inspektor Frohner. Beide vom Sicherheitsbüro Wien.«

»Habe die Ehre«, sagte der Schwarzhaarige, der Gamitz hieß. Die Männer wiesen Metallmarken vor.

»Sicherheitsbüro?« Manuel hob die Brauen.

»Wir sind schon mit Ihnen nach Villach heruntergefahren heute früh«, sagte Frohner. »Sie haben uns nicht bemerkt?«

»Nein …«

»Wir waren auf dem Gang draußen und im Nebenabteil«, sagte Gamitz.

»So wenig Aufsehen wie möglich, hat der Herr Hofrat uns eingeschärft.«

»Der Hofrat Groll?«

»Ja.«

»Ich habe ihm erzählt, daß ich heute nach Villach fahren wollte …«

»Na eben! Da hat er uns dann abkommandiert.«

»Aber warum?«

»Zu Ihrem Schutz«, sagte Gamitz.

»Damit Ihnen ja nichts zustößt«, sagte Frohner. »In Wien passen wir ja auch ein bissel auf Sie auf.« Er lächelte wieder. »Andere Kollegen. Haben Sie auch noch nicht gemerkt?«

»Nein.«

»Tja, der Herr Hofrat hat das so angeordnet. Er ist besorgt um Sie, wissen Sie.«

Guter alter Groll, dachte Manuel abwesend. Seine Gedanken waren noch immer bei Martha Waldegg.

»Na, und jetzt, wo es Nacht wird und Sie allein sitzen in dem Abteil, da haben wir gedacht, es ist besser, wir kommen zu Ihnen. Es inkommodiert Sie doch nicht?«

»Überhaupt nicht.«

»Sehr schön«, sagte Frohner. Er setzte sich und entfaltete eine Zeitung. »Sie sollen sich durch uns nicht gestört fühlen.«

Der Zug ruckte an.

Bald fuhr er schnell. Villach blieb zurück. Manuel sah aus dem Fenster. Streckenlampen flogen vorbei. Im Augenblick schneite es nicht, doch der Sturm wurde immer ärger. Entfernt wanderten Autoscheinwerfer über Landstraßen, und noch weiter fort, schwächer und verloren, blinkten Lichter aus den Fenstern einsamer Gehöfte …

»Dank dir schön«, sagte Frohner plötzlich.

Manuel sah in das Abteil.

Frohner hatte eben eine Zigarette aus einem Päckchen genommen, das Gamitz ihm hinhielt. Der rauchte selber. »Oh«, sagte Frohner höflich, »entschuldigen Sie. Herrgott, und das war jetzt die letzte in der Packung!«

»Warten Sie, Herr Aranda. Ich habe noch welche.« Gamitz griff in seine Jackentasche.

»Wirklich, das ist sehr liebenswürdig, aber ich …«

»Hier, bitte, bedienen Sie sich. Österreichische Marke!« Gamitz nannte einen Namen. »Sind ausgezeichnet. Werden Ihnen schmecken. Bitte – sonst können wir auch nicht rauchen!«

»Nun also dann – vielen Dank.« Manuel griff nach dem neuen Päckchen, das Gamitz geöffnet hatte. Frohner knipste ein Feuerzeug an.

»Gut, wie?« fragte er, Manuel mit einem Lächeln betrachtend.

»Ausgezeichnet«, sagte Manuel. Die Zigarette schmeckte würzig und herb. Er inhalierte den Rauch und blies ihn durch die Nase wieder aus.

»Ich lasse das Päckchen am Fensterbrett liegen«, sagte Gamitz höflich, »Bedienen Sie sich, bitte.« Er holte ein schmales Buch hervor und streckte die Beine aus. Frohner hob wieder seine Zeitung. Die beiden Männer begannen zu lesen.

Manuel zog an der Zigarette. Er sah in die Nacht, zu den vorüberfliegenden Lichtern und den Schneewirbeln hinaus, die der Zug hochriß. Der fuhr jetzt sehr schnell. Das Fenster spiegelte. Manuel erblickte sein Gesicht. Der Waggon rüttelte plötzlich heftig, als der Zug über Weichen schoß. Die Lokomotive stieß einen langen Schrei aus. Auch in dem stillen, altmodisch eingerichteten Zimmer, in dem Manuel mit Martha Waldegg gesprochen hatte, war immer wieder das Pfeifen von Lokomotiven auf der nahen Bahnstrecke und das Rollen von Rädern zu hören gewesen …

»Jetzt wissen Sie alles, Herr Aranda …« Die Stimme der Dreiundsechzigjährigen hatte belegt geklungen. »Jetzt kennen Sie das Geheimnis. Mein Mann und ich, wir lieben Irene! Für Hans ist sie sein Ein und Alles. Es würde ihm das Herz brechen, wenn er nach all den Jahren noch hinter den Betrug käme. Darum war ich so voller panischer Angst. Können Sie das nun verstehen?«

»Ja«, hatte Manuel gesagt.

»Ich habe Ihnen voller Vertrauen alles erzählt, Herr Aranda. Bitte enttäuschen Sie dieses Vertrauen nicht. Mein Mann und Irene sollen nie die Wahrheit erfahren – das war auch Valeries Wunsch.«

Manuel blickte seine Gastgeberin an, seltsam beschämt.

»Ich werde Irene niemals ein Wort verraten«, sagte er. »Das verspreche ich.«

»Danke … Ich danke Ihnen von Herzen … Sehen Sie, ich hatte auch viel Kummer in den letzten Jahren mit ihr …«

»Kummer?«

»Nun ja … Je weiter Irene heranwuchs, desto mehr begann ich den Betrug vor mir zu verdrängen. Schließlich fühlte ich für sie wirklich wie für ein eigenes Kind … Mein Mann sowieso … Und Valerie hielt sich an unser Abkommen …«

»Danach wollte ich gerade fragen«, sagte Manuel. Jetzt rollten wieder Räder, jetzt heulte wieder eine Sirene auf dem entfernten Bahndamm, jenseits vieler kahler, tiefverschneiter Gärten. »Frau Steinfeld hat nicht den Versuch gemacht, Irene nach dem Krieg als ihr Kind zurückzuholen?«

»Nie! Sie kannten meine Schwester nicht. Die brach kein Versprechen, das sie gegeben hatte, die konnte nichts Schlechtes tun …«

Sie konnte nichts Schlechtes tun, dachte Manuel. Meinen Vater hat sie vergiftet. Und wenn er hundertmal den Tod verdiente für das, was er tat – wer gab Valerie Steinfeld das Recht, ihm das Leben zu nehmen? Gott etwa? Ach, lassen wir bloß Gott aus dem Spiel in dieser verfluchten Geschichte!

Valerie Steinfeld!

Immer noch tappe ich im dunkeln, dachte Manuel. Trotz allem, was ich nun weiß. Noch kenne ich nicht die Wahrheit. Werde ich sie kennen – jemals? Stockend sagte er: »Es muß doch eine furchtbare seelische Belastung für Frau Steinfeld gewesen sein, ihr Kind als das Kind einer anderen aufwachsen zu sehen.«

»Es war die größte seelische Belastung für sie, mir das Kind überhaupt zu geben«, antwortete die zierliche Martha Waldegg. »Aber sie hatte eine übermenschliche Selbstbeherrschung. Sie konnte immer ihre Gefühle verbergen. Nur in ihrem Innern … in ihrem Innern muß es furchtbar ausgesehen haben, sicherlich … damals, am Anfang, bei der Geburt, in den Jahren danach … Doch sie zeigte es nie, kein einziges Mal! Nie verlor sie ein Wort der Klage. Immer war sie fröhlich, wenn sie mit meiner – mit ihrer – Tochter zusammentraf, hier oder in Wien. Sie ließ sich nichts anmerken. Sie wahrte unser Geheimnis bis zum Tod. Bis zu diesem grausigen, unbegreiflichen Ende.«

»Es ist auch für Sie unbegreiflich?«

»Vollkommen, Herr Aranda. Absolut! Mein Mann und ich, wir waren wie erschlagen, als wir davon erfuhren. Es gibt einfach keine Erklärung!«

»Sie sagten vorhin, Sie hätten viel Kummer gehabt in den letzten Jahren, gnädige Frau. Wieso?«

Martha Waldegg machte eine hilflose Bewegung.

»Das Leben! Niemanden trifft die Schuld daran … Valerie ganz bestimmt nicht … Aber sehen Sie, als Irene achtzehn war und nach Wien ging, um zu studieren, da zog sie zu Valerie … und bei Valerie blieb sie dann all die Jahre, als sie in der Apotheke arbeitete, als sie das Geschäft übernahm. Die Apotheke hatte ihrem Onkel gehört, dem Bruder meines Mannes. Seine Frau war immer krank gewesen. Bei ihm hatte Irene nicht wohnen können. Sie liebte Valerie! Ich … ich wurde eifersüchtig! Es ist grotesk, ich weiß … Nun wendete sich alles vollkommen … Die beiden machten zusammen Ferien, sie verreisten … Irene kam seltener und seltener zu uns … Ihr Zuhause war mehr und mehr Wien, die Gentzgasse, Valerie … Und wir wurden ihr fremder und fremder …«

Manuel erinnerte sich an die Worte, die Irene auf dem Zentralfriedhof gesprochen hatte an dem Tage, da sie einander kennenlernten: »Valerie … Ich habe sie doch so geliebt! Mehr als alle anderen Menschen … Ja, sogar mehr als meine Mutter! Ich habe meine Mutter gern, wirklich … Aber seit ich in Wien lebte, war Valerie meine Mutter … mehr als die wirkliche … und sie wurde es immer stärker, immer stärker …«

Martha Waldegg hatte den Kopf abgewandt und fuhr sich über die Augen. Er fragte schnell: »Und dieser Prozeß … wie ging der aus?«

»Überhaupt nicht.« Martha Waldegg hatte sich gefaßt. Sie blickte Manuel an.

»Was heißt das?«

»Er war bei Kriegsende noch nicht beendet. Er wurde nie beendet.«

»Das sagte Ihnen Ihre Schwester?«

»Ja, Herr Aranda. Als ich sie endlich wiedersah nach dem Krieg, im Februar 1946, da sagte sie es mir.«

»Im Februar 1946? Ich verstehe nicht …«

»Im Sommer 44 wurde mein Mann verwundet. Sehr schwer. Er lag in einem Lazarett bei Breslau. Lange sah es so aus, als ob er sterben müßte. Ich bekam die Erlaubnis, ihn zu besuchen – Frauen von Offizieren erhielten eine solche Erlaubnis damals noch.«

»Sie fuhren mit dem Kind – fast sechs Jahre war es damals, nicht wahr? – also nach Breslau?«

»Ja. Wir fanden ein Zimmer in Untermiete. Und ich blieb bei meinem Mann. Langsam, ganz langsam besserte sich sein Zustand. Die Front kam immer näher. Wir hatten dauernd Luftangriffe. Die Postverbindung zu Valerie riß ab, Briefe gingen verloren … Und dann, Februar 1945, mußten wir hinaus auf die Straßen, denn die Russen kamen. In einem Treck fuhren wir westwärts, dann nordwärts … immer beschossen von Tieffliegern … in eisiger Kälte … in Schneestürmen … die kleine Irene … mein immer noch schwerkranker Mann … Zuletzt landeten wir in Lüneburg. Da mußte Hans sofort wieder in eine Klinik – die Strapazen waren zu groß für ihn gewesen. Er erlitt einen Totalzusammenbruch. Die alten Wunden begannen zu eitern. Neue Operationen waren nötig. Das ganze Jahr 45 lag mein Mann in der Klinik. Ich arbeitete dort als Putzfrau …«

»Konnten Sie denn nicht nach Österreich zurück?«

»Mein Mann war erst Ende des Jahres soweit, daß er die lange Reise riskieren durfte. Sie wissen ja nicht, wie man damals reiste! Und wieder im Winter … Wir kamen über Wien …«

»Da sahen Sie dann Ihre Schwester endlich.«

»Ja, da sah ich sie. Ein Gespenst, mehr tot als lebendig, erschütternd, Herr Aranda! Richtig verwirrt kam Valerie mir vor. Was hatte sie mitgemacht! Ihr Mann, den sie so liebte, war bei einem Luftangriff auf London ums Leben gekommen – ein britischer Offizier hatte ihr im Sommer 45 die Nachricht gebracht. Ihr Mann, mit dem sie nach dem Krieg wieder zusammenleben und glücklich sein wollte! Aber nicht nur das. Heinz …«

»Ja?« Manuel richtete sich auf.

»Eine ganz böse Sache. Dieser elende Prozeß hatte ihn der Mutter entfremdet.«

»Wieso?«

»Ich weiß es nicht genau. Es war zu Zerwürfnissen gekommen, zu Streit. Er hatte ihr dauernd Vorwürfe gemacht … Es war nicht möglich, von Valerie eine klare Schilderung zu erhalten. Sie wog knapp fünfzig Kilo und schien dauernd am Umkippen. Jedenfalls war ihr der Sohn, den sie mit so viel Mühe durch die Nazizeit gebracht hatte, davongelaufen.«

»Davongelaufen?«

»Irgendwohin aufs Land. Er arbeitete bei Bauern. Er wollte nicht mehr bei der Mutter wohnen. Und er wartete nur darauf, daß die Kanadier Auswanderer ins Land ließen. Nun, 1947 ist er dann ja auch ausgewandert … und ein Jahr später umgekommen in Quebec, bei einem Autounfall … Wenn jemand ein schweres Leben geführt hat, dann war es Valerie! Und nun dieses Ende … dieses furchtbare Ende! Was für ein Geheimnis schleppte Valerie noch mit sich herum? Was kann es gewesen sein? Was, Herr Aranda, was?«

Ja, was …

Manuel preßte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe des Zugabteils. Er fühlte sich plötzlich todmüde, völlig erschöpft. Nur mit Mühe saß er aufrecht. Vor seinen Augen flimmerten Lichter in der Finsternis. Die Achsen der Räder schlugen gehetzt und laut.

Was ist los mit mir? dachte Manuel. Ich kann nicht mehr richtig sehen, nicht mehr richtig hören, mir ist so unheimlich. Die Luft im Abteil, die zu warme Luft. Ich will auf den Gang hinausgehen. Da werde ich mich besser fühlen, da werde ich …

Ohne einen Laut sackte Manuel Aranda zusammen.

Im nächsten Moment schon war Frohner aufgesprungen und hatte den Reglosen an den Schultern gepackt, um zu verhindern, daß er auf den Boden kippte.

Der schwarzhaarige Gamitz zog schnell die Rollvorhänge an den Abteilfenstern, die zum Gang sahen, herab und befestigte sie, dann trat er zu Frohner, hob Manuels Kopf und drückte eines der geschlossenen Augenlider hoch.

»Der ist bedient«, sagte Gamitz zufrieden.

»Noch neun Minuten bis Klagenfurt«, sagte Frohner. »Klappt wie am Schnürchen. Los, hilf mir.« Er hatte Manuels Kamelhaarmantel vom Haken genommen. Die beiden Männer richteten den Bewußtlosen halb auf, hielten ihn fest und mühten sich, seine schlenkernden Arme in die Mantelärmel zu bringen.

»Diese Zigaretten sind erste Klasse«, sagte Gamitz. »Wirken in so kurzer Zeit. Die haben uns schon was Feines gegeben.«

»Sind ja keine Idioten«, sagte Frohner. »Er hat aber auch brav sofort eine genommen.«

»Wo ist der Stummel?«

»Im Aschenbecher.«

Frohner fischte das Ende heraus und steckte es in die Packung mit den präparierten Zigaretten, die er vor Manuel hingelegt hatte. Dann öffnete er kurz das Fenster und warf die Packung hinaus. »Die nächsten Stunden schlummert der jetzt selig«, sagte er dazu. »Setzen wir ihn dahin. So. Und den Vorhang vors Gesicht. Er schläft, wenn ihn draußen wer im Vorbeigehen sieht.« Gamitz ließ die Rouleaus an den Gangfenstern wieder hochschnellen. Danach setzte er sich neben den reglosen Manuel. »In Klagenfurt nehmen wir ihn zwischen uns und schleppen ihn raus. Total besoffen, so muß er aussehen. Lachen und Witze machen, kapiert?«

»Ja«, sagte Frohner. »Wo ist das Auto?«

»Wartet vor dem Bahnhof. Überhaupt keine Affäre mehr.«

Nach kurzer Zeit verlangsamte der Zug sein Tempo. Viele Lichter huschten vorüber. Die beiden Männer zogen ihre Mäntel an und setzten ihre Hüte auf. Gamitz nahm den Vorhang wieder von Manuels Gesicht. Auf dem Gang draußen war niemand.

»Jetzt können wir, denke ich«, sagte Gamitz. Er drückte Manuel die braune Pelzmütze auf das Haar. Gemeinsam mit Frohner hob er den Betäubten hoch, der sinnlos vor sich hinlallte. Jeder Mann schlang sich einen Arm Manuels um die Schulter. Gamitz packte den Griff der Abteiltür, um sie zu öffnen. Im nächsten Moment stand ein junger, großer Mann, der einen Dufflecoat trug, in ihrem Rahmen. Er hielt eine schwere Pistole in der Hand.

»Was soll …«, begann Gamitz.

»Zurück«, sagte der Mann mit der Pistole. Er sprach schwer akzentuiertes Deutsch. »Sofort zurück! Den Mann auf die Bank.«

Frohners rechte Faust fuhr hoch. Er versuchte, dem Eindringling die Waffe aus der Hand zu schlagen. Der Mann im Dufflecoat trat ihn mit voller Wucht in den Bauch. Frohner jaulte auf, ließ Manuels Arm los und ging zu Boden. Gamitz fiel mit seiner Last auf die Sitze. Entsetzt sah er, wie ein zweiter Mann – er trug einen pelzgefütterten Ledermantel und gleichfalls eine Pistole in der Hand – das Abteil betrat und die Rouleaus wieder herabzog.

»Wir müssen hier aussteigen«, stammelte Gamitz. »Diesem Mann ist schlecht … zu viel getrunken …«

»Zu viel getrunken, Scheiße«, sagte der junge Mann im Ledermantel. Er sprach gleichfalls mit Akzent, es klang aber anders. »Arme hoch!« Gamitz hob gehorsam die Hände.

»Steh auf!« sagte der Mann im Ledermantel.

Gamitz stand auf.

Manuel sank der Länge nach auf die Bank.

Der Mann im Ledermantel durchsuchte Gamitz nach Waffen. Er fand einen Revolver in einem Gürtelhalfter, zog ihn heraus und steckte ihn ein. »Hinsetzen! Hände oben lassen!« befahl er.

Sein Begleiter hatte inzwischen den Mann, der sich Frohner nannte, hochgerissen und gegen das Fenster gestoßen.

»Ich kann nicht … kann nicht stehen …«, jammerte Frohner.

»Halt dich am Griff fest! Los!«

Auch bei Frohner fand sich eine Waffe.

Der Zug ratterte über Weichen und fuhr langsam in den Bahnhof Klagenfurt ein.

2

›Frag nicht, warum ich gehe‹, spielte das kleine Salonorchester, als Manuel die getäfelte Bar des ›Ritz‹ betrat. In der Loge, in der sie schon einmal mit ihm gesessen hatte, erblickte er Irene Waldegg. Verlegen sah sie ihm entgegen. Die großen braunen Augen schimmerten unter dem Licht der Wandbeleuchtung, das kastanienbraune Haar schien Irene wie in breiten, weichen Wellen über den Nacken auf die Schultern zu fließen.

Manuel hatte Nachrichten beim Portier vorgefunden, als er das ›Ritz‹ betrat. Eine Notiz Cayetanos bezog sich auf Irene. Manuel hatte gewußt, daß sie in der Bar sitzen würde. Und dennoch war es nun ein Schock, sie zu sehen, obwohl die Tatsache ihrer Anwesenheit ihn mit Freude erfüllte. Irene!

Valerie Steinfelds Tochter!

Seit heute nachmittag wußte Manuel es, und er würde es nie vergessen, solange er lebte. Die junge Frau, die ihm da mit einem schüchternen Lächeln entgegenblickte, die wußte nichts davon, die sollte es nie erfahren, nein, nie. Ob es sie erschüttern würde? überlegte er, während er auf Irene zuging. Ob es sie vielleicht im Gegenteil mit Freude und Stolz erfüllt hätte, wenn sie es wüßte? »Guten Abend, Irene!« Er neigte sich über ihre Hand und küßte sie. »Wirklich, das ist eine wunderbare Überraschung.«

»Sie sind mir nicht böse?«

»Böse? Na, hören Sie!«

»Es ist fast halb zwölf … Bis jetzt haben Sie gearbeitet. Ihr Direktor hat mir erzählt, daß Sie den ganzen Tag in Ihrer Botschaft zugebracht haben, daß Sie länger geblieben sind als er.«

Das hatte Cayetano in seiner Notiz hinterlassen. Er war im Hotel gewesen, als Irene um 22 Uhr kam. Er hatte ihr erzählt, auch er, Cayetano, und die beiden Anwälte in seiner Gesellschaft müßten noch einmal in die Botschaft zurück.

»Es ist alles sehr wichtig und eilig, nicht wahr?« fragte Irene nun.

»Ja, sehr. Cayetano soll zurück nach Buenos Aires. Und es gibt wahrhaftig eine Menge zu regeln …« Hoffentlich haben sie alles in meiner Abwesenheit vorbereitet, dachte Manuel. Jetzt ist Cayetano mit den Anwälten sicher noch in ein Nachtlokal gegangen, wie ich ihn kenne.

»Ich habe am Nachmittag und am Abend hier angerufen«, sagte Irene. »Sie waren nicht da. Ich hätte noch einmal anrufen können, später, aber …« Sie brach plötzlich ab.

»Aber?«

»Ich … ich hatte keine Ruhe. Es ist zu lächerlich! Ich zog mich an und fuhr hierher, denn ich wollte Sie unbedingt heute noch sehen! Einen ganzen Tag lang haben wir uns nicht gesehen. Das machte mich so nervös. Ich bin sonst nicht so, wirklich nicht. Aber heute … und bei Ihnen …« Irene senkte den Blick. »Ich bin eine dumme Gans«, sagte sie leise. »Ich … ich hatte auf einmal das Gefühl, daß Sie in Gefahr wären … daß etwas passiert sei …«

Er sah sie unentwegt an, und sein Herz schlug jetzt heftig. Wir sind im Begriff, uns ineinander zu verlieben, dachte er. Oder wir lieben uns schon. Ich liebe die Tochter der Mörderin meines Vaters. Sie liebt den Sohn des Mannes, den ihre Mutter ermordet hat. Was für eine Situation …

Manuel, der sich neben Irene gesetzt hatte, sagte: »Mir ging es genauso. Ich hatte den ganzen Tag nur einen Gedanken: Sie heute noch zu sehen, heute noch zu Ihnen zu fahren, Sie zu besuchen, wenn Sie es erlaubten …«

»Wirklich?« Sie hob den Kopf. Ihre Augen waren sehr groß.

»Wirklich«, sagte er und überlegte: Es ist wahr, es ist wirklich wahr. Sobald ich wieder zu mir kam und denken konnte, dachte ich das …

Er war erst zwei Stunden, nachdem er die Besinnung verloren hatte, wieder zu sich gekommen – auf dem breitgeklappten Bett eines Schlafwagenabteils. Ein Mann, den er noch nie gesehen hatte, saß am Fußende des Bettes.

Manuel fuhr zurück.

»Nicht doch«, sagte der Mann. »Seien Sie ganz ruhig, Herr Aranda. Ich bin Kommissar Lauter von der Kripo Klagenfurt. Hier ist mein Ausweis. Sehen Sie ihn gut an.« Er hielt ein Zellophanetui vor Manuels Gesicht. »Und hier ist meine Dienstmarke. Sie hätten sich beides zeigen lassen sollen von den Lumpen. Um ein Haar wäre ihr Plan geglückt – wenn man uns nicht rechtzeitig verständigt hätte.«

»Verständigt? Wer hat Sie verständigt?«

»Das wissen wir nicht. Ein Ausländer auf jeden Fall. Er hat so gesprochen.«

»Gesprochen?«

»Er hat uns angerufen.«

»Wann? Wo?«

Lauter, ein älterer, gemütlicher Mann, berichtete.

Die Direktion der Kriminalpolizei Klagenfurt war an diesem Nachmittag telefonisch alarmiert worden. Eine fremdländisch klingende Stimme hatte mitgeteilt, daß zwei Männer versuchen würden, Manuel Aranda, der sich mit dem ›Venetia-Expreß‹ auf der Fahrt von Villach nach Wien über Klagenfurt befand, zu entführen. Daraufhin war Lauter mit einigen Beamten zum Bahnhof gerast und, als der ›Venetia-Expreß‹ einlief, in den siebenten Wagen von hinten gestürzt – der unbekannte Anrufer hatte genau erklärt, wo Manuel zu finden sein werde.

»Er muß von Villach aus angerufen haben, bevor der Zug abgefahren ist. Er hat uns sogar Ihr Abteil genannt …«

In dem bezeichneten Abteil hatten Lauter und seine Beamten den zusammengebrochenen Manuel und zwei Männer vorgefunden, welche zwei andere Männer mit Pistolen in Schach hielten. Alle waren zur Bahnpolizei gebracht worden. Der Expreß mußte warten. Ein Arzt untersuchte Manuel und gab ihm eine Injektion. Auch ein dritter Mann, der vor dem Bahnhofsgebäude in einem Wagen saß – auf ihn hatte der anonyme Anrufer ebenfalls aufmerksam gemacht – wurde festgenommen …

»Wo sind die drei jetzt?«

»Vorne, im Dienstabteil, Herr Aranda. Drei meiner Leute bewachen sie. Der Amerikaner …«

»Was für ein Amerikaner?«

»Einer von den beiden Männern, die diese falschen Kriminalbeamten in Schach gehalten haben. Der andere war Russe. Sie haben uns ihre Pässe gezeigt. Der Amerikaner hat verlangt, daß wir unbedingt sofort den Herrn Hofrat Groll anrufen. Wir haben es getan, und er hat gesagt, wir sollen die drei Brüder nach Wien bringen, er kommt zum Bahnhof, sie in Empfang zu nehmen. Dieser Amerikaner und dieser Russe, die haben erklärt, daß sie Freunde von Ihnen sind. Legen Sie sich zurück, Herr Aranda. Locker, ganz locker.«

»Freunde …«

»Irgendwelche Geheimdienstler natürlich! Bei uns in Österreich wimmelt es von solchen Leuten, ich könnte Ihnen Geschichten erzählen … Auf jeden Fall haben sie Ihnen aber wirklich geholfen. Der Herr Hofrat hat gesagt, er übernimmt die drei Brüder. Das ist eine Wiener Affäre. Der Mann, der angerufen hat, hat Ihren Namen genannt! Wir wissen Bescheid über den Fall Aranda … ich meine, wir wissen, was in den Zeitungen gestanden hat …«

»Wo sind dieser Amerikaner und dieser Russe?«

Der Kommissar pfiff durch die Zähne.

»Verschwunden! In dem großen Durcheinander in der Wachstube von der Bahnpolizei. Da waren so viele Leute. Ich habe mit Wien telefoniert. Beamte sind raus und rein gekommen. Auf einmal haben wir gemerkt: Der Russe und der Amerikaner sind nicht mehr da! Ich habe es dem Herrn Hofrat am Telefon berichtet. Wissen Sie, was der gesagt hat? Genauso hat er sich das vorgestellt, hat er gesagt!« Ein hohles Brausen ertönte plötzlich. »Keine Angst, das ist ein Tunnel, ein ziemlich langer. Wir sind schon am Semmering …«

Der ›Venetia-Expreß‹ war mit einer Verspätung von 55 Minuten in Wien eingetroffen. Groll, in einem schweren Wintermantel, die Baskenmütze auf dem silbergrauen Haar, hatte mit mehreren Beamten wirklich auf dem Bahnsteig gewartet, Manuel begrüßt und die drei Verhafteten gemustert, die, aneinandergefesselt, aus dem Dienstwagen geführt wurden. »Ach, alte Bekannte …« Groll nickte freudlos. »Bringt sie ins Sicherheitsbüro, ich komme gleich nach.«

»Das ist eine Gemeinheit! Wir haben doch gar nichts gemacht! Dieser Ami und der Russ …« Der Mann, der sich Gamitz genannt hatte, schwieg plötzlich, denn Groll war sehr dicht an ihn herangetreten und sagte sehr leise: »Kusch, Ferdl.«

Seine Beamten kümmerten sich um alles Weitere. Groll brachte Manuel in einem Dienstwagen zum ›Ritz‹. Sie saßen im Fond. Ein Beamter chauffierte. Als der Wagen die Prinz-Eugen-Straße hinabrollte, sagte Groll verbissen: »Zum Kotzen ist das!«

»Was?« Manuel sah ihn an.

»Alles! Die Zustände in unserm Land! Dauernd war zu erwarten, daß Ihnen etwas passiert – aber ich konnte Sie nicht bewachen lassen. Ich habe Ihnen gleich am Anfang gesagt: Von Behördenseite haben Sie mit keiner Hilfe zu rechnen, erinnern Sie sich?«

»Genau. Und ich habe gesagt, das ist mir egal.«

»Ach, Manuel …« Der Hofrat wirkte erschöpft an diesem Abend. Er schraubte ein Röhrchen auf und schluckte einige Pillen.

»Was ist?«

»Das Wetter macht mir ein bißchen zu schaffen.«

»Nein, Sie wollten etwas anderes sagen.«

Der Hofrat murmelte: »Ich wollte sagen, daß ich seit unserer ersten Begegnung immer Angst um Sie habe, Tag und Nacht …«

»Es ist doch gutgegangen – dank meinen Freunden! Solange das Material im Tresor liegt, passiert mir schon nichts! Ich werde eben von anderen Leuten bewacht – dauernd.«

»Ein Trost«, knurrte Groll. Dann fragte er: »Was war bei dieser Frau Waldegg?«

»Das ist eine lange Geschichte …«

»Na schön. Ich setze Sie im Hotel ab. Sie werden Ihren Herrn Cayetano sehen wollen, wie?«

»Ja, das muß ich wohl.«

»Wenn Sie sich nicht zu müde fühlen, kommen Sie später noch in die Berggasse und erzählen mir alles.«

»In die Berggasse?«

»Ich werde wohl eine ganze Weile mit diesen drei Kerlen zu tun haben, bis ich weiß, wer hinter ihnen steht«, hatte der Hofrat Groll gesagt …

»Guten Abend, Herr Aranda.« Der Chefmixer der Bar verneigte sich.

»Was darf ich Ihnen bringen?«

»Was haben Sie getrunken, Irene?«

»Cognac.«

»Dann zwei Cognacs, bitte.«

»Sehr wohl, Herr Aranda.« Der Mixer eilte fort, lächelnd und geschäftig. Alle Angestellten lächeln und sind geschäftig, dachte Manuel. Keiner verliert ein Wort darüber, daß Graf Romath gestorben ist. Sie würden gewiß vor den Gästen auch kein Wort verlieren und lächelnd geschäftig und höflich sein, wenn ich gestorben wäre oder ein anderer Gast. Es kommen immer neue Gäste. Es wird ein neuer Direktor kommen. Auch der Skandal um den stellvertretenden Receptions-Chef Lavoisier und um diesen Pagen ist vertuscht worden. Wirklich ein vorbildlich geführtes Hotel, das ›Ritz‹ …

»Bianca Barry hat angerufen«, sagte Irene.

»Bianca Barry …«

»Die Frau des Malers. Jugendfreundin von Heinz. Die mir sagte, daß sie vor ihrem Mann lauter Lügen erzählt hätte!«

»Ach so, ja!«

»Sie versuchte es wieder zuerst hier – vergebens.«

Die Bar war leer, nur an der Theke saßen zwei Paare. Sanft und sentimental drang die Musik des kleinen Orchesters aus der Halle herein. Manuel dachte: Der Mund. Die Nase. Die Ohren. Valerie Steinfeld hat auf den Fotos eine ganz ähnlich geformte Nase, ähnliche Ohren, einen ähnlichen Mund gezeigt. Ob Irene das nie bemerkt hat? Phantastisch, es ist phantastisch. Die Tochter Valerie und Paul Steinfelds, hier sitzt sie, neben mir, spricht mit mir, lächelt mich an, ist hergekommen, weil sie mich heute unbedingt noch sehen wollte …

»Manuel!«

»Ja?« Er schrak auf.

»Warum starren Sie mich so an?«

»Sie … Sie sind so schön, Irene. Schöner als jede andere Frau, die ich bisher gesehen habe.«

»Ach, hören Sie auf! Es gibt viele schöne Mädchen in Argentinien. Gewiß kannten Sie eine Menge.«

»Nicht eine Menge … ein paar … aber keine war so wie Sie, nein, keine!« Sie blickte auf den Kacheltisch.

»Diese Bianca Barry …«

»Ja?«

»Sie will uns wiedersehen und die Wahrheit erzählen, sagte sie.«

»Wann will sie uns sehen?«

»Morgen nachmittag. Da hat sie Zeit. Ihr Mann fährt in der Früh nach Linz, zur Eröffnung irgendeiner Galerie. Er kommt erst spätabends heim.«

»Morgen nachmittag, das ist gut. Ich habe noch mit Cayetano und den Anwälten zu tun. Und dann fand ich eine Nachricht beim Portier. Forster hat angerufen. Er erwartet mich morgen um elf.«

Der Chefmixer brachte die beiden Cognacs.

»Ich trinke auf die schönste Frau der Welt«, sagte Manuel.

»Sie sollen nicht so reden!«

»Auf die schönste Frau der Welt«, wiederholte er und sah sie an, wobei er leicht ihr Kinn hob. »Auf daß sie wieder einmal glücklich sein möge und lachen kann – und ich mit ihr.«

»Nein«, sagte Irene. »Wir trinken auf Valerie. Daß sie glücklich sein möge dort, wo immer sie jetzt ist.«

»Auf Valerie also«, sagte Manuel.

Sie tranken.

»Wo will diese Bianca Barry uns treffen?« fragte Manuel danach.

»Beim Haupteingang des Zentralfriedhofs«, sagte Irene.

»Was bedeutet das? Was will sie dort?«

»Das weiß ich nicht. Ich fragte sie, aber sie sagte, sie sei in Eile, sie höre ihren Mann kommen und müsse Schluß machen.«

»Beim Haupteingang des Zentralfriedhofs …«, murmelte Manuel verblüfft.

»Um fünfzehn Uhr.«

Er sah Irene unentwegt an.

Valeries Tochter. Valeries Tochter.

Der Gedanke erfüllte ihn ganz, hämmerte in seinem Schädel.

Valeries Tochter.

»Beim Haupteingang, da sind wir einander zum erstenmal begegnet«, sagte er.

»Vor sieben Tagen. Sieben Tage ist das erst her«, sagte Irene.

»Acht. Beinahe schon acht. Ich mißtraute Ihnen.«

»Sie haßten mich!«

»O nein.«

»O doch!«

»Acht Tage … sie kommen mir vor wie acht Jahre«, sagte er. »Es ist, als würde ich Sie schon acht Jahre kennen, Irene. Geht es Ihnen nicht ebenso?«

Sie sah ihn stumm an, dann nickte sie kurz.

»Hören Sie!« Er richtete sich auf. »Das Orchester … das Klavier, meine ich …«

Langsam, melodisch und leise spielte der alte Mann am Flügel, draußen in der Halle: ›Willst du dein Herz mir schenken …‹

Durch eines der großen Fenster in der Wand der Bar blickte der Pianist Manuel und Irene an und neigte lächelnd den Kopf. Die anderen vier Musiker, die ihre Instrumente hatten sinken lassen, verneigten sich gleichfalls.

»Unser Lied«, sagte Irene.

»Charlie!« rief Manuel halblaut.

Der Mixer stand sofort neben ihm. Auch er lächelte.

»Was der Herr Wawra spielt, gelt?«

»Ja. Woher …«

»Das ist ganz komisch«, sagte Mixer Charlie. »Er hat es mir erzählt, der Herr Wawra … der Pianist.«

»Was?«

»Sein Erlebnis. Heute vormittag war er am Graben. Dort gibt es ein großes Musikaliengeschäft. Die sind spezialisiert auf alte Noten. Er sammelt, der Herr Wawra, wissen Sie. Und wie er so herumkramt und ein Verkäufer mit ihm redet, da mischt sich ein Mann ein, der auch in alten Notenblättern wühlt. Dem Gespräch hat er entnommen, daß der Herr Wawra hier im Hotel arbeitet. Und da sucht dieser Mann – Namen hat er keinen genannt – die Noten zu dem Lied heraus, das der Herr Wawra jetzt spielt, und der sagte: ›Bitte, spielen Sie dieses Lied manchmal, wenn Sie einen Gast des Hotels, einen gewissen Herrn Manuel Aranda, mit einer jungen Dame zusammensitzen sehen, die braunes Haar und braune Augen hat.‹ Der Mann hat Sie dem Herrn Wawra ganz genau beschrieben, gnädiges Fräulein. Er muß Sie kennen!«

»Ja, er kennt uns«, sagte Manuel.

Charlie verbeugte sich und ging an die Theke zurück.

Der Pianist begann das Lied noch einmal.

Manuel legte eine Hand auf eine Hand Irenes.

Sie legte ihre zweite Hand auf seine.

Der alte Mann draußen am Flügel spielte langsam und auf ein Notenblatt blickend die Melodie weiter, und Manuel wünschte, daß sie nie zu Ende gehen möge, und Irene wünschte das gleiche, und beide wußten, was der andere dachte, aber sie sprachen nun nicht mehr, kein Wort, lange Zeit.

3

»Valerie Steinfeld … eine außergewöhnliche Frau auf jeden Fall«, sagte der Hofrat Groll. Er ging in seinem Büro auf und ab, denn er hatte, mit seiner halben Lunge, leichte Atembeschwerden, besonders beim Sitzen. Die starke Schreibtischlampe brannte, ein Fenster stand halb offen, die Zentralheizungskörper glühten. Es war alles wie immer. Auf Wien fielen seit einer Stunde wieder Unmengen von Schnee. Es war fast zwei Uhr früh. Manuel hatte Irene heimgebracht und danach das Sicherheitsbüro aufgesucht. Er wollte wissen, wie das Verhör der drei Männer verlaufen war.

»Erzähle ich Ihnen gleich«, hatte Groll gesagt. »Schäfer nimmt noch das Protokoll auf. Erzählen Sie mir inzwischen, was Sie in Villach erfahren haben.«

Also hatte Manuel von seinem Gespräch mit Martha Waldegg berichtet, während Groll in dem großen Büro auf und ab schritt. Als Manuel endlich schwieg, war der Hofrat beim Fenster stehengeblieben, um in das Schneetreiben hinauszusehen. Dann hatte er seine Wanderung wieder aufgenommen und von Valerie Steinfeld zu sprechen begonnen.

»… je mehr ich von ihr erfahre, um so mehr bewundere ich die Person.« Groll blieb stehen und schluckte Pillen. »Ihnen geht es auch so, trotz allem, wie?«

»Ja«, sagte Manuel. »Mir geht es auch so.« Er sah, daß Groll seine Krawatte herabzog und den Hemdkragen öffnete.

»Ist Ihnen sehr schlecht?«

»Na, wohl fühle ich mich gerade nicht. Keine Angst. Habe ich häufig bei solchem Wetter. Da drückt das Zwerchfell gegen das Herz. Und davon bekommt man peinliche Gefühle.« Groll griff in die Tasche, holte ein Fläschchen Underberg hervor, schraubte es auf und trank. »Trage ich immer bei mir!« Er rülpste kräftig. »Verzeihung, aber das muß sein. Jetzt wird mir gleich wohler werden. Noch einmal! Tut mir leid. Ah!« Er ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen und atmete tief. »Schon leichter. Wenn Ihnen hier mal flau wird – gleich sagen. Ich habe immer auch ein Fläschchen für Sie!«

»Hören Sie, Herr Hofrat, sollten Sie nicht ausspannen … sich krank schreiben lassen?«

»Und wer macht den Kram hier? Kommt gar nicht in Frage«, sagte Groll. »Außerdem: krank schreiben lassen, ins Bett legen – also das ist das letzte! Da wird man ja erst richtig krank! Nein, nein, jetzt geht es mir schon wieder prächtig! Schauen Sie mich nicht so ängstlich an, mein Junge. Sie haben völlig recht: Ihre Irene – Sie erlauben doch, daß ich mich so ausdrücke. Sie werden ja schon rot, wenn Sie nur von ihr sprechen –, Ihre Irene soll davon nichts erfahren.«

Es klopfte, und Inspektor Schäfer trat ein.

»Verzeihung, ich wußte nicht …«

»Wir haben auf Sie gewartet! Sie kennen sich ja.« Groll winkte den jungen Mann mit der Hornbrille näher. »Zeigen Sie einmal her …« Er nahm Schäfer einige Blätter ab und überflog den Schreibmaschinentext. »Na also«, sagte er dann zufrieden. »Schön haben sie geschrieben, alle drei. Ab in die Rossauer Kaserne. Ich habe mit Hanseder telefoniert. Die Staatspolizei kümmert sich um die Brüder. Bei uns bleibt alles still. Keine Aussendung an die Presse, keine Fragen beantworten, die Staatspolizei will das nicht.«

»Wie immer«, sagte Schäfer.

»Wie immer, ja. Was sollen wir machen?«

»Nichts«, sagte Schäfer. »Wie immer.«

»Wir werden uns mit den Chinesen anlegen. So schauen wir aus«, sagte Groll.

»Mit den Chinesen?« Manuel stand auf. »Was haben Chinesen in der Geschichte zu tun?«

»Sie waren die Auftraggeber«, sagte der Hofrat. »Es gibt eine rotchinesische Handelsmission in Wien. Die Kerle, die Sie im Zug betäubten, heißen natürlich nicht Frohnef und Gamitz. Für Sie uninteressant, wie sie wirklich heißen. Die beiden und der Chauffeur, der vor dem Bahnhof in Klagenfurt wartete, sind alte Bekannte von uns. Gehören zu einer Bande, die sich auf so etwas spezialisiert hat.«

»Auf was?«

»Derartige Überfälle. Entführungen. Einschüchterungen. Einbrüche. Beschaffung von Material«, sagte Groll. »Verdammt noch mal, dieser Underberg, der tut wirklich Wunder. Ich fühle mich wieder ganz in Ordnung! Setzen Sie sich doch, Manuel. Den Albanern mißlang ihr Plan. Nun haben es ihre großen Brüder versucht. Völlig logisch. Und gar nicht phantastisch – bei uns in Wien. Was, Schäfer?«

»Nein, Herr Hofrat«, sagte der traurige junge Mann. Bei seinem letzten Besuch in dem Sanatorium vor Baden hatten die Ärzte ihm von einer leichten Besserung bei Carla berichten können. Leichte Besserung, das bedeutete doch nur, daß es noch länger dauern würde, bis Carla, seine geliebte Frau, tot war. Das bedeutete, daß er für diese längere Zeit noch mehr würde zahlen müssen, weiter, immer weiter. Schäfer fügte mechanisch hinzu: »Die Kerle haben für jeden gearbeitet, der ihre Dienste wollte, Herr Aranda. Ost oder West – das war ihnen egal.«

»Und sie hatten zu tun!« Der Hofrat schlug auf die Tischplatte. »Kamen kaum nach! Davon können ganze Banden leben bei uns, Manuel. Ich habe Ihnen ja die Wiener Situation erklärt. Wir wußten oft, daß die Kerle wieder einmal ihre Finger im Spiel hatten. Aber bisher konnten wir es ihnen nie nachweisen.«

»Diesmal schon«, sagte Schäfer.

»Diesmal schon, ja.« Groll nickte. »Sie haben eingesehen, daß Leugnen keinen Sinn hat. Ich wurde nämlich von Ihrem Freund Santarin angerufen. Tüchtiger Mann! Seine Leute und amerikanische Agenten verfolgten alle Operationen der Bande. Die Chinesen müssen von den Albanern erfahren haben, daß Sie täglich Ihren Anwalt anrufen. Sie sollten im Zug betäubt und verschleppt werden.«

»In die Berge«, sagte Schäfer. »Auf eine einsame Alm. Santarin konnte sogar genau sagen, wo die liegt.«

»Wir haben uns mit dem Bundesheer in Verbindung gesetzt. Kriminalbeamte flogen in einem Hubschrauber von Aigen im Ennstal aus los, während Sie noch in diesem Schlafwagen schlummerten. Es stimmte. In der Almhütte war alles für Ihren Empfang vorbereitet … Essen, Unterkunft … Wir haben noch zwei Männer da oben verhaftet. Die verquatschten sich, aber gründlich! Als wir unseren drei Kerlen ihre Aussagen vorhielten, gaben sie auf. Von den Chinesen haben sie keine Hilfe zu erwarten, das wissen sie. Die Chinesen kennen sie nicht mehr.«

»Und was geschieht nun?«

Groll grunzte verächtlich.

»Was schon? Beinahe fast gar nichts! Die Staatspolizei dreht die drei jetzt natürlich um.«

»Was tut sie?«

»Sie läßt sie als V-Männer arbeiten, für uns!« Groll grinste. »Wien, Wien, nur du allein. Hier geht es immer noch zu wie in Metternichs Zeiten. Wir arbeiten mit Konfidenten, ständig.« Groll sah auf die Papiere. »Es wäre Ihnen nichts zugestoßen, da oben auf der Alm. Sie sollten nur ein paar Tage festgehalten werden.«

»Aber warum – ach so!«

»Schon kapiert, ja? Damit Sie ein paar Tage den Doktor Stein nicht anrufen konnten und dieser dann, wie verabredet, seinen Tresor öffnen und Ihr Eigentum der Schweizer Botschaft zur Publikation übergeben würde, weil er – wie wir – hätte annehmen müssen, Ihnen sei etwas zugestoßen.«

»Glauben Sie, das ist die Wahrheit?«

»Die Hütte war geradezu mit Komfort auf Ihren Empfang vorbereitet! Was, Schäfer?«

»Ja, Herr Hofrat.« Geld. Ich brauche Geld. Carla muß im Sanatorium bleiben. Das Inserat – ob sich da wirklich jemand melden wird? Was er von mir will? Ob ich es tun kann und Geld bekomme, viel Geld? Für viel Geld täte ich jetzt schon fast alles. »So etwas kann sich wiederholen«, sagte Schäfer.

»Das ist mir klar.« Manuel starrte vor sich hin. »Ich werde besser aufpassen! Aber ich gebe nicht auf! Ich gebe nicht auf!«

»Natürlich nicht …« Groll seufzte. »Und da wir sicher sein können, daß sich heute und jetzt alle Herrschaften um dieses schöne Gebäude versammelt haben, um festzustellen, wie lange Sie bei mir bleiben und was Sie dann tun, wollen wir es wenigstens einmal zu einer kleinen Demonstration kommen lassen. Schäfer!«

»Herr Hofrat?«

»Sie gehen möglichst auffällig mit Herrn Aranda aus dem Haus und fahren mit ihm zum ›Ritz‹. Wie seine Leibwache. Machen Sie ein bißchen Theater, Sie verstehen schon. Auch noch vor dem Hotelportal. Ein ganzer Geleitzug wird euch folgen. Die Burschen sollen den Eindruck bekommen, daß wir Österreicher uns zumindest jetzt um Ihr Wohlergehen kümmern, Manuel. Ich werde auch tatsächlich ab und zu einen Beamten für Sie absetzen«, sagte Groll. »Das nehme ich auf meine Kappe! Heute nacht ist es besonders wichtig. Sie machen das schon, Schäfer.«

»Natürlich, Herr Hofrat.«

»Dann nehmen Sie sich ein Taxi, kommen hierher zurück und fahren mit Ihrem VW heim. Das war wirklich eines langen Tages Reise in die Nacht. Ich bin zu Hause, falls noch etwas los ist. Aber auf Sie kann ich mich ja verlassen, Schäfer.«

»Gewiß, Herr Hofrat, das können Sie.«

4

Ulrich Schäfer hatte ein ›bißchen Theater‹ gemacht, wie von Groll verlangt. Er war vor dem Portal des ›Ritz‹ noch neben Manuel stehengeblieben, hatte den Ring hinauf und hinunter geblickt und dabei tatsächlich mehrere Wagen entdeckt, die ihnen gefolgt waren und nun in den Seitenbahnen der Ringstraße, hinter Bäumen, parkten. Nichts regte sich. Manuel und Schäfer standen im grellen Licht des Hoteleingangs. Sie schüttelten einander die Hände. Manuel ging in das ›Ritz‹ hinein. Schäfer schlug den Mantelkragen hoch, wobei er eine Portion Schnee in den Nacken bekam – es schneite heftig –, und eilte zu einem entfernten Taxistand. Ein einsamer Wagen wartete dort. Ehe er ihn erreichte, rollte ein anderes Taxi auf der Seitenfahrbahn an ihm vorbei. Schäfer pfiff. Er wollte aus der Kälte und dem Schneetreiben. Wozu sollte er noch bis zu dem Droschkenstand laufen?

Das Taxi, das ihn überholt hatte, hielt. Der Fahrer, ein Mann mit Schiebermütze, breit und massig, neigte sich nach hinten und öffnete den rechten Schlag. Schäfer stieg ein.

»Berggasse. Sicherheitsbüro«, sagte er.

Der Chauffeur manövrierte seinen Wagen bei der nächsten Querstraße auf den Ring hinaus und fuhr diesen entlang, in Richtung Rathaus und Burgtheater. Das Schneetreiben war so heftig, daß er sehr langsam, mit Abblendlicht, fahren mußte. Man sah kaum zehn Schritte weit.

Der Chauffeur drückte auf einen Knopf des Armaturenbretts.

Schäfer zuckte zusammen, als gleich darauf im Fond aus einem kleinen Lautsprecher an der Seitenwand eine französisch akzentuierte Stimme ertönte: »Guten Tag, Herr Inspektor Schäfer. Sie haben unseren Rat befolgt und im ›Kurier‹ ein Inserat aufgegeben, das wir Ihnen vorschrieben …«

»Was ist das?« rief Schäfer.

Der Chauffeur reagierte überhaupt nicht. Er schien taub zu sein. Konzentriert beobachtete er die Fahrbahn und antwortete nicht.

Aus dem Lautsprecher erklangen diese Worte: »Es tut uns sehr leid, daß Ihre Frau so krank ist. Sie braucht die Pflege im Sanatorium. Das wissen Sie.« Schäfer schluckte. Das Taxi kroch durch das wüste Schneetreiben an der Kreuzung Mariahilferstraße vorüber. Der Chauffeur tat, als höre er kein Wort. »Wir bieten Ihnen zweihunderttausend Schilling für eine kleine Gefälligkeit. Am Abend des sechzehnten Januar haben Sie eine Reihe von Dokumenten aus dem Hotel ›Ritz‹ zu einem Anwalt gebracht.« Schäfer ballte die Fäuste. »Das wissen wir. Wir wissen nicht, welcher Anwalt das war. Sie werden uns seine genaue Adresse mitteilen. Schreiben Sie die auf ein Stück Papier. Mit der Hand. Darunter schreiben Sie: Hunderttausend Schilling erhalten. Datum und Ihre Unterschrift. Wir beobachten Sie ständig. Bei der ersten Gelegenheit wird ein Mann Ihnen hunderttausend Schilling überreichen – keine Angst, niemand wird es sehen. Sie können das Geld nachzählen, bevor Sie dem Mann Ihre Information geben. Sobald wir uns davon überzeugt haben, daß Sie den richtigen Namen und die richtige Adresse aufgeschrieben haben, erhalten Sie die restlichen hunderttausend Schilling auf die gleiche Weise innerhalb von höchstens zehn Tagen. Sie werden auch diesen Betrag quittieren. Wir warnen Sie, uns falsche Informationen zu geben – wir haben das Papier mit Ihrer Handschrift. Es ginge dann sofort an Ihren Vorgesetzten. Das ist alles.«

Die Stimme verstummte. Der Chauffeur schaltete das Tonband ab. Er fuhr jetzt am Parlament vorüber. Ein Räumwagen ratterte heran und den Ring hinab. Inspektor Schäfer saß reglos im Fond. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Sie erreichten das Burgtheater. Der Chauffeur fuhr noch langsamer. Er fragte, ohne sich umzudrehen, mit erkälteter Stimme: »Also was ist?«

Starr in die weißen Wirbel blickend, die auf die Windschutzscheibe zuflogen, fragte Schäfer: »Haben Sie die erste Rate bei sich?«

Der Chauffeur schaltete den rechten Winker ein, fuhr beim Café Landtmann wieder in die rechte Seitenbahn der Ringstraße und hielt knapp vor der Schreyrgasse. Er knipste das Licht im Fond an und reichte ein Kuvert nach hinten. Schäfer riß es auf. Noten lagen darin.

»Zählen Sie nach«, sagte der Chauffeur.

Schäfer zählte. Es waren hundert Tausendschillingscheine, alte und neue. Schäfers Hände begannen plötzlich wie in einem Krampf zu zittern. Das Geld wäre fast auf den nassen, schmutzigen Wagenboden gefallen. Schäfer konnte nur denken: Ich muß es tun. Ich habe so etwas erwartet. Es trifft mich nicht unvorbereitet. Ich bringe Carla in grauenvolles Elend, noch größeres Leid, noch ärgere Qual, wenn ich es nicht tue. Carla, meine Carla …

»Was ist? Stimmt’s nicht?« fragte der Chauffeur.

»Doch …«

Daraufhin reichte der Chauffeur, ohne sich umzudrehen, ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber nach hinten.

»Neben Ihnen liegt ein großes Buch. Nehmen Sie es als Unterlage«, sagte er. »Und schreiben Sie deutlich.«

Schäfer mußte eine kurze Weile warten, bis das Zittern seiner Hände nachgelassen hatte.

Dann schrieb er:

Dr. Rudolf Stein. Kohlmarkt 11

Und darunter:

100 000 Schilling erhalten

Ulrich Schäfer

23. Januar 1969

Er reichte Papier und Kugelschreiber nach vorn. Der Chauffeur nahm beides, betrachtete kurz das Blatt und knipste die Wagenbeleuchtung ab.

»In Ordnung«, sagte er. »Steigen Sie aus.«

»Was?«

»Aussteigen. Ich fahre Sie nicht weiter. Da vorn an der Schottenring-Kreuzung finden Sie ein anderes Taxi. Na los, wird’s?«

Schäfer stieg aus.

Das Taxi, dessen Chauffeur alle Lichter ausgeschaltet hatte, fuhr los und verschwand sofort in dem dichten Schneetreiben.

Der Inspektor Schäfer stand reglos am Straßenrand. Er bemerkte, daß er immer noch den Umschlag mit dem Geld in der Hand hielt und steckte ihn ein.

»Es geschehen oft Wunder, lieber Herr Schäfer. Es kommt zu einem Stillstand der Erkrankung, ja zu partieller Besserung. Der Patient kann dann noch lange Zeit leben, sehr lange Zeit … und wer weiß, vielleicht findet man in dieser Zeit ein Mittel gegen die Krankheit. Jeden Tag werden neue Wundermittel gefunden, jeden Tag …« Die Stimme des Arztes, der mit ihm gesprochen hatte, klang in Schäfers Ohren.

Ich kann nur hoffen, sie halten Wort und geben mir die restlichen 100 000 Schilling, dachte er.

5

»Die Mädchen in der Kanzlei haben einen weiteren Teil des Aktes gefunden«, sagte der Dr. Otto Forster. »Noch immer nicht alles, aber wir bekommen schon noch alles zusammen …«

Manuel, der dem alten Mann in dessen Wohnzimmer gegenübersaß, unterdrückte ein Gähnen.

Manuel war sehr spät ins Bett gekommen und sehr früh aufgestanden. Er hatte schon um halb acht Uhr mit Cayetano und den Anwälten zusammen im Salon seines Appartements gesessen und alle Schriftstücke durchgearbeitet, welche er kennen mußte, und er war auch noch einmal in der Rechtsabteilung der argentinischen Botschaft gewesen, um dort Urkunden und Vollmachten zu unterzeichnen. Weder der Botschafter noch der kleine Gomez hatten sich sehen lassen …

Der Anwalt Dr. Otto Forster sagte: »Hier habe ich endlich die Abschrift des Stenographie-Protokolls der ersten Streitverhandlung. Am 20. März 1943 fand die statt. 10 Uhr, Justizpalast, dritter Stock, Saal 29 – das war nur ein größeres Zimmer, ich erinnere mich jetzt. Öffentliche Verhandlung. Aber niemand interessierte sich dafür. Die Zuhörerbänke standen leer. Es gab nur einen Richter und eine Stenographin. An die erinnere ich mich noch gut. Herta Bohnen hieß sie, da steht es. Und der Richter hieß Gloggnigg, Fritz Gloggnigg. Einer der wüstesten Nazis, die damals im Justizpalast saßen!«

»Aber Valerie Steinfeld erzählte einer Bekannten, mit der ich mich nun auch unterhalten habe, der Richter sei ein alter Sozialdemokrat gewesen, den Sie schon lange und gut kannten! Und dieser Kurator Kummer, der sei gleichfalls ein Antinazi gewesen. Deshalb wurde auch der Termin derart spät angesetzt. So viel Glück hätten Sie gehabt!«

Forster lachte kurz.

»Glück! Diese Bekannte – ist das Frau Hill, von der Sie mir erzählten, daß sie die Verbindung nach London hergestellt hat?«

»Ja.«

»Nun, dann hat die arme Frau Steinfeld sie tapfer angelogen, um ihren Mann nicht zu beunruhigen.« Forster lachte wieder. »Der Termin wurde so spät angesetzt, weil die Gerichte damals irrsinnig überlastet waren, aus keinem anderen Grund. Sozialdemokrat und Antinazi! Du lieber Gott! Dieser Kurator Kummer war ein Opportunist, Parteigenosse, bis 1938 Winkeladvokat, dann plötzlich erfolgreich und besser situiert – verdankte dem Dritten Reich seine Karriere! Und der Richter – dieser Doktor Glogg. nigg, das war ein richtiger Sadist. Hier! Sie müssen sich nur einmal das Protokoll anschauen …«

6

»Also Ihr Mann bevorzugte eine besondere Art des Verkehrs?«

»Ja.«

»Die Sie quälte und nicht befriedigte.«

»Ja.«

»Ich lese Ihnen nur Ihre eigene Aussage vor. Danach hat diese Art des Verkehrs mit Ihrem Ehegatten, dem Paul Israel Steinfeld, Sie schwer abgestoßen. Das steht auf Seite drei der Erklärung von Frau Steinfeld, meine Herren, oben.«

»Herr Vorsitzender …«

»Einen Moment, Herr Rechtsanwalt! Jetzt frage ich!«

»Sicherlich, aber …«

»Aber was? Das scheint mir doch einer der Angelpunkte für das Verhalten von Frau Steinfeld zu sein. Nicht wahr, Herr Doktor Kummer?«

»Vollkommen Ihrer Ansicht, Herr Vorsitzender! Absolut …«

»Nun denn, also. Ich finde das reichlich vage – ›besondere Art des Verkehrs‹. Wollen Sie sich präziser fassen, wenn ich bitten dürfte, Frau Steinfeld.«

»Mein Gott, das ist für mich …«

»Sie stehen hier vor Gericht! Sie müssen die reine Wahrheit sagen. Sie selber haben dieses Verfahren angestrengt. Meine Fragen dienen der Wahrheitsfindung. Oder meinen Sie etwa, ich stelle sie zum Vergnügen?«

»Natürlich nicht.«

»Dann äußern Sie sich deutlicher.«

»Eine anormale Art des Verkehrs …«

»Anormal. Anormal ist vieles. Genauer!«

»Er … mein Mann … er wählte nicht den normalen Weg, er …«

»Jetzt langt es mir aber, Frau Steinfeld! Wenn Sie nicht direkt reden wollen, dann muß ich direkt fragen. Also: Bevorzugte der Paul Israel Steinfeld einen Verkehr durch den After?«

»Herr Vorsitzender, ich bitte doch höflichst, zu überlegen, ob man meine Mandantin nicht etwas schonender befragen könnte!« Forster springt wieder auf, erregt zupft er an seinem rechten Ohr.

»Herr Rechtsanwalt, ich glaube, das müssen Sie schon mir überlassen. Ich bin so schonend, wie es nur geht. Sie wollen mich doch nicht etwa an der Aufhellung von Tatbeständen hindern?«

»Natürlich nicht, Herr Vorsitzender.«

»Außerdem – wir sind hier alle keine kleinen Kinder mehr. Es wird wohl niemand unter den Anwesenden seelische Schäden davontragen durch eine solche Befragung.«

»He, he«, keckert der Kurator Dr. Hubert Kummer.

Du verfluchter Hund, denkt Forster, der den Vorsitzenden, den Landgerichtsdirektor Dr. Fritz Gloggnigg, anstarrt. Die Zähne sollte man dir einschlagen dafür, wie du jetzt diese arme Frau quälst, die da vor dir steht, bleich und bebend. Und du, dreckiger Speichellecker von einem Nichts, den die Zeit hochgeschwemmt hat, denkt er und wendet den Kopf ruckartig zu dem Kurator Dr. Hubert Kummer, der noch immer feixt, du bist begeistert, du kannst dich gar nicht fassen vor Entzücken über diesen Menschenquäler von einem Richter – ach, wenn ich dir doch in die Visage hauen könnte! Ich habe ja befürchtet, daß das so zugehen wird. Hoffentlich hält Frau Steinfeld durch. Bleich ist sie wie Wachs.

»Wollen Sie endlich wieder Platz nehmen, Herr Rechtsanwalt?«

Forster setzt sich auf einen harten, einfachen Stuhl und massiert sein Ohr. Die drei langen Bänke des Zuhörerraums, der, durch eine Barriere abgetrennt, menschenleer daliegt, sind aus demselben dunklen Holz wie die Stühle und die beiden großen Tische für Forster und Kummer. Die Anwälte sitzen einander gegenüber. Hinter Forster befinden sich drei große Fenster. Frühlingssonne, warm und grell, fällt in den Raum. Es ist ein schöner Tag – für andere Menschen. Neben Forster steht ein leerer Stuhl. Hier sitzt Valerie, wenn sie nicht gerade verhört wird, wie jetzt. Jetzt hat sie den Platz neben Forster an dem mit Akten und Büchern vollgeräumten Tisch verlassen und steht vor dem Richtertisch, der sich erhöht auf einem Podium befindet. Landgerichtsdirektor Dr. Gloggnigg, groß, untersetzt, mit braunem Haar und kalten, glitzernden Augen, thront über Valerie. An einer Querseite des breiten Tisches arbeitet die farblose, junge Stenographin Herta Bohnen, das fahle Haar zu einem Knoten hochgefaßt, ungeschminkt, mit stumpfem Blick und dumpfem Gesichtsausdruck, kaum je aufblickend, scheinbar (und vermutlich wirklich, denkt Forster) unbeteiligt, gelangweilt, gefühllos und uninteressiert.

Den Wandschmuck hinter Richter Gloggnigg bildet ein großes Hitlerbild unter Glas.

Der Landgerichtsdirektor neigt sich zu Valerie vor. Er betrachtet sie wie der Forscher ein Versuchskaninchen, das Glitzern in seinen Augen wird stärker.

»Frau Steinfeld, ich habe Ihnen eine Frage gestellt. Würden Sie wohl die Güte haben, zu antworten?«

»Nicht durch den After«, antwortete Valerie, plötzlich völlig ruhig. Ihr Gesicht ist weiß, die Lippen sind bläulich. Valerie trägt ein dunkelblaues Kostüm und Schuhe mit Keilabsätzen. Der Boden schwankt unter ihr, so fühlt es sich an, aber sie weiß, daß er nicht schwankt. Sie ballt beide Hände zu Fäusten, so fest, daß sich die Fingernägel ins Fleisch bohren. Es ist das Beruhigungsmittel, das jetzt wirkt, denkt sie. Ich habe zu viel genommen. Was für ein Glück, daß ich zu viel genommen habe. Alles weicht vor mir zurück, ich höre leiser, ich sehe kleiner, meine Glieder sind schwer, mein Körper reagiert träge. Aber mein Kopf ist klar, ganz klar. Ich halte durch, Paul, ich halte schon durch …

»Darf man erfahren, wie der besondere Verkehr dann ablief?« Richter Gloggnigg neigt sich, die Finger verschränkt, die Unterarme auf Fotos, Urkunden und Ahnentafeln, noch weiter vor. Kurator Dr. Kummer scharrt mit den Schuhen. Die tranige Stenographin hebt plötzlich den Kopf und sieht Valerie fischig an.

Das bin gar nicht ich, die da steht und redet, denkt Valerie, das bin gar nicht ich. Ein fremder Mensch ist das, dem ich meine Stimme leihe, damit er tut, was den Buben retten soll. Sie sagt monoton: »Er hat den Verkehr in der Regel in der Form vollzogen, daß er sein Glied zwischen meine Schenkel steckte, aber nicht in … in …«

»Na!« rügt Gloggnigg.

»Herr Vorsitzender, ich bitte dringendst …«, beginnt Forster, aufspringend.

»Unterbrechen Sie die Dame nicht, Herr Rechtsanwalt«, sagt Gloggnigg mit lebensgefährlicher Liebenswürdigkeit. »Sie kommt schon allein zurecht. Also, Frau Steinfeld. Aber nicht in die …«

»Aber nicht in meine Scheide steckte«, sagte Valerie. Die teiggesichtige Stenographin Bohnen glotzt sie an. Forster sieht, daß Valerie leicht schwankt.

»Darf Frau Steinfeld sich setzen, Herr Vorsitzender? Ich fürchte, es ist ihr nicht gut!« Forster hat den leeren Stuhl ergriffen.

»Einen Moment.« Gloggnigg fragt überhöflich: »Ist Ihnen tatsächlich nicht gut, Frau Steinfeld?«

Valerie sieht ihn an. Gloggnigg erwidert den Blick, nun ernst und scheinbar besorgt.

»Nein«, sagt Valerie. »Kein Stuhl, danke. Ich kann sehr gut stehen.«

»Da hören Sie es, Herr Rechtsanwalt«, sagt Gloggnigg. »Ich bitte mir aus, daß Sie nicht andauernd die Einvernahme stören.« Und zu der jungen Stenographin, die sich gerade lange und heftig an der Hüfte kratzt: »Haben Sie alles?«

»Ja, Herr Vorsitzender.«

»Sehen Sie, wir kommen weiter.« Gloggnigg blickt wieder auf Valerie herab. »So verkehrte Ihr Gatte Paul Israel Steinfeld also mit Ihnen.«

Vorsicht, denkt Forster. Wir haben das alles durchgesprochen. Sie darf jetzt keinen Fehler machen.

»Auch anders«, sagte Valerie.

»Nämlich wie?«

»Normal. Nur brach er vorzeitig ab.«

»Coitus interruptus?«

»Ja.«

Der Kurator wird munter: »Sie erlauben, Herr Vorsitzender, eine Zwischenfrage?«

»Bitte, Herr Doktor?«

»Frau Steinfeld, wenn es sich wirklich so verhält, wie Sie es schildern …«

»Es verhält sich genauso«, sagt Valerie. Ihre Lippen sind nun graublau. »… dann kann Ihr Mann Paul Israel Steinfeld ja niemals auch nur einen Moment wirklich geglaubt haben, daß Ihr Sohn Heinz von ihm gezeugt wurde.« Kummer sagt lauernd: »In Ihrer schriftlichen Aussage nun, Frau Steinfeld, erklären Sie auf … Seite fünf …, daß Ihr Mann zwar später Zweifel an der Vaterschaft des Jungen zum Ausdruck brachte – aber nirgends lese ich ein Wort darüber, daß er sie von vornherein bestritt! Wie erklären Sie das?«

»Mein Mann verkehrte am liebsten in der geschilderten Art mit mir …«

Voller Sorge sieht Forster, daß Valeries Schläfen eingefallen sind. Bläuliche Adern pulsieren dort. »… aber nicht nur.«

»Das bedeutet, daß Sie eine Zeugung des Sohnes durch den Paul Israel Steinfeld also nicht ausschließen können!« schlägt Gloggnigg blitzschnell zu.

»Mein Mann jedenfalls glaubte es nicht ausschließen zu können, Herr Richter. Ich habe in meiner schriftlichen Aussage genau erläutert, wie sich das abspielte.«

Gott sei Dank, denkt Forster. Sie hat nichts vergessen.

7

»Herr Landau, wir haben nun Ihre Aussage gehört. Sie bestehen also darauf, daß Sie der Vater des Heinz Steinfeld sind.«

»Ich bestehe darauf!« Der schwächliche Buchhändler, der einen dunklen Anzug trägt, reckt die Brust heraus und hebt den Kopf, wobei er das Kinn vorschiebt. Er redet laut, aggressiv und schnell. Noch nie hat Valerie ihren alten Freund so erlebt. Sie sitzt jetzt wieder neben Forster. Ihre Hände sind eiskalt, ihr Kopf glüht.

Landau sagt mit lauter Stimme: »Darüber hinaus verlange ich, daß ich von Gerichts wegen endlich als gesetzlicher Vater des Buben legitimiert werde!«

Gloggnigg, der schon während der Aussage dieses so streitbaren schmächtigen Mannes über die Frechheit, ja, das mußte man schon Frechheit nennen, wie dieser Kerl sich benimmt, wütend geworden ist, donnert: »Treiben Sie es nicht zu weit, Herr Landau! Sie haben überhaupt nichts zu verlangen. Sie werden hier als Zeuge einvernommen. Für Ihre Privatwünsche sind wir nicht zuständig. Es ist auch ein wenig zu früh für sie, finde ich.«

Der Kurator kichert wieder dienstbeflissen.

»Wir wollen doch lieber erst einmal den Ausgang des Prozesses abwarten, wie?«

Martin Landau wirft den Kopf zurück.

»Was ist da abzuwarten? Ich denke doch, die Sache liegt sonnenklar!«

»Sie haben hier keine Ansichten zu äußern, Herr Landau. So sonnenklar liegt die Sache wahrlich nicht. Das ist nicht der erste Prozeß dieser Art, den ich führe.« Gloggnigg überkommt mehr und mehr die Wut. »Bei den anderen Prozessen stellte sich regelmäßig heraus, daß die Geschichten, die mir aufgetischt wurden, von A bis Z erlogen waren!«

»Also, das ist …«

»Was ist das? Wie schaut denn dieser Fall aus? Ihre eigene Schwester, vom Herrn Kurator als Zeugin benannt, schickt uns ein ärztliches Attest, daß sie nicht kommen kann, weil man ihr gestern zwei Zähne gezogen hat!«

»Na und? Sie liegt mit starken Schmerzen im Bett!«

»Die Vorladung erhielt Ihre Frau Schwester bereits vor vierzehn Tagen. Da war keine Zeit, zum Zahnarzt zu gehen, was?«

»Die Vereiterung wurde ganz rasch katastrophal.«

»Behaupten Sie! Glauben Sie nur nicht, daß Ihre Schwester damit um eine Zeugenaussage herumkommt.«

»Das habe ich ihr auch gesagt!« Martin denkt: Natürlich hat Tilly sich die Zähne absichtlich erst gestern ziehen lassen und mir ein Attest mitgegeben. Sie wollte nicht herkommen. Ich habe ja gewußt, daß ihr das nichts nützen wird. Herrgott, dann soll sie halt später aussagen, daß sie keine Ahnung hatte, so wie sie es mir dauernd angedroht hat. Und schon!

»Das haben Sie ihr gesagt?« Gloggnigg legt den Kopf schief.

»Herr Vorsitzender!« Alle im Saall, selbst die fade Stenographin, zucken zusammen, denn Martin Landau hat die beiden Worte wild herausgeschrien. Er schreit weiter: »Ich bin Parteigenosse! Wollen Sie insinuieren, daß ein Parteigenosse lügt?«

Richter Gloggnigg muß sich zweimal räuspern, bevor er sprechen kann.

»Hier wird nicht geschrien, verstanden, Herr Landau?«

»Ihre Haltung erregt mich derart!« erklärt Landau. »Sie sind, so muß ich befürchten, voreingenommen …«

»Ich bin überhaupt nicht voreingenommen!«

»Das ist ja lächerlich!« kräht der Kurator hinter seinem Tisch.

»Und Sie auch!« Landau fährt zu ihm herum. Ein anderer Mensch, ein Mensch, den sie nicht kennt, steht da vor Valerie. Sie reibt sich die Augen. Dieser andere Mensch bellt: »Das fällt mir schon die ganze Zeit auf! Ich stehe hier als ein Vertreter und Schützer guten deutschen Blutes …«

»Herr Landau!« ruft der Richter. »Sie haben keine Reden zu halten!« Doch Landau ist jetzt in Rage: »… in meiner Eigenschaft als überzeugter Nationalsozialist, dem die Reinheit der Rasse über alles steht! Ihnen scheint der Ernst dieses Falles noch nicht aufgegangen zu sein …«

»Zeuge Landau, mäßigen Sie sich!«

»Ich werde mich nicht mäßigen! Ich werde an höherer Stelle in Berlin mitteilen, wie Sie beide andauernd versuchen, mich zu beeinflussen und einzuschüchtern …«

»Das hat kein Mensch getan!« Gloggnigg hebt beide Hände. (Berlin … der Kerl ist imstande und macht Stunk!)

»Natürlich haben Sie es getan!« schreit Martin Landau kriegerisch. Er fühlt, wie das Blut schneller durch seinen Körper fließt, warm und pulsierend. Er fühlt sich stark, frei und glücklich, ohne die geringste Angst – zum erstenmal in seinem Leben! »Und Sie beschuldigen einen Parteigenossen der Lüge!«

»Das tun wir nicht!«

»Doch tun Sie es!«

Forsters Mund hat sich fest geschlossen. Voll grimmiger Genugtuung sieht er, daß der Kurator Dr. Kummer plötzlich am Kragen seines schwarzen Talars zerrt. Ich kenne diesen Dreckskerl, denkt Forster, diesen Radfahrer. Dem wird es jetzt mulmig.

»Herr Landau, Sie müssen sich beruhigen, Sie sind zu aufgeregt«, säuselt Kummer. Tatsächlich, denkt Forster, an seinem Ohr zupfend, nur mit Mut und Brüllen kommt man diesen Schweinen bei! »Sie mißverstehen uns. Wir sind an der Wahrheitsfindung in diesem Fall genauso interessiert wie Sie. Seien Sie überzeugt, daß ich und der Herr Vorsitzende – ich meine: der Herr Vorsitzende und ich – keinerlei vorgefaßte Meinungen oder Vorurteile haben …« (Berlin, denkt auch Kummer. Krach mit Bonzen. Wo ich mir alles so schön aufgebaut habe …)

»Sieht mir aber gar nicht so aus!« antwortet Landau dem Kurator und gibt ihm einen gehässigen Blick. »Ich jedenfalls werde hier in einer Weise behandelt, die ich mir nicht länger gefallen lasse!«

Böse trompetet daraufhin Richter Gloggnigg: »Schluß damit! Sie haben die Würde des Gerichtes zu wahren, Herr Landau. Ich habe Sie zu Beginn Ihrer Vernehmung davon in Kenntnis gesetzt, daß Sie als Zeuge damit rechnen müssen, vereidigt zu werden, und daß Sie deshalb die reine Wahrheit zu sagen haben.«

»Jawohl, und?« kräht Landau.

»Und nach Ihrem jetzigen stürmischen Auftritt und ungebührlichen Verhalten werde ich Sie vereidigen«, sagt Gloggnigg, leise und heimtückisch, steht auf und nimmt sein Barett. »Heben Sie die rechte Hand. Ich spreche Ihnen die Eidesformel vor, Sie sprechen mir nur die letzten Worte nach.«

»Aber gerne, Herr Direktor!« Landau hebt eine Hand.

Alle sind aufgestanden.

Gloggnigg leiert: »Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit gesagt, nichts hinzugefügt und nichts verschwiegen habe. Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe.«

»Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe«, wiederholt Martin Landau laut.

8

Den ersten richtigen Anzug mit langen Hosen trägt Heinz. Seine Mutter hat einen alten Schneider gefunden, der einen der von Paul Steinfeld zurückgelassenen Anzüge änderte: dunkelgrau, mit breitwattierten Schultern. Ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte trägt Heinz, dem geschlossene Hemden und Krawatten ein Greuel sind. Aufrecht und hochgeschossen ist er, das blonde Haar, die blauen Augen und das schmale Gesicht der Mutter hat er, die Haut voller Sommersprossen. Stramm und tadellos die Haltung. Laut und deutlich die Stimme, höflich, eifrig, leidenschaftlich, plötzlich wild.

Da steht er vor dem Richtertisch, die Hände an der Hosennaht, mein Bub, mein kleiner Heinz, den ich geboren und großgezogen und behütet habe und weiter behüten muß, da steht er und gibt Rede und Antwort – dem Richter, dem Kurator, dem Dr. Forster.

Da steht er und sagt: »Nein, Herr Direktor, ich habe meinen Vater nie leiden können. Und er mich auch nicht.«

Und sagt: »Er ist mir immer fremd gewesen, mein Vater. Ich habe immer gespürt, er versteht mich nicht, und er mag mich nicht. Und ich habe ihn auch nicht verstanden. Er hat so viele Sachen gesagt, die ich nicht begriffen habe, oder, wenn ich sie begriffen habe, dann haben sie mich abgestoßen.«

»Abgestoßen? Wieso?«

»Weil er so zynisch geredet hat. So zersetzend. Über alles hat er nur seine Witze gemacht. Alles hat er in den Dreck gezogen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Zum Beispiel die Heimat, Herr Direktor. Und dann Begriffe wie Glauben und Treue und Ehre und Kameradschaft …«

Ach, Heinz, Heinz, wie gut hast du dich mit Paul verstanden, früher, als Kind, als Junge, bis die Nazis kamen! Wie viele Stunden habt ihr debattiert, wie hast du ihn bewundert, wie hat er dir alles erklärt, dir immer neue Bücher gebracht, Geschichten erzählt, wie stolz warst du darauf, wenn er im Radio gesprochen hat! Und jetzt ist da nur noch Haß in dir. Furchtbar …

»Wunderbar«, flüstert der Doktor Forster. »Der Bub macht sogar auf die beiden Kerle Eindruck.«

Das tut er.

Ein erstaunlicher Junge, findet Gloggnigg, der selber einen Sohn hat. Das könnte ja direkt sein Bruder sein, wie der ausschaut, wie der spricht, die Haltung, die Würde …

»Nein, Herr Richter, ich habe nicht gewußt, daß mein Vater – dieser Mann meine ich –, daß der Jude ist. Das habe ich erst erfahren, als ich in der Schule den kleinen Ariernachweis erbringen mußte. Da hat es mir meine Mutter gesagt. Ich war sehr unglücklich, jawohl … Weil ich Juden hasse … Sie sind das größte Gift unter den Völkern … Nein, daran glaube ich fest … In der Hitlerjugend? Einer von den besten und eifrigsten war ich, das kann mein Fähnleinführer bezeugen … Der schlimmste Tag? Als ich erfuhr, daß mein Vater Jude ist natürlich … Da habe ich auch begriffen, warum wir uns nie verstanden haben …«

Weiter, Heinz, weiter, mehr so …

»Herrn Landau? Mit dem habe ich mich immer verstanden! Mit dem habe ich reden können! Das war ein guter Deutscher, ein wirklich anständiger Mensch … Der glücklichste Tag in meinem Leben? Als meine Mutter mir gesagt hat, daß Herr Landau mein Vater ist und nicht der andere … dieser Jude …«

Der Kurator Dr. Hubert Kummer, der denkt: Aus jetzt die Packelei mit dem Richter. Der soll sehen, wie er allein weiterkommt. Ich muß mich korrekt verhalten, streng korrekt. Fehlte noch, daß hier etwas schiefläuft und ich einen Rüffel bekomme, eine Rüge, einen Verweis, etwas Schlimmeres. Wo ich endlich die große Kanzlei und die Wohnung von diesem Dr. Blaustein, der in meinem Bezirk alles an sich gerissen hatte, endgültig überschrieben erhielt. Nach der Arisierung haben mich die Kollegen, die lieben, immer wieder angegriffen deshalb, und es hat vier Jahre gedauert, bis ich mir alles aufgebaut habe. Vorsichtig also jetzt. Ist ja ein prächtiger Junge. Muß man anständig behandeln. Auch gegen die Mutter muß ich höflich sein. Da habe ich mich hinreißen lassen. Und wenn sie lügt! Und wenn das da ein Halbjud ist! Aber hat er Glück, und die Untersuchungen fallen günstig für ihn aus? Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.

»Sie hassen also Ihren Vater, Herr Steinfeld?«

»Meinen sogenannten Vater! Jawohl, den hasse ich, Herr Direktor. Mehr als alles andere auf der Welt hasse ich ihn!«

Ja, gut so, Heinz, gut so, weiter so. O Gott …

»Wenn ich hören würde, daß er tot ist? Überhaupt nichts würde ich empfinden! Er ist doch nicht mein Vater! Herr Landau ist doch mein Vater!« Wie düster dieser Landau mich anstarrt, denkt der Kurator Kummer unruhig. Der brütet auf Rache. Ich muß da sofort etwas tun.

»Herr Vorsitzender, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf … Wir haben nun alle Beteiligten vor uns … den Paul Israel Steinfeld nur in Form von Fotos … Aber die Fotos zeigen nach meinem Dafürhalten zahlreiche unverkennbare Eigenarten der jüdischen Rasse. Der junge Mann da, Herr Vorsitzender, scheint mir von diesen Eigenarten absolut frei zu sein. Absolut … Ich möchte unter diesen Umständen den Antrag stellen, erbbiologische und anthropologische Sachverständige herbeizuziehen und …«

»Diese Entscheidung treffe immer noch ich, Herr Doktor, nicht wahr? Ich leite die Verhandlung.«

Rechtsanwalt im Dritten Reich! Ein feiner Beruf! Wenn sie einem wenigstens immer genau sagen würden, wie sie es gern haben wollen, was für einem Recht man das Wort reden soll …

»Ich wollte wirklich nicht vorgreifen, Herr Vorsitzender, aber ich denke doch, ich werde den Antrag stellen …«

Jetzt lächelt mich diese Steinfeld zum erstenmal an. Zurücklächeln, los! Was lächeln die so? denkt der Landgerichtsdirektor Gloggnigg. Weiß der Kummer, dieser Scheißer, vielleicht mehr als ich? Ist der schon sicher, wie die Untersuchungen ausgehen werden? Dann wäre ich der Blamierte, wenn ich hier weiter herumbrülle. Das ist natürlich eine einzige Komödie, die man mir hier vorspielt, aber der Junge sieht wirklich arisch aus, und wenn nun auch noch die Blutgruppen stimmen …

»Herr Steinfeld, bitte nehmen Sie Platz.«

»Jawohl, Herr Direktor.« Die Hacken klappt er zusammen, der Junge, zur Zeugenbank marschiert er. Ernst sieht er dabei seine Mutter an. Und die denkt: ›Bitte‹ hat das Vieh gesagt, Paul, ›bitte‹! Zu unserem Buben! ›Bitte nehmen Sie Platz!‹ Paul, Paul, halt uns die Daumen jetzt, geliebter Paul …

9

»… also das war die Hölle, Herr Direktor, die reinste Hölle, ich schwör es Ihnen! Krach bei Tag und Krach bei Nacht, wenn er zu Hause war, der Herr Steinfeld! Er ist nämlich oft wochenlang weggeblieben, auch wenn er nicht verreist gewesen ist … Andere Frauen hat der gehabt, immer andere Frauen, das kann ich beschwören!«

Die Agnes trägt ihr feinstes schwarzes Kleid, einen Kapotthut auf dem Haar, den Mantel hat sie ausgezogen, sie ist hochgradig erregt, munter, sie möchte am liebsten andauernd reden.

»Warum sind Sie denn in einem solchen Haushalt geblieben, Zeugin?«

»No, wegen der guten gnä’ Frau und wegen dem Heinzi, dem Kleinen. Die haben mich doch gebraucht. Haben doch sonst niemanden gehabt als mich und den lieben Herrn Landau. Wenn wir nicht gewesen wären, meiner Seel, ich glaub, das Leben hätt die gnä’ Frau sich genommen vor Gram, so verzweifelt war die manchmal, das kann ich beschwören, Herr Direktor.«

»Wußten Sie, daß es eine intime Beziehung zwischen Frau Steinfeld und Herrn Landau gab?«

»Ja, das kann ich auch beschwören!«

»Hören Sie endlich mit diesem ewigen Beschwören auf. Was soll denn das? Beantworten Sie meine Frage!«

»Ich sag doch, ich kann es beschwören …«

»Zeugin Peintinger!«

»… weil es mir die gnä’ Frau anvertraut hat in ihrer Verzweiflung …«

»Wann hat sie sich Ihnen anvertraut, Zeugin?«

»Gleich nach der Geburt, wie der Herr Steinfeld angefangen hat, sie zu beschimpfen, daß es nicht sein Bub ist und daß sie was hat mit dem Herrn Landau. Also, meine Herren, ich schwöre Ihnen, damals hat die gnä’ Frau es mir gesagt!«

Ich lasse mich doch nicht hochnehmen von dieser Gesellschaft, denkt Doktor Gloggnigg und poltert los: »Schon wieder wollen Sie schwören, Zeugin!«

»Ja, Herr Direktor! Entschuldigen bitte … aber ich will wirklich …«

»Aha. Und weshalb?«

»No, damit Sie mir glauben, Herr Direktor! Es ist doch wichtig, daß Sie mir glauben! Ich erzähl Ihnen von den ganzen Krachs und Zerwürfnissen und wie froh die gnä’ Frau war, daß das Dritte Reich gekommen ist und der Herr Steinfeld hat flüchten müssen … Mich hat er auch immer behandelt wie den letzten Dreck. Arbeiter und Angestellte, die waren einfach Dreck für ihn, kein soziales Gefühl, verstehen Sie, Herr Direktor, Herr Rechtsanwalt? Ich schwör Ihnen, jüdisch, echt jüdisch …«

»Zeugin Peintinger!«

»… während der Herr Landau … so lieb und gut … ein wirklicher Herr … und immer freundlich! Und wie hat der Bub ihn gern gehabt, schon als ganz kleines Kind … und die gnä’ Frau, wie hat sie sich immer gefreut, wenn der Herr Landau gekommen ist, und er ist oft gekommen, der einzige Trost in ihrer unglücklichen Ehe war er für die gnä’ Frau, das schwöre ich gerne …«

»Fräulein Peintinger, ich …«

»Sie lassen mich schwören, ja?«

»Nein«, sagt Gloggnigg langsam.

»Was?«

»Ich lasse Sie nicht schwören.«

»Warum mußte sie auch so übertreiben?« flüstert Forster Valerie ins Ohr. »Was ist los mit ihr?«

Valerie flüstert: »Ihr Pfarrer, Sie wissen doch …«

Forster nickt.

»Na ja, und jetzt will sie eben unbedingt!»

»Unangenehm. Sehr unangenehm. Und als nächste diese Lippowski … Nicht, gnädige Frau, bleiben Sie ruhig! Alles wird gutgehen. Ich sehe doch, daß der Kummer schon kalte Füße hat. Der stellt bestimmt seine Anträge, und wir sind einen Riesenschritt weiter …«

Indessen haben sich die Agnes und Richter Gloggnigg unterhalten, gereizt, alle beide.

»Aber ich verstehe nicht, warum Sie mich nicht vereidigen wollen, Herr Direktor! Nur so können Sie doch sicher sein, daß ich wirklich die Wahrheit sag! Und die Wahrheit müssen Sie doch kennen, nicht?«

»Ja, die muß ich kennen! Aber die erfahre ich nicht, wenn ich Sie vereidige! Sie sind doch imstande und schwören einen Meineid!«

»Ich einen Meineid? Niemals! Warum sollte ich …«

»Um Ihrer lieben gnädigen Frau zu helfen und dem lieben Heinzi.« Es ist stärker als der Landgerichtsdirektor Gloggnigg, heiße Wut flackert in ihm hoch. »Das ist doch alles abgesprochen und ausgedacht und ausgetüftelt und Theater!«

»Wenn ich mir gestatten dürfte, Herr Vorsitzender …«

»Unterbrechen Sie mich nicht, Herr Doktor Kummer!«

»Verzeihung …«

»Ich sehe doch, ob einer lügt oder nicht! Und hier wird nur gelogen! Nur!«

»Herr Direktor, das verbitte ich mir! Ich als Parteigenosse …«

Martin Landau ist aufgesprungen.

Gloggnigg winkt ab.

»Sie meine ich nicht …«

»Wen denn, Herr Direktor?«

Jetzt ist Forster aufgesprungen.

»Sie wissen genau, wen, Herr Rechtsanwalt! Treiben Sie es nicht zu weit! Ich warne Sie! Es ist in ganz Wien bekannt, daß gerade Sie es auf das peinlichste vermeiden sollten, derartige Lügenprozesse zu führen!«

»Herr Vorsitzender!« ruft Forster. »Das ist eine unglaubliche Äußerung! Ich werde mich beim Herrn Präsidenten beschweren!«

»Beschweren Sie sich meinetwegen! Weit werden Sie nicht kommen. Himmeldonnerwetter noch einmal, ich will doch da sehen …«

»Aber zum Schluß darf ich schwören, ja?« ruft die Agnes.

»Gar nichts dürfen Sie!«

»Doch! Ich will! Ich muß! Sie werden mir die Worte vorsprechen, Herr Direktor, und ich …«

Gloggnigg gerät außer sich: »Nein! Nein! Nein! Eine Zeugin wie Sie vereidige ich nicht, haben Sie verstanden?«

»Herr Vorsitzender, ich gebe zu bedenken …«

»Herr Doktor Kummer, bitte!«

»Pardon!«

»Schwören … beschwören …«

»Zeugin, nehmen Sie sich gefälligst zusammen!«

Tja, das ist leicht gesagt! Wo der Geistliche Herr der Agnes doch das Lügen erlaubt hat! Nach all den Alpträumen, den Bedenken, der Angst besitzt sie die Erlaubnis zu lügen, und nun will man sie nicht lügen lassen – nein, das ist zu ungerecht!

Die Agnes beruhigt sich nur langsam. Sie sagt weiter aus. Und lügt und lügt und lügt und hofft, daß der Richter ein Herz haben und sie ihre Lügen doch noch beschwören lassen wird.

Aber der denkt nicht daran.

Die Zeugin Agnes Peintinger bleibt unvereidigt.

10

Alle sind dunkel gekleidet, auch die dicke Hermine Lippowski, die nun vor dem Richtertisch steht, das strähnige Haar schlecht frisiert, schlecht die runzeligen Wangen gepudert, zu viel Rouge aufgelegt, mit schwarzen Ringen unter den Augen, gebeugt, mühselig atmend, ein Wrack, sechzig ist sie noch nicht, man hält sie für mindestens siebzig.

Hermine Lippowski hat niemanden angesehen, als sie hereinkam, und nun sieht sie nur den Richter Gloggnigg an, nur ihn, und auch ihn nicht immer. Pfeifend kommt ihr Atem. Ganz still ist es geworden im Saal. Die Personalien sind verlesen, die Zeugin ist über die Bedeutung des Eides aufgeklärt worden, Valerie und Forster und Martin Landau durchbohren ihren Rücken mit Blicken, denn diese Zeugin wird nun alles wieder kaputtschlagen, was bisher erreicht worden ist, diese Hexe, diese verfluchte! »Frau Lippowski, die Eheleute Steinfeld haben bei Ihnen gewohnt«, beginnt der Richter.

»Haben sie, ja«, sagt das schwarze Ungeheuer.

»Von wann bis wann?«

»Von November 1923 bis Oktober 1928.«

»Sie erinnern sich noch gut an Ihre Mieter?«

»Ich erinnere mich noch gut an sie, ja.« Valeries Hände ballen sich wieder zu Fäusten, ihre Lippen verfärben sich wieder, Forster sieht es mit Sorge.

»An die beiden und an das Baby, das dann kam, und an das Fräulein Peintinger … an alle erinnere ich mich … so lange ist das schon her …. hier sieht man sich wieder …« Keuchendes Atemholen. »Ich bin ja nur froh, daß ich jetzt vielleicht wenigstens noch helfen kann.«

Valerie zuckt zusammen, sie sieht Forster an. Der schließt und öffnet schnell die Augen. Ruhig jetzt, ganz ruhig.

»Helfen? Wie meinen Sie das, Zeugin? Wie helfen? Wem?«

»Der armen Frau Steinfeld«, sagt das Ungeheuer, ohne den Kopf zu wenden, das Haar steht schon wieder vom Kopf ab, der Atem geht rasselnd. »Es dreht sich doch um ihren Mann, nicht wahr?«

»Ja. Und um den Sohn.«

Die Lippowski nickt grimmig.

»Und um den Sohn. Was hat die Frau Steinfeld mitmachen müssen wegen dem Heinzi! Er soll jetzt auch hören, was ich zu sagen habe, über seinen Vater, diesen Lumpen, diesen elenden.«

Danach ist es wieder still im Raum, so still, daß man die Lippowski laut keuchen hört. Noch jemand atmet hastig und schnell. Forster berührt Valeries Arm.

»Elenden Lumpen?« fragt Richter Gloggnigg.

»Sie haben mich schon richtig verstanden, Herr Direktor«, pfeift die dicke Alte. »Das war ein ganz bösartiger, aalglatter Herumtreiber, der seine Frau bloß gequält und gepeinigt hat. Hör es, Heinzi! Das Fräulein Peintinger wird es ja auch schon gesagt haben, und du weißt ja auch sicherlich längst, daß er nicht wirklich dein Vater war, sondern daß der Herr Landau dein Vater ist, gelt?«

»Ja«, sagt Heinz.

Es klingt so laut, daß wieder alle zusammenfahren.

»Sprechen Sie zu mir, Zeugin! Nicht sein Vater? Der Herr Landau sein Vater? Woher wollen Sie das denn wissen?«

»Die arme Frau Steinfeld hat sich mir anvertraut in ihrer Not, als er noch ganz klein war, der Heinzi, und als er es so toll getrieben hat, ihr Mann, mit anderen Weibern! Und ihr hat er Vorwürfe gemacht und sie beschimpft, ich habe es doch gehört durch die Decke, in meine Wohnung hinunter, ununterbrochen Krach, ununterbrochen das Gebrüll von dem Mann und das Weinen von der unglücklichen Frau.« Die Haut ihres Gesichtes nimmt den Puder nicht an, unausgeschlafen, ungepflegt, scheußlich sieht sie aus, aber Valerie, Forster, die Agnes und Martin Landau, sie alle haben Mühe, ruhig sitzen zu bleiben und nicht nach vorne zu stürzen und sie zu umarmen und zu küssen und zu streicheln, diese Hermine Lippowski, die nun einem stirnrunzelnden Richter Gloggnigg berichtet, was für ein Teufel der Paul Israel Steinfeld gewesen ist, und wie sie Valerie Steinfeld und Martin Landau sozusagen richtig zusammengebracht hat mit Andeutungen und Reden und indem sie beide Augen zudrückte, als er dann immer kam, wenn Paul Steinfeld fort war, besonders damals, im Sommer 1925, als es passiert sein muß, daß Martin Landau die Frau Steinfeld geschwängert hat, der Mann war doch verreist, monatelang, mit zwei, drei ganz kurzen Besuchen dazwischen.

»Zeugin Lippowski, was Sie da sagen, das können Sie auf Ihren Eid nehmen?«

»Selbstverständlich, Herr Direktor.«

Und alle stehen auf, und Gloggnigg spricht die Formel, und Hermine Lippowski, die Valerie vor wenigen Monaten ins Gesicht geschrien hat, daß sie nicht den kleinen Finger für sie krumm machen würde, wiederholt die letzten Worte des Richters: »Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!« Danach, entlassen, setzt sie sich an das äußerste Ende der Zeugenbank, so weit wie möglich entfernt von den anderen. Ihre Hände hängen herab, zusammengesackt sitzt sie da, mit tragischem Gesichtsausdruck starrt sie auf den Boden.

Und die Zeugen neben ihr, Forster, Valerie, sehen sie an, kurz, scheu, erschrocken.

Was ist mit dieser Frau geschehen?

Was?

Richter Gloggnigg wühlt, plötzlich von Sodbrennen und Gereiztheit befallen, in den vielen Papieren, die vor ihm liegen.

»Unvollständig … die Ahnentafeln sind ja noch absolut unvollständig«, knurrt er.

»Wir haben die Dokumente noch nicht erhalten, Herr Vorsitzender.«

Forster steht auf. »Sie werden nachgereicht, sobald sie in unseren Händen sind.«

»Wenn wir sie dann noch brauchen«, knurrt Gloggnigg.

Es klopft.

»Herein!« ruft der Richter böse. Diese Sache läuft nicht so, wie er es sich dachte. Gar nicht so …

Die Tür öffnet sich. Da steht, groß und kräftig, in einem Frühjahrsmantel mit Pelzkragen, einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf, dunkeläugig, schmallippig, ein Taschentuch an die rechte, geschwollene Wange gepreßt, Ottilie Landau.

»Tilly!« ruft ihr Bruder. Er springt auf.

»Setz dich«, sagt sie. Und laut und etwas undeutlich zu Gloggnigg: »Ich bin Frau Landau. Ich habe eine Vorladung zu diesem Abstammungsprozeß erhalten. Ein Gerichtsdiener draußen hat mir gesagt, ich soll nicht lange warten, sondern mich gleich melden.«

Der Kurator Kummer glotzt.

Valerie starrt Tilly an.

Alle starren Tilly an, nur Hermine Lippowski nicht. Die nimmt überhaupt keine Notiz mehr von dem, was um sie her vorgeht.

»Aber Sie haben doch eine ärztliche Entschuldigung geschickt.« Selbst Gloggnigg ist um seine Überheblichkeit gebracht. »Sie sind doch krank. Sie konnten doch angeblich nicht kommen.«

»Es fiel mir sehr schwer, Herr Richter«, erklärt Tilly. »Ich hatte noch große Schmerzen heute morgen. Aber dann schluckte ich Pulver, und es wurde besser. Ich sagte mir, daß ich herkommen müsse.« Sie blickt ihren Bruder an, der erschauert. »Es ist eine zu wichtige Angelegenheit. Ich muß da meine Aussage machen.«

»Verflucht noch mal!« flüstert Forster.

Valerie sieht Tilly Landau mit schreckgeweiteten Augen an.

Aus, denkt sie. Alles aus. Diese Tilly ist eine Fanatikerin. Die erzählt jetzt die ganze Wahrheit und beschwört sie auch noch …

11

»Das ist auch wirklich die Wahrheit, Frau Landau?« fragt Richter Gloggnigg.

»Ich kann nichts anderes sagen, Herr Direktor. So war es.« Tilly Landau steht hoch und aufrecht vor dem Richtertisch, das Taschentuch immer an die Wange gepreßt.

»Ihr Bruder hat …«

»Mir alles gebeichtet, jawohl.«

»Wann? Sagen Sie es noch einmal!«

»Im Frühherbst 1925, als positiv feststand, daß Frau Steinfeld schwanger war. Da ist er zu mir gekommen und hat gesagt, er sei ihr Geliebter, schon lange, und nun sei er auch der Vater ihres ungeborenen Kindes.«

»Und Sie, was haben Sie gesagt?« Gloggnigg ist schwer verärgert.

»Ich war entsetzt!« behauptet Tilly Landau. »Einmal überhaupt – ich habe vielleicht etwas altmodische Moralbegriffe. Und ich konnte Valerie Steinfeld nie leiden.«

»Und trotzdem kommen Sie heute hierher, obwohl Sie krank sind, und sagen für sie aus – in ihrem Sinn?«

»Nicht für sie, Herr Richter! Für meinen Bruder! Ich will nicht, daß Sie ihn für einen Lügner halten. Das ist er nicht. Er ist unfähig zu lügen. Aber er ist ein wenig weltfremd, ängstlich …«

»Na, den Eindruck hatten wir hier gerade nicht, Frau Landau!«

»Nein? Es ist aber so, Herr Richter. Ich kenne meinen Bruder wahrhaftig … ja, richtig, natürlich!«

»Wie bitte?«

»Ich kann mir schon denken, warum er sich zusammengenommen hat und hier so forsch aufgetreten ist, wie er nur kann!«

»Warum?«

»Hat er nicht gesagt, daß er unbedingt als Vater des Buben anerkannt werden will bei dieser Gelegenheit?«

»Ja, allerdings, das hat er …«

»Sehen Sie! Davon hat er mir doch auch vorgefaselt die ganzen Jahre hindurch, immer wieder, immer wieder … Sein größter Wunsch war das!«

»Frau Landau – und Sie sind bereit, Ihre Aussage vollinhaltlich zu beeiden?«

»Selbstverständlich, Herr Richter. Das kann ich alles beschwören.«

12

»… in Würdigung der Sachlage und der Aussagen der obgenannten Zeugen sowie über den ausdrücklichen Antrag des Kurators Doktor Hubert Kummer verfügt das Gericht über die Zulassung des Beweises … kommen Sie mit, Fräulein?« fragt Gloggnigg, der rasch und böse diktiert hat. »… Zulassung des Beweises«, wiederholt das gelangweilte, stumpfsinnige Wesen an der Schmalseite seines Tisches, die Stenographin Herta Bohnen, sich mit einer Hand den Nacken kratzend.

»… den auch der Klagevertreter Doktor Otto Forster verlangte …« Ich darf mich nicht einfach über all diese Aussagen hinwegsetzen, denkt Gloggnigg. Sonst bekomme ich Ärger mit dem Präsidenten.

»… erstens: über die rassische Einordnung und über die Frage, ob und inwieweit es ausgeschlossen werden kann, daß der Kläger Heinz Steinfeld von Paul Israel Steinfeld gezeugt wurde, indem eine anthropologisch-erbbiologische Untersuchung durchgeführt wird …«

Valerie sieht Forster an. Der lächelt und nickt und zupft an seinem Ohr. »… zweitens: durch eine Blutgruppenuntersuchung darüber, ob eine Zeugung des Klägers durch Martin Landau eindeutig auszuschließen – haben Sie, Fräulein?«

»Eindeutig auszuschließen«, sagt die gelangweilte Stenographin.

»… auszuschließen ist. Punkt. Absatz.« (Gegen so viele beeidete positive Aussagen kann ich nichts machen. Jetzt ist mir auch noch der Scheißer, dieser Kummer in den Rücken gefallen. Gibt welche, die nennen mich einen Bluthund. Ich muß achtgeben. Bin zur Beförderung vorgesehen. In Berlin schätzt man mich sehr. Immer korrekt jetzt. Ich werde einen ganz scharfen Sachverständigen nehmen. Dann sind die Herrschaften sowieso erledigt. Und mir kann keiner etwas nachsagen.) »Zum Sachverständigen zu Punkt eins wird SS-Sturmbannführer Privatdozent Doktor Kratochwil vom Anthropologischen Institut der Universität Wien …«

(Das ist der Schärfste! Die werden sich wundern!) »… zu Punkt zwei ein Arzt des Gerichtsmedizinischen Instituts der Universität Wien, Vorstand Professor Doktor Schmalenacker, bestellt …«

13

Die Sonne schien hell, Menschen hasteten an der kleinen Gruppe vorüber, die den Justizpalast verließ. Straßenbahnen sausten klingelnd über die Museumstraße, Radfahrer, Wehrmachtsautos.

»Ich bin ja so glücklich! So glücklich! Das ist doch prima gegangen, Mami, nicht?« Heinz Steinfeld zog die Krawatte herab und öffnete den Kragen, der ihn lange genug gequält hatte. »Jetzt noch die Untersuchungen, und dann …«

»Nicht hier«, sagte Forster schnell. »Kommen Sie.« Damit ging er bereits eilig auf einen nahen kleinen und noch ziemlich kahlen Park zu, der sich neben dem Justizpalast, gegenüber dem Auerspergpalais befand. Valerie und Martin Landau sahen sich plötzlich mit der schwarz gekleideten Hermine Lippowski allein.

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, sagte Valerie.

»Und auch ich«, sagte Landau, noch übererregt von der Verhandlung.

»Sie müssen mir nicht danken«, antwortete die Lippowski, mühsam Atem holend, stockend. »Ich habe eine Nachricht bekommen. Gestern. Durch Freunde. Aus dem KZ Sachsenhausen …«

»Mein Gott – Ihr Mann?« fragte Valerie.

»Mein Mann, ja«, sagte das fette Ungeheuer und starrte Valerie aus verschwollenen Augen an. »Tot. Ermordet haben sie ihn, diese Bestien. Meinen Mann. Ich habe einen einzigen Menschen im Leben geliebt – ihn! Auch noch, als er mich verlassen hat … heute noch … immer werde ich ihn lieben … immer weiter! Es ist mir klargeworden wie in einem Blitzstrahl gestern. Deshalb habe ich für Sie und Ihren Mann und Ihren Sohn falsch geschworen, Frau Steinfeld. Sie haben Glück gehabt durch mein Unglück …« Damit nickte Hermine Lippowski noch einmal kurz und verloren mit dem schrecklichen Kopf und schlurfte dann davon, grußlos, ohne sich umzudrehen, eingesponnen in das Gewebe ihres großen Schmerzes.

Valerie starrte ihr nach.

»Glück für dich, sie hat es gesagt. So viel Glück, Valerie! Ach, aber …« Landau brach ab.

»Was aber?«

»Die Blutgruppenuntersuchung … wenn die nun ergibt – wie hat der Richter das formuliert? –, daß eine Zeugung durch mich eindeutig auszuschließen ist … Das klingt schon so negativ! Ich bin in der Partei, Valerie! Jetzt habe ich geschworen … Was geschieht mit mir, wenn da etwas passiert, was?«

»Wir werden auch da Glück haben. Es wird gar nichts geschehen«, sagte Valerie schnell. Sie hängte sich bei Landau ein. »Komm, wir müssen zu den andern.« Herr im Himmel, dachte sie, was ist, wenn die Blutgruppen wirklich nicht stimmen?

Martin Landau ließ sich führen wie ein kleiner Junge. In dem Park, den Splittergräben durchzogen, die man in Erwartung von Luftangriffen angelegt hatte, blühten Primeln, Schneeglöckchen und Krokusse, wenige, weit verstreut. Unter einem Baum, an dessen Ästen schon frische, grüne Blattspitzen zu sehen waren, warteten die anderen auf Martin und Valerie. Sie sahen den beiden entgegen, und ihre Gesichter waren ernst. Nur Heinz strahlte.

»Was habt ihr denn?« fragte Valerie, die zufrieden fühlte, wie eine immer größere Müdigkeit sie überkam. Das Beruhigungsmittel – nun erst begann es mit Macht zu wirken! »Ich glaube, wir können uns nur alle gratulieren!«

Die Agnes begann plötzlich zu schluchzen.

»Er hat mich nicht schwören lassen, der Kerl«, rief sie unglücklich. »Nicht und nicht hat er mich schwören lassen – und ich hab doch so gewartet darauf! Die anderen, die haben dürfen! Warum ich nicht, Herr Rechtsanwalt?«

»Sie waren dem Richter suspekt, Sie haben …«

»Ich war ihm was?«

»Sie haben zu oft davon geredet, daß Sie beschwören können, was Sie sagen. Das hätten Sie nicht tun dürfen.«

»Zu oft gesagt? Da haben Sie wohl recht, Herr Rechtsanwalt. Und jetzt ist es zu spät!«

»Wer weiß«, sagte Forster.

»Wieso?« Die Agnes horchte auf. »Glauben Sie, daß ich noch einmal drankomm?«

»Wer weiß«, sagte Forster wieder. Er wollte Agnes Peintinger trösten. Es gelang ihm auch.

»Ja, dann …!« Die Agnes wischte sich die Tränen fort. »Dann fang ich es aber gescheiter an, ich blöde Kuh!«

Valerie und Landau hatten Ottilie etwas beiseite gezogen. Martins Schwester zeigte ein unwirsches Gesicht.

»Was ist? Ich muß schnell heim. Der Wind … Die Schmerzen fangen wieder an.«

»Das vergesse ich dir nie!«, sagte Valerie.

»Aber ich verstehe das nicht!« rief Martin. »Du hast doch nicht wollen! Du hast doch gesagt, kein Wort sagst du für uns aus!«

»Ich habe heute nacht nicht schlafen können … nicht nur wegen der Zahnschmerzen … ich habe dauernd an Valerie denken müssen«, sagte Tilly, das Tuch an der Wange.

»Und?« drängte Martin.

»Und am Morgen, da habe ich mir gesagt, ich kann das einfach nicht tun, erklären, daß ich von nichts weiß. Da habe ich mir gesagt, es ist Christenpflicht, der Valerie zu helfen, und dem Heinzi …«

»Ach, Tilly, du bist wunderbar!« rief Landau.

»Ich bin gar nicht wunderbar«, sagte seine Schwester mit schmalen Lippen und wieder so verschlossen wie zuvor. »Ich habe es getan. Nun läuft das also alles, nun geht das seinen Weg. Aber ich fürchte, es wird keinen guten Weg gehen …«

»Tilly!«

»Nein, keinen guten Weg, Martin. Diese Wahnsinnsgeschichte kann nicht gutgehen! Sie wird ein böses Ende nehmen, ihr werdet es sehen. Aber ihr habt es ja nicht anders gewollt …« Damit eilte Ottilie Landau, ohne sich von jemandem zu verabschieden, aus dem Park zur nahen Straßenbahn.

Valerie und Martin sahen ihr nach, dann blickten sie einander stumm an. Forster trat zu ihnen. Er sagte: »Wenn Sie mich in den nächsten Tagen einmal aufsuchen wollten, gnädige Frau? Damit wir die nächsten Schritte besprechen können …» Er küßte ihr die Hand und verabschiedete sich auch von Landau. Er hatte eine dringende Verabredung.

»Warum ist der so sonderbar?« fragte Martin ängstlich.

»Ein Anwalt. Die sind eben so. Wir haben den besten, den es gibt«, antwortete Valerie und hörte die Stimme der Agnes: »Ich fahr mit dem Heinzi nach Hause zum Essen, gnä’ Frau! Hab was Feines vorgekocht für heute! Ich sag nicht was, Sie kriegen es am Abend, als Überraschung! Zur Feier des Tages hab ich es gemacht!«

»Und wenn das hier schiefgegangen wäre, Agnes?« fragte Landau.

»Konnte doch nicht schiefgehen!« rief Heinz lachend.

Die Agnes sagte leise: »Nein, konnte nicht. Der Herrgott hält seine Hand über alle braven Leut, wo in Not gekommen sind, das sagt mein Herr Hochwürden. Und vielleicht darf ich doch noch schwören, sagt der Herr Rechtsanwalt … Komm jetzt, Heinzi. Die Mami und dein Vater müssen ins Geschäft zurück.«

Valerie sah zu der Normaluhr an der nahen Kreuzung. Plötzlich war sie aufgeregt.

»Schnell, Martin! Es ist schon zwanzig vor eins!«

»Na und? Wir haben doch geschlossen bis – ach so«, sagte er gottergeben. BBC. Natürlich wollte sie um 13 Uhr wieder BBC hören!

Ja, das wollte Valerie – noch nie hatte sie es so sehr gewollt! Es war, als wünschte sie die Stimme ihres Mannes – hoffentlich sprach er in der 13-Uhr-Sendung! – zu hören, um so mit ihm verbunden zu sein, als könnte sie ihm durch geheimnisvolle Kräfte über viele Hunderte von Kilometern hinweg dann mitteilen, daß alles gutging.

Sie hörte die Stimme, die sie stets für jene ihres Mannes hielt. Unter der Decke, das Ohr an den Lautsprecher des Radios gepreßt, vernahm sie diese Stimme, dieweilen Martin Landau seine gewohnten Runden um den Häuserblock machte. Die Sendung lief schon seit einiger Zeit, als Valerie endlich an ihren Apparat kam, die Nachrichten waren bereits verlesen. Eine Uhr tickte, und Valerie lauschte der Stimme: »Hören Sie das Ticken dieser Uhr? Hören Sie in Ihrem Zimmer Ihre eigene Uhr die Sekunden ticken? Eins, zwei, drei … sechs, sieben. Jede siebente Sekunde stirbt ein deutscher Soldat in Rußland …«

Mit aller Kraft, mit zusammengezogenen Brauen und gefurchter Stirn, dachte Valerie: Sei ohne Sorge, Paul, alles geht gut …

»… Nach verläßlichen Berichten sind allein in den ersten vier Monaten des russischen Feldzugs über eine Million Deutsche gefallen. Jede Woche achtzigtausend. Jede Stunde fünfhundert. Wofür? Für verwüstete Erde? …«

Das kleine Reh … es bringt uns Glück … uns allen …

»… Für wen? Für Adolf Hitler? Wofür? Für Machtwahn? …«

Dieser Richter war ein ganz böser Hund, aber er hat sich dem einfach nicht verschließen können, was wir vorgebracht haben, was die Zeugen beschworen haben …

»… Jede siebente Sekunde … Stunde um Stunde … Tag und Nacht … Tag und Nacht jede siebente Sekunde …«

Valeries Kopf glitt an der Wand des Apparates herab auf die Tischplatte. Sie seufzte noch einmal lange und glücklich. Dann bewegte sie sich nicht mehr.

Als Martin Landau eine Viertelstunde später in den Laden zurückkehrte, fand er Valerie so vor – unter der Decke, den Kopf auf der Tischplatte, in tiefem Schlaf. Der Apparat lief. Ein tschechischer Ansager verlas gerade Nachrichten. Landau stellte das Radio schnell ab und drehte an den Skalenknöpfen, dann bettete er Valerie behutsam auf das alte Sofa und deckte sie vorsichtig zu.

So ist auch einmal der Heinz eingeschlafen, dachte er beklommen, damals, in jener Nacht, in der alles begann. Martin Landau blickte Valerie Steinfeld an. Ein seliges Lächeln erhellte ihr Gesicht …

14

»… wie das eines ganz jungen Mädchens, erzählte mir Herr Landau, ich erinnere mich jetzt wieder daran«, sagte der alte Rechtsanwalt Dr. Otto Forster im obersten Stock seiner Villa an der Sternwartestraße zu Manuel. Er legte die Papiere, in denen er geblättert hatte, auf den Tisch.

»Martin Landau hatte den Mut, Ihnen zu erzählen, daß seine Angestellte im Geschäft London hörte?«

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